1. Kapitel
Maynemouth, Devonshire, 1890
Zehn Jahre später.
Alexander,
nimm die Einladung nach Schloss Redmayne an. Ich bin in Gefahr. Ich brauche Dich.
Frank.
Aus zwei Gründen hatte Alexandra Lane sich während der ganzen Zugfahrt von London nach Devonshire diese sechzehn Worte durch den Kopf gehen lassen.
Erstens hatte sie sich Sorgen um Francesca gemacht, die sonst immer mehr erzählte als nötig. Die Kürze und Unbestimmtheit der Nachricht, die Alexandra jetzt in den Händen hielt, war beunruhigender als der Inhalt.
Zweitens konnte sie sich kein Einzelabteil erster Klasse mehr leisten und hatte in den letzten Stunden voller Anspannung einem stämmigen Mann mit groben Zügen gegenübergesessen, dessen Schultern für schwere Arbeit geschaffen waren.
Allein.
Er hatte es anfangs mit höflicher Konversation versucht, doch sie hatte ihn – ebenso höflich – abblitzen lassen und so getan, als sei sie in ihre Korrespondenz vertieft. Doch nun herrschte peinliche Stille, weil ihnen beiden bewusst war, dass sie nicht vier Zugstationen brauchte, um zwei Briefe zu lesen.
Es war furchtbar schlechtes Benehmen, das wusste sie. Sie hatte ihre Reisetasche die ganze Zeit über krampfhaft festgehalten und ab und zu die Hand in deren Tiefen wandern lassen, um nach der winzigen Pistole zu tasten, die sie immer bei sich trug. Die Geräusche der anderen Passagiere in angrenzenden Abteilen sorgten nicht per se dafür, dass sie sich sicherer fühlte. Doch sie wusste, dass sie sie schreien hören würden, und das verschaffte ihr etwas Erleichterung.
Sie hatte einen großen Teil der letzten zehn Jahre in der Gesellschaft von Männern verbracht und hatte gedacht, dass diese schmerzhaften Momente inzwischen nicht mehr so schlimm sein würden.
Ach, sie war mittlerweile eine Meisterin darin, eine Situation so zu manipulieren. Selbst wenn sie männliche Gesellschaft ertragen musste, ohne dass eine Frau dabei war, sorgte sie dafür, dass mehrere Männer anwesend waren. In den Kreisen, in denen sie verkehrte, benahmen sich die Leute, wenn sie unter Menschen waren.
Bisher hatte es funktioniert.
Alexandra hielt sich gut fest, während der Zug bremste, und hauchte ein stilles Gebet der Erleichterung, als sie endlich am Ziel waren. Sie hatte nicht gewagt, aufzusehen, um nicht gezwungen zu sein, mit ihrem unerwünschten Begleiter Konversation zu machen.
Regen lief wie Tränenströme am Fenster des Abteils hinunter und warf unheilvolle Schatten auf die widersprüchlichen Papiere in ihren Händen. Eins war eine Einladung zur Hochzeit, das andere Francescas erschreckender Brief.
Vor einem Monat hätte sie ihr gesamtes Erbe darauf verwettet, dass Francesca Cavendish die Erste der Red Rogues sein würde, die sich dem Bund der Ehe unterwarf.
Vor einem Monat hatte sie auch gedacht, dass sie ein Erbe zu verwetten hätte.
Es hatte ausgesehen, als würde ihre kleine Gesellschaft das Versprechen einhalten, das sie einander in ihrer Jugend gegeben hatten – desillusionierte Mädchen, die nie heiraten würden.
Bis zu der Einladung zu einem Maskenball anlässlich einer Verlobung – Gastgeber war der Duke of Redmayne –, die am gleichen Tag eingetroffen war wie die rätselhafte, alarmierende Nachricht ihrer Freundin.
Die Einladung hatte ebenso zwiespältig geklungen. Die zukünftige Duchess of Redmayne würde auf dem Ball entschleiert werden. Alexandras Umschlag mit der Einladung enthielt eine Bitte an sie, Brautjungfer zu sein.
Der nachfolgende Hilferuf von Francesca – Frank – hatte in einem winzigen Kuvert gesteckt, verschlossen mit dem Siegel der Red Rogue Society, das sie sich vor ein paar Jahren zugelegt hatten.
Alexandra hatte nicht einmal gewusst, dass Francesca von ihren Abenteuern auf dem Kontinent zurückgekehrt war. Als sie das letzte Mal von ihr gehört hatte, war die Gräfin als Missionarin in Marokko gewesen. Mit keiner Silbe hatte sie in ihren Briefen einen Verehrer erwähnt.
Jedenfalls keinen, mit dem es ernst war. Und ganz bestimmt keinen Herzog. Francesca hatte ein Talent dafür, in Schwierigkeiten zu geraten, und neigte dazu, Gefahr für ein Abenteuer zu halten.
Was konnte ihrer furchtlosen Freundin also Angst einjagen? Die Ehe offenbar, dachte Alexandra mit einem Grinsen.
Zweifellos ein riskantes Unterfangen.
Und gefährlich.
Alexandra glättete die Röcke ihres Reisekleides, dessen eleganter Tweed jedes Jahr schäbiger und abgetragener aussah. Sie hätte besser darauf achtgeben sollen. Sie hätte nicht damit rechnen sollen, dass ihr Vater ihr ständig neue kaufen könnte.
Der Zug trudelte holprig in den Bahnhof von Maynemouth ein und die Aktentasche des Mannes fiel von dem Sitz neben ihm. Sie landete zu ihren Füßen und rutschte halb unter ihren Rock.
„Verzeihung, Madam“, sagte er mit starkem Akzent, der ihn als Bewohner des Kontinents auswies, beugte sich vor und griff nach der Aktentasche, die unter ihr lag. „Ich will nur …“
Alexandra sprang auf und taumelte zur Tür des Abteils. Sie stürmte auf den schmalen Gang und stützte sich an der dunklen Holzvertäfelung ab, als sie an den vernünftigeren Reisenden vorbeiging, die warteten, bis der Zug endgültig hielt, und erst dann aufstanden. Hätte sie sich noch verrückter benehmen können? Ja. Und sie hatte es auch schon getan – oft! Sie klammerte sich an den Türrahmen, als der Zug hielt, und sobald der Kofferträger die Tür öffnete, war sie mit einem Satz in der Meeresbrise von Devon. Sie würde diesen Zwischenfall vergessen, sagte sie sich, als sie sich unter dem Unterstand versteckte, um auf ihr Gepäck zu warten. Das tat sie immer. Peinlichkeiten waren nichts gegen Sicherheit.
