1. Kapitel
Das Haus lag am Ende der kleinen Straße nahe des Waldrandes. Der Putz war mit den Jahren grau und rissig geworden und der Garten, der bis zu den Bäumen reichte, die den Hang emporwuchsen, schien seit Langem unberührt zu sein. Er war von einem rostigen Maschendraht umgeben. Vor der alten eichenen Eingangstür verkümmerte eine rote Geranie als einsamer Farbfleck dahin.
Rosa Wiedemann stand davor und ihre Gedanken gingen weit zurück. Als sie damals das erste Mal bei ihrer Tante Agathe Schill in Bielefeld direkt am Fuße des Teutoburger Waldes Ferien gemacht hatte, war sie zehn Jahre alt gewesen. Es war eine wunderschöne Zeit und jedes Jahr in den Ferien kam sie zurück. Rosa erinnerte sich an lange Wanderungen, Feste auf der Sparrenburg, Besuche im Tierpark und gemütliche Abende mit Tante Agathe auf der Terrasse.
Als Teenager besuchte sie ihre Tante nur noch selten. Nach dem Abitur ging Rosa zum Entsetzen von Tante Agathe zur Polizei nach Niedersachsen. Danach beschränkte sich der Kontakt auf Telefonate zu Weihnachten oder Urlaubskarten. Und nun war Tante Agathe gestorben und hatte Rosa das Haus hinterlassen. Rosa kam es wie ein Wink des Schicksals vor. Gerade hatte sie ihren Dienst als Hauptkommissarin der Wilhelmshavener Kriminalpolizei quittiert, und war mit sechzig Jahren in den Vorruhestand gegangen.
Nach kurzem Überlegen entschloss sie sich, das Haus instand setzen zu lassen und nach Ostwestfalen zu ziehen. Sie hatte sich ihre Lebensversicherung auszahlen lassen und kurz darauf war mit der Renovierung begonnen worden.
Ein handgeschriebenes Pappschild mit der Hausnummer und ihrem Namen war nun, Monate später, mit einem Nagel in einen Pfahl geschlagen worden, der direkt neben der Tür stand, und ein alter Briefkasten war darunter angebracht. Seitlich neben dem Haus stand ein Baustoffcontainer, und der Zaun war teilweise eingerissen. Ein Auto fuhr vor und eine Dame in Wanderkleidung stieg aus. Im selben Moment öffnete sich die Haustür und die Besitzerin, ebenfalls in Wanderkleidung, trat heraus.
»Wie schön, dass du kommst, Simone«, begrüßte sie die Besucherin. »Komm einen Moment herein. Ich habe meinen Rucksack noch nicht gepackt.«
Drinnen sah es wild aus. Überall standen Kartons herum und alte Möbel waren im Eingangsbereich so eng zusammengeschoben, dass man kaum die Treppe ins Obergeschoss erreichen konnte.
»Ist das schrecklich, Rosa«, stöhnte Simone und folgte der Hausherrin, die sich gerade durch den engen Gang quetschte, der rechts zwischen den Möbeln freigelassen worden war. »Wie kannst du nur hier wohnen?«
»Komm in die Küche. Da ist schon alles fertig«, rief Rosa ihr zu und plötzlich stand Simone in einer hellen, freundlichen Küche, die komplett neu eingerichtet war.
»Das ist aber hübsch geworden«, lobte sie.
Rosa nickte. »Im Obergeschoss ist auch schon alles fertig. Wir können gern hochgehen, wenn du es dir anschauen willst.«
Sie packte ihren Rucksack, der schon auf dem Küchentisch bereitlag, schulterte ihn und ging durch den schmalen Gang zurück zur Treppe, die nur erreichbar war, wenn man über eine abgelegte Leiter stieg.
»Es ist richtig gefährlich bei dir«, maulte Simone und blickte skeptisch die Treppe hinauf, die mit einer Folie ausgelegt war. »Stell dir vor, du fällst herunter. Du bist hier schließlich allein und niemand kann dir helfen«, meinte sie vorwurfsvoll und fuhr fort: »Die Besichtigung erspare ich mir für später. Lass uns lieber gehen.«
»Wie du meinst«, antwortete Rosa, ohne auf Simones Warnung einzugehen. »Die Handwerker kommen am Montag wieder. Wenn es fertig ist, kannst du dir alles in Ruhe ansehen.«
Sie gingen zügig den Berg hinauf und hatten schnell den Hermannsweg erreicht.
Simone Stern war eine langjährige Freundin von Rosa. Sie hatten sich vor zwanzig Jahren in Wilhelmshaven zum ersten Mal gesehen. Damals war Simone für ein Fotoprojekt an die Küste gekommen und hatte Rosa bei einem Strandspaziergang kennengelernt. Die beiden Frauen hatten seitdem immer Kontakt gehalten und sich einmal im Jahr getroffen. Manchmal in Bielefeld, manchmal in Wilhelmshaven. Simone war etwas jünger als Rosa und arbeitete noch immer in einer Werbeagentur, deshalb hatte sie bei allen Wanderungen stets ihre Kamera dabei. Während sie plaudernd den Weg entlanggingen, kitzelte Zwiebelduft in ihrer Nase und Rosa sog ihn genüsslich ein, als wäre es lieblicher Rosenduft. Sie hatte sich schon lange auf diese gemeinsame Wanderung gefreut.
»Puh, stinkt das hier wieder nach Zwiebeln«, stieß Simone Stern aus. »Ich weiß wirklich nicht, was die Leute an diesem Bärlauch finden.«
»Wenn du Zwiebelduft nicht ausstehen kannst, warum bist du dann mitgekommen?«, gab Rosa leicht verärgert zurück und zupfte ein Blatt ab, um den Duft zu inhalieren.
»Weil ich den Bärlauch fotografieren muss, denn die Fotoserie für Zwiebelpflanzen bringt mir richtig Geld ein«, gab Simone zurück und packte ihre Kamera aus. Um die Blüten gut in Szene setzen zu können, ging sie in das Bärlauchfeld hinein, hockte sich hin und knipste die Dolden im Großformat. Immer tiefer ging sie ins Unterholz und Rosa lief ungeduldig den Weg auf und ab. Nach einer Viertelstunde rief sie verärgert: »Wenn du noch lange brauchst, gehe ich allein weiter!«
»Ich bin gleich so weit«, rief Simone und hockte sich für eine Nahaufnahme ganz tief auf die Erde. Gerade als sie sich aufrichten wollte, stieß sie mit dem Fuß an einen Gegenstand. Sie schrak zusammen und schrie: »Rosa! Hilfe! Hier liegt jemand!«
Fast vollständig vom Bärlauch verdeckt, direkt vor ihren Füßen, lag bäuchlings eine leblose Gestalt. Simone war blass geworden. »Komm endlich her, Rosa!«, schrie sie aufgewühlt und wich automatisch zurück.
***
Kommissar Torben Tamme hatte seine Ausbildung in Wilhelmshaven gemacht und sich dann nach Bielefeld versetzen lassen, weil die Stelle dort seiner Vorstellung von Ermittlungsarbeit am nächsten kam. Er war äußerst zufrieden. Seine erste Arbeitswoche in Bielefeld konnte gar nicht besser laufen. Die Kollegen vom Kriminalkommissariat 11 hatten ihn freundlich empfangen, der Dienststellenleiter seine guten Zeugnisse gelobt und das Büro seines Vorgängers war ihm frisch gestrichen und neu eingerichtet übergeben worden. Inzwischen war es fast Mittag. Tamme holte seine Jacke aus dem Schrank, um in die Kantine zu gehen.
Just in diesem Moment kam Hauptkommissar Oskar Stahlmann hereingestürmt und rief: »Am Hermannsweg ist eine Tote gefunden worden. Da können Sie gleich zeigen, was Sie im Norden gelernt haben!«
Stahlmann fuhr den Wagen bis Dornberg hinunter und dann in den Berg hinein. Der Weg war steinig und ging steil bergauf. Der Motor dröhnte. Es dauerte eine Viertelstunde, bis sie auf einem flachen Wegstück angelangten und nun gut vorankamen. Rechts und links des Weges dehnten sich Teppiche von grün-weiß blühenden Zwiebelpflanzen aus. Interessiert wollte Tamme fragen, um welche Blumen es sich hierbei handelte, als plötzlich direkt vor dem Wagen eine dunkelhaarige Frau mittleren Alters wild mit den Armen fuchtelte. Sie trug Wanderkleidung und derbe Schuhe, ihren Rucksack hatte sie auf einem Holzstapel abgelegt. Aufgeregt überfiel sie die Beamten mit einem Schwall von Worten, als diese gerade aussteigen wollten.
»Endlich!«, rief sie atemlos. »Ich dachte schon, Sie kommen gar nicht mehr!« Gerade als Stahlmann seinen Ausweis zeigte, erschien eine weitere Dame. Sie war blond und trug eine grüne Kappe, die fast ihr ganzes Gesicht verdeckte, und erklärte: »Die Tote liegt dort drüben.« Sie wies mit der Hand zu einem großen Baum mitten in dem Blumenfeld hinüber. »Meine Freundin hat Fotos vom Bärlauch gemacht. Dabei hat sie die Leiche entdeckt.«
Stahlmann und Tamme hatten ihre Schuhe mit durchsichtigen Überziehern geschützt und gingen vorsichtig durch die grünen Blätter in die zugewiesene Richtung. Schon nach wenigen Sekunden blieben sie stehen. Tamme streifte Einmalhandschuhe über und hockte sich neben die Leiche. Die Frau war etwa zwanzig bis dreißig Jahre alt, hatte ihre schulterlangen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und trug ein schwarzes T-Shirt, eine schwarze knielange Laufhose und weiße Laufschuhe mit rosa Streifen. Ihr Körper war noch warm. Eine lederne Schnur, die Tamme für eine Hundeleine hielt, war um ihren Hals geschlungen und in ihren starren Augen spiegelte sich blankes Entsetzen.
Trotz seiner genauen Untersuchung, die von Stahlmann, der neben ihm stand, und ihn abwartend musterte, genau verfolgt wurde, war Tamme mit den Gedanken bei der blonden Dame mit der Kappe. Denn diese war seine ehemalige Ausbilderin von der Polizei in Wilhelmshaven. Er fragte sich, was sie hier im Wald ausgerechnet bei seinem ersten Fall im neuen Amt zu suchen hatte.
***
Simone Stern stand auf dem Weg und beobachtete die beiden Herren wie sie vorsichtig, um keine Spuren zu verwischen, die Leiche begutachteten.
»Der junge Mann hat dich gemustert, als würde er dich kennen«, stellte sie fest. Rosa Wiedemann hatte den Kommissar ebenfalls sogleich erkannt.
»Er hat bei mir seine Ausbildung gemacht«, erklärte Rosa. Sie war bleich im Gesicht und man sah ihr an, dass sie nicht gerade erfreut war. Es war für sie immer eine gewaltige Überwindung gewesen, eine Leiche zu begutachten und daran hatte sich nichts geändert. Darum hatte sie ihren Beruf unter anderem so zeitig aufgegeben. Das junge Gesicht der Frau hatte sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt und sie wusste, dass es Tage dauern würde, bis es langsam verblassen würde.
Sie seufzte und wandte sich an Simone. »Es war nicht mein Plan, hier auf eine Tote zu stoßen.« Sie holte tief Luft und schlug fröstelnd die Arme um ihren Oberkörper. »Die arme Frau. Ich darf gar nicht hinsehen.« Trotz ihrer Worte musterte sie die beiden Männer skeptisch und registrierte genau, wie diese sich verhielten.
Der Hauptkommissar kam nach wenigen Minuten auf den Weg zurück und wandte sich an Rosa.
»Tamme hat mir gerade mitgeteilt, dass Sie eine Kollegin sind.« Er lächelte Rosa an. »Dann schießen Sie mal los. Was sagt Ihr Ermittlerinstinkt?«
Rosa maß den Hauptkommissar mit einem Blick wie Eiswasser und runzelte empört die Stirn. »Ich befinde mich seit exakt zehn Monaten im Ruhestand«, teilte sie ihm mit rauer Stimme mit. »Das Ermitteln überlasse ich also gerne Ihnen.«
Stahlmann lächelte charmant. »Sie haben sich doch sicher Gedanken gemacht, oder?«
Rosa nickte. »Offensichtlich ist die Frau erdrosselt worden. Der Täter könnte sich ihr auf dem Weg von hinten unbemerkt genähert, den Überraschungsmoment genutzt, und ihr dann das Band um den Hals geschlungen haben. Zumindest war das meine erste Einschätzung«, erklärte sie. Dann zögerte sie einen Moment lang und fügte hinzu: »Das Tatwerkzeug ist nach meinem Ermessen das abgeschnittene Stück einer Hundeleine.«
Stahlmann und Tamme nickten fast gleichzeitig. Tamme streifte seine Handschuhe ab.
»Genau, Frau Wiedemann, ich tippe auch auf eine Hundeleine«, sagte er. »Die Frau kann noch nicht sehr lange tot sein, denn die Totenstarre ist noch nicht eingetreten. Ist Ihnen auf Ihrem Weg hierher etwas aufgefallen?«
»Wir sind vor einer halben Stunde in Zweischlingen gestartet«, fuhr Simone Stern dazwischen. »Uns ist niemand entgegengekommen.« Rosa gab ihrer Freundin recht und erklärte: »Wir werden die Augen aber offenhalten.«
»Haben Sie die Tote schon vorher irgendwo gesehen? Ist sie Ihnen bekannt?«, wollte Stahlmann wissen. Beide Frauen verneinten.
***
Nachdem sie ihre Personalien hinterlassen hatten, gab Rosa Simone ein Zeichen und marschierte entschlossen davon. Ihre Freundin stolperte ihr hinterher und raunte ihr verärgert zu: »Warum hast du es so eilig? Ich hätte mir noch gern angeschaut, was die da so machen.«
»Was sollen sie schon machen?«, fauchte Rosa unwillig und legte einen schnellen Schritt vor. »Die Spurensicherung, der Arzt und der Fotograf kommen jetzt hierher. Es ist doch immer dasselbe. Ich habe keine Lust, mir davon diesen herrlichen Tag verderben zu lassen.«
Simone seufzte. »Ich weiß, dass du dich auskennst, aber ich hätte mir schon gern angeschaut, was da so abgeht und ein paar Fotos gemacht.«
»Dann dreh doch um!«, erwiderte Rosa entnervt. »Ich habe jedenfalls keine Lust darauf. Ich will nicht schon wieder mit Leichen konfrontiert werden. Mein Bedarf an Ermittlungen ist gedeckt.«
»Schon gut, schon gut«, murrte Simone und marschierte stumm hinter Rosa her.
Als sie den Tierpark Olderdissen erreicht hatten, setzten sie sich auf eine Bank und stärkten sich an den mitgenommenen Butterbroten. Rosa war äußerst wortkarg und Simone grübelte vor sich hin. Obwohl sie es nicht zugeben wollte, war Rosa in Gedanken genauso intensiv mit der Toten beschäftigt, wie Simone. Nach der kurzen Pause entschlossen sie sich, zurückzugehen.
Als sie den Ort des Geschehens wieder erreichten, wurde die Leiche der jungen Frau gerade zur Obduktion weggebracht. Die Kommissare waren bereits abgefahren und die Beamten der Spurensicherung stiegen ebenfalls in ihr Fahrzeug und fuhren davon.
»Siehst du, nichts Spektakuläres«, verkündete Rosa. »Die Leiche wird nun zur Rechtsmedizin gebracht, um die Todesursache noch einmal genau zu untersuchen.«
»Wo ist denn hier die Rechtsmedizin?«
»Keine Ahnung.«
»Du könntest doch diesen Herrn Tamme fragen. Du kennst ihn doch«, warf Simone ein. »Dann weißt du auch gleich, wer die Tote ist.«
»Den Teufel werde ich tun«, empörte sich Rosa. »Vergiss nicht: Ich bin nicht mehr im Dienst. Außerdem darf Tamme Außenstehenden gar nichts von Ermittlungsergebnissen berichten.«
»Erzähl doch keine Märchen. Du bist noch immer Beamtin. Mit dir darf er sich also darüber unterhalten.«
Jetzt lächelte Rosa. »Er darf, aber er muss nicht«, erklärte sie. »Tamme war keinesfalls begeistert mich zu sehen. Der würde mit mir den Fall bestimmt nicht erörtern.«
»Warum? Hattet ihr Streit?«
»Wir hatten gewisse Diskrepanzen. Schließlich war ich seine Vorgesetzte.«
»Ich verstehe«, sagte Simone und wurde ungehalten. »Du hast keine Lust, dein kriminologisches Gespür spielen zu lassen.«
»So ist es.« Rosa ging schnellen Schrittes an der Stelle vorbei, an der noch vor einigen Stunden die Leiche gelegen hatte und Simone schloss sich ihr stumm an. Die beiden Frauen hingen ihren Gedanken nach, schritten zügig voran und waren schon eine halbe Stunde später an Rosas Häuschen angelangt. Simone verabschiedete sich eilig und Rosa war es nur recht. Sie hatte einiges vorzubereiten, denn die Maler sollten am Montag innen fertig werden.
***
Im Kommissariat standen Tamme und Stahlmann vor der Karte und überprüften die verschiedenen Wege, die durch den Wald verliefen und mit dem Hermannsweg in Verbindung standen. Der Arzt hatte nach einer kurzen Untersuchung die Todesursache bestätigt. Die junge Frau war gut durchtrainiert, einen Meter siebzig groß und mittelblond. Tamme hatte bereits eine Rundmail mit Foto an alle Sportvereine im Umkreis versandt, weil er davon ausging, dass die junge Frau regelmäßig joggte und einer festen Läufergruppe angehörte. Keine Stunde später hatte er das Ergebnis vorliegen. Sie hieß Sonja Pauls, war achtundzwanzig Jahre alt, wohnte im Bielefelder Ortsteil Quelle an der Marienfelder Straße und war Mitglied in der Sportvereinigung Brackwede.
Sofort machten Tamme und Stahlmann sich auf den Weg zur Wohnung der jungen Frau, die mit ihrem Lebensgefährten Thomas Schmitten im Obergeschoss eines Zweifamilienhauses wohnte. Als sie klingelten, war Schmitten gerade nach Hause gekommen und stand unter der Dusche. Nur mit einem Handtuch um die Hüften bekleidet, öffnete er die Haustür, stammelte angesichts der Beamten eine Entschuldigung und verschwand. Kurz darauf kam er bekleidet mit einem Jogginganzug zurück. Schmitten war groß, Tamme schätzte ihn auf einen Meter neunzig, und sehr schlank. Seine dunklen Haare wiesen leichte Geheimratsecken auf und die braunen Augen waren trotz seiner Erschütterung wachsam. Er war Lebensmitteltechniker und arbeitete in einer Brotfabrik als Kontrolleur.
