Leseprobe Gefährliche Lüge

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Montag, 11. November 2024

 

„Polizei-Notruf, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Meine Tochter! Sie haben meine Tochter entführt“, schrie eine aufgebrachte Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. „Sie sagen mir, es habe sie nie gegeben, aber das …“

„Bitte sprechen Sie etwas langsamer.“ Rebecca Festle war sofort in Alarmbereitschaft. Die Tonlage der Anruferin ließ keinen Zweifel über den Ernst der Lage aufkommen.

„Wie heißen Sie?“

„Raunfeld. Nadja Raunfeld. Bitte helfen Sie mir! Ich kann sie nicht finden.“ Sie schluchzte. „Ich habe entbunden und jetzt ist sie weg.“

„Bitte schildern Sie mir genau, was passiert ist.“

Nadja schrie außer sich. „Sie haben sie mir einfach genommen und jetzt behaupten die …“ Die Stimme brach ab.

„Frau Raunfeld, ganz langsam. Wo befinden Sie sich aktuell?“

„Ich weiß nicht. In der Nähe der Solitude.“

Rebecca sah auf ihren Bildschirm. Der Standorttracker ortete das Mobiltelefon der Frau nahe einem Waldgebiet in Gerlingen.

Die Stimme der Anruferin wurde leiser. „Sie sagen, es gab sie nicht.“

„Ihre Tochter? Und wer sind sie?“

Nadja antwortete nicht, stattdessen schluchzte sie.

„Ich versuche Ihnen zu helfen, aber dafür muss ich verstehen, was passiert ist.“

„Keine Ahnung. Ich … Ich bin aufgewacht und dann war sie weg. Ich war zur Entbindung in der Annaberg-Klinik, aber jetzt kann ich sie nicht mehr finden.“

„Wann war das?“

„Gestern Morgen.“

Warum rief sie jetzt erst an? Rebecca runzelte die Stirn.

„Ich dachte, ihr wäre etwas zugestoßen, aber sie haben sie mir gestohlen und …“ Ihre Stimme stockte abermals. „Ich muss Cecilie finden. Ich weiß, dass sie am Leben ist.“

„Cecilie ist der Name Ihrer Tochter, richtig?“

Die Stimme war tränenerstickt. „Sie haben sie entführt!“

War jemand in die Klinik eingedrungen und hatte ein Baby entführt? Doch in diesem Fall hätte die Klinik sofort die Polizei verständigt. Und warum sollte jemand abstreiten, dass es ein Baby gab? Nadja Raunfelds Tonlage ließ für Rebecca keine Zweifel aufkommen, dass das Mädchen vermisst wurde. Die Karte zeigte ihr einen kleinen, leuchtend roten Punkt, von dem Frau Raunfeld aus anrief. Daneben erkannte Rebecca eine großflächige Anlage, die mit 'Annaberg-Klinik‘ markiert war und in unmittelbarer Nähe das Schloss Solitude lag. Durch das Telefon drang hektisches Atmen. „Frau Raunfeld, bitte bleiben Sie einen Augenblick dran. Ich verständige einen Streifenwagen, der direkt zu der Klinik fährt.“

„Nein!“, schrie Nadja.

Rebeccas Puls schlug einen Salto. „Warum nicht? Wenn Ihre Tochter entführt wurde, sollten wir sofort eine großflächige Suchaktion einleiten.“

„Das werden sie nicht zulassen!“

Rebecca war verwirrt. „Wen meinen Sie mit sie?“

„Die Klinik!“

„Sie meinen, die Annaberg-Klinik könnte etwas mit dem Verschwinden von Cecilie zu tun haben?“ Im Hintergrund vernahm Rebecca ein Geräusch, das sie nicht einordnen konnte.

„Ich weiß es. Sie wollen nicht, dass ich anrufe. Sie wollen mir weismachen, mein Kind habe es nie gegeben.“ Sie schniefte. „Aber das ist eine Lüge. Meine Tochter hat gelebt. Ich weiß es.“

Rebecca horchte auf. War es möglich, dass die Anruferin die Sachlage falsch einschätzte? „Frau Raunfeld, ich bin sicher, wir können das klären. Ich schicke einen Streifenwagen zu der Klinik, in Ordnung?“

Keine Antwort. Rebecca hörte nur noch ein Atmen, dann die leise, brüchige Stimme von Raunfeld. „Es ist zu spät. Sie kommen mich holen.“

„Wer kommt Sie holen?“

Ein Schrei. Stimmen. Die Verbindung brach ab.

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Dienstag, 12. November 2024

 

„Was zum Teufel hast du vor?“ Kriminalhauptkommissar Martin Keller lehnte sich nach vorn. Der Bildschirm zeigte ihm die Aufnahme eines Mannes, Mitte vierzig, mit Halbglatze und dunkelbraunen Haaren. Keller kniff die Augen zusammen. Die Aufnahme war verschwommen. Trotzdem erkannte er die hohe Stirn und das breite, beinahe rundliche Gesicht. Auch die Brille war dieselbe geblieben. Im Gegensatz zu ihrer letzten Begegnung besaß der Mann auf dem Foto keinen Schnurrbart mehr, aber damit konnte der Kerl ihn nicht täuschen. Es war Carsten Niemeyer. Ohne Zweifel.

Warum trieb sich der Kerl immer noch in Stuttgart herum? Ein gesuchter Polizistenmörder. Fühlte er sich so sicher, dass ihn keiner erkannte? Oder gab es einen anderen Grund? Kellers Hand ballte sich zur Faust. Die Tatsache, dass der Mann, der einst seinen Freund und Kollegen Ralf Mattheus erschossen hatte, durch Stuttgart schlenderte, machte ihn rasend.