Eine halbe Stunde später stand Alexandra in den Qualm der Lok und den Nebel der See eingehüllt auf dem Bahnsteig und kaute nervös auf ihrer Unterlippe. Sie war bereit für den Aufbruch zum berüchtigten Schloss Redmayne. Falls Cecelia überhaupt auftauchte. Die Kutsche hätte vor einer Viertelstunde kommen sollen, doch Alexandra hätte wissen müssen, dass sich ihre liebe zerstreute Freundin verspäten würde. So gut sich die Frau auf Zahlen verstand, etwas Einfaches wie die Zeit überforderte sie. Deswegen hinkte Cecelia der restlichen Welt immer eine halbe Stunde hinterher.
„Haben Sie eine Begleitung, Miss?“ Der liebenswert junge, schlaksige Kofferträger mit dem anscheinend aufgemalten Schnurrbart musterte sie unverschämt. „Smythe“ hieß er laut seinem glänzenden Namensschild. „Ich habe zu tun, verstehen Sie, aber ich möchte Sie ungern allein lassen. Bei uns summt es wie in einem Bienenstock, jetzt, da all die hohen Tiere zu der großen Hochzeit kommen. Und … Nehmen Sie es mir nicht übel, Miss, aber meine Mutter ist krank und ich möchte mir lieber kein Trinkgeld entgehen lassen, indem ich herumstehe.“
Indem ich neben einer verarmten Jungfer stehe, sagte er nicht.
Das war auch nicht nötig.
„Natürlich.“ Alexandra hielt sich nicht damit auf, zu erklären, dass sie eine der Brautjungfern bei der erwähnten großen Hochzeit sein würde. Sie sagte auch nicht, dass sie zu den „hohen Tieren“ gehörte, von denen er gesprochen hatte. Als Tochter eines Grafen hätte sie verlangen können, dass er sie „Mylady“ nannte und nicht „Miss“.
Stattdessen nahm sie einen kostbaren halben Penny aus der Reisetasche, die sie in Kairo gekauft hatte, und drückte ihn dem jungen Mann in die behandschuhte Rechte. „Es kommt gleich jemand und holt mich ab. Danke.“
Sie war erleichtert, als der Kofferträger davoneilte, um sich auf die Suche nach adligen Reisenden zu machen. Und es stiegen eine Menge von ihnen aus dem Zug. Das erkannte sie, auch wenn sie ihnen möglichst aus dem Weg gegangen war, für den Fall, dass sie sie in der zweiten Klasse gesehen hatten. Für den Fall, dass sie von dem finanziellen Absturz ihrer Familie gehört hatten und unbedingt etwas zu der unverheirateten Tochter sagen mussten, die jetzt zu alt und zu intelligent war, um noch einen Mann abzubekommen.
Wenn sie die Wahrheit wüssten, was würden sie sagen? Es war schon schwer gewesen, eine Schande mit sich herumzuschleppen. Sie hatte unterschätzt, was die Last eines zweiten Skandals mit ihr machen würde.
Bald ist alles aus, dachte sie. Die Nachricht vom finanziellen Ruin ihrer Familie würde nicht lange ein Geheimnis bleiben. Und wenn ihr letztes Geld verbraucht war, würde sofort ans Licht kommen, was sie vor langer Zeit getan hatte.
Denn wenn man nicht einmal mehr seine Rechnungen bezahlen konnte, konnte man seinen Erpresser erst recht nicht mehr bezahlen.
Es war gut, dass Francesca jetzt heiratete, denn so hatte sie sich die Position einer Herzogin gesichert, wenn der Skandal losbrach. Und die gute Cecelia hatte weder die Verantwortung, die ein Titel mit sich brachte, noch den Schutz, den er bot.
Ihr Ruf bedeutete ihr nur wenig, vor allem, da sie außerhalb ihres akademischen Kreises nur wenig bekannt war. Doch ein ruinierter Ruf war nichts gegen die Schlinge des Henkers … und die drohte ihnen vielleicht allen.
Alexandra drückte die Hand auf den Bauch, der vor Angst schmerzte, und versteckte sich hinter ihrem niedrigen Gepäckhügel. „Hügel“ deshalb, weil die Unmengen an Koffern, Hutschachteln und Kleidertaschen, die gerade aus dem Zug geladen wurden, dagegen richtige Berge waren, die im Nebel emporragten.
Der Earl und die Countess of Bevelstoke eilten vorbei, eingehüllt in ihre Pelze und Umhänge, und ein Heer aus Dienern und Kofferträgern – darunter Smythe – brachte ihre Sachen zu einer prächtigen Kutsche.
Lord und Lady Bevelstoke hatten zu den engsten Freunden ihrer Eltern gehört. Bis vor Kurzem.
Glücklicherweise stieß der Zug wieder eine Rauchwolke aus, die sie einhüllte und vor neugierigen Blicken schützte.
„Alexandra? Lady Alexandra Lane? Bist das wirklich du?“
Alexandra fuhr zusammen, als sie ihren Namen hörte, doch als sie sah, wer hinter ihr stand, war ihr Lächeln echt. „Julia? Julia Throckmorton?“, begrüßte sie sie.
Sie umarmten sich mit dem Überschwang alter Freundinnen, die sich lange nicht gesehen haben, und wichen dann zurück, um zu sehen, was die Jahre beim Gegenüber bewirkt hatten. Sie hatten Julia besser behandelt als sie, denn ihre alte Schulfreundin war mit mehr Perlen und Saphiren geschmückt, als für Reisekleidung nötig war.
„Wie lange ist es her?“, fragte Alexandra.
Julia schob eine widerspenstige goldene Locke unter ihre modische Mütze und kniff die Lippen zusammen. „Mindestens sechs Jahre“, sagte sie. „Das letzte Mal haben wir uns in dem Café in Boston getroffen, in dem Sommer, als mein Mann und ich unsere große Reise durch New England gemacht haben. Und davor war es auf de Chardonne. Kannst du glauben, dass es zehn Jahre her ist?“
„Nein“, antwortete Alexandra ehrlich. Es kam ihr vor wie gestern – und dennoch war es eine Ewigkeit her.
„Wo ist Lord Throckmorton? Ihr kommt doch beide zur Hochzeit, nehme ich an?“
Der Glanz in Julias Augen erlosch ebenso wie ihr Lächeln. „Natürlich – du hast nicht davon gehört. Du warst ja in Griechenland, als mein Mann vor zwei Jahren gestorben ist.“
Alexandra griff nach ihrer Hand. „Oh, Julia, es tut mir so leid. Ich hatte nichts davon gehört, und wenn ich unterwegs bin, lese ich nie Zeitung. Ich bin eine hoffnungslose Briefeschreiberin. Verzeih mir.“
„Mach dir keine Gedanken deswegen.“ Julia lächelte wieder, aber nicht mehr so strahlend wie zuvor. „Ich weiß, dass du genug eigene Sorgen hast, du Ärmste.“ Sie tätschelte Alexandra beinahe herablassend die Hand, als wolle sie sie an ihre geänderten Verhältnisse erinnern, aber nicht so taktlos sein, es auszusprechen.