Sichtlich mitgenommen vom Tod seiner Lebensgefährtin, erkundigte er sich: »Kann ich sie sehen?«
Stahlmann nickte und fragte: »Wo waren Sie heute Morgen?«
»Ich bin mit dem Zug um kurz vor zwölf Uhr auf dem Bielefelder Hauptbahnhof angekommen. Ich war in Kassel auf einer Tagung.«
»Wann haben Sie Frau Pauls zuletzt gesehen?«
»Am Mittwoch. Wir haben zu Abend gegessen und sie hat mich anschließend zur Bahn gebracht.«
»Wann war das?«
»Der Zug fuhr vom HBF um 19:10 Uhr ab. Sie stand auf dem Bahnsteig, bis der Zug die Station verlassen hat. Ich bin gegen 23:00 Uhr in meinem Hotel in Kassel angekommen.«
Nach der Befragung kleidete Schmitten sich richtig an und begleitete die Beamten aufs Präsidium. Tamme überprüfte die Angaben, die alle bestätigt wurden, und fuhr anschließend mit Schmitten zur Rechtsmedizin.
***
Rosa Wiedemann hatte am Nachmittag nach dem Leichenfund den Hausflur ausgeräumt, damit die Maler gleich am Montag im Treppenhaus beginnen konnten. Am Montagmorgen saß sie im Jogginganzug in ihrer Küche und las bei einer Tasse Kaffee die Morgenzeitung. Natürlich widmete sie dem Artikel um den Leichenfund besondere Aufmerksamkeit und erfuhr, dass der Lebensgefährte der jungen Frau als Täter ausgeschlossen worden war. Rosas Gedanken zu dem Fall wurden durch die Türklingel unterbrochen.
Die Maler waren da. Zu ihrer Freude waren sie dieses Mal zu dritt und der Meister erklärte ihr, dass sie wohl spätestens am Dienstagmittag fertig sein würden. Angesichts dieser guten Aussichten ging Rosa hinaus, um sich den Garten anzusehen, der einen mehr als jämmerlichen Eindruck machte. Sie hatte sich schon einen Plan gemacht und mit dem Gärtner gesprochen. Langsam durchschritt sie das Areal und überlegte, wo und wie sie verschiedene Sträucher anpflanzen wollte. Dann ging sie hinein, zog Pulli und Jeans an, holte sich anschließend aus dem Schuppen, der hinterm Haus stand, ihre Gummistiefel und begann den alten Zaun abzureißen.
Die Arbeit machte ihr Spaß und sie kam gut voran. Draht und alte Pfähle häufte sie neben dem Schuppen auf, damit der Gärtner, den sie bestellt hatte, alles direkt aufladen und entsorgen konnte. Hin und wieder schaute sie nach den Malern und freute sich, wie aus dem alten Haus langsam ein Schmuckstück wurde.
Trotz aller Arbeit wanderten ihre Gedanken immer wieder zu der jungen Frau, die auf so grausame Art und Weise ihr Leben verloren hatte. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, sich nicht in die Ermittlungen einzumischen, ließ der Gedanke an die Tote sie nicht mehr los.
Während ihrer Zeit in Wilhelmshaven hatte Rosa mehrere Mordfälle bearbeitet. Alle waren aufgeklärt worden, bis auf einen. Es waren fast zwanzig Jahre vergangen und es wurmte sie noch immer, dass der Täter nicht ermittelt werden konnte. Damals hatte sie sich geschworen, den Polizeidienst so früh wie möglich zu verlassen. Diesen Plan hatte sie bis zu ihrem sechzigsten Geburtstag aufgeschoben, dank Tante Agathe aber endlich umgesetzt.
Wieder erschien das Gesicht der Toten in ihrem Gedächtnis. Wenn es nicht der Freund war, wer sonst könnte ein Interesse an ihrem Tod gehabt haben? Aus der Zeitung hatte sie erfahren, dass die Polizei noch einmal das ganze Waldgebiet rund um den Leichenfund ergebnislos durchkämmt hatte. War es ein Zufallstäter, oder eventuell einer ihrer Sportkollegen, den sie hatte abblitzen lassen? In der Zeitung war die Tatwaffe abgebildet. Es war, wie sie vermutet hatte, das abgeschnittene Stück einer Hundeleine. Vielleicht erkannte ein Leser die Leine wieder, oder der angeschnittene Rest tauchte irgendwo auf.
Während sie den alten Maschendraht aufrollte und immer wieder Zaunpfähle ausgrub, durchdachte Rosa alle Möglichkeiten eines Falles, der nicht ihrer war. Ihr Vertrauen in die Fähigkeiten von Tamme, der laut Zeitung, die Ermittlungen gemeinsam mit Hauptkommissar Stahlmann leitete, war nicht besonders groß. Als die Maler ihre Mittagspause machten, setzte sie sich in die Küche und nahm noch einmal die Zeitung zur Hand, um den Artikel genauer zu studieren.
Sonja Pauls war Lehrerin an der Gesamtschule in Quelle gewesen, das hatte sie zuvor übersehen. Sofort stand ihr Plan fest, sich dort einmal umzuhören.
Am Nachmittag räumte Rosa die letzten Reste des Zauns zur Seite. Rechtschaffen müde von der ungewohnten Arbeit hätte sie sich am liebsten hingelegt, aber der Mordfall ließ ihr einfach keine Ruhe.
Kaum hatten die Maler um siebzehn Uhr Feierabend gemacht, schlüpfte sie in ihre Wanderschuhe, schwang sich den Rucksack über und wanderte den Berg hinauf zum Hermannsweg, um sich noch einmal ein Bild von der Stelle zu machen, an der die Tote gelegen hatte.
Trotz der harten Arbeit im Garten kam Rosa zügig voran. Im Gegensatz zu ihrer morgendlichen Wanderung am Samstag war dort nun richtig viel los. Ganze Trauben von Joggern kamen ihr entgegen oder überholten sie.
Kurz vor Erreichen der Stelle, an der ihre Freundin Simone Sonja Pauls Leiche entdeckt hatte, überholte Rosa einen Mann, der etwa in ihrem Alter war. Er trug einen schmuddeligen Rucksack über einem dunkelgrünen, abgenutzten Parka und verbeulte Jeans zu abgetretenen Turnschuhen und schien so gar nicht in das Bild eines Wanderers zu passen, obwohl auch er zügig dahinschritt. Rosa hatte Mühe, den Mann zu überholen, der seine schwarze Kappe tief ins Gesicht gezogen hatte. Seine Augen waren zu Boden gerichtet, sodass sie deren Farbe nicht erkennen konnte. Doch sein leicht ergrautes, dunkles Haar, welches an den Rändern unter der Kappe hervorschaute, und sein dunkler, grau durchsetzter Dreitagebart fielen ihr auf.
Einer von den vielen Obdachlosen, die in Bielefeld häufig zu sehen sind, war ihr erster Gedanke. Sie beeilte sich, weiterzukommen und als sie sich umschaute, war der Mann nicht mehr da.
An der Fundstelle der Leiche angekommen, verließ sie den Weg und schlug sich unbemerkt ins Gebüsch. Der Geruch des Bärlauchs überdeckte alle anderen Gerüche und Rosa hatte ein leichtes Kitzeln in der Nase. Sie drückte sich ein Taschentuch vors Gesicht, damit niemand ihr Niesen hören konnte. Denn eine ganze Gruppe von Läufern passierte nun die große Buche, hinter der sie sich versteckt hatte. Als die Läufer fort waren, ging sie langsam weiter und stand nun genau da, wo Sonja Pauls gelegen hatte. Rosa hockte sich hin und schaute sich die Pflanzen genauer an, die rundum etwas niedergedrückt waren, aber die Köpfe schon wieder gereckt hatten. In zwei oder drei Tagen würde man nichts mehr sehen können. Weder die Stelle, an der die Tote gelegen hatte, noch die Abdrücke der Polizistinnen und Polizisten, die den Wald durchkämmt hatten.
Als Rosa sich langsam aufrichtete, schrak sie zusammen. Der Fremde, den sie überholt hatte, stand unbeweglich auf dem Weg und sah zu ihr hinüber. Schnell erhob sie sich und wollte zu ihm gehen, doch er drehte sich abrupt um und ging davon, so eilig, dass Rosa nichts mehr von ihm sah, als sie auf den Weg trat. Sie lief noch ein Stück weiter, bis sie zur Stapenhorster Hütte kam, konnte den Mann aber nirgendwo entdecken. Wer war dieser Kerl und was machte er ausgerechnet an dem Ort, an dem man Sonja Pauls Leiche gefunden hatte? Rosas Augen suchten den Wald ergebnislos nach allen Seiten hin ab, während sie langsam zurückging. Sie passierte erneut die Fundstelle der Leiche und machte sich auf den Heimweg.
Die Sonne stand tief und einzelne Strahlen fielen durch die hohen Buchen auf den Weg. Rosa war kaum zwanzig Meter gegangen, als sie zwischen den Steinen ein Glitzern wahrnahm. Sie bückte sich und fand ein goldenes Schmuckstück. Rosa holte ein Papiertaschentuch aus ihrem Rucksack und zog damit das Schmuckstück vorsichtig zwischen den Steinen hervor. Es war eine dünne Halskette mit einem Nofretete-Anhänger. Das Kettchen war in der Mitte zerrissen. Bestimmt hatte eine Joggerin es hier verloren. Es konnte allerdings auch der Ermordeten gehören.
Rosa packte das Kleinod sorgfältig ein und wollte gerade weitergehen, als eine Gruppe von jungen Leuten ihr entgegenkam. Einige hatten verweinte Gesichter und alle hielten eine rote Rose in der Hand. Ein junger Mann mit blondem Haar und dunkler Hornbrille ging voran. Er trug ein Holzkreuz in der rechten und ein kurzes Beil in der linken Hand. Schweigsam lief die Gruppe zu der Stelle, an der die Tote gelegen hatte. Rosa blieb erstaunt stehen.
Der junge Mann stellte das Holzkreuz auf, einer hielt es fest und für einen kurzen Moment hallten die dumpfen Schläge durch den Wald, mit denen er das Kreuz in die Erde trieb. Dann legte jeder der jungen Leute eine Rose davor. Gemeinsam sprachen sie leise ein Gebet, dessen Wortlaut Rosa nicht verstehen konnte.
Ganz in Gedanken bei dem Geschehen verließ Rosa ihren Beobachtungsposten und entdeckte plötzlich den Mann mit der abgetragenen Kleidung wieder. Er stand reglos fast verdeckt von einem Gebüsch, ganz in der Nähe, wo gerade das Kreuz aufgestellt worden war. Als Rosa zu ihm hinüberschaute, verbarg er sich hastig.
Auf ihrem Heimweg musste Rosa immer wieder an den Mann denken. Sie entschloss sich, im Gegensatz zu ihrem anfänglichen Vorsatz, nun doch selbst zu ermitteln. Gedanklich hatte sie ohnehin bereits damit angefangen. Sie musste herausfinden, wer der unbekannte Mann im Wald war und was er an der Fundstelle der Leiche zu suchen gehabt hatte.
***
Im Bielefelder Präsidium im Bereich des KK11 hatte sich Tamme längst an sein Büro gewöhnt. Die erste Euphorie über seinen neuen Arbeitsplatz hatte einer hektischen Betriebsamkeit Platz gemacht. Sie hatten praktisch alle Bekannten, Verwandten und Freunde der Toten vom Hermannsweg unter die Lupe genommen. Herausgekommen war sehr wenig und Hinweise auf einen Täter gab es bisher keine. Der Lebensgefährte von Sonja Pauls kam definitiv nicht als Täter infrage. Er hatte den Morgen über im Zug gesessen, was der Schaffner, bei dem er sich nach dem pünktlichen Eintreffen des Zuges erkundigt hatte und zwei weitere Personen, die ebenfalls im Zug gesessen hatten, bestätigt hatten. Der Bericht der Rechtsmedizin hatte den Tod von Sonja Pauls exakt auf sechs Uhr dreißig in der Frühe festgelegt. Die Schnur, die die Tote um den Hals trug, war acht Millimeter breit und 1,20 Meter lang und eindeutig von einer Hundeleine aus weichem Rindsleder abgeschnitten. Er hatte sie in der Zeitung abbilden lassen, in der vagen Hoffnung, dass irgendjemand sie erkannte. Doch bisher hatte sich niemand diesbezüglich gemeldet. Die wenigen festgestellten Spuren am Tatort wiesen darauf hin, dass der Täter die Frau vom Weg abgedrängt und gleich an Ort und Stelle mit der Leine erwürgt hatte. Da es keinerlei Anzeichen einer Vergewaltigung gab, ging Tamme davon aus, dass der Täter die Frau gekannt hatte, was von Hauptkommissar Stahlmann allerdings deutlich infrage gestellt wurde. Unter den Fingernägeln der Frau hatten die Mediziner Hautpartikel von Kratzspuren feststellen können. Alle bisher vernommenen Personen waren sofort zu einer Speichelprobe bereit gewesen, die am Opfer festgestellte männliche DNA konnte allerdings bisher niemandem zugeordnet werden.
Torben Tamme hatte sich vorgenommen, nach Feierabend einen Gang durch den Teutoburger Wald zu machen. Vielleicht würde ihm etwas auffallen oder der Täter gehörte zu denen, die reumütig zurückkehrten.
Gerade als Torben Tamme sich seine Jacke übergeworfen hatte und sein Büro verlassen wollte, schrillte das Telefon auf seinem Schreibtisch. Die Leitstelle meldete eine Besucherin. Seufzend ergab sich Tamme in sein Schicksal und empfing Rosa Wiedemann schon an der Tür.
»Frau Wiedemann, was machen Sie denn hier her?«
»Guten Tag Herr Tamme. Ich wollte mir einmal Ihr neues Büro ansehen«, gab Rosa Wiedemann lächelnd zu. Sie setzte sich ihm gegenüber an den Schreibtisch und sah sich anerkennend um. »Nicht übel«, lobte sie. »Funktionell und ordentlich.«
Tamme rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er war alles andere als begeistert über ihren Besuch. Er konnte sich genau daran erinnern, dass sie früher mit etlichen filterlosen Zigaretten das gemeinsam benutzte Büro verqualmt hatte. Außerdem hatte sie ständig seine Arbeit bemängelt.
Frau Wiedemann bemerkte seine Unruhe wohl nicht und schaute sich gründlich um, dann holte sie ein Tütchen aus ihrer Tasche und legte es auf den Schreibtisch.
»Dieses Kettchen habe ich etwa zwanzig Meter von der Stelle entfernt gefunden, an der die junge Frau ermordet wurde«, erklärte sie sachlich. »Könnte es sein, dass es der Toten gehört?«
Tamme schüttete den Inhalt des Tütchens auf den Schreibtisch, schlüpfte in dünne Latexhandschuhe und sah sich das Kleinod intensiver an. »Wo genau haben Sie das gefunden, Frau Wiedemann?«
»Ich zeichne es Ihnen auf.« Sie zückte ihren Stift und sah sich suchend um. »Haben Sie einen Block?«
Tamme zog ein Blatt Papier aus dem Druckerschacht neben sich und reichte es ihr.
Rosa Wiedemann machte eine präzise Zeichnung vom Ort des Geschehens und der Fundstelle der Halskette. »Ich bin gestern Abend dort oben gewandert. Dabei sind mir junge Leute entgegengekommen, die ein Kreuz aufgestellt haben, das war um achtzehn Uhr.«
Tamme hatte aufmerksam zugehört und begonnen, den Bericht seiner früheren Kollegin mitzuschreiben. Er überflog den Text, drehte den Bildschirm um und sagte: »Lesen Sie es sich bitte noch einmal durch, Frau Wiedemann. Sie können danach gleich unterschreiben.«
Seine ehemalige Kollegin überflog den Text und nickte anerkennend.
»Im Schreiben waren Sie schon immer fix. So können Sie das gern drucken.«
Zufrieden speicherte Tamme den Bericht ab und druckte ihn anschließend aus. Frau Wiedemann setzte ihre Unterschrift darunter und verabschiedete sich. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Geben Sie mir Bescheid, ob die Kette der Toten gehört?«
»Klar doch, Frau Wiedemann.« Tamme lächelte befreit und sah ihr mit gemischten Gefühlen hinterher. Er steckte den Bericht in eine Klarsichthülle, legte das Tütchen mit dem Schmuck dazu und ging auf seinem Weg hinaus, an Stahlmanns Büro vorbei, wohl wissend, dass dieser schon vor einer halben Stunde Feierabend gemacht hatte. Er legte die Utensilien in Stahlmanns Fach und machte sich ebenfalls auf den Heimweg. Eigentlich hatte er noch einkaufen wollen, doch Rosa Wiedemanns Besuch war ihm Anlass genug, schnellstens in seine Wohnung zu fahren und danach zu einem Spaziergang aufzubrechen.
Torben Tamme war nicht unbedingt sportlich zu nennen. Hatte er noch zu Beginn seiner Beamtenlaufbahn sein Gewicht halbwegs unter Kontrolle gehabt, um sich die Anstellung auf Lebenszeit nicht zu verwirken, so brachte er nun schon etliche Kilo zu viel auf die Waage. Gleich nach dem Tag, an dem er die betreffende Urkunde erhielt, war sein sportlicher Eifer zu einem Minimum zusammengeschrumpft. Sein Bauch wiederum hatte sich seitdem erheblich gerundet und seine Vorliebe für gutes Essen war nicht mehr zu übersehen. Die Versetzung nach Bielefeld zwang ihn, endlich wieder aktiv zu werden. Die flache raumgreifende Weite der Küste hatte er gern mit den bewaldeten Höhen des Teutoburger Waldes eingetauscht. Das hieß nämlich, immer wieder hügeliges Gelände zu überbrücken.
Seine Wohnung lag in Babenhausen, einem Stadtteil nahe der Universität. Tamme hatte sich angewöhnt, täglich die Straßenbahn zur Arbeit zu nehmen, weil er so die mühselige Suche nach einem Parkplatz sparte und bei Einsätzen einen Dienstwagen nutzen konnte. Als er nun in seine Wohnung kam, schnaufte er leicht, angesichts der kleinen Steigung, die er nehmen musste. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihm ein rundes volles Gesicht unter hellblondem Haar und ebenso hellen Augenbrauen. Das einzig Schöne an ihm, hatte einmal ein Mädchen gesagt, seien seine blauen Augen. Eine Kritik, die ihn so sehr traf, dass er dem schönen Geschlecht seitdem immer skeptisch gegenüberstand. Er war mittlerweile fünfunddreißig und nach wie vor Single, weil ihm schon beim Anblick einer hübschen Frau die Schweißtropfen auf die Stirn traten.
Tamme hielt sich nicht lange in seiner Wohnung auf. Er trank Mineralwasser, schlüpfte in seine Laufbekleidung, die er sich extra für die neue Umgebung zugelegt hatte, und machte sich auf den Weg. Nach Überqueren der Werther Straße wählte er einen Feldweg, der zum Hermannsweg hinaufführte. Eine Stunde später stand Tamme abgekämpft und vollkommen durchgeschwitzt vor dem Kreuz, welches für Sonja Pauls aufgestellt worden war. Er verschnaufte einen Moment und betrachtete die Inschrift: Sonja, wir werden dich nicht vergessen!