Keller zoomte aus der Aufnahme heraus, um sich die Umgebung genauer anzusehen. Laut seines Informanten war das Bild in der Hackstraße in Stuttgart-Ost entstanden. Er entdeckte hohe, graue Gebäude, eine U-Bahn, die die Straße entlangfuhr, sowie einige Autos. Das Foto war vor zwei Monaten spätabends entstanden. Der Versuch, Niemeyer dingfest zu machen, war schiefgegangen. Bis seine Kollegen es endlich geschafft hatten, Straßensperren und Personenkontrollen einzurichten, war Niemeyer längst über alle Berge gewesen. Danach verlor sich seine Spur. Trotzdem gab ihm das Foto die Gewissheit, dass sich der Mörder seines besten Freundes noch in Stuttgart aufhielt. Er hatte sich nicht wie vermutet ins Ausland abgesetzt. Doch warum ging er das hohe Risiko ein?

Die Frage durfte ihm der Schweinehund bald selbst beantworten, wenn er die Antworten aus ihm herausprügelte. Vorausgesetzt, er bekam ihn in die Finger. Im Falle einer Festnahme würde der Kriminalrat ihn gar nicht erst in die Nähe von Niemeyer lassen und seine Kollegen für die Vernehmung heranholen. Glücklicherweise versorgte ihn seine Quelle mit zuverlässigen Informationen. Allerdings gab es bereits eine Weile keine neuen Anhaltspunkte. Die Ungeduld zehrte an seinen Nerven. Dieser verdammte Einsatz. Der Kerl hatte sicher Wind davon bekommen und versteckte sich jetzt in einem Kellerloch. Doch auch ein Maulwurf kroch irgendwann aus seinem Versteck. „Und dann bist du fällig!“, zischte Keller.

Das Klingeln seines Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. Er stöhnte auf, als er den Namen des Kriminalrats auf dem Display sah. Der Anruf seines Vorgesetzten war selten ein gutes Zeichen. „Keller?“

„In fünf Minuten in meinem Büro“, erklang die tiefe Stimme von Rudolf Preiß am anderen Ende der Leitung.

Keller legte wortlos auf und erhob sich schwerfällig. Bevor er dem Kriminalrat gegenübertrat, brauchte er einen starken Kaffee. Er verließ sein Büro und durchquerte den Flur. Als er die winzige Teeküche betrat, schlug ihm ein bekannter Geruch entgegen. Grüner Tee. Er rümpfte die Nase.

„Guten Morgen“, erklang die fröhliche Stimme seiner jungen Kollegin Julia Beck. In der Hand hielt sie eine Tasse Tee. Sie war erst seit einem dreiviertel Jahr Teil seines Teams und eine ungemeine Nervensäge. Doch immerhin eine Nervensäge mit Potenzial, wie sich in ihrem ersten gemeinsamen Fall herausgestellt hatte.

„Morgen“, brummte er. Er ging an seiner Kollegin vorbei, nahm die Kaffeekanne zur Hand und schenkte sich eine Tasse ein. Der verführerische Duft verdrängte den aufdringlichen Geruch ihres Tees.

„An die Fallakte von Sven Ratschnak, um die Sie mich gebeten haben, komme ich nicht heran. Sie ist gesperrt.“ Julia war in der Tür stehen geblieben und blickte ihn an.

Keller fluchte. Das war bestimmt auf Preiß’ Mist gewachsen, damit er gar nicht erst auf die Idee kam, eigene Ermittlungen anzustellen.

„Vielleicht bitten Sie den Kriminalrat um eine entsprechende Freigabe.“

Keller schnaubte verächtlich. „Was meinen Sie, wem wir das zu verdanken haben? Könnte ja passieren, dass mal jemand seine Arbeit macht und den Kerl festnimmt.“

Er hatte seiner Kollegin keine Einzelheiten zu dem Fall anvertraut. Ihr war nur bekannt, dass Niemeyer ein gesuchter Polizistenmörder und er mit dem Opfer befreundet war. Je weniger sie wusste, desto besser. Die Gefahr, dass doch Informationen an Preiß durchsickerten, war zu hoch. Doch dass er sogar die Akten zu dessen Mitstreitern hatte sperren lassen, fand er ungeheuerlich. Dennoch hatte Keller andere Mittel und Wege, an die Informationen zu kommen.

„Wie wäre es mit Li?“

Der Gedanke war ihm ebenfalls durch den Kopf gegangen. Sein Kollege mit dem unaussprechlichen Namen Li Cheung Kwok-wing, weshalb er ihn einfach Wing-Wing nannte, war bereits seit einigen Jahren Teil seines Teams und ein Technik-Nerd. Dieser hätte die Sperre bestimmt umgehen können, aber im Moment wollte er keine unnötige Aufmerksamkeit erregen.

Seine Kollegin blickte ihn noch immer stirnrunzelnd an. Mit ihren dunkelblonden, schulterlangen Haaren, den hohen Wangenknochen, dem schmalen Kinn und der schlanken Figur war sie äußerst attraktiv. Wäre da nicht die Ähnlichkeit zu seiner Ex-Frau, die mit einem anderen durchgebrannt war, hätte sie sicher sein Interesse geweckt. Die siebzehn Jahre Altersunterschied hätten ihn nicht abgeschreckt.

„Vergessen Sie’s.“

Er drängte sich an ihr vorbei.

„Wo gehen Sie hin?“

„Preiß erschießen.“

„Viel Erfolg.“

Keller ignorierte ihren sarkastischen Unterton und lief mit Kaffeetasse in der Hand in das Büro von Preiß. Er nahm einen tiefen Atemzug und trat ein.

Auf dem wuchtigen Chefsessel saß eine korpulente Gestalt Ende fünfzig, mit ein paar wenig verbliebenen, grau melierten Haaren und einer hohen Stirn. Preiß war in ein Telefonat vertieft und deutete auf den schwarzen Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand.

Keller nahm Platz und stellte die Tasse vor sich ab.

„Ich ruf zurück.“ Preiß beendete das Telefonat und wandte seine Aufmerksamkeit Keller zu. „Gut, dass Sie da sind.“ Er schob seine Nickelbrille ein Stück nach oben. „Ich komme gleich zur Sache: Gestern Abend ging bei den Kollegen von der Notrufzentrale der Anruf einer verzweifelten Frau ein, die behauptet hat, eine Klinik oben in Gerlingen hätte ihr Neugeborenes entführt.“ Er machte eine kurze Pause.

„Und?“ Keller unterdrückte ein Gähnen.