O ja – darum hatten sie Julia, die sie allgemein als Freundin betrachteten, nie in den Kreis der Red Rogues aufgenommen. Es hatte nicht daran gelegen, dass sie keine roten Haare gehabt hatte, sondern an ihrer Neigung, etwas hochnäsig zu sein. Dabei hatte sie keinen Grund, sich überlegen zu fühlen. Sie war mit Lord Walther Throckmorton, dem Viscount Leighton, verheiratet worden, einem Mann, der zwanzig Jahre älter war als sie und doppelt so viel wog, weil er so maßlos trank.
„Kannst du dir das vorstellen – in meinem Alter schon Witwe zu sein? Obwohl Lord Throckmorton mir ein unanständig großes Vermögen hinterlassen hat“, flüsterte Julia. Dass sie es erwähnte, machte es noch unanständiger. „Und jetzt genieße ich es, mit Lord und Lady Bevelstoke durch die christlichen Länder zu reisen.“
„Wie schön für dich.“ Alexandra hoffte, dass sie aufrichtig klang.
Falls Julia es merkte, sagte sie nichts davon. „Dieser Duke of Redmayne ist so geheimnisvoll. Ich habe gehört, er sei ein Ekel. Hast du eine Ahnung, mit wem er verlobt ist?“
„Ich kann es dir nicht sagen.“ Alexandra seufzte, sie hatte den Klatsch jetzt schon satt. Aber sie musste sich eingestehen, dass sie sich auf Julias entgeistertes Gesicht freute, wenn Francesca als Braut entschleiert wurde. Die beiden hatten sich nie verstanden.
„Lady Throckmorton“, rief Lady Bevelstoke aus der Kutsche und übertönte den heftiger werdenden Sturm. „Wir sollten wirklich aufbrechen – es warten wichtige Leute auf uns.“
Die leichte Betonung von „wichtige“ entging Alexandra nicht.
„Dann beeilen wir uns besser.“ Julia küsste sie auf die Wangen und vergrub sich tiefer in ihren Pelz. Ein Diener begleitete sie derweil zur Kutsche und hielt die ganze Zeit einen Schirm über sie. „Au revoir.“
Beim Knall der Peitsche sauste die Kutsche der Bevelstokes in Richtung einer der ältesten und vielleicht großartigsten Festungen, die es noch auf britischem Boden gab. Schloss Redmayne.
Alexandra beobachtete den Sturm und fragte sich, ob das Schloss – oder das Meer – an einem klaren Tag von hier aus sichtbar war. Das Wetter war merkwürdig und unheilvoll. Die abendliche Dunkelheit brach viel früher an als sonst. Die Wolken waren so schwer vom Regen, dass sie beinahe schwarz erschienen. Blitze zuckten im Sturm, und dennoch hing ein dunstiger Nebel über dem Boden, der sich vom Regen nicht vertreiben ließ. Die vorbeihastenden Reisenden wirbelten ihn auf und er hüllte sie ein und verlieh dem Durcheinander eine gewisse Eleganz.
Das kleine Dorf Maynemouth lag in der Nähe. Bezaubernde Straßen, gesäumt von Geschäften, nahe an den Schienen. Die schöneren Höfe, Cottages und Herrenhäuser thronten weiter oben auf dem Hügel, sodass der Lärm der Züge und der Lärm der Industrie ihre berüchtigte Ruhe des Südens nicht störten.
Eine heftige, plötzliche Windböe ließ ihr die Regentropfen wie Nadeln ins Gesicht prasseln. Als Alexandra mit ihren Sachen unter dem Vordach stand, taten sich Wind, Sturm und die vorbeieilenden Passagiere zusammen, um ihr fadenscheiniges Reisekleid mit vereinten Kräften zu durchweichen.
Beeil dich, Cecelia, drängte sie in Gedanken und spannte ihren Schirm gegen die Attacke des Regens auf, die ebenso schnell vorüberging, wie sie gekommen war.
Ein Blitz zerriss die Wolken am Himmel und schoss grell und ungebändigt auf den Zug zu.
Alle Anwesenden am Bahnhof schienen stillzustehen und den Atem anzuhalten. Ehrfürchtig warteten sie den Donner ab, bevor sie ihre Tätigkeiten wieder aufnahmen.
Das nächste Poltern war so gewaltig, dass Alexandra sicher war: Man hätte den Zusammenprall der Wolken gesehen, wenn das Vordach nicht den Himmel verborgen hätte.
Jetzt, da die meisten Passagiere zu ihren eigentlichen Zielen aufgebrochen waren, schwappte eine Welle aus durchnässten Kaufleuten und ihre Arbeiter auf den Zug zu. Auf den rostigen Schienen wurden die Waggontüren aufgerissen. Raue Stimmen brüllten Befehle und Flüche, Waren wurden ausgeladen und auf dem Bahnsteig deponiert.
Eine Rampe wurde zur Tür eines Viehwagens verlegt und eine Gruppe von Arbeitern führte vier unruhige Vollblutpferde an Stricken hinunter und zu einer wartenden Kutsche.
Eine Stimme übertönte den Lärm und ließ die ungehobelten Männer ebenso aufhorchen wie der Donner. Alexandra blinzelte über den Bahnsteig, bewunderte die Pferde und hoffte zu erkennen, welchem Mann die Stimme gehörte. Sie hatte einen gewissen Nachhall. Etwas Klangvolles und Gebieterisches. Sie brachte in ihr die gleichen Saiten zum Schwingen wie die alten Glocken einer Kathedrale.
„Er ist zu unruhig“, rief die Stimme aus dem Innern des Viehwagens. Jemand warf zwei Führstricke hinaus. „Ihr zwei da – haltet das Seil gespannt, bis ich ihm die Augen verbunden habe!“
Als der Adel verschwunden war – mit Ausnahme von Alexandra –, schlüpfte Smythe zwischen den verbliebenen Reisenden hindurch und huschte auf den Viehwagen zu, als befinde sich darin das achte Weltwunder. Was weckte solche Neugier? Das Tier oder der Mann?
Smythe schnappte sich den Strick und zog vorsichtig daran, bis er nicht mehr durchhing. Seine Entschlossenheit machte seinen Mangel an Statur fast wett, als er sich das Seil mehrmals den Unterarm und das Handgelenk wickelte, bevor er es fest in die Hand nahm. Alexandra war zu weit weg, um ihn vor diesem Wahnsinn zu warnen, und hoffte inständig, dass jemand anders aufmerksam sein und es tun würde.
Vergeblich.
Ein kräftiger Lakai bückte sich, um das Seil auf der gegenüberliegenden Seite der Planke zu ergreifen, doch bevor er es sichern konnte, blendete ein weiterer Blitz alle.