Tamme ging langsam auf und ab und musterte den Boden. Warum zum Donnerwetter fand die Wiedemann Dinge, die seinen Leuten verborgen geblieben waren? Er schritt den Weg ab, um die Stelle zu finden, die Frau Wiedemann ihm beschrieben hatte, und machte sich selbst ein Bild. Er ging hin und her und notierte sich alles auf einem kleinen Block, den er immer bei sich trug. Immer wieder kamen Leute vorbei, die ihr Sportprogramm absolvierten. Tamme machte einige Übungen, weil ihn fröstelte, und lief dann langsam zurück. Er hatte nichts Neues entdecken können und war sich sicher, dass die gefundene Kette irgendeiner Unbekannten gehörte.
Am nächsten Tag fuhr Tamme zu Sonja Pauls Lebensgefährten hinaus. Er erkundigte sich, ob sie eine Kette getragen hatte. Zu seiner großen Überraschung beschrieb Schmitten genau die von Frau Wiedemann gefundene Kette mit der Nofretete und zeigte ihm sogar ein Bild, auf dem sie diese trug. Tamme hätte begeistert sein müssen, bewies das doch die These, dass der Täter die Frau bereits auf dem Weg bedrängt und erst mehrere Meter weiter ins Gebüsch gestoßen hatte. Die Tatsache, dass ausgerechnet Rosa Wiedemann das Schmuckstück gefunden hatte, ließ die Freude über ein weiteres Indiz allerdings verblassen.
***
Das alte Haus am Waldrand nahm langsam ein anderes Aussehen an. Nachdem die Maler im Innern fertig waren, hatten die Handwerker ein Gerüst aufgebaut und innerhalb von einer Woche das ganze Haus mit Isoliermaterial ummantelt, es frisch geputzt und gestrichen. Am Freitagnachmittag wurde das Gerüst wieder abgebaut und Rosa stand bewundernd vor ihrem Häuschen. Es strahlte in sanftem Cremeweiß und sah mit den hellen Fenstern und deren braun gestrichener Umrandung wie neu aus. Rosa hatte, während die Handwerker die Außenfassade verschönerten, innen mithilfe eines jungen Mannes aus der Nachbarschaft, die Möbel an Ort und Stelle geräumt und sie gründlich geputzt. Sie hatte Gardinen aufgehängt und Blumen an die Fenster gestellt. Sie war so beschäftigt gewesen, dass sie die Tote vom Hermannsweg fast vergessen hatte. Als die Handwerker gegen fünfzehn Uhr am Freitag endlich abgezogen waren, wienerte sie die Butzenfenster in der alten Haustür, die ihr der Schreiner so gut aufgearbeitet hatte, dass sie wie neu gemacht wirkte. Die breite Eingangstreppe aus grünem Marmor hatte Rosa mit Schmierseife zum Strahlen gebracht.
Das Haus gefiel ihr so gut, dass sie begeistert einen Rundgang durch den Garten machte, um es sich von allen Seiten anzuschauen. Plötzlich hörte sie oberhalb des Gartens, der an den Wald grenzte, ein Geräusch. Sie schrak zusammen und drehte sich um. Ein Mann befand sich oben zwischen den Bäumen und sah zu ihr hinüber. Der Fremde vom Hermannsweg! Wie gelähmt stand sie sekundenlang still da und schaute zu ihm. Warum stand er da? Beobachtete er sie? Suchte er eine passende Gelegenheit, um bei ihr einzubrechen?
Langsam, als hätte sie ihn nicht bemerkt, drehte sich Rosa um und ging zum Hauseingang. Ihr Herz klopfte wie ein Vorschlaghammer und kaum an der Tür, hastete sie hinein und verschloss sie sorgfältig. Drinnen holte sie tief Luft, lief durch den Hausflur zu ihrem kleinen Büro und schaute angestrengt durch das Fenster zum Wald hinüber. Aber der Mann war nicht mehr zu sehen.
Rosa überprüfte alle Türen und Fenster, denn der Gedanke, dass jemand bei ihr einbrechen könnte, ließ ihr keine Ruhe. Dieser Mann war mit Sicherheit eine Gefahr.
In den nächsten Tagen hatte Rosa im Garten zu tun. Der Gärtner hatte das Grundstück, bis auf einen großen Apfelbaum, leergeräumt, den Rasen eingesät und begann Mitte der Woche mit dem Pflanzen. Rosa packte kräftig mit an. Sie ließ sich Tipps für die Pflege der einzelnen Sträucher geben, grub Pflanzlöcher aus und legte ein Staudenbeet hinter dem Schuppen an, während der Gärtner die Klinker auf der Terrasse neu verlegte und die alte Steinmauer durch ein Holzspalier ersetzte. Direkt neben der Terrasse entstand ein Rosenbeet und das Spalier wurde mit einer Kletterrose bestückt. Auch der Zaun wurde erneuert. Am Ende der Woche hatte Rosa Blasen an den Händen und kräftigen Muskelkater, aber sie war so zufrieden, wie schon lange nicht mehr.
Am Samstagnachmittag war endlich alles fertig und Rosa saß auf ihrer Terrasse und betrachtete voller Stolz ihren Garten. Ohne es zu wollen, glitt ihr Blick am Zaun entlang zum Wald hinüber und schlagartig war sie wieder Polizistin.
Er stand etwas verdeckt von einem Baum da und schaute zu ihr hinüber. Rosas Herz klopfte hektisch. Was wollte dieser Mann von ihr? Hatte er sie die ganze Zeit über beobachtet? Beunruhigt verließ sie ihren Sonnenplatz und ging ins Haus. Tagelang hatte sie das Geschehen um Sonja Pauls vergessen. Jetzt stand es ihr wieder vor Augen. Der Mann hatte etwas damit zu tun, dessen war sie sich sicher. Aber was? Kannte er die junge Frau? Hatte er vielleicht den Mord beobachtet? Wenn er selbst den Mord begangen hätte, wäre er sicher untergetaucht. Sie blickte aus dem Fenster, und wieder einmal war der Mann urplötzlich im Wald verschwunden.
Rosa schaute auf ihre Uhr. Es war erst vierzehn Uhr, die Geschäfte in der Innenstadt hatten noch geöffnet. Entschlossen machte sie sich stadtfein und fuhr ins Zentrum. Die Leinenstadt machte einen quirligen Eindruck. Rosa hatte ihr Auto im Parkhaus untergestellt und stürzte sich in den Einkaufstrubel. Lässig schlenderte sie durch die Läden, kaufte hier und schaute dort. Sie war gerade in der Buchhandlung am Jahnplatz und blätterte in einem Kochbuch, als jemand sie von hinten anstupste.
»Hier steckst du also!«, begrüßte Simone Stern sie begeistert. »Ich versuche seit einer halben Stunde, dich zu erreichen.«
»Hallo Simone.« Rosa lächelte ihre Freundin an und hielt ihr ein Kochbuch unter die Nase. »Westfälische Eintöpfe. Was meinst du, sollte ich mir das kaufen?«
Simone schnappte sich das Buch, blätterte ein wenig darin herum und nickte. »Keine schlechte Idee.« Sie tippte auf eine Abbildung. »Sag mir Bescheid, wenn du Erbsensuppe kochst, dann komm ich vorbei.«
Rosa ging zur Kasse und anschließend verließen die beiden den Laden in Richtung Bahnhofstraße. Plötzlich stieß Rosa Simone in die Seite und flüsterte aufgeregt: »Schau mal der Mann dort! Ich glaube der verfolgt mich.« Er stand neben einem Mülleimer und sah zu den beiden Frauen hinüber.
Simone zuckte mit den Schultern. »Der Penner?«, erkundigte sie sich laut.
Rosa stieß sie erneut an und zischte: »Nicht so laut! Er könnte uns hören.«
»Doch nicht bei dem Lärm und den vielen Leuten«, erklärte Simone ungerührt. Der Mann war inzwischen weitergegangen, blieb aber plötzlich erneut stehen, griff in einen Mülleimer, holte etwas heraus und verschwand dann in der Menge.
»Der beachtet dich gar nicht«, war sich Simone sicher. »Der hat nur Augen für den Müll gehabt. Wahrscheinlich hat er gerade etwas entdeckt, was er noch gebrauchen kann.«
Sie hakte sich bei Rosa unter und zog sie gegenüber in eine Boutique. Rosa schaute zurück, der Mann war nirgendwo mehr zu sehen.
»Vielleicht hast du recht«, sagte sie und betrachtete nachdenklich einen Stapel modischer Sommerkleider. Simone hatte schon eines in der Hand und strebte auf eine der Kabinen zu. So bummelten sie bis zum Geschäftsende durch die Läden und beendeten den Tag in einem Restaurant am Marktplatz.
***
Die Kneipe am Siegfriedplatz war voll. Tamme hatte sich ganz in eine Ecke gesetzt und trank sein Bier. Nach seinem Lauf am Nachmittag wollte er seinen freien Samstagabend nicht wieder allein in der neuen Wohnung verbringen. Eine dralle Kellnerin kam zu ihm und nahm seine Bestellung auf. Er gönnte sich ein Steak mit Pommes frites und bestellte noch ein weiteres Bier. Vertieft in die Betrachtung der Bilder an den Wänden, bemerkte er nicht, dass sich eine dunkelhaarige, junge Frau mit südländischem Teint an den Nebentisch setzte. Erst als sie ihm zuprostete, wurde er ihrer gewahr.
»Kennen wir uns nicht?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. Daraufhin kam sie mit ihrem Glas an seinen Tisch und meinte: »Sie sind Kommissar Tamme vom KK11, nicht wahr?«
Erstaunt nickte er. »Woher wissen Sie das?«
»Ich arbeite in der Asservatenkammer. Stahlmann hat gesagt, dass Sie die Sache Pauls leiten.« Sie setzte sich wie selbstverständlich zu ihm und gab ihm die Hand. »Ich bin Beatrice Dias.«
Tamme brach der Schweiß aus. Eine Kollegin! Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Aber hübsch war sie, das musste er zugeben, und ihr Name klang wie Musik.
»Tamme«, murmelte er. »Torben Tamme.«
Im selben Moment kam die Kellnerin mit dem Essen. Ohne weiter auf Frau Dias einzugehen, machte er sich über seinen Teller her. Beatrice schien das nicht zu stören. Sie nuckelte an ihrem Bierglas und beobachtete ihn beim Essen, was Tamme absolut nicht leiden konnte.
»Wollen Sie sich nicht auch etwas bestellen? So allein schmeckt es mir nicht.«
Sie verzog ihr Gesicht und verdrehte die Augen. »Eigentlich bin ich auf Diät, aber wenn ich das Steak so sehe …« Sie winkte der Bedienung und bestellte sich ebenfalls ein Steak, machte aber eine Änderung. »Statt der Pommes bringen Sie mir bitte einen Salat.«
Er grinste und sagte: »Etwas Diät muss sein, oder?«
Sie nickte und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, was ihn zu einem Kommentar veranlasste. »Der Name Dias klingt so spanisch.«
»Stimmt genau«, antwortete sie immer noch lächelnd. »Die Eltern meines Vaters stammen aus Andalusien, aber meine Mutter ist eine waschechte Bielefelderin und mein Vater ist in Hannover geboren.«
Tamme sah die lustigen Grübchen in ihren Wangen und konterte: »Und ich bin ein echtes Nordlicht.«
»Ich liebe die Nordsee, das habe ich wohl von meiner Mutter. Der Wind dort ist so frisch und angenehm«, meinte Beatrice.
»Mir gefallen die Fischbrötchen dort, aber auf den kalten Wind kann ich gut verzichten«, antwortete Tamme amüsiert.
Beatrice lachte, doch bevor sie antworten konnte, wurde ihr Essen serviert und Torben bestellte noch Bier dazu.
Sie unterhielten sich angeregt und es wurde ein interessanter Abend. Nach dem fünften Bier gingen sie zum Du über und erst gegen Mitternacht verließen sie gemeinsam das Lokal.
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Rosas Wagen rollte langsam durch die kleine Straße bis zu ihrem Haus. Wie immer stellte sie das Auto neben dem Schuppen ab und ging, die herrliche Waldluft einatmend, zur Haustür. Sie hatte die wunderschönen alten Leuchten, die beidseitig vom Eingang angebracht waren, mit einem Bewegungsmelder ausstatten lassen, weil in dieser Ecke keine Straßenlaterne stand. Sie freute sich, dass die Elektriker, die Laternen so perfekt angebracht hatten. Denn kaum hatte sie ihren Wagen verlassen, erstrahlte ihr Haus im Lichterglanz. Doch im selben Moment erschauderte sie bis ins Mark, rannte zur Haustür, steckte mit zitternden Fingern den Schlüssel ins Schloss und schlug, kaum drinnen, die Tür hinter sich zu.
Mit klopfendem Herzen lehnte sie sich innen gegen die Tür und wagte es nicht, Licht zu machen. Der Schatten eines Mannes war an der Hauswand deutlich zu erkennen gewesen und gleich darauf wieder verschwunden. Als Rosa sich gefasst hatte, verschloss sie die Haustür und ging noch immer ohne Licht zu machen von Fenster zu Fenster, um nach dem Unbekannten Ausschau zu halten. Als sie nirgendwo etwas entdeckte, ließ sie die Rollläden hinunter, erleichtert, dass sie sich trotz der erheblichen Mehrkosten bei dem Umbau für automatische Rollläden entschieden hatte.
Sie machte erst Licht, als alle Läden geschlossen waren. Der Unbekannte sollte sie keinesfalls in ihrem Haus beobachten. Sie ging ins Wohnzimmer und trank langsam einen Kognak, um sich zu beruhigen. In dieser Nacht schlief sie schlecht und überlegte, wie sie den fremden Wanderer überlisten könnte. Sie war sich sicher, dass er der Mann war, dessen Schattenbild sie an der Wand gesehen hatte.
Am Montagmorgen rief sie als allererste Maßnahme bei dem Schreiner an, der ihr die Haustür überarbeitet hatte, und ließ sich einen Kostenvoranschlag für einen Carport machen. Der Carport sollte den alten Schuppen ersetzen und so nah am Haus stehen, dass eine beleuchtete Überdachung bis zur Haustür führte und man bei Regen trockenen Fußes hineingelangen konnte. So konnte sie verhindern, dass jemand sich ihr überraschend näherte, wenn sie aus dem Wagen stieg und zur Tür ging. Sie würde die ganze Front gut überblicken können und unerwünschte Besucher aus dem umzäunten Garten fernhalten.
Der Handwerker erschien schon am Nachmittag, legte ihr einen Plan vor und versprach, das Konstrukt in spätestens vier Wochen zu erstellen. Bis zu diesem Zeitpunkt, so nahm sich Rosa vor, würde sie ihren Wagen direkt vor dem Eingang parken.
Nun aber war es Anfang Juni, die Sonne schien in Rosas Küche und im Nu hatte sie alle trüben Gedanken verscheucht. Sie kochte Kaffee, holte sich ein Stück des am Tag zuvor mitgebrachten Streuselkuchens aus dem Kühlschrank und setzte sich nach draußen. Der Rasen war inzwischen schon recht gut gewachsen. Den ersten Schnitt hatte am Freitagnachmittag der Gärtner gemacht, als er die Kletterrose gesetzt hatte. Plötzlich sah Rosa zwei Rehe, die auf dem schmalen Grünstreifen hinter dem Gartenzaun ästen. Sie war glücklich, dass sie zum Wald hin einen durchsichtigen Maschendraht gewählt hatte, so konnte sie die Tiere gut beobachten. Eines der Tiere schaute in ihre Richtung, spitzte die Ohren und sprang urplötzlich in den Wald zurück, gefolgt von dem zweiten Tier. Sie wurden von den Bäumen verschluckt, als wären sie nie da gewesen. Rosa, die fast ihr ganzes Leben oben an der Nordseeküste verbracht hatte, war fasziniert davon, dass die Tiere sich so nah an die Häuser heranwagten.
Sie war in Gedanken so bei dem Wild, dass sie zusammenzuckte, als plötzlich eine Person nach ihr rief.
»Hallo! Jemand zu Hause?«
Eine unbekannte weibliche Stimme drang an Rosas Ohr. Mit einem Satz war sie auf den Füßen und lief zum Gartentor.
»Guten Tag. Störe ich?«
Die Frau war ungefähr in Rosas Alter und stand mit einem Strauß Maiglöckchen vor ihrer Haustür. Sie wohnte am Anfang der kleinen Straße und Rosa kannte sie vom Sehen.
»Guten Tag! Kommen Sie doch zu mir auf die Terrasse«, begrüßte Rosa die Frau und öffnete die Gartentür. Die Fremde ließ sich nicht lange bitten.
»Ella Wenz, ich wohne ein paar Häuser weiter«, sagte sie und überreichte Rosa die Maiglöckchen.
Rosa sog den wunderbaren Duft ein.
»Sind die schön! Ich liebe Maiglöckchen. Eigentlich wollte ich welche in den Garten pflanzen, aber der Gärtner hat mir davon abgeraten.«
»Das war ein guter Rat, denn ich habe meine liebe Not mit ihnen. Sie überwuchern inzwischen den ganzen Garten.«
Rosa lächelte. »Setzen Sie sich doch. Ich stelle nur die Blumen in die Vase.« Sie verschwand im Haus und kam nach wenigen Minuten mit einem riesigen Tablett zurück, auf dem nicht nur die Blumen, sondern auch noch ein Gedeck und der restliche Streuselkuchen Platz gefunden hatten.
»Das war aber doch nicht nötig«, erklärte Ella Wenz, ließ sich den Streusel aber gut schmecken und lobte Rosas Kaffee.
Rosa war begeistert, endlich eine der Nachbarinnen zu Besuch zu haben.
»Ich würde die Nachbarn gern zu einem Grillimbiss einladen«, erklärte sie. »Sie kennen sich besser aus. Wäre das im Juli passend?«
Frau Wenz Gesicht leuchtete. »Abends passt das immer, das können Sie ganz unkonventionell machen. Nächstes Wochenende zum Beispiel.«
»Ich lasse gerade noch einen Carport anbauen, dann wäre ich wetterunabhängig«, gab Rosa zu bedenken und Ella Wenz gab ihr recht.
Die beiden Damen plauderten und schwatzten und waren längst per du, als Rosas Handy klingelte. Unwillig holte sie es hervor, strahlte plötzlich und sagte: »Das ist mein Bruder! Er will bestimmt wissen, wieweit das Haus gediehen ist.«
Die Nachbarin verabschiedete sich und Rosa saß bis zum Einbruch der Dunkelheit im Garten und telefonierte. Als sie das Gespräch endlich beendete, war ihr kalt. Sie ging hastig hinein, holte sich eine Jacke und räumte den Tisch ab. Die Maiglöckchen stellte sie in den Hausflur und genoss tagelang den Duft, der sich bis ins Obergeschoss ausbreitete.
Als sie den Garten verließ und die automatischen Rollläden betätigte, wurde ihr bewusst, dass sie den Stalker an ihrem Zaun vollkommen vergessen hatte. Sie ging noch einmal hinaus und schaute in die Dämmerung. Nichts zu sehen.