„Ich möchte, dass Sie der Sache nachgehen. Fahren Sie in die Annaberg-Klinik, sprechen Sie mit dem Chefarzt und besagter …“ Er warf einen Blick in seine Unterlagen. „… Nadja Raunfeld. Wir müssen wissen, ob an der Sache etwas dran ist.“

„Das ist ein Scherz, oder?“ Er studierte die Gesichtszüge von Preiß. Allerdings sah es nicht so aus, als hätte der Kriminalrat einen Witz gemacht, zumal Humor für diesen ein Fremdwort war.

„Keineswegs.“ Er sah Keller mit hochgezogenen Brauen an.

„Sind das nicht eher Hirngespinste? Außerdem ist es Sache der Kollegen.“ Keller lehnte sich zurück.

„Die Kollegen für Entführungsdelikte sind momentan stark unterbesetzt. Jeder Zweite ist im Krankenstand und ein Teil im Urlaub. Und ob es Hirngespinste sind oder nicht, wird sich erst noch zeigen, deswegen möchte ich, dass Sie den Fall übernehmen. Wenn es nur den Fantasien einer geistig verwirrten jungen Frau entspringt, können wir den Fall immer noch zu den Akten legen.“

„Ich habe weiß Gott Besseres zu tun“, presste Keller zähneknirschend hervor.

„Zum Beispiel?“ Preiß blickte ihn mit hochgezogener Stirn an.

Zum Beispiel, das Arschloch finden, das meinen früheren Kollegen abgeknallt hat, hätte Keller am liebsten geschrien. Doch dann hätte Preiß gewusst, dass er entgegen dessen Anweisung Ermittlungen in eigener Sache betrieb. Und der Kriminalrat war alles andere als ein Esel. Er hatte die Akte sicher nicht grundlos versiegelt. Keller verschränkte die Arme vor der Brust und sah Preiß mit finsterer Miene an.

„Die Mitarbeiter von der Notrufzentrale haben gestern einen Streifenwagen in die Klinik geschickt. Der Chefarzt war wohl noch auf einer Konferenz und ist erst seit heute Morgen zurück. Daher haben sie nur die Aussagen von Frau Raunfeld aufgenommen.“ Preiß reichte ihm eine dünne Akte.

Keller nahm sie brummend entgegen und schlug die Mappe auf. Darin befand sich eine einzelne DIN-A4-Seite. „Ist das alles?“

„Wie gesagt, die Aussage des Chefarztes konnten sie gestern nicht aufnehmen. Deswegen habe ich einen Termin für Sie beim Chefarzt der Annaberg-Klinik vereinbart. Man erwartet Sie dort in einer Stunde.“

„Und was soll ich den Chefarzt fragen? Haben Sie Frau Raunfelds Baby geklaut?“

Preiß reagierte nicht auf seinen Einwand. „Finden Sie heraus, was es mit Raunfelds Anschuldigungen auf sich hat.“

„Kann das nicht Frau Beck übernehmen?“

„Nein, das werden Sie tun. Am besten machen Sie sich gleich auf den Weg.“ Damit wandte er sich wieder seinem Bildschirm zu.

Keller stand auf und marschierte aus dem Raum, nicht ohne seinem Vorgesetzten einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Er riss die Tür seines eigenen Büros auf und nahm seine Jacke vom Stuhl. Er hatte gehofft, weitere Informationen über Niemeyers Komplizen einholen zu können, aber was tat er stattdessen? Den Wahnvorstellungen irgendeiner Frau hinterherrennen. Beschissener hätte der Tag kaum anfangen können.

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Eine Stunde später brauste Keller durch das bewaldete Gebiet des Schwarzwildparks. Er entdeckte die Zufahrtsstraße zur Annaberg-Klinik und parkte seinen Wagen direkt vor dem Halteverbotsschild des Haupteingangs. Bevor er sich auf das Affentheater einließ, brauchte er erst mal einen kräftigen Schluck Whiskey. Er öffnete das Handschuhfach und holte seinen grauen Flachmann heraus. Das Brennen in seiner Kehle entspannte ihn. Er ließ den Flachmann wieder verschwinden und stieg aus.

Ein eisiger Wind peitschte ihm ins Gesicht, während er sich dem mehrteiligen Gebäudekomplex näherte. Die Temperaturen waren die letzten Tage gefallen und führten zu dem typisch nassgrauen Novemberwetter, was seine Laune nicht unbedingt steigerte.

Keller bewegte sich auf das mittlere der drei Gebäudeteile zu, das etwas nach hinten versetzt war. Der weiße Anstrich mit den großen Fenstern wirkte modern und einladend. Die Anlage war gepflegt, mit einem akkurat geschnittenen Rasen, Bäumchen und einem kreisrunden Springbrunnen vor dem Eingang, der zu dieser Jahreszeit ausgeschaltet war. Er betrat die Eingangshalle, die sich rechts unter einem gläsernen Vordach befand. Der Geruch von Desinfektionsmitteln schlug ihm entgegen. Er rümpfte die Nase.

„Hallo, was kann ich für Sie tun?“ Die junge Empfangsdame mit den roten, wild gelockten Haaren und Sommersprossen lächelte ihn an.

„Keller, Kripo Stuttgart.“ Er presste seinen Ausweis gegen die Scheibe. „Der Chefarzt erwartet mich.“ Preiß hätte ihm wenigstens einen Namen nennen können.

„Ah, genau.“ Die junge Frau warf einen kurzen Blick auf seinen Ausweis und anschließend auf ihren Bildschirm. „Station B, zweites Obergeschoss.“ Sie deutete nach rechts. „Sie können die Fahrstühle gleich links um die Ecke nehmen. Ich gebe Prof. Dr. Dietrich – er wird Sie oben abholen.“

Keller ließ seinen Ausweis in der Tasche verschwinden und bog um die Ecke. Zu beiden Seiten des Fahrstuhls erstreckte sich ein lang gezogener Gang. Ein grünes Schild neben dem Aufzug listete die Abteilungen auf, wobei der Chefarzt und die Geschäftsführung im zweiten Stockwerk untergebracht waren. Eine Etage tiefer befanden sich die Abteilungen Gynäkologie und Chirurgie. Im Erdgeschoss waren Diagnostik und Notfallversorgung angesiedelt, darunter lag das Schwimmbad. Daneben prangte ein Organigramm des Klinikteams, einschließlich Bildern. Keller fragte sich abermals, warum er hier seine Zeit vergeudete. Er hätte seine Recherchen in Ruhe fortsetzen können, anstatt hier Hirngespinsten hinterherzujagen.