Ein unmenschlicher Schrei zerriss den Sturm und dann sprang der größte Hengst, den Alexandra je gesehen hatte, mit einem anmutigen Satz aus dem Waggon und ließ die Rampe hinter sich. Als er mit den Hufen auf dem Boden landete, vollführte er einen wilden, graziösen Tanz. Die Hölle brach los, denn der schwarze Hengst schlug aus und traf jeden, der das Pech hatte, im Weg zu sein. Mehrere Männer gingen zu Boden. Es ging so schnell, dass sie nicht sicher war, ob sie gestürzt waren, einen Tritt abbekommen hatten oder einfach nur beiseite gesprungen waren.
Eine andere Gestalt erschien in der Tür des Waggons, ein hochgewachsener Mann, dessen Stimme es mit dem Donner aufnehmen konnte, und befahl allen, zurückzukommen. Beim Gebrüll des Mannes hörte der Hengst auf zu toben und galoppierte einfach davon. Nicht in Richtung des Zuges oder der Straße, sondern auf den nahen Bahnsteig zu, der sich immer noch nicht völlig geleert hatte.
Smythe kreischte, als er in die Luft geschleudert wurde, und ein hörbares Knacken bedeutete vielleicht, dass er sich die Schulter ausgerenkt hatte. Wenn er Glück hatte.
Alexandra schaute sich um, um zu sehen, ob noch Passagiere da waren, und erspähte ein älteres Paar, das einander panisch in Richtung Garderobe half. Hinter ihnen mühte sich eine übernächtigte Mutter damit ab, gleichzeitig eine Reisetasche zu schleppen und einen Kinderwagen zu schieben. Ein Mädchen von etwa fünf Jahren klammerte sich an ihren Rock und zeigte mit einem Schrei auf den heranpreschenden Hengst. Die Mutter erstarrte einen Augenblick zur Salzsäule, dann ließ sie ihre Tasche fallen und versuchte, beide Kinder aus der Gefahrenzone zu zerren.
Alexandra fuhr wieder herum und sperrte den Mund auf, als sie sah, wie viel näher der Hengst in wenigen Sekunden schon gekommen war.
Armer Smythe! Er verhedderte sich in dem Strick, den er sich um den Arm gewickelt hatte, und wurde wie ein Mehlsack durch den Schlamm geschleift. Sein Kopf entging nur knapp den trommelnden Pferdehufen. Er versuchte verzweifelt, sich herauszuwinden, doch sie konnte nicht sehen, ob es gelang.
Alexandra sah sich nur einen Moment atemlos nach Hilfe um. Auf dem Bahnsteig war kein Mann – Schaffner, Polizist, Arbeiter oder sonst einer – zu sehen. Warum hielt sie überhaupt Ausschau? War ihr je ein Mann zu Hilfe gekommen?
Das siebzigjährige Paar hatte beinahe den sicheren Hafen der Garderobe erreicht, doch die Mutter hatte keine Chance.
Alexandra kam eine Idee, als ein Donnerknall das Geschöpf noch mehr anspornte.
Ihre Hände wurden in den Handschuhen schweißnass.
Die Zeit blieb stehen, als der braune Hengst zum Sprung auf den Bahnsteig ansetzte. Die Hufeisen klangen auf den Planken wie Hämmer. Das tonnenschwere Tier nahm die entsetzte Mutter und die Handvoll erschrockener Passagiere hinter ihr ins Visier.
Alexandra ließ ihren Schirm fallen und hechtete auf eins der langen Seile zu, die hinter dem Pferd her schleiften. Sie packte es mit beiden Händen und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht nach hinten, um den Führstrick herumzureißen.
Der Kopf des Hengstes fuhr mit einem Ruck zur Seite und sein gewaltiger Körper folgte mit einem störrischen Wiehern.
Es war keine Zeit zum Nachdenken. Solange noch das Weiße in den Augen des Pferdes zu sehen war, musste sie es aus dem Gleichgewicht bringen. Sie schoss auf den Hengst zu, umklammerte seine Mitte und zerrte an dem Führstrick, sodass er gezwungen war, im Kreis zu gehen.
Verspätet bemerkte sie, dass der andere Strick herrenlos war. Er war Smythe entglitten, als der Hengst seinen Sprung gemacht hatte. Bei einem raschen Blick sah sie den jungen Kofferträger regungslos im Schlamm liegen.
Das Tier schnaubte und warf den Kopf hin und her, doch nach ein paar Runden wurde sein Stampfen zum Tänzeln, was sie als Sieg betrachtete. Dann wurde ihr zu diesem Schrecken bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, was als Nächstes zu tun war. Der Mann mit dem faszinierenden Bariton hatte eine Augenbinde erwähnt. Bei der nächsten Drehung spannte sie ihren schwarzen Schirm auf und schaffte es irgendwie, ihn sich und dem Pferd über den Kopf zu halten, sodass sie beide nichts von mehr der Welt sahen außer einander.
Alexandra sah dem atemberaubenden Geschöpf in die Augen. Ihr Atem kam stoßweise, im gleichen Takt wie das Schnauben der bebenden Nüstern.
„So“, gurrte sie und lenkte ihn immer noch im Kreis, verlangsamte jedoch das Tempo. „Ich mag Gewitter auch nicht. Oder lärmende Menschenmassen. Kein Wunder, dass du dich schlecht benimmst.“
Das Tier prustete unzufrieden.
„Das finde ich auch. Du hast recht, wenn du ärgerlich bist“, bedauerte sie es. „Du hast ja nicht darum gebeten, in einem kalten und überfüllten Viehwaggon hierher gekarrt zu werden. Du brauchst eine trockene Box, frisches Heu und warme Maische, während du den Sturm abwartest. Klingt das nicht gut?“
So liebenswert sich ihr Monolog auch anhörte, so sehr wünschte Alexandra sich, dass jemand – egal wer – sie von dem Geschöpf erlösen würde. Jetzt, da die Mutter mit den Kindern in Sicherheit war, wurden ihr plötzlich die Knie weich und sie fürchtete, zusammenzubrechen. Wenn sie stehen bliebe, würde sie mit Sicherheit zu einem zitternden Nervenbündel zusammensacken. Sowohl sie als auch das Pferd erschraken, als ein weiterer Blitz zuckte, aber der Schirm hielt den Hengst ruhig, während sie ihr Karussell fortsetzten. Sie stieß einen Seufzer aus und murmelte dem Hengst unsinnige Freundlichkeiten zu. Dumpfe Geräusche von draußen drangen bis in ihr seltsames kleines Universum vor. Das Chaos der Männer aufdem Bahnsteig. Das Weinen eines Babys. Der Regen, der immer heftiger auf das Dach trommelte.