***
Kommissar Tamme hatte die Akte Sonja Pauls vor sich liegen und ging noch einmal alle Protokolle der Vernehmungen akribisch durch. Jede kleinste Ungereimtheit notierte er sich, um ihr nachzugehen. Als er das Protokoll von Frau Wiedemanns Besuch in der Hand hielt, nahm er sofort das Telefon zur Hand und erkundigte sich im Labor, ob Spuren gefunden wurden. An der zerrissenen Kette war tatsächlich die DNA eines Mannes entdeckt worden, genau die gleiche, wie unter den Nägeln der Frau und an der ledernen Hundeleine, mit der diese erdrosselt worden war. Der Mörder hatte es nicht einmal für nötig gehalten, Handschuhe zu tragen.
Nachdenklich betrachtete Tamme die Fotos des Schmuckstücks. Die Kette war in der Mitte zerrissen. Der Täter musste die Frau schon auf dem Weg von hinten angegriffen haben, wobei sie die Kette verloren hatte. Anschließend, so vermutete der Kommissar, wurde Sonja Pauls von dem Mann ins Gebüsch gedrängt und an Ort und Stelle erwürgt, da rund um den Ort, an dem die Leiche gelegen hatte, die Pflanzen arg zertreten gewesen waren. Tamme ging davon aus, dass der Täter wesentlich kräftiger war als die Frau, weil wenig Kampfspuren zu finden waren. Nach Tammes Dafürhalten war der Mörder ein Bekannter. Dieser hatte den Überraschungseffekt genutzt und dem Opfer kaum eine Chance auf Gegenwehr gelassen. Aber wer war dieser Täter? Der Kommissar stützte den Kopf in die Hände und grübelte. Was hatte er übersehen? Kam einer der Sportler infrage? Gab es einen heimlichen Verehrer, der sich durch die bevorstehende Heirat der jungen Frau zurückgesetzt fühlte?
Tamme hatte zu einer freiwilligen Speichelprobe aufgerufen, an der sich schon fast alle Sportler aus dem Verein, in dem Sonja Pauls Mitglied war, beteiligt hatten. Auch Verwandte, Bekannte und Nachbarn waren in diese Aktion mit einbezogen worden. Noch waren nicht alle Proben ausgewertet worden, aber die Chance den Mörder dabei zu finden, sah Tamme als sehr gering an.
Ganz in seine Grübeleien vertieft, kam plötzlich Beatrice Dias in sein Büro. Ihr dunkles Haar hatte sie zu einem kurzen Zopf geflochten, dessen Ende gerade bis auf ihre rechte Schulter reichte. An ihren Ohrläppchen baumelten übergroße Kreolen und lustige Grübchen verzierten ihre Wangen. »Freitag ist Weinfest am Alten Markt. Kommst du mit?« Sie strahlte ihn an.
Er war nicht abgeneigt. »Keine schlechte Idee«, sagte er daher, wurde aber gleich darauf wieder dienstlich: »Hast du die Sachen von Sonja Pauls schon bekommen?«
Sie nickte. »Sogar schon erfasst einschließlich der Fotos. Du kannst es gleich nachsehen.« Sie beugte sich über seinen Schreibtisch, sodass sein Blick sich automatisch für Sekunden in den spitzenumrandeten tiefen Ausschnitt verirrte. Er lehnte sich hastig zurück und erklärte heiser: »Lass nur, ich finde es schon selbst.«
Beatrice grinste und ging zur Tür. »Denk dran: Freitag um acht an der Nicolaikirche.« Und schon war sie verschwunden.
Torben Tamme zupfte an seinem Hemdkragen, und obwohl er keine Krawatte trug, hatte er plötzlich das Gefühl, der Kragen sei zu eng. Er öffnete einen weiteren Knopf und holte tief Luft. Diese Frau hatte vielleicht ein Tempo drauf. Hoffentlich ging das gut. Er hatte keine Lust, sich schon wieder versetzen zu lassen.
Bielefeld gefiel ihm.
2. Kapitel
Die Handwerker waren pünktlich. Der alte Schuppen war schon abgerissen worden und ein Mann mit einem Kleinbagger grub schmale Gräben für die Grundmauern des neuen Carports. Rosa betätigte sich einige Zeit in ihrem Garten, aber die Motorgeräusche und das ganze Drumherum gingen ihr dermaßen auf die Nerven, dass sie sich in ihren Wagen setzte und ins nahe gelegene Freibad fuhr. Es war ein strahlender Tag und sie schwamm mit Begeisterung ihre Runden. Es war kurz vor Mittag und das Bad nur mäßig gefüllt. Ein Mann fiel ihr auf. Er durchquerte das Becken mit einer Geschwindigkeit, die beachtlich war. Als er nach einiger Zeit das Wasser verließ und Rosa ihn besser betrachten konnte, kam er ihr bekannt vor. Dieses Gesicht hatte sie schon einmal gesehen, da war sie sich ganz sicher.
Der Mann war braun gebrannt, schlank und durchaus attraktiv. Rosa schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Der Unbekannte ging weit hinten auf dem Rasen zu einer dunklen, karierten, reichlich verschlissenen Decke. Kaum war er dort angekommen, wusste Rosa, woher sie ihn kannte. Es war der Obdachlose, der regelmäßig an ihrem Haus vorbeikam. Sie erkannte es deutlich an dem schmuddeligen Rucksack, der auf seiner Decke lag. Er schien kein Handtuch dabei zu haben und legte sich, nass, wie er war, auf die Decke.
Sie hockte auf ihrer Bastmatte und beobachtete ihn. Er ließ sich von der Sonne trocknen, drehte sich nach einigen Minuten auf den Bauch, holte ein Buch aus seinem Rucksack und vertiefte sich darin. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab und ging zum Kiosk, um sich eine Portion Pommes frites zu holen. Sie musste sich geirrt haben. Penner und Buch, das passte wohl doch nicht zusammen. Und woher sollte dieser Typ so gut schwimmen können?
Nachdem sich Rosa gesättigt hatte, schwamm sie wieder einige Runden und nahm sich vor, den ganzen Tag im Freibad zu verbringen, als sich die Rasenfläche langsam füllte. Die Schulen waren aus und in Scharen überschwemmten Kinder und junge Leute das Bad, bis kaum noch ein Meter Platz irgendwo frei war. Der Sprungturm war komplett belagert und dort, wo Rosa noch kurz zuvor ihre Bahnen geschwommen hatte, rangelte nun eine Gruppe junger Leute um einen Wasserball. Der Lärmpegel war um etliche Dezibel gestiegen und Rosa verwarf augenblicklich ihren Wunsch nach einem Tagesaufenthalt. Schnell packte sie ihre Sachen zusammen. Kaum hatte sie sich erhoben, wurde ihr Platz von drei jungen Damen mit lautem Geheul beschlagnahmt.
Rosas letzter Blick galt dem Fremden, doch er war nirgendwo zu sehen und hatte das Freibad wohl schon verlassen. Sie war auf der Osnabrücker Straße, als ihr auf der rechten Seite ein Fußgänger auffiel. Der Unbekannte vom Hermannsweg. Dieses Mal trug er seine verbeulte Jeans und ein dunkelblaues, verwaschenes T-Shirt und natürlich hatte er wie immer den Rucksack dabei.
Zum ersten Mal trug er keine Kappe und sein Haar schimmerte feucht in der Sonne. Also war er doch der Mann gewesen, den sie im Freibad gesehen hatte. Schon komisch, dass er sich seine Zeit mit Lesen vertrieb.
Zu Hause angekommen, freute sich Rosa, dass der kleine Bagger gerade aufgeladen wurde und ein Betonmischer dabei war, die Gräben, die der Bagger gemacht hatte, aufzufüllen. Als der Mischer davonfuhr, breitete sich eine angenehme Stille aus. Nach einer kurzen Begutachtung ging Rosa hinein, kochte Kaffee und machte es sich anschließend mit einem Buch auf der Terrasse gemütlich.
Die Sonne war bereits hinter den hohen Bäumen verschwunden und Rosa fröstelte plötzlich, was nur zum Teil an dem spannenden Thriller lag, den sie gerade las. Sie klappte das Buch zu und räumte den Tisch ab, allerdings nicht ohne sich zu vergewissern, dass niemand vom Wald her zu ihr hinüberschaute. Dieses Mal war er nicht da. Ob er sich ein anderes Objekt zur Beobachtung ausgesucht hatte? Oder war er wieder in der Stadt auf der Suche nach Brauchbarem, welches andere schon im Müll entsorgt hatten? Rosa schüttelte den Kopf und schalt sich eine Närrin, dass sie sich über jemanden Gedanken machte, der sie überhaupt nichts anging. Eigentlich sollte sie froh sein, dass der Mann sich verkrümelt hatte. Kurz entschlossen, um auf andere Gedanken zu kommen, schlüpfte sie in ihre Wanderschuhe, zog die Steppweste über ihr dünnes Shirt, schulterte ihren Rucksack und machte sich auf den Weg. Dieses Mal ging sie in Richtung Osnabrücker Straße, wo sich auf der anderen Seite ein Bauernhof befand. Dort wollte sie sich ein wenig umschauen. Sie schritt zügig voran und war schon fast am Nachbarhaus vorbei, als ihr ein Gruß zugerufen wurde. Ella Wenz stand mit einer Hacke am Gartenzaun, bereit zu einem kleinen Schwatz.
»Bei dir tut sich ja allerhand«, eröffnete sie das Gespräch.
»Die Grundmauern für den Carport sind schon gegossen«, erklärte Rosa nicht ohne Stolz.
»Wenn das die alte Agathe sehen könnte. So hübsch hat ihr Häuschen noch nie ausgesehen«, lobte Ella.
»Tante Agathe hat auch immer alles gut in Schuss gehalten, zuletzt fehlte ihr allerdings die Kraft«, sagte Rosa. »Ich freu mich, dass sie mir das Haus hinterlassen hat. Es ist wirklich schön hier.«
»Hast du kein Heimweh nach der Küste?«
»Selten. In drei Wochen mache ich Urlaub dort. Dann fahre ich mit meinem Bruder Krabben fischen. Darauf freue ich mich schon.«
»Krabben fischen? Für mich wäre das nix. Ich werde sofort seekrank.«
Rosa lachte. »Ich finde es wunderbar. Den Wind im Haar und die schwankenden Planken unterm Fuß, das ist wie Musik.«
Sie tauschten noch einige Nettigkeiten aus, dann verabschiedete sich Rosa und schritt eifrig davon. Unterwegs fiel ihr der Obdachlose wieder ein. Eigentlich hätte sie Ella nach ihm fragen können. Bestimmt wusste sie, was der Mann so häufig in dieser Gegend zu suchen hatte. Am Ende der Straße kam sie an der Gaststätte Zweischlingen vorbei und dort vor dem Eingang saß der Unbekannte auf einer Bank und sonnte sich. Er hatte den Rucksack neben sich gelegt und die Augen geschlossen. Rosa ging langsam an ihm vorbei und musterte ihn unauffällig. Sein Haar, welches im nassen Zustand schwarz ausgesehen hatte, war mit vielen silbernen Fäden durchsetzt und die viel zu lang gewachsenen Koteletten waren bereits ganz weiß.
Der Mann hatte für sie etwas Anziehendes an sich, was sie sich selbst nicht erklären konnte. Warum trieb er sich ständig hier herum? Warum interessierte sie das überhaupt? Entschlossen überquerte sie die Osnabrücker Straße und ging zügig den Weg zum Bauernhof hinunter. Es war noch immer sehr warm. Rosa verlangsamte ihren Schritt und genoss die letzten Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Beim Hofladen angekommen, kaufte sie, so viel sie tragen konnte, und ging langsam wieder heim.
Am nächsten Morgen wurde sie zeitig von den Handwerkern geweckt, die damit begannen, den Carport mit angrenzendem Geräteraum aufzubauen. Rosa mähte derweil den Rasen und erledigte andere Gartenarbeiten. Kurz vor Mittag glitt ihr Blick wie zufällig zum Waldrand hinüber.
Der Mann hatte es sich am Fuße einer Buche bequem gemacht. Er lehnte mit dem Rücken am Baumstamm und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Ruckartig wendete Rosa den Kopf und ging ins Haus. Sie schlüpfte in ihre Wanderschuhe, zog sich eine Weste über und machte sich auf den Weg in den Wald. Sicherheitshalber hatte sie dieses Mal auch ihr Handy dabei. Hinterm Haus blieb sie stehen und beobachtete den Mann eine Weile. Er schien es nicht eilig zu haben. Rosa setzte sich, verdeckt von einem Baum, auf einen Stamm und wartete. Sie saß schon fast eine Stunde und das Hämmern der Schreiner hallte gedämpft zu ihr herüber. Plötzlich war der Mann verschwunden.
Verärgert, dass sie nicht bemerkt hatte, wohin er gegangen war, richtete sie sich auf und sah ihn gerade noch zwischen den Bäumen den Hang hinaufgehen. Sie folgte ihm, quer durch den Wald bergauf, was äußerst beschwerlich war, denn er war schnell.
Als sie endlich oben auf dem Weg angekommen war, war er erneut verschwunden. Verärgert wollte sie zurückgehen, überlegte es sich dann allerdings anders. Es war erst Mittag und sie wollte noch bis zum Tierpark laufen. Als sie an der Stelle ankam, an der die Leiche von Sonja Pauls gelegen hatte, sah sie ihn wieder. Er stand unbeweglich vor dem Kreuz.
Rosa duckte sich hinter einem Holzstoß und wartete. Nach einigen Minuten hörte sie Zweige knacken und der Mann ging quer durch den Wald zurück, nur wenige Meter an ihr vorbei. Erst als er nicht mehr zu sehen war, trat sie wieder auf den Weg und ging zügig in Richtung Olderdissen weiter.
Rosa hielt sich lange im Tierpark auf und aß dort im Restaurant zu Mittag. Als sie endlich den Heimweg antrat, war es schon später Nachmittag. Gut gelaunt wanderte sie bis zum Fernsehturm, um dort den schmalen Weg in Richtung Quelle einzuschlagen, als plötzlich vor ihr die Silhouette eines Mannes auftauchte, den Rosa sofort als den Unbekannten ausmachte. Vorsichtig und mit klopfendem Herzen folgte sie ihm.
Kurz bevor der Weg zur Schlingenstraße hinunterführte, bog der Mann auf einen schmalen Trampelpfad ab, der quer durch den Wald führte. Im Schutz der hohen Bäume blieb Rosa ihm dicht auf den Fersen und konnte ihr Haus schon sehen. Der Weg führte sehr nah daran vorbei, sicher ein Grund, warum sie den Mann so oft dort gesehen hatte. Er benutzte diesen Weg offenbar regelmäßig.
Nun führte der Pfad immer am Waldrand entlang. Die Autos auf der Osnabrücker Straße waren deutlich zu hören. Der Unbekannte ging schnurstracks auf ein altes, verfallenes Gebäude zu, dessen Fassade schon vielen Sprayern als Übungsfläche gedient hatte, und verschwand darin. Das Haus hatte nur noch wenige unbeschädigte Fenster und zur Straße hin war die Einfahrt mit einem Bauzaun abgesperrt worden. Rosa blieb abwartend stehen. Als sich nichts tat, ging sie langsam zurück. Ihr Haus kam bald darauf in Sicht und sie war erfreut, dass die Handwerker schon die Grundpfeiler und das Dach des Carports aufgestellt hatten. Sie hatte sich ein Carport mit niedrigem Satteldach und roten Pfannen passend zum Hausdach ausgesucht und konnte sich nun gut vorstellen, wie hübsch es neben dem hellen Haus aussehen würde.
Müde und zufrieden setzte sie sich nach dem Abendessen auf die Terrasse und genoss die laue Luft. Immer wieder glitten ihre Augen am Waldrand entlang, aber der Fremde war nirgendwo zu sehen.
Die Nacht war sehr warm. Rosa wälzte sich in ihrem Bett hin und her. Irgendwann stand sie auf und ging hinaus auf die Terrasse. Es war erst zwei Uhr am Morgen. Sie hatte kein Licht gemacht, damit ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Es war eine schöne, sternenklare, helle Nacht. Ob der Fremde wohl die Nächte in der alten Ruine verbrachte?
Mit einem Mal wollte sie es genau wissen. Sie kleidete sich an, nahm zur Sicherheit Handy und Taschenlampe mit und machte sich auf den Weg. Dieses Mal wählte sie den Weg entlang der Osnabrücker Straße. Diese Straße war beleuchtet, aber es waren keine Autos zu sehen. Erst als sie nach kaum einer halben Stunde vor dem verfallenen Haus stand, rollte ein Taxi an ihr vorbei. Hundert Meter weiter krakelte jemand vor einer Bar. Sie konnte auf die Entfernung hin allerdings keine Personen ausmachen, nur die rote Lampe brannte wie jede Nacht.
Rosa stand einen kurzen Moment vor dem Bauzaun, dann wandte sie sich nach rechts und ging zwischen den Bäumen hindurch, um die Absperrung zu umgehen. Die Straßenbeleuchtung gab genügend Licht ab, sodass man alles erkennen konnte. Das Haus hatte vorn keine Fenster und die riesigen Bilder wirkten grotesk verzerrt im diffusen Licht.
Rosa trat leise in den Schatten der Front. Der Eingang war mit einem Brett zugestellt. Wahrscheinlich befand sich der Mann gerade drinnen, denn am Abend zuvor war dieser Eingang offen gewesen.
Plötzlich erklang ein Geräusch. Das bedrohliche Knurren eines Hundes. Rosa zuckte erschrocken zusammen. Angst stieg in ihr hoch und sie griff instinktiv an ihre Hüfte. Siedendheiß fiel ihr ein, dass sie seit Monaten keine Waffe mehr trug. Im selben Moment stürmte ein Schatten auf sie zu. Rosa warf sich zur Seite und der Hund sauste an ihr vorbei. Sie rappelte sich auf und lief zurück, aber der Hund war schneller. Sie stolperte, landete unsanft im Gras und sah schon ihr letztes Stündlein gekommen, als auf einmal ein schriller Pfiff ertönte.
»Was machen Sie denn hier?« Drohend baute sich der Mann vor ihr auf. Rosa stand auf und klopfte sich wortlos den Schmutz ab, obwohl sie bei diesem schwachen Licht kaum etwas erkennen konnte.
»Ich habe Sie was gefragt.« Er hielt den Hund jetzt am Halsband fest und sah sie abwartend an.
»Ich wollte mir das Haus ansehen«, log Rosa.
Er lachte hämisch. »Mitten in der Nacht?«
»Ich habe eine Wanderung gemacht und kam gerade hier vorbei«, verteidigte sich Rosa.
Sie schob ihr Haar zurück und stopfte es wieder unter die Kappe, die sie bei ihrem Sturz verloren hatte. Er sah ihr wortlos zu und der Hund an seiner Seite knurrte drohend. Rosa entfernte sich langsamer als gewollt, denn ihr Atem ging nur noch stoßweise. Erst als sie wieder auf der Straße war, beruhigte sich ihr wild rasendes Herz. Vorsichtig sah sie sich um. Er stand noch immer da und schaute ihr hinterher. Sie schalt sich eine Närrin, dass sie den Mann nicht nach seinem Namen gefragt hatte, und schlug hastig den Weg nach Hause ein. Eigentlich wollte sie wieder zu Bett gehen, aber sie war so aufgewühlt, so unruhig, dass sie sich einen Tee machte und sich ins Wohnzimmer vor den Fernseher setzte. Erst in den frühen Morgenstunden schaltete sie das Gerät aus und ging hinauf ins Schlafzimmer.