 

Einige Minuten später saß Keller einem gut genährten Mann, Ende vierzig, mit leicht ergrautem Haar und Dreitagebart, gegenüber. Entgegen seiner Erwartung eines arroganten und überheblichen Chefarztes hatte Prof. Dietrich eine freundliche und offene Art, die Keller gefiel.

„Auch einen Kaffee?“ Prof. Dietrich stand vor einem Kaffeevollautomaten.

„Gern.“

Chefarzt müsste man sein, dachte Keller. Wenn er da an die Brühe dachte, mit der er sich auf der Arbeit abfinden musste. Wurde Zeit, dass sie auch einen Kaffeevollautomaten bekamen. Doch mit alternativen Teehippies wie seiner jungen Kollegin standen die Chancen schlecht.

Prof. Dietrich nickte, drückte einen Knopf und kurz darauf erfüllte der Duft von frisch geröstetem Bohnenkaffee den Raum. Er stellte Keller eine dampfende Kaffeetasse hin und ließ sich auf dem Schreibtischstuhl nieder, der sich auf der gegenüberliegenden Seite der großen Eichenholzplatte befand. „Ihr Vorgesetzter hat mich bereits kontaktiert. Es geht um unsere Patientin Nadja Raunfeld?“

Keller nickte. „Sie hat einen Notruf abgesetzt, dass ihr Kind, das hier in der Klinik geboren wurde, vermisst wird und ich würde gerne wissen, was es damit auf sich hat?“

Dietrich runzelte die Stirn. „Sie hat ihr Kind bei einem Autounfall verloren und versucht jetzt, diesen tragischen Verlust zu verdrängen, indem sie uns eine Entführung unterstellt.“

Dachte ich mir. Dennoch musste er mehr herausfinden, damit Preiß zufrieden war. „Wie kommt Raunfeld auf eine Entführung?“

Dietrich seufzte. „Es besteht der Verdacht, dass Raunfeld unter einer akuten Psychose leidet. Sprich Wahnvorstellungen. Sie kommt nicht damit zurecht, dass sie ihr Kind verloren hat. Ihr Gehirn versucht nun, diesen Verlust zu kompensieren, mit der Vorstellung, ihr Kind sei noch am Leben und wurde von uns für irgendwelche obskuren Experimente missbraucht.“

Wie kam man auf so eine Idee? „Hat es in der Vergangenheit schon Anzeichen für eine Psychose gegeben?“

Dietrichs Blick verfinsterte sich. „Soweit wir einschätzen können, nein, aber das muss nichts bedeuten. Sie hat berichtet, dass sie seit dem Unfall unter Panikattacken leidet. Da wir eine Reha-Klinik mit angeschlossenen Fachbereichen sind, nutzen wir das, um weitere Untersuchungen durchzuführen.“

„Welche Art von Unfall war es denn?“ Keller hob die Brauen.

„Nadja Raunfeld und ihre Tochter erlitten mit dem Auto eine schwere Kollision.“ Dietrich schlug die vor ihm liegende Mappe auf. „Diese ereignete sich am 13. Oktober, also vor etwa einem Monat. Die Tochter Hannah Raunfeld verstarb wenige Stunden später infolge eines Schädel-Hirn-Traumas. Marlene Juwelis, die für die Kollision verantwortlich war, starb ebenfalls noch am Unfallort.“

Keller war überrascht. Von einem Autounfall hatte ihm Preiß nichts erzählt. Er musste im Anschluss noch mit Raunfeld reden – dann würde er schnell merken, mit was für einer Art Mensch er es zu tun hatte.

„Mit dem Tod ihres Kindes kam sie nicht zurecht“, fuhr der Chefarzt fort. „Deshalb hat sie den psychologischen Dienst der Klinik in Anspruch genommen und wird aktuell von uns im Rahmen einer Reha, die wir für sie beantragt haben, medizinisch betreut. Aber anstelle von einer Akzeptanz der Geschehnisse kam sie zu der skurrilen Annahme, ihre Tochter würde noch leben und wir hätten sie entführt.“

„Haben Sie eine Kopie des Totenscheins?“

„Natürlich.“ Prof. Dietrich erhob sich und holte eine weitere Akte aus seinem Schrank hervor. Er schlug sie auf und reichte Keller das Dokument.

Keller studierte die Eckdaten und hielt irritiert inne, als er das Geburtsdatum las. „Laut den Informationen hier war Raunfelds Tochter Hannah vier Jahre alt?“ Er hob die Augenbrauen.

„Das ist richtig.“ Dietrich nickte.

Keller konnte seine Überraschung nicht verbergen. „Ich dachte, es geht um ihr Neugeborenes?“

Dietrich senkte den Blick. „Es gibt kein Neugeborenes. Frau Raunfeld war nicht schwanger“, sagte er. „Als sie nach dem Unfall hier eingeliefert wurde, fanden die behandelnden Ärzte einen künstlichen Babybauch aus Silikon, den sie sich unter den Pullover gesteckt hatte, um eine Schwangerschaft zu imitieren.“

Die Sache wird ja immer besser. „Zusammenfassend lässt sich also sagen, Raunfeld hat eine Meise?“

Der Chefarzt warf einen kurzen Blick zur Seite. „Wir präferieren hier einen anderen Terminus. Schließlich hatte Raunfeld durch den Verlust ihrer Tochter bereits einen schweren Schlag zu verkraften und vielleicht suggerierte das Gehirn ihr, dass sie noch ein weiteres Kind erwartet.“

Keller schüttelte den Kopf. Falls sich die Informationen des Arztes bestätigten, war das kein Fall für die Kripo, sondern für die Psychiatrie. Doch etwas an der Geschichte störte ihn. „Sie sagten, Hannah Raunfeld sei erst wenige Stunden nach dem Unfall verstorben? Das heißt, die Mutter konnte zu dem Zeitpunkt ihrer Einlieferung noch nicht wissen, dass ihre Tochter sterben wird.“