Auf der Treppe zum Bahnsteig ertönten die gemessenen Schritte schwerer Stiefel. „Junge Miss, können Sie meiner Stimme folgen?“
Ihr lief ein Schauer über den Rücken, der nichts mit ihren durchnässten Kleidern oder dem Regen zu tun hatte. Es war nicht direkt Angst, sondern Wachsamkeit. Beim Klang der Stimme stellte sich ihr jedes Haar einzeln auf.
Junge Miss? Sie war weder jung noch eine Miss.
Konnte sie ihm folgen? Wenn der heilige Patrick so eine Stimme gehabt hätte, hätte er die Schlangen nicht aus Irland vertreiben müssen. Sie wären ihm bereitwillig gefolgt – in ihr eigenes Verderben.
Denn seine Stimme war weder die eines Heiligen noch die der himmlischen Heerscharen. In dem hohlen Timbre schwangen zu viele Untertöne mit, die jedoch nicht unheimlich oder abstoßend klangen. Sie klangen verlockend. Führten in Versuchung. Die Art Unterton, die Verbrechen und geheime Wünsche verbargen. Die gefährlichsten Untertöne von allen. Sie hatte auf die brutalste Weise gelernt, solchen Leuten aus dem Weg zu gehen.
Ihr wurde klar, dass sie seine Frage nicht beantwortet hatte. „Ich – Ich kann nicht.“
„Schon gut. Ich komme zu Ihnen und nehme den anderen Führstrick. Aber Sie müssen mir den Schirm geben.“
Er glaubte, dass sie wegen des unberechenbaren Pferdes zögerte, und so hätte es auch sein sollen. Wäre sie eine andere Frau mit einer anderen Vergangenheit gewesen, hätte ein Pferd von zweitausend Pfund sie eher erstarren lassen als ein Mann von zweihundert Pfund.
Aber sie wollte sich lieber mit einem unbändigen Pferd anlegen, als sich dem Mann zu nähern, dem die wütende Stimme gehörte. Eine Wut, die die meisten Menschen gar nicht wahrgenommen hätten, doch ihr entging sie nicht.
Sie wollte nie wieder überrumpelt werden. Seit zehn Jahren übte sie sich im Zuhören, um jede Schwingung hinter gesellschaftlicher Höflichkeit und Täuschung aufzuspüren. Und hinter seiner sanften Anweisung lauerte eine unergründliche Düsternis … und eine geballte Wildheit, die ihre durchnässte Kleidung versengen und das Fleisch darunter verbrennen konnte.
Sie wollte gerade antworten, als der Zug einen letzten schrillen Pfiff ertönen ließ und gleichzeitig eine Rauchwolke ausstieß.
Der Hengst sprang zur Seite, weg von den weißen Wolken, die aus dem Nebel aufstiegen. Er stieß Alexandra mit der Schulter um und gegen einen Pfosten. Das Gewicht des Tieres verringerte sich, als es sich von ihr wegdrehte, doch es fiel ihr immer noch schwer zu atmen.
Sie sackte im Dampf und Nebel zusammen, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Ihre Lungen schrien, aber ihre Rippen weigerten sich, nach Luft zu schnappen.
Sie lag auf der Seite, überwältigt von Schmerz, Panik und einer undurchdringlichen Dunkelheit, und wünschte sich nichts mehr, als wieder zu Atem zu kommen. Sie fühlte sich im Nebel verloren und befürchtete, dass sie für immer darin versinken und einfach verschwinden würde.
Vor ihren Augen tanzten schwarze Punkte. Oder waren es schwarze Stiefel und dunkle Hufe?
Hitzige Flüche übertönten erschrockenes Wiehern.
Geschöpf gegen Geschöpf. Tier gegen Tier.
Am Ende gewann der Mann. Natürlich gewann er. Der Mann war immer das überlegene Tier.
2. Kapitel
Alexandra hielt den Atem an. Das Hufgetrappel entfernte sich. Verstummte. Die Planken, auf denen sie lag, bebten unter schweren Schritten.
Zornige Gesprächsfetzen drangen schwach durch den Nebel.
„Finden Sie den Mistkerl … sperren Sie ihn im Triebwagen ein … teeren und federn!“ Diese Stimme.
„Unmöglich … Gnaden … war noch in London …“
Eine andere Stimme. Besorgt. Verängstigt.
„Was für ein elender Dummkopf … mitten in einem solchen Unwetter …“
„… beim Kühlen des Kessels … hat sie nicht gesehen … der Sturm … schrecklich … Gnade.“
Unmöglich. Schrecklich. Gnade? Alexandra drohte das Bewusstsein zu verlieren, als sie versuchte, sich einen Reim auf das unzusammenhängende Gespräch zu machen.
Gnade war oft unmöglich oder schrecklich.
Aber das sollte es nicht sein, oder?
Gnade war Erlösung. Göttliche Verzeihung. Würde ihr eines davon gewährt werden?
Wahrscheinlich nicht.
„Dafür wird jemand hängen!“, dröhnte die jetzt vertraute Stimme, viel näher als zuvor.
„J-ja, Sie haben …“
„Wo ist sie?“ Er kochte vor Wut, man hörte es an jedem Wort.
Ich liege hier auf dem Boden, dachte sie. Oder bin ich verloren?
Es war besser, der Aufmerksamkeit dieses Zorns zu entgehen. Besser für alle. Wenn sie sich einfach dem Nebel ergab, wenn sie verschwand, würde die Dunkelheit auch den Skandal und alle Sorgen verschlucken. Ihre loyalen Freunde würden nicht hineingezogen und auch der kümmerliche Rest ihres guten Namens würde nicht beschmutzt werden. Vielleicht war das die beste Lösung.
Ein heldenhafter Tod.
Als ihr dieser schreckliche Gedanke kam, tauchten schwarze Stiefel aus dem Nebel auf. Der Besitzer kniete neben ihr nieder – und er hatte prächtige Knie.
Das Gefühl von zwei starken, behutsamen Händen, die über ihren Körper wanderten, ließ sie endlich aufschreien.
„Nein!“, schrie sie.
Oder besser gesagt, sie krächzte unhörbar.
„Rühren Sie sich nicht.“ Raue Hände packten ihre Schultern und das Oberteil ihres Reisekleides, das aus Fischbein und Tweed bestand. Sie rang hilflos nach Luft. „Nicht, bis ich weiß, ob etwas gebrochen ist.“ Er übte sanften Druck auf ihre Rippen aus und obwohl sie Prellungen hatte, verursachte seine Berührung keinen Schmerz.
Nur Schrecken.
Und … noch etwas anderes.
Alexandra konnte sich nicht wehren. Ihre Gliedmaßen hatten ihren Zweck vergessen. Ihr Albtraum wurde Wirklichkeit. Wie oft hatte sie schon gegen die Dunkelheit gekämpft? Ein gesichtsloser Mann hielt sie fest, seine Hände fuhren über ihren Körper, während ihre Gliedmaßen ihr nicht gehorchten.