Sie hatte kaum eine Stunde geschlafen, da wurde sie von der Haustürklingel geweckt. Es war heller Tag und die Handwerker waren angekommen. Von der Küche aus betrachtete sie den Baufortschritt, während der Kaffee langsam durch die Maschine gluckerte. Rosa gähnte vernehmlich, der nächtliche Ausflug machte sich bereits bemerkbar. Irgendwie musste sie an Informationen über den Obdachlosen kommen. Erneut fiel ihr Ella Wenz ein. Nach dem Frühstück und der Zeitungslektüre machte sich Rosa gleich auf den Weg.
Wie vermutet traf sie Ella im Garten an.
»Komm, setz dich zu mir«, lud diese sie ein, als sie durch die Gartenpforte auf die Terrasse trat. »Magst du einen Kaffee?«
Ohne Rosas Antwort abzuwarten, ging sie hinein und kam wenige Minuten später mit einer Kanne und einem neuen Gedeck wieder.
Rosa setzte sich und genoss die Sonne. »Bei mir scheint die Sonne erst am Nachmittag auf die Terrasse«, sagte sie und rekelte sich in ihrem Stuhl.
»Ich liebe es, draußen zu frühstücken«, erklärte Ella und goss Rosa Kaffee ein.
»Danke«, erwiderte Rosa. »Ich habe schon gefrühstückt.«
»Haben dich die Handwerker aus dem Bett geschmissen?«, fragte Ella schmunzelnd.
Rosa nickte und erkundigte sich: »Kennst du den Mann, der hier immer am Waldrand entlang geht?«
»Meinst du Fritz Froll?«
»Er trägt abgetragene Sachen und sieht aus wie ein Penner«, erklärte Rosa.
Ella winkte ab. »Ja, das ist Fritz Froll, ich glaube, er heißt Friedhelm. Der ist vollkommen harmlos.«
»Und warum beobachtet er mich dann ständig?«, brauste Rosa auf.
»Er beobachtet alle Leute. Hat damals eine junge Frau überfahren und ein paar Jahre deswegen gesessen. Fahrerflucht. Er soll so betrunken gewesen sein, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte.«
»Aber er ist doch verurteilt worden?«
»Ja, natürlich. Dabei ist alles verloren gegangen. Sein Haus, seine Ehe, alles was er hatte.« Ella biss herzhaft in ein Brötchen und spülte mit Kaffee nach.
»Hat er keine Wohnung?«
»Keine Ahnung. Seit er aus dem Knast entlassen worden ist, lungert er hier herum. Ist schade um den Mann. Er ist Lehrer gewesen und hat bis vor fünf Jahren an der Gesamtschule unterrichtet.«
»Lehrer? Das ist doch nicht möglich!«, rief Rosa überrascht aus.
»Es stimmt. Meine Nichte hat bei ihm Unterricht gehabt. Er soll bei den Kindern sehr beliebt gewesen sein.«
»Auch wenn er das alles erlebt hat, er muss doch noch so viel Geld haben, dass er sich eine anständige Wohnung leisten kann. Außerdem könnte er wieder arbeiten.«
»Aber nicht als Lehrer! Das ist bei dieser Haftstrafe unmöglich«, entrüstete sich Ella. »Er war sowieso dumm. Wie ich gehört habe, wollte sein Anwalt, dass er die Sache gesteht, dann hätte er bestimmt eine geringere Strafe bekommen. Doch er wollte nicht.«
»Das kenne ich«, sagte Rosa. »Es gibt Täter, die gestehen nie, auch wenn alle Beweise dagegensprechen.«
»Ganz genau«, bestätigte Ella, »und er ist so einer!«
Die Frauen plauschten noch eine Weile. Nach einer Stunde verabschiedete sich Rosa und lud Ella für den Samstag der kommenden Woche auf ihre Terrasse ein. »Dann ist mein Carport fertig und wir können gleich Pläne machen, wann ich es einweihe.«
»Da sag ich nicht Nein«, erwiderte Ella Wenz schmunzelnd und Rosa ging den lauten Hammergeräuschen entgegen nach Hause.
***
Im KK11 herrschte die gewohnte Hektik vor dem Wochenende. Stahlmann hatte die Mordkommission in Sachen Pauls zusammengerufen und erläuterte die bisher gewonnenen Erkenntnisse.
»Alle bislang abgegebenen Speichelproben waren negativ. Wir haben sämtliche Sportler erfasst, die in der Laufgruppe regelmäßig mit der jungen Frau trainiert haben. Die Nachbarn in der Marienfelder Straße sind ebenfalls alle aufgesucht worden, allerdings sind da die Auswertungen noch nicht abgeschlossen.«
Torben Tamme stand auf, reichte dem Hauptkommissar einen Bericht und erklärte: »Ich habe noch einmal mit dem Lebensgefährten Thomas Schmitten gesprochen. Er hat mir eine Liste aller Verwandten und der Männer aufgestellt, die während der letzten zwei Jahre mit seiner Braut Kontakt hatten.«
Kommissar Tamme zerrte an seinem Kragen, der ihm wieder einmal zu eng wurde, und fuhr fort: »Die Eltern der jungen Frau wohnen in Gütersloh. Meine erste Vernehmung war schwierig, weil der Mord zu diesem Zeitpunkt erst einen Tag zurücklag. Ich habe dort Montag am Vormittag erneut einen Termin. Vielleicht können sich die Leute an Vorfälle erinnern, die uns weiterhelfen. Außerdem werde ich mich noch einmal ganz gezielt nach weiteren Personen erkundigen, die mit der jungen Frau Kontakt hatten.«
Hauptkommissar Stahlmann atmete tief durch. »Tun Sie das, Tamme. Nehmen Sie sich am Dienstag auch noch einmal die Läufer vor. Vielleicht ist jemandem etwas aufgefallen, was er vorher nicht bedacht hat.«
Torben Tamme nickte und machte sich eine Notiz. Allgemeines Stühlerücken folgte und die Sitzung war beendet. Nacheinander verließen die Kolleginnen und Kollegen den Raum.
Stahlmann wartete, bis die anderen gegangen waren, und erkundigte sich dann: »Nun, Herr Tamme, wie gefällt Ihnen Bielefeld?«
Tammes rotes Gesicht wurde noch eine Spur dunkler. »Gut. Nette Leute hier.«
»Habe ich es nicht gesagt? Die Ostwestfalen sind wie die Friesen, stur, aber gradlinig.«
Tamme grinste, weil ihm keine passende Antwort einfiel, und Stahlmann hatte es plötzlich eilig. Mit einem kurzen: »Schönes Wochenende!« war er auf und davon.
Torben Tamme schnaubte leise. Er ging gemütlich zu seinem Büro, holte seine Sachen und machte sich auf den Heimweg. Kaum zu Hause schlüpfte er in seine Laufkleidung. Er hatte es sich angewöhnt, regelmäßig zu joggen. Nicht nur, um seine Figur im Zaum zu halten, sondern auch, um mit den Joggern in Kontakt zu kommen. Der Gedanke, dass einer der Sportsfreunde von Sonja Pauls der Mörder war, ließ ihm keine Ruhe. Er hatte sich vor ein paar Tagen bei der Laufgruppe Brackwede für die Sommerlaufserie angemeldet. Nun hoffte er, auf diese Weise mehr über die Struktur der Gruppe zu erfahren. Er lief regelmäßig eine Stunde, mittlerweile ohne zu schnaufen und mit fünf Kilo weniger.
Es war schon spät, als er zurückkam. Tamme sprintete unter die Dusche und zog sich für den Abend um. Den Weinmarkt wollte er keinesfalls ausfallen lassen, auch wenn die Aussicht, den Abend mit Beatrice zu verbringen, nicht unbedingt verlockend war. Nicht das er sie nicht mochte, ganz im Gegenteil. Er fand sie ausgesprochen anziehend, aber er fürchtete sich vor einer Beziehung mit einer Kollegin. Seiner Erfahrung nach ging so etwas regelmäßig schief. Ein früherer Kollege hatte sich einst sogar wegen eines solchen Techtelmechtels versetzen lassen. Und er wollte nicht weg hier, er wollte bleiben.
***
Bis zum Freitagabend hatten die Handwerker ganze Arbeit geleistet. Das Dach war fast fertig, es fehlten nur noch die Pfannen, die erst am Freitagabend geliefert worden waren. Nachdem die Handwerker gegangen waren, räumte Rosa ein wenig auf und freute sich auf einen angenehmen Abend auf der Terrasse. Kaum war sie drinnen, rief Simone Stern an, und sie beschlossen, sich den Weinmarkt anzusehen.
Simone und Rosa hatten schon den einen oder anderen Wein probiert und waren äußerst guter Laune. Rosa trug ein leichtes Sommerkleid mit kurzem Jäckchen. Eigentlich hatte sie wie immer Jeans anziehen wollen, aber Simone, die ebenfalls ein Kleid trug, hatte sie dazu überredet.
»Du hast so schöne Beine, du solltest wirklich häufiger Kleider tragen«, lobte die Freundin sie und Rosa fühlte sich plötzlich um Jahre verjüngt. Sie hatte ihr schulterlanges, blondes Haar hochgesteckt und nur leichtes Make-up aufgelegt. Die beiden Frauen lachten und schwatzten und waren wohl schon ein wenig beschwipst, als Simone Rosa plötzlich ans Handgelenk fasste und ihr ins Ohr murmelte: »Der Typ am Stand neben uns, ist das nicht dein Kommissar?«
Ruckartig schaute Rosa in die angegebene Richtung.
»Torben Tamme mit einer Dame. Da schau her.« Rosa grinste.
»Macht doch einen netten Eindruck, das Mädel«, urteilte Simone. »Komm, lass uns hingehen. Vielleicht hat er schon neue Erkenntnisse in dem Mordfall.«
»Bloß nicht«, rief Rosa und hielt sie zurück. »Er ist doch nicht im Dienst.«
***
Torben Tamme hatte ebenfalls dem Wein gut zugesprochen und fühlte sich absolut wohl. Allen Befürchtungen zum Trotz hatte sich Beatrice Dias erneut als äußerst angenehme Gesellschafterin entpuppt, die weder über Kollegen tratschte noch ihn mit irgendwelchen Plattitüden aus der Verwandtschaft ärgerte. Sie war nett und freundlich, außerdem hatte sie sich sehr vorteilhaft zurechtgemacht.
Das blumige Oberteil, welches sie zu einer Skinny-Jeans trug, brachte ihre Figur gut zur Geltung und die dunklen Haare waren ganz nach seinem Geschmack nur lose mit einem Samtband zusammengefasst. Er hatte Beatrice schon einige Komplimente gemacht und fühlte sich sichtlich wohl, bis sein Blick auf zwei Damen fiel, die sich auf der anderen Seite des Weinstandes angeregt unterhielten. Verblüfft starrte er die blonde Frau an. Ihre Haltung und die Gesten kamen ihm sofort bekannt vor. Sein verklärter Weinblick zeigte ihm eine gut aussehende, schlanke Frau in einem duftigen Sommerkleid. Jetzt drehte sie das Gesicht zu ihm und bestellte eine neue Flasche Wein. Es war Rosa Wiedemann.
Tamme verschluckte sich an seinem Wein und bekam einen Hustenanfall. Eilends zog er Beatrice mit sich und verschwand im Getümmel der Leute.
»Was ist denn? Warum hast du es so eilig?« Beatrice hatte noch ihr Weinglas in der Hand und war absolut perplex wegen seiner Flucht.
»Die Wiedemann«, raunte Tamme ihr zu. »Sie ist die Letzte, mit der ich mich heute unterhalten möchte. Schlimm genug, wenn sie mir in Wilhelmshaven den Tag vergällt hat!«
»Meinst du die beiden Damen, die uns gegenüberstanden?«, wollte Beatrice wissen. »Die Blonde sah total gut aus und die Dunkelhaarige war auch nicht übel.«
»Ich meine die Blonde«, antwortete Tamme. »Das ist Hauptkommissarin Rosa Wiedemann.« Er betonte die Worte so hoheitsvoll, dass Beatrice in helles Lachen ausbrach.
»Lach nicht, sie ist eine echte Landplage!«
»Eigentlich sah sie ganz nett aus«, widersprach ihm Beatrice.
»Du kennst sie halt nicht«, verteidigte sich Tamme. Er hatte sie zu einem Würstchenstand am anderen Ende des Marktes geschleust. »Außerdem habe ich Hunger«, erklärte er knapp und bestellte für sich und Beatrice Pommes frites mit Currywurst.
***
Simone Stern hatte es gerade geschafft, Rosa zu überreden, Kommissar Tamme nach dem neuesten Stand in der Mordsache Pauls zu befragen, als sie sah, wie dieser hastig in der Menge verschwand.
»Schade, jetzt ist er weg.«
Rosa lachte erleichtert. »Zum Glück. Ich bin nicht mehr im Dienst, Simone. Mich interessieren Tammes Recherchen nicht.«
Trotz Rosas negativer Äußerung bezüglich Tamme interessierte sie sich sehr wohl für alles, was im Zusammenhang mit Sonja Pauls Ermordung stand. Und sie hatte schon einen Verdacht, auch wenn dieser spezielle Mann von Ella Wenz als harmlos bezeichnet wurde. Rosa glaubte nicht daran. Als sie eine Stunde später mit Simone Arm in Arm das Weinfest verließ, entdeckte sie zu ihrem Erstaunen an einem der Stände ebenjenen Friedhelm Froll. Er war damit beschäftigt, leere Weinflaschen von den Tischen einzusammeln und sie in Kisten einzuordnen.
Sie machte Simone darauf aufmerksam, aber ihre Freundin hatte wohl schon zu viel getrunken und murmelte nur: »Lass den Mann doch! Wenn er eine Arbeit hat, kann er sich wenigstens etwas Ordentliches zu Essen leisten.«
Rosa schüttelte den Kopf und überlegte angestrengt, wo der Mann den Hund gelassen haben könnte.
Später ließen sie sich von einem Taxi heimbringen. Als der Taxifahrer in die Schlingenstraße einbog, sah Rosa an der Gaststätte den schwarzen Hund, der in einem Zwinger neben der Gartenpforte aufgeregt bellte.
Am Samstagmorgen stand Rosa in aller Frühe mit Kopfschmerzen auf und nahm direkt ein Aspirin. Erst dann ging sie hinaus und holte die Zeitung, um es sich damit auf der Terrasse bequem zu machen. Sie schlüpfte in ihren warmen Jogginganzug und betätigte die Rollläden an der Terrassentür. Zu ihrer Überraschung stand etwas auf den Tisch. Verwundert ging sie hinaus und hielt eine Flasche Weißwein in die Höhe. Ein guter rheinhessischer Weißburgunder, genau der, den sie am Abend zuvor auf dem Weinfest getrunken hatte. Suchend schaute sie sich um, doch niemand war zu sehen. Wer konnte diese Flasche hier abgestellt haben? Kopfschüttelnd nahm sie den Wein mit hinein und stellte ihn erst einmal in die Küche. Vielleicht war Ella vorbeigekommen, um sich den Carport anzusehen. Sie war sich sicher, dass es nur die Nachbarin gewesen sein konnte. Nachdem sie die Zeitung gelesen hatte, legte sie sich beruhigt wieder ins Bett, um ein wenig Schlaf nachzuholen.
Sie schlief recht lange. Als sie erwachte, war es schon heller Tag. Gähnend holte sie ihr Fahrrad aus dem Keller, wo sie es nach dem Abriss des Schuppens verstaut hatte, und machte sich auf dem Weg zum Bäcker. Keinesfalls wollte sie auf die frischen Brötchen verzichten, auch wenn es schon nach zehn Uhr war. Als Rosa auf dem Rückweg am Haus von Ella Wenz vorbeikam, war diese gerade dabei die Blumenkübel vor der Haustür mit Wasser zu versorgen.
Rosa stoppte das Rad, grüßte und fragte: »Warst du gestern bei mir?«
Ella sah überrascht auf. »Ich? Nein. Wieso?«
Rosa berichtete von dem Wein und Ella lachte. »Bestimmt hast du einen Verehrer.«
Rosa schnaubte ungehalten, verabschiedete sich knapp und fuhr unter dem erstaunten Blick ihrer Nachbarin eilig davon. Den ganzen Morgen über grübelte sie darüber nach, wer ihr den Wein hatte zukommen lassen. Vorsichtig, wie sie war, würde sie den Wein niemals anbrechen, bevor sie nicht wusste, woher er kam. Sie machte eine weite Wanderung bis zur Sparrenburg, wobei sie ständig überlegte, wie sie sich verhalten sollte.
Die Burg zeigte sich von ihrer sonnigen Seite. Rosa genoss den Blick über die Stadt und machte einige Fotos, die sie später vergrößern wollte. Seit sie in Bielefeld wohnte, hatte sie immer wieder Fotos von imposanten Gebäuden und schönen Straßen oder Plätzen gemacht, um sie demnächst zu einem Album zusammenzufügen.
Als sie den Burghof verließ, war es erst kurz nach Mittag und sie entschied spontan, einen Einkaufsbummel durch die Stadt zu machen und für den Rückweg den Bus zu nehmen. Sie überquerte die Straße am alten Amtsgericht und ging zügig bis zum Jahnplatz. Nach einer halben Stunde in verschiedenen Geschäften war ihr Rucksack voll und sie machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle.
Unterwegs kam sie an einem Mann vorbei, der, seinen schwarzen Labrador neben sich, vor einem Geschäft auf der Erde saß und bettelte. Er beugte sich über seinen Hund und streichelte das Tier so ausdauernd, als Rosa vorbeiging, dass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Aber sie war sich sicher, dass es Froll war. Dann fiel ihr plötzlich der Wein wieder ein. Konnte es sein, dass Froll …? Unmöglich, woher sollte der Mann das Geld nehmen?
Der Bus kam und Rosa war noch immer mit den Gedanken bei Froll und dem Wein. Als sie an der Schlingenstraße ausstieg, war es schon später Nachmittag. Rosa eilte nach Hause und beendete den Tag auf ihrer Terrasse mit einem spannenden Buch, um endlich auf andere Gedanken zu kommen.
***
Am Montagmorgen, Kommissar Tamme hatte gerade die frischen Brötchen ausgepackt, die er immer auf dem Weg zum Dienst bei seinem Hausbäcker mitnahm, wurde ihm von der Leitstelle eine Besucherin gemeldet. Hastig biss er in sein Brötchen, spülte mit einem Schluck Kaffee nach und ließ das angebissene Gebäck samt Tüte in der Schreibtischschublade verschwinden.
Gerade, als er die letzten Krümel weggewischt hatte, öffnete sich nach einem kaum hörbaren Klopfen die Tür und mit einem strahlenden Lächeln trat Rosa Wiedemann ein.
»Guten Morgen Herr Tamme«, begrüßte sie ihn freundlich. Tammes Gruß fiel um Klassen spröder aus und man sah ihm deutlich seinen Unmut an.