„Da haben Sie recht. Die Wahnvorstellung muss bereits zu einem früheren Zeitpunkt entstanden sein. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, wann oder warum. Sie hatte nach der Einlieferung für kurze Zeit das Bewusstsein verloren und als sie aufgewacht war, haben wir ihr mitgeteilt, dass wir für ihre Tochter Hannah nichts mehr tun konnten. Daraufhin hat sie nach ihrer Schwangerschaft gefragt …“ Er hielt einen Moment inne. „… die es nicht gab.“

Keller hatte das Gefühl, dass etwas an der Sache nicht stimmte. Warum erfand Raunfeld eine Schwangerschaft, wenn sie eine vierjährige Tochter hatte? Entsprang das lediglich den verwirrten Fantasien einer psychisch kranken Frau? Oder steckte mehr dahinter? Auch wenn er nach wie vor der Überzeugung war, hier seine Zeit zu verplempern, würde er einen Blick in die Unfallunterlagen der Kollegen werfen.

Dietrich räusperte sich. „Tut mir leid, dass Sie umsonst gekommen sind. Wenn Sie noch …“ Das Klingeln des Telefons unterbrach ihn. „Dietrich?“ Die Miene des Chefarztes verdüsterte sich. „Nein, die Polizei ist zufällig schon hier.“ Er warf dem Kommissar einen Blick zu.

Keller beobachtete ihn interessiert.

„Nein!“, wiederholte Dietrich mit Nachdruck. Er beendete das Telefonat und sah Keller einen Moment schweigend an.

„Wie es aussieht, haben Sie gleich die Gelegenheit Frau Raunfeld persönlich kennenzulernen.“ Er seufzte. „Sie ist nämlich in das Büro unseres Oberarztes Dr. Brenner eingebrochen.“

-4-

Sie kam sich vor, wie eine Gefangene. Man hatte sie abgeführt und auf einen Plastikstuhl in der Cafeteria verfrachtet. Ihre Bewacher, zwei muskelbepackte Kerle auf beiden Seiten, ließen sie keine Sekunde aus den Augen und würden sie sofort wieder auf den Sitz drücken, wenn sie sich auch nur bewegte. In ihr brodelte es. Sie hätte es besser wissen müssen. Dr. Wichtig, wie sie den aufgeblasenen Oberarzt der psychosomatischen Reha-Abteilung Dr. Brenner insgeheim nannte, hätte sein Büro nie unverschlossen hinterlassen. Außer, er hatte vor, zeitnah zurückzukommen. Und tatsächlich hatte er bereits zwei Minuten später mit einer Kaffeetasse in der Hand im Raum gestanden und sie mit offenem Mund angestarrt.

Sie hätte sich ohrfeigen können für ihre Dummheit. Dabei war sie so kurz davor gewesen, Akten zu finden, die einen Hinweis auf den Verbleib ihres Babys geben könnten. Beweise, wohin sie ihre Tochter und die anderen Kinder brachten. Sie vermutete, dass es weitere Kinder gab – sie hatte mit Saskia gesprochen.

Noch wusste sie nicht, was die Klinik mit den Kindern anstellte. Organentnahme? Verkauf an einen Pädophilenring? Ihr wurde fast übel bei der Vorstellung, was in diesem Augenblick mit ihrem Engel, ihrer kleinen Cecilie geschah. Und was tat die Polizei? Schickte einen Streifenwagen, man sprach zwei Minuten mit ihr und haute dann ab. Jetzt hielt man sie hier fest, damit sie keine weiteren Nachforschungen anstellte. Doch sie würde sich nichts einreden lassen. Sie würde ihre Tochter finden. Und diese Monster umbringen. Ein Beben durchzog ihren Körper. Der Gedanke, dass man ihrer Kleinen wehtat, erschütterte sie bis ins Mark.

Die Doppeltür zur Cafeteria wurde geöffnet und der Chefarzt trat ein. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Sie ging jede Wette ein, dass er versuchte, sie in die geschlossene Psychiatrie zu verfrachten, damit sie ihm nicht mehr in die Quere kam. Doch das würde sie nicht zulassen. Und wenn sie ihn k. o. schlagen musste. Sie würde ihre Tochter finden.

Dietrich folgte ein Mann Anfang bis Mitte vierzig mit kräftiger Statur, braunen, kurz geschnittenen Haaren, Schnurrbart und einem finsteren Blick. Seiner Haltung nach sicher ein Polizist. Welchen Müll hatte Dietrich ihm wohl erzählt? Sie konnte nur hoffen, dass dieser nicht so dumm war, dem Arzt zu glauben.

„Frau Raunfeld, ich hatte Sie gebeten, die Räumlichkeiten unseres Personals nicht ohne Genehmigung zu betreten.“

Fick dich. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

„Frau Raunfeld?“ Dietrich blieb vor ihr stehen.

Ihr Blick blieb starr geradeaus gerichtet. Sie brauchte ihn gar nicht erst zu fragen, wo sich ihre Tochter aufhielt. Eine Antwort bekam sie ohnehin nicht. Sobald er weg war, würde sie ihre Suche fortsetzen.

„Prof. Dietrich, wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gerne mit Frau Raunfeld sprechen.“ Der Mann, der hinter Dietrich gestanden hatte, trat einen Schritt nach vorn.

Dietrich deutete auf ihn. „Frau Raunfeld, das ist Herr Keller von der Kripo Stuttgart. Er möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, damit wir gemeinsam eine Lösung finden können.“

Pah, von wegen. Die Lösung war, dass man ihr Cecilie zurückgab.

Keller zog einen Stuhl zu sich heran und setzte sich ihr gegenüber. „Ich stelle Ihnen jetzt ein paar Fragen, wenn das okay ist?“

Sie schwieg.

„Was haben Sie in dem Büro des Oberarztes gesucht?“, fuhr er fort.