Dann war es, als bekämen ihre unbotmäßigen Nerven einen Stromstoß. Ihre Kraft kehrte so unerwartet zurück wie der Blitz. Sie versuchte, sich ihm zu entziehen, zur Seite zu rollen und nach ihm zu schlagen – alles auf einmal. Das Ergebnis waren wilde Zuckungen, die aussahen wie ein Krampfanfall.
„Holt einen Arzt!“, schrie er – und murmelte: „Und einen Bestatter, verdammt noch mal.“
„Nicht nötig.“ Sie war wieder zu Atem gekommen und fand auch die Sprache wieder. „Ich bin noch am Leben.“
Sie wollte sich losreißen, doch er packte sie am Handgelenk und drückte es zu Boden. „Der Bestatter ist für den Schaffner, wenn ich ihn umgebracht habe – habe ich Ihnen nicht gesagt, dass Sie sich nicht rühren sollen?“
„Es ist nichts gebrochen.“ Sie trat um sich, als wäre seine Hand eine lästige Fliege, die sie von ihrem Rock schütteln wollte. „Ich brauche keinen Arzt. Lassen Sie bitte mein Handgelenk los.“
Zu ihrer Überraschung gehorchte er und beugte sich über sie wie eine dunkle furchterregende Gestalt, die aus dem Nebel auftauchte.
Der Regen hatte seine Hemdsärmel durchnässt – die irgendwann einmal weiß gewesen sein mussten – und machte sie durchsichtig, wenn nicht unsichtbar. Er hatte den statuengleichen Körper eines griechischen Helden – und die Züge einer Figur aus einer griechischen Tragödie. Schultern und Arme, die Atlas beeindruckt hätten. Ein Oberkörper, der es mit der Statue des Ares aufnehmen konnte, den sie einst in der Hadriansvilla bewundert hatte. Und all die unheilige Bosheit, die der Hades zu bieten hatte. Was für Narben. Man konnte es sich leicht vorstellen – die Götter pflegten wagemutige Sterbliche, die sich mit ihnen an Kraft und Schönheit messen wollten, maßlos zu bestrafen, und so hatten sie ein Geschöpf geschickt, das mit seinen dämonischen Krallen das makellose Gesicht zerkratzt hatte.
„Können Sie richtig atmen?“, fragte er. „Wie fühlen Sie sich?“ Die Fragen hätten sanft geklungen, wenn die Stimme nicht von so barbarischer Tiefe gewesen wäre.
„Ich fühle mich … äh …“ Wie fühlte sie sich? Was fühlte sie? „Als wäre ein Pferd über mich hinweg getrampelt.“ Es war ein matter Versuch, unbeschwert zu wirken. „Aber ich kann wunderbar atmen und habe nur ein paar Schrammen, keine Knochenbrüche.“
„Sie haben Glück gehabt“, sagte er knapp und griff nach ihrer Hand. „Ich glaube, Sie haben mir in zwanzig Sekunden zwanzig Lebensjahre genommen.“
„Was machen Sie da?“ Sie wollte ihm die Hand entziehen, doch er hielt sie fest und streifte ihr die Reisehandschuhe ab.
„Ich sehe nach, ob der Strick Schürfwunden hinterlassen hat.“ Er spreizte ihr mit seinen rauen Daumen die Finger und untersuchte ihre Handflächen. „Ihre Handschuhe sind ja hauchdünn.“
„Ich bin unversehrt“, protestierte sie und versuchte zu ignorieren, wie warm sich seine Haut trotz Regen anfühlte. Wie schmal und blass ihre Hände in seinen großen Pranken aussahen.
Wie teuflisch stark seine Finger waren. Wie hilflos wäre sie gegen diese Kraft.
Sie riss sich mit unnötiger Heftigkeit los, ballte die Fäuste und verbarg sie in ihren Röcken. „Wie – wie ich schon sagte, ich werde es überleben.“
„Es sieht so aus.“ Auf die Wärme seiner Hände folgte eine feuchte Kälte, die sich genauso anfühlte, wie seine eisige Stimme klang.
Alexandra zwang sich, ihm in die Augen sehen. Sie waren blau wie der Himmel, so kristallklar, dass sie beinahe farblos waren, aber trotzdem ebenso finster wie das Gesicht, zu dem sie gehörten. Sicher hatte das mit den Narben zu tun. Die kürzeste reichte von dem dunklen Haaransatz bis zur Schläfe und zerschnitt seine Augenbraue. Hätte nicht sein dunkles Haar, nass vom Regen, die Wunde verborgen, hätte sie darauf gewettet, dass sie bis zur Kopfhaut reichte. Die längste Fissur zerfurchte einen kantigen Wangenknochen, verschwand in einem gepflegten Bart und erschien wieder als gnadenlose Spalte in seinen sinnlichen Lippen.
Sinnlich? Beim Ruhm des großen Cäsar, hatte sie sich den Kopf gestoßen?
Alexandra blinzelte einmal. Und noch einmal. Versuchte vergeblich, den Blick von seinem Mund abzuwenden. So weiche Lippen passten einfach nicht zu einem so furchterregenden Gesicht. Der Gegensatz war verwirrend und anziehend zugleich.
„Können Sie aufstehen?“ Sein Ton war plötzlich frostig wie der Sturm. Er hatte sie dabei ertappt, dass sie ihn anstarrte.
Alexandra kniff gequält die Augen zu. Er hatte es wahrscheinlich für Aufdringlichkeit gehalten statt für Bewunderung. Doch sie hatte auch gar nicht vorgehabt, ihn zu bewundern. Sie würde nicht im Traum daran denken, zu …
Seine Hände packten ihre Arme, doch bevor sie protestieren konnte, standen sie beide aufrecht. Er ließ sie sofort los, als sie sich aufgerappelt hatten.
Alexandra taumelte. Die Welt drehte sich, wegen des kurzen Körperkontakts und weil sich ihre Haltung so jäh geändert hatte. Sie griff nach dem Pfosten, um sich abzustützen, und spürte stattdessen warme Muskeln unter kühlem, nassen Leinen. Seine Brust zuckte unter ihrer Hand, als habe die Berührung ihn ebenso überrascht wie sie.
Sie zog hastig die Hand zurück, aber die Wärme seiner Haut blieb. Sie merkte es mit Schrecken.
„V-Verzeihung, ich bin etwas wacklig auf den Beinen.“
„Sind Sie sicher, dass Sie keinen Arzt brauchen?“ Er trat vor und die Besorgnis auf seinem Gesicht ließ seine Narben noch tiefer wirken. Er streckte die Arme aus, um sie notfalls aufzufangen.