»Frau Wiedemann, was verschafft mir die Ehre?«
Seine ehemalige Kollegin ließ sich vor seinem Schreibtisch auf den Besucherstuhl fallen und kam gleich zu ihrem Anliegen. »Haben Sie schon konkrete Hinweise auf einen Täter in Sachen Sonja Pauls?«, erkundigte sie sich und musterte ihn unverhohlen, was eine Rötung in seinem Gesicht auslöste. Während er sich eine Antwort überlegte, blickte sich Rosa Wiedemann ungeniert im Büro um. »Ich habe Sie hoffentlich nicht beim Frühstück gestört«, bemerkte sie etwas anzüglich.
Torben Tamme fühlte sich an seine Ausbildung erinnert und er räusperte sich laut, um seinen aufkeimenden Ärger zu verbergen.
Wenn sie sich nun noch eine Zigarette ansteckt, fliegt sie raus, dachte er und antwortete, ohne auf ihre Anspielung einzugehen: »In Sachen Pauls haben wir leider noch keine konkreten Ergebnisse. Die Untersuchungen der Speichelproben sind allerdings noch nicht ganz abgeschlossen. Die Halskette, die Sie gefunden haben, gehörte wirklich der jungen Frau.«
»Das ist doch schon etwas«, meinte die Ruheständlerin triumphierend und fuhr fort. »Ich bin noch aus einem anderen Grund hier. Kennen Sie einen Friedhelm Froll?«
Tamme ließ seinen Stuhl zurückrollen und sah seine ehemalige Chefin überrascht an. »Friedhelm Froll? Nie gehört. Steht der Mann in Zusammenhang mit dem Mord?«
»Gerade das will ich herausfinden«, erklärte sie. »Seit dieses Mädchen tot ist, läuft mir dieser Mann ständig über den Weg. Er steht manchmal vor dem Kreuz, welches die jungen Leute aufgestellt haben. Ich gehe davon aus, dass er etwas von dem Mord mitbekommen hat. Ich möchte mir daher gerne seine Akte ansehen.«
Tamme reagierte überrascht. »Welche Akte?«
»Nach Auskunft meiner Nachbarin wurde er vor einem Jahr aus der Haft entlassen, seitdem treibt er sich überall herum. Er nächtigt in einer Ruine an der Osnabrücker Straße.«
Tamme gab keine Antwort, nahm aber das Telefon zur Hand und erkundigte sich im Archiv nach der Akte Froll. Als er den Hörer auflegte, sagte er: »Es dauert etwas, die Akte wurde schon im Keller abgelegt.«
Ein unangenehmes Schweigen trat ein, bis plötzlich die Tür aufgerissen wurde und Hauptkommissar Stahlmann hereinstürmte.
»Einen schönen guten Morgen, Frau Kollegin«, begrüßte er Rosa und taxierte sie ungeniert. »Gut sehen Sie aus. Wollen Sie unseren Kommissar ein wenig unterstützen? Er kann es gebrauchen.«
Die letzten Worte ließen bei Tamme die Alarmglocken läuten. Er setzte sich kerzengerade hin und begrüßte Stahlmann mit säuerlicher Miene. »Gibt es etwas Neues, Herr Stahlmann?«, erkundigte er sich schnell, doch Stahlmann grinste nur. »Ich wollte Sie nach Gütersloh begleiten. Wann war noch mal der Termin beim Ehepaar Pauls?«
»Um elf Uhr.«
Stahlmann war schon wieder im Abflug, als er sich noch einmal umdrehte und rief: »Ich gehe jetzt frühstücken, wir treffen uns um halb elf am Ausgang.« Die Tür fiel ins Schloss, wurde aber gleich darauf wieder geöffnet. Stahlmann steckte den Kopf durch den Türspalt. »Einen schönen Tag noch.« Er deutete eine Verbeugung an und fügte hinzu: »Gnädige Frau, man sieht sich.«
Als er endgültig verschwunden war, begann Frau Wiedemann schallend zu lachen. »Mit dem sind Sie auch nicht besser dran als mit mir«, stellte sie lakonisch fest.
Tamme enthielt sich jeden Kommentars und war froh, dass in diesem Moment Beatrice mit der alten Akte erschien.
»Sie lag im untersten Stapel«, sagte sie leicht empört. »Was willst du denn damit?« Erst dann bemerkte sie Frau Wiedemann und wurde flammend rot im Gesicht.
»Frau Wiedemann hält den Mann für verdächtig«, erklärte Tamme mit einem süffisanten Lächeln und reichte Rosa die Akte herüber.
Beatrice nickte der ehemaligen Hauptkommissarin flüchtig zu und verschwand eilends.
Frau Wiedemann schlug die Akte auf und fragte: »Wo kann ich mir die Unterlagen in Ruhe ansehen? Ich möchte Sie nicht länger stören.«
»Draußen auf dem Flur. Vor dem Fenster steht eine Bank«, erklärte Tamme erleichtert.
»Danke, Herr Tamme. Ich lege die Akte in Ihr Postfach, wenn ich sie durchgelesen habe.«
***
Zwei Stunden später war Rosa Wiedemann wieder auf dem Weg nach Hause. Ihre Gedanken befassten sich mit dem Fall Froll.
In der Akte waren alle Indizien ordentlich aufgelistet, alle Vernehmungen der Nachbarn und auch des Beschuldigten. Sie hatte keinerlei Ungereimtheiten entdecken können.
Eine zweiundzwanzigjährige Frau war an einem Samstag im Juli vor fünf Jahren gegen Mitternacht mit ihrem Fahrrad an der Ampelkreuzung Haller Straße/Bielefelder Straße mit dem Auto überfahren und tödlich verletzt worden. Der Verursacher beging Fahrerflucht.
In den frühen Morgenstunden wurden Polizei und Feuerwehr von einem Anwohner zum Ascheloher Weg gerufen. Auf einer Freifläche hinter einem Entsorgungsbetrieb brannte ein Personenwagen. Als die Feuerwehr eintraf, war der Wagen bereits vollständig ausgebrannt und im Innenraum waren sämtliche Spuren vernichtet. Die technische Untersuchung des Fahrzeugs konnte jedoch Unfallspuren an der Front feststellen und brachte den verbogenen Autoschlüssel, der noch steckte, zum Vorschein. Der Wagen war auf Friedhelm Froll zugelassen. Bei den Unfallspuren handelte es sich um deutliche Schäden an der Karosserie im vorderen Bereich. Zudem wurden Lackspuren eines Fahrrades und menschliche Blutspuren festgestellt. Diese Spuren wurden eindeutig der getöteten Radfahrerin zugeordnet. Das Feuer am Fahrzeug wurde durch einen Brandbeschleuniger ausgelöst.
Am Spätnachmittag desselben Tages wurde Friedhelm Froll wegen Fahrerflucht und gefährlichen Eingreifens in den Straßenverkehr sowie fahrlässiger Tötung festgenommen. Froll hatte zu dieser Stunde einen Alkoholwert von 2,5 Promille. Er stritt jegliche Tatbeteiligung ab und wurde in einem Indizienprozess zu drei Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt. Die Haft hatte der Mann inzwischen voll verbüßt. In einem Zivilprozess hatte er Schadenersatz in Höhe von hunderttausend Euro an die Eltern der jungen Frau zahlen müssen.
Als Rosa zu Hause ankam, stellte sie erfreut fest, dass das Dach ihres Carports bereits fertig eingedeckt war. Die Handwerker waren gerade damit beschäftigt, die Tür für den integrierten Schuppen einzusetzen. Nun musste das Ganze nur noch gestrichen und der Boden mit Steinen ausgelegt werden, dann konnte die Einweihungsparty starten.
Nach einer kurzen Unterhaltung mit den Handwerkern ging Rosa hinein und bereitete sich einen Imbiss zum Mittag. Sie saß gerade mit ihrem Salat am Tisch, als sie draußen am Gartenzaun einen Schatten wahrnahm. Schnell stand sie auf, stellte sich im Wohnzimmer ans Fenster und sah gerade noch, wie eine Gestalt zwischen den Bäumen im Wald verschwand. Das war garantiert Friedhelm Froll gewesen. Warum lungerte dieser Mann ständig hier draußen herum? Er war Lehrer und erst gerade sechzig Jahre alt geworden, also knapp ein Jahr jünger als sie selbst; das hatte sie der Akte entnommen. Ob er schon in Pension war? Dann würde er doch regelmäßig Zuwendungen erhalten und müsste nicht als Obdachloser sein Leben fristen. Im selben Moment fiel ihr ein, dass ein Beamter seinen Status verlor, wenn er zu einer so langen Haftstrafe verurteilt wurde. Also würde er keine Pension bekommen. Und Rente konnte er erst mit fünfundsechzig Jahren beziehen. Wahrscheinlich war er seit der Haftentlassung arbeitslos. Vielleicht hatte er deshalb am Weinstand ausgeholfen.
Langsam ging Rosa zurück in die Küche und fragte sich wieder einmal, warum sie sich so sehr mit diesem Fremden beschäftigte.
Am nächsten Tag fuhr Rosa Wiedemann nach Gütersloh. Sie hatte sich die Todesanzeige von Sonja Pauls aus der Zeitung ausgeschnitten und diese aufbewahrt. Die junge Frau war auf dem Johannis Friedhof an der Herzebrocker Straße beigesetzt worden. Rosa wusste selbst nicht, was sie dort wollte. Es würde ihr schon eine Idee kommen, wenn sie vor dem Grab der jungen Frau stand. Ihr Navigationsgerät lotste sie absolut korrekt am Kreistagsgebäude vorbei bis auf den Parkplatz vor der kleinen Kapelle des Friedhofs.
Der Sommer zeigte sich von seiner besten Seite und Rosa genoss die laue Luft. Langsam schlenderte sie an den Gräbern entlang und las interessiert die Inschriften auf den Grabsteinen. Gerade als sie einen Gärtner fragen wollte, der ein frisches Grab aushob, erblickte sie den Stein. Eine Engelstatue stand dort, die Hände auf eine rechteckige Tafel gestützt, auf der der passende Name stand. Rosa blieb stehen und betrachtete das liebevoll gestaltete Grab. Die Blumen waren frisch gepflanzt worden und blühten üppig. Da es seit Tagen nicht geregnet hatte, kam bestimmt täglich jemand vorbei, um die Pflanzen zu gießen.
Kaum war Rosa dieser Gedanke gekommen, erschien eine Frau mit dem Fahrrad, die Rosa auf gut fünfzig Jahre schätzte. Sie war dunkelhaarig und trug Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Sie schob das Rad, stellte es vor dem Grab ab und musterte Rosa mit zusammengekniffenen Augen.
»Haben Sie meine Tochter gekannt?«, fragte die Frau, während sie eine Gießkanne aus ihrem Fahrradkorb nahm.
Rosa schüttelte den Kopf. »Meine Freundin und ich haben Ihre Tochter im Wald gefunden, Frau Pauls«, erklärte sie wahrheitsgemäß, reichte der Frau die Hand, und fuhr fort: »Ich bin Rosa Wiedemann, Hauptkommissarin im Ruhestand.«
»Polizei?«, regte sich Frau Pauls nun auf. »Bisher hat uns die Polizei nur mit Fragen gelöchert und Verdächtigungen ausgesprochen.« Sie sah Rosa verbittert an. »Sogar mein Mann musste eine Speichelprobe abgeben. Aber den Täter haben sie immer noch nicht!« Als habe sie schon zu viel gesagt, ging sie nun entschlossen mit ihrer Gießkanne zu einem Wasserhahn, der etwa zehn Meter entfernt neben einem Komposthaufen angebracht war.
Rosa wartete geduldig, bis sie die Gießkanne gefüllt hatte. »Es tut mir sehr leid, was mit Ihrer Tochter passiert ist«, sagte sie, als Frau Pauls zurückkam.
Mechanisch entleerte die Frau den Inhalt über das Grab, stellte fest, dass das Wasser nicht ausreichte, und ging, ohne auf Rosas Worte einzugehen, zurück zum Wasserhahn, um kurz darauf erneut mit der vollen Kanne zurückzukehren. Dieses Mal blieb sie vor Rosa stehen und sah sie giftig an.
»Merken Sie nicht, dass Sie stören? Ich will mit der Polizei nichts zu tun haben. Ihre Beamten waren gestern noch bei uns im Haus. Wir haben alle Fragen beantwortet.«
Gewissenhaft wässerte sie die restlichen Pflanzen und stellte die Kanne hastig wieder in ihren Fahrradkorb ab. Ihr Gesicht war mittlerweile tränenüberströmt und Rosa überlegte krampfhaft, wie sie die Situation retten könnte.
»Ich verstehe Sie vollkommen, Frau Pauls«, begann sie, wurde aber sofort von Frau Pauls unterbrochen. »Sie verstehen gar nichts!« Sie schluchzte jetzt haltlos. »Sie verstehen nicht einmal, dass ich allein sein will, um ein paar Worte mit meiner Tochter zu reden.« Die Frau hockte sich nun vor das Grab, schlug die Hände vors Gesicht und überließ sich ganz ihrem Schmerz.
»Sie war so hübsch und intelligent«, flüsterte sie. »Ich sehe sie immer noch vor mir … wie glücklich sie war, als wir das Brautkleid ausgesucht haben. Doch sie wird es niemals tragen!« Frau Pauls machte eine kleine Pause, hob den Kopf und sah Rosa vorwurfsvoll an. »Warum finden Sie den Mörder nicht?« Dann sprang sie auf und schrie: »Warum nicht?«
»Ich werde alles tun, um den Mann zu finden, der Ihre Tochter getötet hat«, sagte Rosa mit fester Stimme. »Ich verspreche es Ihnen!«
Frau Pauls hatte sich ein wenig beruhigt. Sie holte ein Taschentuch und schnäuzte sich heftig. »Es tut mir leid, dass ich Sie angeschrien habe. Ich komme einfach nicht darüber hinweg. Sonja war so voller Lebensfreude, so glücklich. Sie war unser Ein und Alles. Ich hatte mich schon auf Enkelkinder gefreut.«
»Es ist sehr schwer, einen geliebten Menschen zu verlieren. Würden Sie mir vielleicht trotzdem ein paar Fragen beantworten?«, machte Rosa erneut einen Vorstoß.
»Sie geben ja doch keine Ruhe. Also, was wollen Sie wissen?«, sagte Frau Pauls und fügte patzig hinzu: »Allerdings finde ich es schon merkwürdig, dass die Polizei gestern da war und nun schon wieder.«
»Ich bin nicht mehr bei der Polizei«, erklärte Rosa. »Ich bin im Ruhestand. Trotzdem würde ich Sie bitten, meine Fragen zu beantworten.«
»Wenn Sie nicht mehr bei der Polizei sind, was geht Sie dann meine Tochter an?« Eine steile Falte hatte sich über der Nasenwurzel in das gut aussehende Gesicht von Frau Pauls gegraben und sie ging zu ihrem Fahrrad.
»Wie ich schon sagte, ich habe sie im Wald gefunden und ich will den Mörder überführen. Dazu muss ich wissen, ob sie einen Friedhelm Froll kannte.«
Frau Pauls riss die Augen auf und starrte Rosa entsetzt an. Rosa hatte das Gefühl, dass der Name der Frau Angst einflößte und sie genau wusste, um wen es sich handelte. Dennoch antwortete Frau Pauls aufgeregt: »Friedhelm Froll? Nie gehört. Ich glaube nicht, dass meine Tochter den kannte. Die meisten ihrer Freunde waren regelmäßig bei uns eingeladen, auch die Läufer.« Obwohl Rosa der Meinung war, dass Frau Pauls log, ging sie nicht darauf ein, sondern fragte: »Hatte Ihre Tochter viele Bekannte?«
»Die Polizei hat schon eine Liste bekommen. Mein Mann hat sie zusammengestellt«, erklärte Frau Pauls knapp und griff nach dem Lenker ihres Rades.
»Und die Jahre zuvor? In der Schule, beim Studium, hatte sie da eventuell engere Freunde?«
»Meine Tochter war doch kein Flittchen!«, empörte sich Frau Pauls und fuhr davon.
Rosa blieb nachdenklich zurück. Sie hatte sich das Gespräch einfacher vorgestellt, konnte die Gründe für Frau Pauls Ablehnung aber gut nachvollziehen. Trotzdem hatte das Gespräch etwas gebracht. Froll war mit der jungen Frau bekannt gewesen, wie sonst wäre die entsetzte Zurückweisung von Frau Pauls zu erklären? Rosa war lange genug bei der Polizei gewesen, um auch Ungesagtes erspüren zu können. Sie war sich daher sicher, dass Frau Pauls genau wusste, wer Friedhelm Froll war. Fraglich war, warum sie es verheimlichte.
Zufrieden fuhr Rosa in die Innenstadt und belohnte sich mit einem riesigen Eisbecher, den sie in einer Eisdiele nahe der Stadthalle einnahm.
***
Torben Tamme hatte sich vorgenommen, noch vor Dienstbeginn eine Runde zu laufen. Er überquerte die Werther Straße und lief bis zum Poetenweg hinauf. Das Wetter war leicht diesig und es hatte sich etwas abgekühlt. Ohne die Hitze der vergangenen Tage lief es sich angenehm und Tamme beschloss spontan, seine Runde bis zum Fernsehturm auszudehnen. Er durchquerte den Tierpark und nahm die Steigung zur Stapenhorster Hütte hinauf. Oben angekommen, machte er an einer Bank Dehn- und Streckübungen und lief dann weiter. Plötzlich stutzte er und blieb abrupt stehen.
Vor dem Holzkreuz von Sonja Pauls stand ein Mann. Er wendete Tamme den Rücken zu. Der Kommissar nutzte die Situation und versteckte sich hinter einem Buchenstamm. Der Mann stand eine ganze Weile still da, dann wandte er Tamme sein Gesicht zu und ging langsam durch die Bäume davon.
Der Mann war nach Tammes Einschätzung mindestens fünfzig, wenn nicht sechzig Jahre alt, mittelgroß und dunkelhaarig. Es konnte sich nur um den Typen handeln, von dem Rosa Wiedemann gesprochen hatte. Er trug Jeans, ein verwaschenes Shirt und einen verblichenen Rucksack auf seinem Rücken. Torben Tamme fröstelte es plötzlich und er lief den gleichen Weg zurück. Er war sich sicher, dass dieser Mann nichts mit dem Tod der jungen Frau zu tun hatte. Sollte sich die Wiedemann nur mit ihm beschäftigen, dann kam sie ihm wenigstens nicht in die Quere. Seine Gedanken wanderten zu der Befragung der Eltern zurück.
Der Vater der jungen Frau hatte, wie schon zuvor der Verlobte, eine Liste aller Freunde und Bekannten zusammengestellt, die es am heutigen Tag durchzuarbeiten galt. Einige Personen, das war ihm bei einem flüchtigen Blick aufgefallen, hatte er bereits überprüft, die konnte er also gleich streichen. Dennoch blieb eine Menge Arbeit und dabei konnte er keine Störungen gebrauchen, besonders nicht von der Ex-Hauptkommissarin.