Nadja spürte, wie der Blick des Kommissars sie durchbohrte, während sie demonstrativ an ihm vorbeisah. Keine Silbe würde sie ihm verraten, solange Dietrich hinter ihm stand und nur auf eine Gelegenheit wartete, sie aus dem Verkehr zu ziehen.

„Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe?“ Sein Ton klang nicht besonders freundlich.

Sie blickte in die Ferne, dachte an Hannah. An Cecilie. Der bohrende Schmerz schoss durch ihre Brust. Ein Kind war tot, das andere entführt. Und anstatt den Verbrechern das Handwerk zu legen, wurde sie verhört wie eine Schwerverbrecherin.

„Ich sage Ihnen nichts, solange Dr. Frankenstein und die beiden Typen aus Matrix hier stehen.“ Sie wies mit dem Kopf zur Seite.

Dietrich verdrehte die Augen.

„Geben Sie uns einen Moment?“ Keller drehte sich zu dem Chefarzt um.

„In Ordnung. Ich habe sowieso noch einen Termin.“ Dietrich gab den beiden Sicherheitsleuten ein Handzeichen und sie verließen die Cafeteria. Sie sah dem Chefarzt nach, bis dieser aus ihrem Sichtfeld verschwand. Die beiden Sicherheitsmänner blieben vor der Glastür zur Cafeteria stehen.

„Was ist passiert?“

Sie beugte sich vor und senkte die Stimme. „Die Klinik hat meine Tochter entführt. Und ich muss wissen, wohin die sie gebracht haben.“

„Sie meinen Hannah?“

Das lachende Gesicht von Hannah tauchte vor ihr auf. Guck mal, Mama, was ich gefunden hab. Hannah nahm ein dreiblättriges Kleeblatt und hielt mit dem Finger ein weiteres Blättchen dazu. Das Licht der Abendsonne schien auf ihre rostbraunen Haare und sie strahlte über das ganze Gesicht. Du schummelst doch, das seh ich. Sie lachte und kniff ihrer Tochter in die Seite.

Erinnerungen wie aus einem anderen Leben. Das Bild verblasste und der tote Körper ihrer Tochter lag vor ihr auf der Bahre. Hannah, ihre kleine Prinzessin. Eine Träne lief ihr über die Wange. Eilig wischte sie sich übers Gesicht.

„Nein, ich meine nicht Hannah.“ Ihre Stimme war ein Flüstern geworden. „Ich meine Cecilie. Mein Baby. Als sie mich eingeliefert haben, war ich im neunten Monat schwanger. Als ich in einem Krankenzimmer wieder aufgewacht bin, war der Bauch weg und von meiner Tochter keine Spur. Und jetzt behaupten sie, Cecilie hätte nie existiert.“

Keller beugte sich vor. An seinem abwertenden Blick konnte sie erkennen, dass er ihr nicht glaubte. „Als sie wieder aufgewacht sind? Sie meinen nach dem Unfall?“

Sie nickte. „Ich war danach eine Zeit lang bewusstlos. Die Zeit haben sie genutzt, um mein Baby zu entführen.“

„Frau Raunfeld, was mit Ihrer Tochter Hannah geschehen ist, tut mir leid. Aber laut Prof. Dietrich hat es nie ein Baby gegeben. Sie wurden mit einem künstlichen Babybauch unter der Kleidung hier im Krankenhaus eingeliefert.“

Sie gab ein verächtliches Schnauben von sich. „Künstlicher Babybauch.“ Sie schüttelte den Kopf. „Das haben die Ihnen erzählt?“

„Ja.“

„Und Sie glauben den Schwachsinn?“

„Bisher habe ich keinen Grund, von etwas anderem auszugehen.“ Keller lehnte sich zurück. „Aber das lässt sich relativ einfach überprüfen. Wenn es wirklich ein Baby gegeben hätte, das ohne ihr Wissen aus ihrem Bauch entfernt wurde, dann müssten sie jetzt eine Kaiserschnittnarbe an ihrem Unterbauch haben.“ Er zog die Brauen hoch.

Sie hatte keine Ahnung, wie es die Klinik angestellt hatte, aber es gab sicher einen Weg, das Baby ohne Narbe zu entfernen. „Ich habe meinen Wochenfluss, den hätte ich nicht ohne Schwangerschaft.“

„Das kann ich jetzt leider nicht überprüfen.“ Er blickte sie herablassend an. „Aber es gibt bestimmt Eltern, Verwandte, den Kindsvater …“ Er warf ihr einen kurzen Blick zu. „… die ihre Schwangerschaft bestätigen können?“

Sie dachte an ihre Eltern, die keinen Kontakt mehr zu ihr wollten. Weil sie nicht in ihre heile, kleine Welt hineinpasste. Cecilies Vater, der sie in irgendeiner Bar aufgegabelt und sie dann sitzen gelassen hatte.

Sie griff in ihre Handtasche und hielt Keller ein Ultraschallbild von Cecilie vors Gesicht. „Zufrieden?“

Der Ermittler nahm es entgegen und betrachtete es eingehend, aber da er die Augen zusammenkniff, schien er nicht überzeugt. Sie riss es ihm aus der Hand.

„Wenn Sie tatsächlich schwanger waren, dann wird es doch jemanden geben, der das bezeugen kann, oder nicht? Sie werden wohl zu irgendwem in Kontakt stehen oder bei einer Frauenärztin gewesen sein, die das bestätigt? Wer hat denn das Ultraschallbild gemacht?“

„Dr. Rainer Kastjansen“, zischte sie. „Aber der steckt mit denen unter einer Decke.“ Sie kam sich schon selbst wie eine Verschwörungstheoretikerin vor. Doch genau so war es. Und dieser Kommissar zog noch nicht einmal die Möglichkeit in Betracht, dass sie die Wahrheit sagte.

Keller zog sein Handy heraus und notierte etwas. „Haben Sie einen Mutterpass?“

Es war klar, dass der Kommissar danach fragte. Obwohl sie ihre ganze Handtasche durchwühlt hatte, war das verflixte Ding nirgends zu finden. Sie zuckte mit den Schultern. „Es gibt noch Justus Raunfeld. Hannahs Vater. Er wohnt am Goldberg in Sindelfingen. Ich habe Hannah dort jedes zweite Wochenende abgeliefert – er kann es bestätigen.“

Keller tippte abermals auf seinem Handy herum.