Alexandra wich ihm höchst ungraziös aus. „Nein!“ Sie hob abwehrend die Hand und wusste genau, wie sinnlos es war. Mit ihren schwachen Kräften würde sie nicht gegen ihn ankommen. „Nein, ich – ich bin völlig unversehrt. Verstehen Sie? Sie brauchen sich nicht weiter zu bemühen.“
Gott, sie konnte ihn nicht noch einmal ansehen. Er war einfach zu groß. Zu … männlich. Trotz seiner gepflegten Sprache wirkte er überhaupt nicht zivilisiert. Im Gegenteil, er hätte einer der raubeinigen Männer sein können, die ihre Professoren angeheuert hatten, um sie in unbekannten Ländern zu beschützen. Männern dieser Art ging sie seit zehn Jahren nach Möglichkeit aus dem Weg.
Ihr starrer, schweigender und ernster Blick flößte den meisten Leuten solches Unbehagen ein, dass sie ihre Gesellschaft mieden. Es wirkte bei allen, von Räubern in der Wüste bis hin zu energischen Matronen, die nach einer passenden Frau für ihren Sohn suchten. Im Laufe der Jahre war sie eine echte Meisterin darin geworden.
Warum also konnte sie den Blick nicht vom Nebel lösen? Warum blieb die Wärme seiner Haut so seltsam haften? Warum konnten ihre Lungen immer noch nicht richtig einatmen? Vielleicht brauchte sie doch einen Arzt.
„Ich versuche zu ergründen, ob Sie unglaublich mutig oder unglaublich dumm sind.“ Sein überheblicher Ton riss sie aus ihrem Stumpfsinn.
Sie richtete den Blick mit einem Ruck auf ihn und vergaß vor Empörung ihre Angst. „Wie bitte?“
„Was haben Sie sich dabei gedacht, sich mit einem Riesenvieh wie Mercury anzulegen? Sie haben doch gesehen, was er mit diesem hirnverbrannten Kofferträger gemacht hat, und der Kerl ist drei Köpfe größer als Sie!“ Sein Stirnrunzeln ließ die Narbe auf seiner Lippe stärker hervortreten.
„Ich dachte, der arme Smythe würde vielleicht ums Leben kommen, wenn niemand etwas tut.“ Sie erinnerte sich an den Jungen und sah sich nach ihm um. Er humpelte mithilfe von ein paar Männern davon. Smythes schmales Gesicht war vor Schmerz zu einer herzzerreißenden Grimasse verzerrt und er drückte seinen Arm an die Brust. Die Hälfte seines aufgemalten Schnurrbarts war dem Schlamm zum Opfer gefallen und man sah, wie schmerzlich jung er war.
„Wird er zurechtkommen?“ Unbewusst machte sie einen Schritt in Richtung dieser Prozession.
„Gleich um die Ecke ist ein Knochensäger. Er wird dem Jungen die Schulter einrenken und ihn mit Morphium nach Hause schicken. Kennen Sie ihn?“
Sie schüttelte den Kopf. Es war ihr unangenehm, zu merken, dass sie und ihr Gegenüber die Aufmerksamkeit der verbliebenen Passagiere, Arbeiter und Bahnangestellten erregt hatten. „Wir haben nur kurz miteinander gesprochen, als er mein Gepäck getragen hat, aber was spielt das für eine Rolle? Ich wollte trotzdem nicht, dass er verletzt wird … oder Schlimmeres.“
Der Mann drehte ihr den Rücken zu und bückte sich, um ihre und seine Handschuhe aufzuheben. Alexandra wandte entschlossen den Blick von der Hose ab, die sich über seinem Gesäß spannte. War ihr so etwas je aufgefallen? Sie schluckte krampfhaft und nutzte die Gelegenheit, ihre eigene Aufmachung einer kritischen Musterung zu unterziehen. Ihre schöne weiße Bluse und die beigefarbene Jacke waren so mit Schlamm und anderem unaussprechlichem Dreck besudelt, dass keine Wäsche sie mehr retten konnte. Ihrem Rock war es nur wenig besser ergangen.
„Lieber er als Sie.“
Bei seinen leisen Worten verharrte ihre Hand, mit der sie ihre Frisur hatte prüfen wollen, mitten in der Luft. „Wie bitte?“
Er sagte nichts, sondern gab ihr nur die matschigen Überreste ihrer Handschuhe. An seinem kantigen Kiefer zuckte ein Muskel und ließ die dritte Narbe, die fast ganz von dem schwarzen Bart verborgen war, im gleichen Takt pulsieren wie seinen Zorn.
„Danke, Sir.“
Seine azurblauen Augen unter den ironisch hochgezogenen Brauen musterten sie inquisitorisch. „Sie waren äußerst leichtsinnig, haben es aber trotzdem gut gemacht. Wo haben Sie gelernt, mit Pferden umzugehen?“
Die Bewunderung in seinen Worten machte sie wachsam. „Ein Kamelhirte auf der Arabischen Halbinsel hat mir diesen Trick einmal mit seinem eigenen Tier gezeigt. Ich weiß erst seit heute, dass es auch bei Pferden funktioniert.“
Er blinzelte ein paarmal und wiederholte: „Ein Kamelhirte …“
Sie nickte und wurde bei der Erinnerung lebhaft. „Sein Stamm konnte oft sein gesamtes Hab und Gut auf einem einzigen Kamelrücken verstauen. Stellen Sie sich nur vor, wie vernichtend so ein tierischer Wutausbruch für ihn gewesen wäre.“
„Vernichtend.“ Er wiederholte das Wort, diesmal langsamer, und sah sie für einen bedeutungsvollen Moment aufmerksam an.
„Natürlich waren seine Tiere viel besser erzogen.“ Sie warf einen vielsagenden Blick auf den Viehwagen. Dem Tier namens Mercury waren die Augen verbunden worden und es stampfte zwischen den vier Stuten.
Die Lippen des Mannes – warum musste sie sie ständig ansehen? – taten das Gegenteil von dem, was sie erwartet hatte. Er lächelte nicht. Aber er lächelte auch nicht nicht.
Die Lippen öffneten sich und hielten dann inne. Sie zögerte ebenfalls, als sie eine undefinierbare Spannung spürte, die über ihren Köpfen schwirrte wie eine neugierige Biene. Das Summen der Stille wurde umso lauter, je stiller sie standen.
Sollte sie sich vorstellen? Sie hatten schon alle Regeln des bürgerlichen Anstands gebrochen, indem sie so viel miteinander gesprochen hatten, ohne dass ein Dritter sie miteinander bekannt gemacht hatte. Doch seiner Hose aus Breitleinen und den matschbespritzten Hemdsärmeln nach zu urteilen, richtete er sich nicht nach den Regeln des Bürgertums. Und auch nicht nach denen des Adels. Er legte keinen Wert auf angemessene Kleidung, wenn er in die Stadt ging.