Als Tamme in seiner Wohnung ankam, war es bereits acht Uhr. Er sprang unter die Dusche und war wieder einmal begeistert, wie die regelmäßigen Läufe seine Figur verändert hatten. Er hatte mehrere Kilo abgenommen und sein Bauch war wesentlich straffer geworden. Er musste dringend in die Stadt, um sich neue Hosen zu kaufen, denn die alten waren bis auf eine, die er regelmäßig zum Dienst trug, viel zu weit geworden. Fröhlich pfeifend machte er sich auf den Weg zum KK11 und dachte an Beatrice, die ebenfalls vom Laufvirus angesteckt worden war. Sie war im gleichen Sportverein und hatte sich einer Gruppe junger Frauen angeschlossen, mit denen sie regelmäßig trainierte, was ihrem Aussehen sehr guttat. Er war nicht auf eine Bekanntschaft aus gewesen, aber Beatrice mit ihrem fröhlichen unkomplizierten Wesen hatte es geschafft, ihn schnell in Bielefeld heimisch werden zu lassen. Hier gab es alles, was er sich je gewünscht hatte. Wälder, Berge, wenn man die Erhebungen des Teutoburger Waldes als solche bezeichnen wollte, und eine quirlige Stadt mit attraktiven Freizeitangeboten. Die raue Luft der Nordseeküste fehlte ihm keinesfalls, da er ohnehin regelmäßig an den Wochenenden seine Mutter in Wilhelmshaven besuchte.
Torben Tamme war mittlerweile beim KK11 in seinem Büro angekommen. Im Körbchen auf seinem Schreibtisch war noch immer die Akte, die Frau Wiedemann durchgesehen hatte. Tamme blätterte darin herum, las die Beschreibung des Mannes durch, blickte auf das Foto, dass vor Jahren gemacht wurde, und war sich nun sicher, dass es der Mann war, den er im Wald gesehen hatte. Wie er vermutet hatte, war damals eine DNA-Überprüfung gemacht worden. Ein kurzer Vergleich mit dem aktuellen Fall und Tamme konnte die Mappe getrost weglegen; dieser Mann war definitiv nicht der Mörder von Sonja Pauls. Mit einem Grinsen legte er die Akte in das Ablagekörbchen zurück und nahm sich die Liste vor, die Herr Pauls ihm von den Bekannten seiner Tochter gemacht hatte.
***
In der Schlingenstraße pflasterte der Gärtner Carport und Einfahrt. In zwei Tagen sollte alles fertig sein.
Als Rosa nach einem Tagesausflug mit ihrer Freundin Simone Stern in die Schlingenstraße einbog, waren die Arbeiter schon weg. Sie stellte ihren Wagen an der Straße ab, denn die letzten Meter Pflaster mussten noch gelegt werden. Vorsichtig trat sie über den Kies und ging dann verzückt über das Pflaster bis zum Haus. Bisher war hier Rasen gewesen. Tante Agathe hatte nichts von Steinen vor der Haustür gehalten.
»Im Sommer muss man ständig fegen und im Winter den Schnee räumen.«
Rosa lächelte in Gedanken daran. Sie fand es äußerst praktisch, bei Regen nicht durch schlammige Pfützen gehen zu müssen. Beschwingt lief sie ins Haus und überlegte, ob sie sich ein Glas Wein zum Abendessen gönnen sollte. Aber so allein schmeckte es ihr nicht. Kurzerhand rief sie bei ihrer Nachbarin Ella Wenz an. Einige Zeit später saßen beide Damen gemütlich auf der Terrasse zusammen und planten die Einweihung des Carports.
Es war weit nach Mitternacht, als Ella auf ihre Uhr schaute und meinte: »So langsam werde ich müde, Rosa.« Sie erhob sich, gähnte ausgiebig und erklärte weiter: »Wenn noch was unklar ist, können wir das gern ein anderes Mal besprechen.«
Rosa stand ebenfalls auf und antwortet lächelnd: »Es war ein schöner Abend, Ella. Wir können das gern wiederholen. Und wegen der Einweihungsfeier für mein Carport komme ich sicher noch bei dir vorbei.«
Sie gingen um den Garten herum und die Lampen an der Front flammten nacheinander auf.
»Die Beleuchtung hast du gut gewählt«, lobte Ella. »Das Haus sieht richtig pompös aus damit.«
Rosa lächelte geschmeichelt und antwortete: »Ich habe die Beleuchtung so installieren lassen, dass man sofort sieht, wenn sich jemand dem Haus nähert.«
Ella lachte. »Glaubst du immer noch, Froll will bei dir einbrechen?«
»Mein Haus liegt am Ende der Straße. Eine Straßenbeleuchtung gibt es hier in der Ecke nicht und jeder Einbrecher ist im Nullkommanix im Wald untergetaucht.« Kaum hatte Rosa das gesagt, fiel ihr der Wein ein und sie fuhr fort: »Außerdem will ich demnächst sehen können, wer mir Wein auf den Terrassentisch stellt.«
»Hast du immer noch nicht herausbekommen, wer es war?« Ella sah Rosa überrascht an. »Das ist allerdings merkwürdig. Ich dachte, es wäre Frau Stern gewesen. Die kommt doch regelmäßig zu dir zu Besuch.«
»Mit Simone war ich heute auf der Schwedenschanze. Sie war es definitiv nicht.«
Ella war schon auf der Straße. »Du wirst es schon noch herausfinden«, meinte sie beruhigend, winkte zum Abschied und verschwand schnellen Schrittes hinter der Wegkurve. Kaum eine Minute später sah Rosa auf der gegenüberliegenden Straßenseite durch die Bäume hindurch das Licht aus dem Dachfenster von Ellas Haus herüberschimmern. Beruhigt lief sie in den Garten zurück, räumte den Terrassentisch ab, löschte das Licht und ging hinein.
Der Wein war gut gewesen und urplötzlich sehnte sie sich nach einer Zigarette, obwohl sie seit Monaten nicht geraucht hatte. Unruhig ging sie an den Küchenschrank und zog mit zitternden Fingern die unterste Schublade auf. Hastig holte sie die Schachtel und das Feuerzeug hervor und wollte sich gerade eine anstecken. Doch das schlechte Gewissen ließ sie zögern. In einem Anflug von Wut schleuderte sie beides von sich und ging noch einmal hinaus in den Garten. Sie lief auf der Terrasse hin und her und schaute in die Dunkelheit hinaus. Langsam beruhigte sich ihr Gemüt und sie sog vernehmlich den Duft des Waldes ein. Als sie noch regelmäßig geraucht hatte, konnte sie Düfte kaum noch wahrnehmen. Sie wusste, wenn sie dem Drang nach einer Zigarette nachgab, würde alles wieder von vorn beginnen. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand neben der Tür und atmete tief durch. Sie stand da, unbeweglich mit geschlossenen Augen, nur den Duft der Nacht einatmend und die Wärme der, von der Sonne aufgeheizten Steine im Rücken spürend. Irgendwann begab sie sich hinein, klaubte die Zigaretten und das Feuerzeug vom Boden auf, verstaute alles wieder tief unten in der Schublade und ging schlafen, ohne zu ahnen, dass sie die ganze Zeit über beobachtet worden war.
***
Das Wochenende verbrachte Torben Tamme wie schon oft in Wilhelmshaven bei seiner Mutter. Sein Abiturjahrgang hatte zu einem Treffen eingeladen. Bisher hatte Tamme diese Treffen gemocht, doch plötzlich kam er sich deplatziert vor. Die flapsigen Gespräche früherer Zeiten hatten sich gewandelt. Auf einmal standen bei den meisten Familiengründung, Hausbau und Berufsaufstieg im Vordergrund. Die Lockerheit der ersten Jahre war vorbei. Torben Tamme musste an Beatrice denken. Verwundert stellte er fest, dass sie ihm fehlte. Ihre ruhige Art zuzuhören, ihr Gesicht, in dem sich kleine Grübchen bildeten, wenn sie ihn anlächelte. Es war erst Mitternacht, als er unter einem Vorwand das Treffen verließ.
Der Sonntag bei seiner Mutter begann mit einem gemütlichen Frühstück, aber Torben war weit weg mit seinen Gedanken.
»Dein Fall beschäftigt dich wohl sehr«, vermutete Marita Tamme.
Torben nickte. »Wir haben den Mörder immer noch nicht gefasst.«
»Das wird schon«, tröstete ihn seine Mutter und lächelte aufmunternd.
Torben schwieg dazu. Direkt nach dem Frühstück erklärte er: »Mama, ich fahr gleich. Ich habe noch einiges aufzuarbeiten.«
Marita Tamme sah überrascht auf. »Du wolltest doch noch einen Strandlauf machen.«
»Ich hab’s mir anders überlegt.«
Kurz darauf startete Tamme. Im Rückspiegel sah er seine Mutter vor dem Haus stehen. Ihr sorgenvolles Gesicht war ihm nicht entgangen, als er von dem bisher ungeklärten Mord gesprochen hatte. Er hätte sie beruhigen können, aber noch fand er es zu früh, ihr von Beatrice zu erzählen.
***
Das Wochenende war schwül und heiß gewesen und die Ostwestfalen atmeten erleichtert auf, als sich am frühen Montagmorgen ein heftiges Gewitter über dem Teutoburger Wald austobte. Es goss wie aus Kübeln und einige tiefer liegende Straßen meldeten Land unter. Rosa Wiedemann saß in ihrer neuen Küche und genoss den Regen. Am Freitag hatten die Handwerker alle Arbeiten abgeschlossen, ihr Auto stand also trocken unterm Carport und der Weg von der Haustür dorthin war durch die neue Überdachung ebenfalls trockenen Fußes möglich. Der Wind blies zwar Zweige und Blätter durch ihren Garten, ansonsten war der Regen für ihre frisch gesetzten Pflanzen aber ideal. Der Gartenschlauch konnte auf der Rolle bleiben und der Sand, den der Gärtner dick über die frisch verlegten Steine gestreut hatte, wurde kräftig in die Ritzen gespült. Rosa hatte die Karte von Bielefeld vor sich auf dem Küchentisch liegen und suchte die Marienfelder Straße. Schnell wurde sie fündig und musste jetzt nur noch herausfinden, wo Wolfgang Schmitten wohnte. Sie hatte seinen Namen auf der Todesanzeige von Sonja Pauls gelesen, allerdings war als Traueranschrift die Adresse der Eltern in Gütersloh angegeben worden. Kein Problem für Rosa, die über gute Internetkenntnisse verfügte. Schnell hatte sie über eine Telefonliste die Anschrift des jungen Mannes herausgefunden. Sie verbrachte den Tag mit einem spannenden Buch und fuhr am späten Nachmittag hinaus, um Schmitten aufzusuchen. Sie wusste natürlich genau, dass sie nicht ermitteln durfte, was sie allerdings nicht davon abhielt, die Leute trotzdem zu befragen. Sie wartete im Auto, bis ein junger Mann, auf den Parkplatz vor seiner Wohnung schoss. Das musste er sein.
Kaum war er drinnen, klingelte Rosa an seiner Tür und stellte sich vor.
»Polizei?«, fuhr er sie grob an. »Ich habe bereits ausgesagt. Was wollen Sie?«
»Ich bin nicht mehr bei der Polizei«, begann Rosa.
»Dann verschwinden Sie von hier!« Mit einem Knall flog die Tür ins Schloss.
Langsam verließ Rosa das Haus. Man konnte dem jungen Mann ansehen, dass er den Tod seiner Partnerin noch nicht verarbeitetet hatte. Er war schlank und sicher einen Meter neunzig groß, mit dichten dunklen Haaren und braunen Augen, die sie starr gemustert hatten. Ein bitterer Zug lag um seinen Mund und Rosa war sich sicher, dass er ein durchaus liebevoller Mensch war. Ohne sich auch nur im Geringsten von seiner Abfuhr einschüchtern zu lassen, fuhr sie zum Sportheim, an dem sich regelmäßig die Läufer trafen. Der Regen hatte nachgelassen und mehrere Läuferinnen und Läufer waren gekommen.
Rosa erkundigte sich nach Sonja Pauls und eine junge Frau fragte: »Kannten Sie Sonja?«
Rosa verneinte. »Ich habe Sie gefunden, oben am Hermannsweg.«
»Und was wollen Sie jetzt von uns?«
Rosa erklärte ihr, dass sie eigene Recherchen anstellte, und Polizeibeamtin im Ruhestand sei.
»Kann wohl nicht schaden, wenn mehrere den Mörder suchen«, meinte die Fremde und reichte Rosa die Hand. »Ich bin Ines Aylan. Sonja und ich sind oft zusammengelaufen. Was möchten Sie denn wissen?«
»Hatte Sonja Pauls einen Freund, bevor sie mit Herrn Schmitten liiert war?«
Ines Aylan überlegte. »Ich kenne Sonja seit vier Jahren. Anfangs wohnte sie noch in Gütersloh bei ihren Eltern. Einige Wochen später ist sie bei Thomas eingezogen. Ob sie davor einen Freund hatte, kann ich nicht sagen.«
Rosa bedankte sich und die jungen Leute liefen in Richtung Osnabrücker Straße davon. Nach diesem Gespräch machte Rosa sich noch einmal auf den Weg zu Thomas Schmitten. Dieses Mal war Schmitten ansprechbarer. Er bat Rosa herein und fragte: »Was gibt es denn?«
»Tut mir leid, dass ich Sie gestört habe«, entgegnete Rosa. »Ich habe Frau Pauls im Wald gefunden und die Polizei verständigt.«
»Kommen Sie zur Sache! Was wollen Sie von mir?«, fuhr Schmitten erregt dazwischen.
»Hatte Ihre Freundin vor Ihnen eine feste Beziehung oder einen Verehrer, den sie hat abblitzen lassen?«
Schmitten ließ sich in einen Sessel plumpsen und sah Rosa an, als sei sie nicht ganz bei sich. »Was hat denn das mit Sonjas Tod zu tun? Ich war drei Jahre mit ihr zusammen!«, regte er sich auf.
»Sie haben Sie sehr geliebt, nicht wahr?«
Er nickte geistesabwesend. Dann, nach fast einer Minute, sagte er: »Natürlich hatte Sonja schon vorher einen Freund oder zumindest einen Verehrer, schließlich sah sie gut aus.«
»Hat sie mal darüber gesprochen? Kennen Sie eventuell einen Namen? War es womöglich einer der Studenten, mit denen sie gemeinsam studiert hat?«
Schmitten sah Rosa genervt an. »Warum sollte jemand Sonja umbringen, bloß weil sie ihm schöne Augen gemacht hat?«
»Für mich sieht es ganz so aus, als ob der Täter Frau Pauls gekannt hätte.«
»Das hat der Kommissar auch schon vermutet, deshalb sollte ich die Listen zusammenstellen«, gab Schmitten Rosa recht. »Sie meinen also, es war eine Jugendliebe?«
»Ganz genau«, bestätigte Rosa.
Thomas Schmitten stand auf. »Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Ich kenne weder alte Jugendfreunde noch die Kommilitonen aus Sonjas Studienzeit.«
»Hat sie nie davon gesprochen? Denken Sie bitte nach. Eventuell hat sie sich über jemanden lustig gemacht, der ihr Avancen gemacht hat.«
Schmitten ging zur Tür und öffnete sie unmissverständlich. »Ich sagte doch schon: Sie hat niemals darüber gesprochen und es hat mich auch nicht interessiert!«
Rosa verabschiedete sich, und obwohl er alles andere als höflich war, gab sie ihm ihre Telefonnummer und bat ihn, sie anzurufen, falls ihm doch noch etwas einfiele. Er antwortete nicht darauf und schloss stattdessen mit Nachdruck die Tür, kaum dass sie die Wohnung verlassen hatte.
Nach diesen enttäuschenden Auskünften nahm sich Rosa vor, sich nicht mehr in Kommissar Tammes Angelegenheiten einzumischen. Was sie am Tag darauf allerdings schon wieder revidierte, denn sie hatte in dem Zeitungsartikel gelesen, dass Sonja Pauls als Lehrerin an der Gesamtschule in Quelle unterrichtet hatte. Daher machte sie sich gleich am nächsten Tag auf, um sich in der Schule umzuhören.
Sie ging direkt ins Schulbüro und meldete sich dort beim Rektor an. Der Schulleiter machte den Eindruck eines verschlafenen, gemütlichen Mannes, der seinen Schülern kaum die notwendige Autorität entgegenzubringen wusste. Er war mittelgroß, hatte eine Halbglatze, trug eine unmodische Nickelbrille und sein vorstehender Bauch zeugte von der Liebe zu gutem Essen. Rosa glaubte in ihm einen interessierten Ansprechpartner für ihr Anliegen zu finden, musste aber schnell feststellen, dass sie sich dieses Mal gründlich geirrt hatte.
Er verhielt sich äußerst skeptisch der Unbekannten gegenüber. »Soso, eine pensionierte Polizeibeamtin sind Sie.« Er musterte Rosa Wiedemann streng und bat sie um ihren Ausweis. »Schon sehr ungewöhnlich, dass Sie nach Ihrer Pensionierung noch ermitteln. Warum interessiert Sie dieser Fall so sehr?«
»Ich war mit meiner Freundin auf dem Hermannsweg und habe die Tote entdeckt«, erklärte Rosa zum wiederholten Male. »Da die Beamten des KK11 bisher wenig Erfolg hatten, möchte ich sie gerne unterstützen.«
»Davon ist mir nichts bekannt, gnädige Frau«, erklärte der Direktor bestimmt. »Außerdem haben all meine Kollegen und ich selbst freiwillig eine Speichelprobe abgegeben. Die Ergebnisse waren allesamt negativ.« Ohne dass Rosa noch ihre Fragen anbringen konnte, stand er entschieden auf. »Ich denke, damit ist alles gesagt. Sollte mir noch etwas Wichtiges einfallen, werde ich das KK11 benachrichtigen.« Er lächelte freundlich und fuhr fort: »Gnädige Frau, Sie entschuldigen mich. Ich habe einen wichtigen Termin.«
Rosa murmelte einen Abschiedsgruß und ging hinaus. Sie schalt sich eine Närrin, dass sie sich so hatte behandeln lassen. Musste sich aber eingestehen, dass sie in gleicher Situation ähnlich reagiert hätte. Ihr Instinkt hatte dieses Mal vollkommen versagt. Noch im Wagen auf der Heimfahrt ärgerte sie sich, dass sie so plump vorgegangen war. Der Ärger vermehrte sich, als sie kaum zu Hause angekommen, einen Anruf von Kommissar Tamme erhielt.
»Frau Wiedemann, es liegt uns eine Beschwerde wegen Amtsmissbrauch vor.«
»Amtsmissbrauch?« Rosa war so überrascht, dass sie sich auf den erstbesten Küchenstuhl fallen ließ.
»Keine Sorge, Frau Wiedemann«, erklärte Tamme süffisant. »Ich habe dem Direktor der Gesamtschule versichert, dass Sie in meinem Auftrag dort waren, und es alles seine Richtigkeit hat.«
Rosa war so wütend über Tammes Spott, der förmlich durch das Telefon triefte, dass sie den Hörer am liebsten an die Wand geworfen hätte. Es kostete sie einige Anstrengung, höflich zu bleiben.