„Sprechen Sie mit Saskia Bertel. Ihr Kind wurde auch entführt.“ Sie presste die Lippen aufeinander.

„Und wo finde ich Saskia Bertel?“

„Daheim in ihrer Wohnung. Adresse kenne ich nicht.“ Keller ließ das Handy wieder in seiner Tasche verschwinden.

„Hatten Sie nach ihrer Einlieferung hier Kontakt zu einer Frauenärztin in der Klinik?“

Sie nickte. „Dr. Wieland. Sie hat ihr Büro im ersten Stock, aber von ihr werden sie nur weitere Lügengeschichten hören.“

Er ging nicht darauf ein, stattdessen erhob er sich. „Gut, ich werde mit allen Beteiligten sprechen. Danach melde ich mich bei Ihnen.“ Er klang in keiner Weise überzeugt.

Einem Impuls folgend griff sie Kellers Arm. „Warten Sie!“

Der Ermittler drehte sich zu ihr.

„Haben Sie Kinder?“

Er schüttelte den Kopf.

„Helfen Sie mir, bitte.“ Die Verzweiflung lag wie ein Stein auf ihrer Brust, der sie langsam erdrückte. Es ging um ihre Tochter. Die Polizei musste ihr bei der Suche helfen.

„Ich weiß, die halten mich verrückt, aber das stimmt nicht. Seit Monaten habe ich auf diesen einen Moment gewartet. Auf den Augenblick, in dem Cecilie zur Welt kommt und ich sie endlich in den Armen halte.“ Tränen liefen über ihre Wange. „Auch Hannah war schon total aufgeregt, konnte es gar nicht erwarten, ihr kleines Schwesterlein zu sehen. Ich habe mir eine größere Wohnung angeschafft; das Zimmer für die kleine Cecilie dekoriert. Und dann war dieser Unfall.“ Sie schloss die Augen. Erinnerungen schossen in ihr hoch. „Und als ich im Krankenhaus zu mir komme, ist Hannah …“ Die Stimme versagte ihr. „Ist Hannah weg und mein Neugeborenes soll es nie gegeben haben. Können Sie sich vorstellen, wie ich mich fühle? Was die mir angetan haben?“ Sie hielt inne. „Bitte helfen Sie mir, meine Tochter zu finden. Ich weiß, dass sie am Leben ist. Eine Mutter spürt so etwas. Finden Sie sie, bevor ihr etwas Schreckliches zustößt.“

Hatte sie ihn erreicht? Für einen Moment geschah gar nichts. Er stand einfach nur da und sah sie an.

Dann nahm er ihre Hand, die noch immer auf seinem Arm ruhte und legte sie neben ihm ab. Sein Blick wirkte nachdenklich.

„Ich melde mich.“ Er drehte sich um und ging.

Ihre Hoffnung fiel in sich zusammen. „Cecilie“, flüsterte sie. „Mami hat dich lieb.“ Sie schlug die Hände vors Gesicht und ließ ihren Tränen freien Lauf.

-5-

Julia war auf dem Weg ins Büro, als ihr Handy klingelte. Sie zog es hervor. Das Display zeigte die Nummer ihres Vorgesetzten. „Was gibt’s?“

„Justus Raunfeld“, sagte Keller anstelle einer Begrüßung. „Vater von Hannah Raunfeld. Wohnt oben am Goldberg. Fahren Sie hin und fragen Sie ihn, ob er die Schwangerschaft von Nadja Raunfeld bestätigen kann. Laut der Klinik hat es die nämlich nie gegeben. Adresse schicke ich Ihnen.“

Julia kam sich völlig überrumpelt vor. „Wer ist Nadja Raunfeld?“

„Eine Frau mit Hirngespinsten.“

Ehe Julia etwas antworten konnte, war die Verbindung weg. Sie seufzte. Ihr Vorgesetzter war schon immer sparsam mit Erklärungen gewesen. Oder allgemein mit Worten. Am besten fuhr sie hin und ging den Hirngespinsten auf die Spur.

 

Eine halbe Stunde später verließ Julia die Autobahn, die sie durch das dicht bewaldete Gebiet geführt hatte, das Stuttgart-Vaihingen von Sindelfingen trennte. Sie folgte der Straße und entdeckte auf der linken Seite das Breuningerland, ein riesiges Einkaufszentrum, das sie mal als Kind mit ihrer Mutter besucht hatte und das durch seine imposante Größe herausstach. Das Navi führte sie durch ein wenig einladendes Industrieviertel, bis sie schließlich ihr Ziel in der Goldmühlestraße erreichte.

Julia ging auf das achtstöckige Hochhaus zu, in dem Justus Raunfeld wohnte. Sie stieg die Stufen hinab zur Eingangstür und drückte die Klingel.

„Ja?“, erklang eine hohe Männerstimme.

„Mein Name ist Beck, Kripo Stuttgart. Ich hätte ein paar Fragen zu Ihrer Frau Nadja Raunfeld. Darf ich kurz reinkommen?“

Raunfeld stieß einen Seufzer aus, bevor der Türöffner summte.

Wenige Augenblicke später stand Julia einem gut ein Meter neunzig großen Mann Anfang dreißig mit dunkelbraunen, wirr vom Kopf abstehenden Haaren und schmaler Stirn gegenüber. „Kommen Sie herein.“

„Danke.“ Julia lächelte. Die Wohnung war in einem chaotischen Zustand und besaß eine große offene Essküche sowie zwei weiteren Zimmern. Auf dem Boden standen einige Bierflaschen; einige Zettel mit Notizen lagen auf dem Tisch verteilt. Zwischen halb leeren Pizzakartons befand sich ein eingeschalteter Laptop. In der Ecke stand ein bunter, mit Wasserfarben bemalter Rucksack. Raunfeld führte sie mit hängenden Schultern in das große Esszimmer.

„Was kann ich denn für Sie tun?“ Seine Stimme klang müde und erschöpft.

„Wie eingangs erwähnt, habe ich ein paar Fragen zu Ihrer Frau Nadja Raunfeld.“

„Ex-Frau“, sagte Raunfeld prompt. Eine Information, die Keller ihr natürlich verschwiegen hatte. Er wies auf einen freien Stuhl und Julia ließ sich nieder. „Sie leben getrennt?“

Raunfeld nickte. „Schon seit einem dreiviertel Jahr. Wir haben uns abwechselnd um Hannah gekümmert.“ Er blickte zu Boden. „Nadja hatte das Sorgerecht, aber ich uneingeschränktes Besuchsrecht. Wir haben uns geeinigt, dass Hannah jedes zweite Wochenende immer von Freitag bis Sonntag bei mir ist, dann holt Nadja sie wieder ab.“ Er sah sie an. Sein Blick wirkte traurig, auch wenn Julia noch nicht wusste, warum.

„Waren Sie damit einverstanden?“

„Da ich berufstätig bin und Nadja nur in Teilzeit arbeitet, war es für mich okay, ja.“

„Heute haben Sie frei?“

Raunfeld nickte. Es war nicht ganz einfach in letzter Zeit.“ Er fuhr sich durch die Haare. „Warum stellen Sie mir all diese Fragen? Wie geht es Nadja?“

Julia hatte das Gefühl, dass Keller ihr das Wesentliche verschwiegen hatte. Sie beschloss der Sache auf den Grund zu gehen.

„Was meinen Sie damit, dass es in letzter Zeit nicht einfach war?“

Raunfeld hob den Kopf. „Sie wissen gar nichts von Hannahs Tod?“

Sie fluchte. Wieso sagte ihr Keller so was nicht? „Nein. Was ist passiert?“

„Sie starb vor ungefähr einem Monat bei einem Autounfall. Ein anderes Fahrzeug hat mitten auf der Fahrbahn gedreht und Nadja konnte nicht mehr bremsen. Sie hat überlebt, die andere Fahrerin nicht. Hannah …“ Er verbarg sein Gesicht in den Händen. „Sie starb im Krankenhaus.“

„Das tut mir sehr leid.“ Julia konnte den Schmerz von Raunfeld gut nachempfinden, seit ihre Mutter zweieinhalb Jahre zuvor gestorben war. Ein dumpfes Gefühl bahnte sich den Weg an die Oberfläche. Julia richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Raunfeld, um die aufsteigenden Bilder zu verdrängen.

„Es lässt sich nicht mehr ändern. Warum sind Sie hier?“

„Ich würde gerne wissen, wann Sie ihre Ex-Frau das letzte Mal gesehen haben?“

Er zuckte mit den Schultern. „Vor dem Unfall.“

Julia zog die Brauen hoch. „Danach nicht mehr? Immerhin haben Sie ihr gemeinsames Kind verloren.“

Raunfeld atmete tief aus. „Bei meinem Besuch im Krankenhaus war sie noch nicht ansprechbar. Ich habe danach mehrfach versucht, sie telefonisch zu erreichen, aber sie ging nie dran. Als es später um die Organisation der Beerdigung ging, hat sie sich um nichts gekümmert. Irgendwann habe ich ihr den Termin für die Beisetzung geschickt, aber noch nicht einmal dort ist sie aufgetaucht. Danach hatte ich die Nase voll. Ich vermute, sie gibt mir die Schuld an Hannahs Tod.“

„Gibt es dafür einen Grund?“

„Na ja, wir haben uns wieder einmal gestritten, wer Hannah vom Kindergarten abholt, und dann ist Nadja wutentbrannt losgerast, trotz Unwetters. Dabei haben sie sogar Hannahs Tasche vergessen.“ Er deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung des Rucksacks. „Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn …“

Er schluckte.

„Machen Sie sich keine Vorwürfe. Niemand konnte ahnen, was passiert.“ Julia berührte mit der Hand seinen Arm. Sie musste langsam mit der Sprache herausrücken. Trotzdem hatten ihr die Fragen ein umfassendes Bild von der Situation verschafft. Wenn es einen Monat her war, dass Raunfeld seine Ex zuletzt gesehen hatte, konnte er definitiv sagen, ob seine Ex schwanger gewesen war oder nicht. Die Frage brannte ihr auf der Zunge.

„Mag sein.“ Raunfeld seufzte. „Was ist jetzt mit Nadja?“ Er richtete sich auf seinem Stuhl auf und blickte die Kommissarin mit hochgezogenen Brauen an.

„Ich würde gerne wissen, ob sie schwanger gewesen ist?“ Sie hielt die Luft an.

Raunfeld hob die Augenbrauen. „Natürlich ist sie schwanger gewesen.“ Er blickte sie halb irritiert, halb belustigt an. „Im neunten Monat.“ Auf seiner Stirn zeichneten sich Sorgenfalten ab. „Ist ihrem Baby etwas passiert?“

Seltsam, dachte Julia. Sie wusste zwar nicht, was die Klinik genau erzählt hatte, aber bei der Schwangerschaft handelte es sich definitiv nicht um ein Hirngespinst. „War das Kind von Ihnen?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Nadja hat mir nicht gesagt, wer der Vater ist, und es war mir auch egal. Aber es wäre nett, Sie würden auch mal meine Fragen beantworten.“ Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Ich weiß nicht, was mit dem Baby ist.“ Sollte sie es ihm sagen? Sie nahm einen tiefen Atemzug. „Laut der Klinik hat es nie eine Schwangerschaft gegeben.“

Raunfeld starrte sie mit offenem Mund an. „Sie nehmen mich auf den Arm?“

„Ich fürchte nein. Es gibt keine Zweifel bezüglich der Schwangerschaft?“

„Wie gesagt, das Kind war nicht von mir, aber ihr Bauch wurde bei jedem Besuch größer, also nein, es gibt keinen Zweifel. Erkundigen Sie sich am besten Mal bei Ihrer Arbeitsstelle oder bei ihren Eltern.“ Er schüttelte den Kopf. „Wie kommt die Klinik auf die Idee, dass es nie eine Schwangerschaft gegeben hätte?“

Das war die entscheidende Frage, dachte Julia. Ihre Neugier war geweckt – und sie würde der Sache nachgehen.