»Danke Herr Tamme«, flötete sie stattdessen. »Sehr nett von Ihnen mich zu unterstützen. Gibt es schon etwas Neues in Sachen Sonja Pauls?«
»Dazu kann ich Ihnen leider nichts sagen, Frau Wiedemann. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag.«
Rosa wollte noch etwas fragen, aber er hatte schon aufgelegt. Wütend stellte sie das Telefon in die Station zurück und fauchte: »Dieser verdammte Mistkerl!«
***
Kommissar Tamme beendete das Gespräch mit einem triumphalen Glitzern in den Augen. Zu gerne hätte er das Gesicht der Wiedemann gesehen. Warum musste sie sich auch überall einmischen! Natürlich hatte der Direktor sich nicht beschwert, er hatte sich lediglich erkundigt, ob die Dame wirklich eine pensionierte Polizeibeamtin war und die Leiche entdeckt hatte. Ganz im Gegenteil sogar. Der Mann hatte gemeint, nachdem Tamme Rosas Angaben bestätigt hatte, er habe der Dame wohl unrecht getan und er möge ihr das bitte bestellen. Den Teufel würde er tun. Sollte sie ruhig ein schlechtes Gewissen haben. Umso mehr hatte er seine Ruhe.
***
Rosa war allerdings nicht die Frau, die sich lange einschüchtern ließ. Kurzerhand schwang sich den Rucksack auf den Rücken und ging hinaus in den Wald. Der Regen hatte aufgehört und die Vögel in den Zweigen lärmten, was das Zeug hielt. Ein Schwarzspecht bearbeitete einen Buchenstamm im Akkord. Aufmerksam blieb Rosa stehen und wagte es kaum, sich zu bewegen, um den Vogel nicht zu verscheuchen. Doch schon im nächsten Moment beendete er seine Arbeit und flog mit einem lauten warnenden Ruf davon. Die Sonnenstrahlen trafen den Weg und die Wassertropfen an Blättern und Zweigen glitzerten in allen Regenbogenfarben. Rosa wanderte gemächlich zum Fernsehturm hinauf. Sie war allein. Die Läufer, die ansonsten regelmäßig am Spätnachmittag ihre Runden zogen, waren wohl wegen der Nässe zu Hause geblieben. Rosa war so in Gedanken vertieft, dass sie nichts, außer dem Gesang der Vögel und das Knacken der Zweige unter ihren Füßen, wahrnahm. Am Fernsehturm angekommen, stellte sie zu ihrer Freude fest, dass der Aussichtsturm Hünenburg noch geöffnet war, und entschloss sich spontan zu einem Aufstieg. Die Aussicht war atemberaubend schön. Das ganze Umland lag ihr zu Füßen. Als sie endlich wieder unten war, probierte sie noch ein Stück des Nusskuchens, der draußen auf einem Schild angepriesen wurde. Der Kaffee, den man ihr dazu servierte, war gut und Rosa ließ sich zu einem weiteren Kuchenstück verführen.
Erst als die Sonne schon untergegangen war, machte sich Rosa auf den Heimweg. Die Bäume warfen lange Schatten auf den Weg und sie lief schnellen Schrittes, um das letzte Tageslicht ausnutzen zu können. Plötzlich hatte sie das Gefühl, verfolgt zu werden. Ängstlich drehte sie sich um, doch es war nichts zu sehen. Sie schritt schneller voran und hielt ihr Handy griffbereit. Immer wieder schaute sie sich mit klopfendem Herzen um, konnte jedoch bei der nun einsetzenden Dämmerung nichts erkennen.
Die Geräusche der Nacht waren hier im Wald überdeutlich zu hören. Eine Eule warb mit klagendem Ruf um den Partner und letzte Amseln ließen ihr kurzes Gezwitscher hören, bevor sie pfeilschnell, als schwarze Schatten, zu ihren Schlafplätzen flogen. Rosa vermied es, ihre Taschenlampe anzuschalten, um die Tiere nicht zu verscheuchen. Sie kannte den Weg und ihre Augen hatten sich gut an die Dunkelheit gewöhnt. Trotzdem ließ das Gefühl der Bedrohung einfach nicht nach. All ihre Sinne waren in Alarmbereitschaft und wieder einmal bedauerte sie es, keine Waffe dabei zu haben. Es waren kaum hundert Meter bis zu ihrem Haus. Der Weg war hier sehr schmal und schlängelte sich durch die Bäume. Das Knacken der Zweige unter ihren Schuhen beruhigte sie etwas, aber die Anspannung blieb. Endlich konnte sie den Dachfirst ihres Hauses über einem Gebüsch ausmachen und atmete erleichtert auf.
Ein Zweig hinter ihr knackte. Abrupt drehte sie sich um, doch es war zu spät.
Mit einem Griff hatte er sie gepackt und hielt sie eisern an den Armen fest. Rosa schrie auf. Ihr Schrei erstarb augenblicklich unter einer großen Hand, die sich auf ihren Mund presste. Sie wehrte sich verzweifelt, trat um sich und traf den Angreifer direkt am Schienbein.
»Halten Sie still! Verdammt noch mal!«, raunte eine bekannte männliche Stimme und die Hand vor ihrem Mund verschwand. Nun hielt er sie nur noch am Arm fest und Rosas Herzrasen beruhigte sich langsam.
Sie entwand sich ihm mit einem Ruck und fauchte: »Lassen Sie mich gefälligst los, Sie Idiot!« Sie standen schwer atmend voreinander, wie Kampfhähne, die sich gerade eine neue Strategie überlegten. Rosa hatte sich schnell wieder gefangen und ihre Angst schlug in Wut um. »Sie machen sich gerade strafbar, Herr Froll!«
Froll atmete tief ein und aus. »Warum beobachten Sie mich?«, stieß er empört hervor.
»Ich, Sie? Ha, dass ich nicht lache!«
»Ja! Ständig haben Sie mich im Visier. In der Stadt … überall.«
»Sie stehen an meinem Gartentor und beobachten mich. Außerdem sind Sie mir den ganzen Weg nachgeschlichen!«, regte sich Rosa auf, denn ihre Angst war urplötzlich verschwunden. »Ich werde Sie anzeigen.« Sie bemerkte seine abfällige Handbewegung. Gern hätte sie sein Gesicht richtig gesehen, aber das war bei dieser Dunkelheit nicht möglich.
»Als wenn mich das schocken könnte. Ich habe immerhin drei Jahre gesessen, ich bin also Kummer gewöhnt.«
In einer plötzlichen Eingebung knipste Rosa nun doch ihre Taschenlampe an und leuchtete ihrem Gegenüber direkt ins Gesicht.
»Lassen Sie das!«, fuhr er verärgert auf und schützte seine Augen mit der Hand gegen den grellen Lichtstrahl.
»Kommen Sie, wir setzen uns jetzt auf meine Terrasse und Sie erzählen mir, warum Sie hier als Penner herumlungern und sich zum Gespött der Leute machen«, ordnete Rosa bestimmt an.
»Das könnte Ihnen so passen«, gab Froll zur Antwort und verschwand in der Dunkelheit.
»Wenn Sie nicht sofort zurückkommen, zeige ich Sie an«, rief Rosa ihm verärgert hinterher und eilte nach Hause. Dort angekommen entledigte sie sich ihrer Wanderkleidung und schlüpfte in einen warmen Jogginganzug. Sie ließ alle Rollläden herunter, nur die zur Terrasse nicht. Dann holte sie sich ein Glas Wein, eine Decke und setzte sich gemütlich hin.
Plötzlich flammte an der Hausfront das Licht auf und Sekunden später stand Friedhelm Froll vor ihr. Er hatte sich umgezogen. Die Jeans war sauber, er trug dazu einen dunkelblauen Kapuzenpullover und darunter blitzte ein weißes Shirt hervor.
»Sie haben es sich überlegt, wie schön. Nehmen Sie doch Platz«, sagte Rosa erfreut. Sie stand auf, ging hinein, holte Salzgebäck und ein weiteres Glas Wein.
Froll nippte an dem Wein und schnalzte anerkennend mit der Zunge. »Zinfandel, sehr gut.«
»Verstehen Sie etwas davon?«
Er lachte leise. »In früheren Zeiten schon.«
Rosa hatte eine Kerze auf den Tisch gestellt und sein Gesicht wirkte in diesem Moment wie in Stein gemeißelt, sosehr verhärtete sich sein Ausdruck, seinem Lachen zum Trotz. Für einen Moment war es still, bis Rosa leise fragte: »Warum besuchen Sie das Kreuz von Soja Pauls so häufig?«
Er kostete erneut von seinem Wein und räusperte sich. »Ich kannte Sonja. Vor vielen Jahren hatte ich sie als Schülerin. Damals habe ich noch in Gütersloh am Gymnasium unterrichtet.«
»Das erklärt einiges, aber nicht alles.« Rosa nickte gedankenverloren, denn sie hatte das Gefühl, als sei etwas Wichtiges unausgesprochen geblieben.
Froll hatte sich mittlerweile etwas entspannt. War es der Wein, den er allerdings sehr mäßig genoss, denn sein Glas war noch immer gut gefüllt, während sich Rosa schon nachschenkte, oder etwa die herrliche Nachtluft? Rosa wusste es nicht.
»Schmeckt Ihnen der Wein nicht?«
»Oh doch. Sehr sogar.« Er seufzte leicht. »Ich bin nur vorsichtig geworden.«
»Inwiefern?«
»Ich kann mich noch genau an das letzte Gespräch mit dem Anstaltspsychologen erinnern. Er wollte mir suggerieren, dass ich auf dem besten Wege sei, Alkoholiker zu werden.« Froll grinste schief. »Meine Haftstrafe habe ich abgesessen, aber die Warnung des Psychologen war durchaus erfolgreich. Ich trinke nur noch selten Alkohol und war seit meiner Entlassung aus der Haft nicht ein einziges Mal mehr betrunken.«
Rosa nickte verständnisvoll, ersparte sich jedoch einen Kommentar dazu und lenkte das Gespräch noch einmal auf Sonja Pauls. »Haben Sie etwas mitbekommen von dem Mord?«
Froll schüttelte den Kopf. »Das nicht. Aber Sonja wollte mir etwas sagen und zwei Tage später war sie tot.«
»Haben Sie sich mit ihr getroffen?«
»Reiner Zufall. Sie lief ihre Runde und hat mich überholt. Plötzlich stoppte sie und sprach mich an. Sie hat mir erzählt, dass sie für ein halbes Jahr in England war, als die Sache mit dem tödlichen Unfall passierte.«
»Der Unfall mit der jungen Frau«, sagte Rosa und nickte. »Ella Danz hat mir davon erzählt.«
Er sprang plötzlich auf. »Ich habe diesen Unfall nicht begangen!«, beteuerte er leidenschaftlich.
»Sie sind aber dafür verurteilt worden«, gab Rosa zurück.
»Weil mir niemand geglaubt hat!« Er hieb auf den Tisch und sah Rosa mit bis zur Maske verzerrtem Gesicht an. »Und weil ich Trottel mich hatte so volllaufen lassen, dass ich mich an nichts mehr erinnern konnte.«
»Deshalb nippen Sie nur an meinem Wein?«
Er ließ sich wieder in den Stuhl fallen, strich sich die zu langen Haare aus dem Gesicht und nickte wortlos.
»Was wollte Sonja Ihnen sagen?«, hakte Rosa nach, um das aufgekommene Schweigen zu unterbrechen.
»Ich weiß es nicht, aber es hatte mit meinem Unfall zu tun.«
»Wenn sie in England war, wie konnte sie dazu etwas sagen?«
»Keine Ahnung.« Er kostete erneut von dem Wein und fragte ohne Überleitung: »Wie hat Ihnen der Burgunder geschmeckt?«
Rosa schaute ruckartig auf und sah zum ersten Mal ein fröhliches Glitzern in seinen Augen.
»Sie haben mir die Flasche auf den Tisch gestellt! Warum?«
Er versteckte sein Gesicht hinter seinem Glas, sah Rosa aber durchdringend an. Das Glitzern in seinen Augen war wieder jenem traurigen Zug gewichen, den er stets mit sich trug. »Ich hatte gehofft, Sie würden mir helfen.«
»Helfen? Ich Ihnen? Inwiefern?«
»Sie sind doch Polizeibeamtin, oder nicht?«
»Im Ruhestand. Ja.«
»Ich will wissen, wer damals meinen Wagen gefahren hat. Ich war es nämlich nicht. Auch wenn meine Ex-Frau noch Wasser auf die Mühlen gegossen hat.«
»Sie waren betrunken und können sich nicht mehr erinnern. Das mit der fremden Person ist doch hirnrissig.«
»Meinen Sie? Dann habe ich hier nichts mehr verloren.« Er stand auf, kippte den letzten Rest Wein hinunter und wandte sich zum Gehen.
»Halt!« Rosas Stimme schallte so scharf durch die Nacht, dass sie selbst davon erschrak.
»Sie bleiben hier!«
»Warum sollte ich?«, fragte er spöttisch. »Sie glauben mir ja doch nicht.«
»Setzen Sie sich und erzählen Sie mir Ihre Version.«
Froll ließ sich auf der Stuhlkante nieder und spielte mit seinem leeren Glas.
»Nur wenn Sie mich nicht unterbrechen und mir noch ein Glas einschenken.«
Rosa eilte hinein und fragte sich, warum sie so viel Zeit mit diesem Mann verplemperte. Und warum zum Teufel sie keinerlei Angst in seiner Gegenwart verspürte … ganz im Gegenteil. Sie fühlte sich ehrlich gesagt sogar zu ihm hingezogen.
Interessiert lauschte sie seinem Bericht:
»Niemals werde ich dieses Datum vergessen. Es war der 23. Juli vor fünf Jahren. Ein Samstag und Ferienzeit. Meine Frau war schon Wochen vorher ausgezogen, weil sie einem jüngeren Mann den Vorzug gegeben hatte. Ich hatte mir gerade eine Pizza in den Ofen geworfen und wollte zu Mittag essen, als plötzlich Silvia in der Küche stand und mir das Schreiben ihres Anwalts vorlegte. »Ich will die Scheidung, und zwar sofort.«
Gleichmütig legte ich das Schriftstück zur Seite und holte die Pizza aus dem Ofen.
»Du solltest es besser lesen! Ich verlange die Hälfte dieses Hauses oder zweihunderttausend Euro. Dann bist du mich für immer los.«
»Habe ich im Lotto gewonnen?«
»Mir ist egal, wie du an das Geld kommst, aber dann bist du mich los.«
Sie stierte mich an mit diesen schwarz umrandeten Augen und den angeklebten falschen Wimpern, die sie in letzter Zeit benutzte. Ich aß meine Pizza und musterte sie ungeniert. Sie hatte sich aufgedonnert wie ein Flittchen. Das Haar war pechschwarz gefärbt, ihr Make-up lückenlos dicht aufgetragen und die Absätze, die sie zu ihrem schmalen bunten Kleid trug, waren gefährlich hoch.
»Dein jugendlicher Liebhaber hat dich wohl schon ohne diese Make-up-Schicht gesehen, sodass er für seine Dienste plötzlich so viel Geld braucht?«, konnte ich mir eine Anspielung nicht verkneifen.
»Du bist und bleibst ein Arschloch!«, schrie sie und lief davon.
Nachdem ich gegessen hatte, warf ich einen Blick auf das Schreiben und konnte nur mit dem Kopf schütteln. Ich musste mir ebenfalls einen Anwalt suchen, denn diese Forderungen konnte ich nicht erfüllen. Ich hatte das Häuschen von meinen Eltern geerbt und die Hypothek für die Renovierung war noch immer nicht ganz bezahlt.
Gegen neunzehn Uhr am Abend ging ich zu Fuß zu Bekannten, die mich zum Geburtstag eingeladen hatten. Mein Wagen stand vor der Garage und wie immer hatte ich den Schlüssel stecken lassen.
Der Abend verlief leider nicht wie erwartet. Plötzlich tauchte meine Frau mit ihrem Liebhaber auf und setzte alles daran, mich madig zu machen. Ich verzog mich in eine Ecke und ließ mich volllaufen. Irgendwann hatte der Gastgeber genug von mir und schickte mich unter Mithilfe eines Freundes vor die Tür.
»Geh nach Hause, Fritz und schlaf dich aus«, gab er mir noch einen guten Rat mit auf den Weg. Das war das Letzte, woran ich mich erinnere. Irgendwie bin ich in mein Bett gekommen. Als ich aufwachte, stand die Polizei vor mir.«
Froll nahm einen kräftigen Schluck Wein und fuhr fort:
»Unter wachsamen Augen musste ich mich anziehen. Mir war entsetzlich schlecht und ich verschwand mehrmals im Bad, um mich zu übergeben. Die Beamten warteten geduldig ab, bis ich mich einigermaßen auf den Füßen halten konnte. Ich wurde ins Präsidium gefahren und mir wurde eine Blutprobe abgenommen. Man stellte einen Alkoholgehalt von 2,5 Promille fest. Es war fünfzehn Uhr am Sonntagnachmittag, als mir der Richter am Amtsgericht den Haftbefehl wegen fahrlässiger Tötung, Fahrerflucht und gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr verkündete. Anschließend wurde ich direkt in die Justizvollzugsanstalt eingeliefert.«
»Sie konnten sich wirklich an nichts mehr erinnern?« unterbrach ihn Rosa.
»Ich konnte mich nicht daran erinnern, ins Auto gestiegen zu sein, und von einem Unfall hatte ich keinen blassen Schimmer. Man nahm sogar an, dass ich den Wagen ganz gezielt angezündet hatte, um den Unfall zu vertuschen.« Froll nahm sich eine Salzstange und knabberte daran.
»Wer soll Ihrer Meinung nach den Wagen gefahren haben?«
Froll steckte sich den Rest der Salzstange in den Mund und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hatte Sonja eine Ahnung, wer meinen Wagen ausgeliehen hat, und musste deshalb sterben.«
»Dann wäre sie bestimmt schon eher zu Ihnen gekommen, Herr Froll«, widersprach ihm Rosa.
»Sie hat so eine merkwürdige Andeutung gemacht. Doch dann kam ein Tross junger Leute und ein Mann rief: Sonja, kommst du? Und sie lief davon.«
»Was hat sie denn angedeutet?«
»Sie hat wörtlich gesagt: Schade, dass ich damals in England war, denn ich weiß, wer manchmal mit Ihrem Wagen fuhr.«
»Das hört sich an, als habe häufiger jemand Ihren Wagen ausgeliehen. Ist Ihnen denn nie etwas aufgefallen?«
»Nein. Ich war wohl zu viel mit meiner verkorksten Ehe beschäftigt.« Sein Lachen klang bitter.
Rosa wollte antworten, aber ihr fielen nicht die richtigen Worte ein und so schwieg sie. Froll leerte sein Glas und stand auf.
»Ich habe Sie lange genug belästigt. Ich sollte jetzt gehen.« Er reichte ihr seine Hand zum Abschied und hielt sie länger fest als nötig. Rosa entzog sie ihm nicht.
»Beim nächsten Mal kommen Sie zu mir, Sie wissen ja, wo ich wohne«, sagte er und verschwand in der Dunkelheit.