Schließlich brach er das Schweigen. „Es ist … ein Glück, dass Sie unversehrt sind, Miss …“
„Lane. Alexandra Lane.“ Ihr erster Gedanke war, einen Knicks zu machen, doch dann beschloss sie, das zu tun, was sie bei den meisten Männern tat, seien es Studenten oder Fabrikarbeiter in Amerika, Steinmetze oder Professoren in Kairo. Sie reichte ihm ihre schmutzige Hand. Die Arbeiterklasse fand heutzutage Gefallen an dieser Art der Begrüßung.
Er machte ein Gesicht, als hätte sie ihm einen verdorbenen Fisch unter die Nase gehalten.
Alexandra zögerte. Wer war er, dass er so eingebildet tat? Sicher kein Gentleman. Kein Gentleman trug die Haare länger als bis zum Kragen. Oder arbeitete ohne Weste in aller Öffentlichkeit. Oder ließ sich einen widerspenstigen Schnurrbart wachsen, Narben hin oder her.
Sie wollte gerade die Hand zurückziehen, da fand sie sie bereits in einer stählernen, aber warmen Umklammerung wieder.
Er schüttelte ihre Hand zwei Mal und sie spürte die Schwielen an seinen Handflächen. Es durchfuhr sie, als sei jede Linie seiner Hand elektrisch aufgeladen.
„Darf ich fragen, wo Sie hinwollen, Miss Lane? Oder ist es Mrs.?“ Seine Stimme wurde sanfter, als habe er plötzlich Kreide gegessen.
„D-Doktor“, stammelte sie.
Er wurde sofort wachsam; die Muskeln an seinem Nacken spannten sich an. „Haben Sie nicht gesagt, Sie bräuchten keinen Doktor?“
„Nein, ich bin Doktor Lane.“
Er reckte das Kinn ein wenig. „Frauen dürfen in England nicht als Arzt arbeiten.“
Das wusste sie nur zu gut. „Ich habe meinen Abschluss vor einiger Zeit an der Sorbonne gemacht, wenn Sie es unbedingt wissen wollen.“
„Vor einiger Zeit?“ Die Worte schienen ihn zu belustigen. „Wie viele Jahre ist das her, frage ich mich?“
„Das ist nicht wichtig“, sagte sie schroff und war sich schmerzlich bewusst, dass sie dank ihrer Sommersprossen und Stupsnase immer noch ein paar Jahre jünger aussah als achtundzwanzig. „Aber wenn Sie es unbedingt wissen wollen, ich bin Doktor der Geschichte. Archäologin, um genau zu sein, und mein Fachgebiet sind antike Kulturen.“
„Daher … die Kamele.“ Er strich mit dem Finger über den Kragen ihres Reisekleides. „Und der Tweed.“
Sie fuhr zurück. „Sie nehmen sich Freiheiten heraus, Sir.“
Seine Hand verharrte für den Bruchteil einer Sekunde mitten in der Luft, dann ließ er sie sinken.
„Ich bitte um Entschuldigung.“ Er klang weder beeindruckt noch beleidigt. Und auch nicht allzu schuldbewusst. Aber sie hatte das Gefühl, dass sie ihn ebenso überrascht hatte, wie er sie erschreckt hatte. „Als Wiedergutmachung für den Ärger, den Sie mit meinem Pferd hatten, würde ich Sie gern in meinem Vierspänner an Ihr Ziel bringen. Oder warten Sie auf jemanden, Doktor Lane?“
Die unpassende Betonung des Wortes tat ihr im Ohr weh. Sie schaute wieder auf den staubigen Wagen, die vier gerade angekommenen Pferde wurden davor gespannt. Der Karren sah schäbig aber stabil aus, doch er hatte nichts mit den prächtigen Kutschen gemeinsam, die auf die hochwohlgeborenen Hochzeitsgäste warteten.
Vierspänner? Also wirklich. Eine Frechheit!
Sie hob das Kinn. „Cecil hat sich verspätet, wird aber gleich da sein.“
Gut so, dachte sie. Am besten, du verschwindest. Das Letzte, was sie brauchte, war, mit einem Mann allein zu sein, der so durchnässt war, dass er genauso gut halb nackt hätte sein können, und der vor Männlichkeit ebenso triefte wie vom Regenwasser. Sie hatte das Gefühl, dass nicht einmal die kleine Pistole in ihrer Handtasche einen Mann seiner Größe aufhalten würde, falls er auf die Idee kommen sollte, zu …
„Gut.“ Er streifte seine Handschuhe mit einem Ruck wieder über und wandte die vernarbte Seite seines Gesichts ab. „Ich muss dieses Vieh nach Schloss Redmayne bringen. Dort wird er lernen, sich wie ein Gentleman zu benehmen.“
Aber sicher nicht von diesem Grobian. „Schloss Redmayne? Sind Sie dort für die Pferde zuständig?“
Seine Lippen zuckten schon wieder und Alexandra hatte den leisen Verdacht, dass sich unter seinem Bart ein Grübchen verbarg. „Allerdings. Ich habe dort viele Aufgaben.“
„Nun, von denen möchte ich Sie nicht abhalten.“ Alexandra richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Straße und hielt demonstrativ nach der Kutsche Ausschau, die sie abholen sollte. Ihr Blick kehrte jedoch zu ihm zurück, nur um sicherzugehen, dass er nicht heimlich näher kam.
Bei ihrer Abweisung schlug er die Augen nieder und sie dachte, er würde sich eine freche Antwort überlegen, als sich eine kleine Gestalt zwischen sie drängte.
Alexandra sah sich von der Dankbarkeit einer Fünfjährigen überwältigt. „Mummy sagt, dass ich Ihnen danken soll“, krähte die Kleine und klammerte sich durch fleckigen Stoff an Alexandras Knie. „Sie haben uns gerettet.“
„O ja, Miss!“, keuchte die Frau, die mit ihrem Baby auf dem Arm herbeieilte. „So etwas habe ich noch nie im Leben gesehen. Sie sind so tapfer, Miss. Ich kann Ihnen nicht genug danken.“
Zu ihrer Überraschung hatte Alexandra plötzlich das Baby auf dem Arm. Ein leiser, bekannter Schmerz stieg in ihrer Brust auf, genau da, wo das Baby schlummerte.
Nach der Unterbrechung der Mutter eilten noch mehr Passanten und Bahnangestellte herbei, überschütteten sie mit Lob und zeigten sich besorgt. Alexandra starrte auf den Rücken des Mannes, als er auf die Kutsche zu schlenderte. Als ob er ihren Blick spürte, hielt er inne und schaute über die Schulter zurück. Sogar aus der Ferne war das Blau seiner Augen faszinierend. Übernatürlich. Aus der Ferne hätte man sie fast für weiß halten können.
Er nickte und sie ebenfalls. Ihr fiel ein, dass sie immer noch nicht wusste, wie er hieß.
„Sie wurden vom Teufel gerettet, Miss.“ Die Mutter sah ihm argwöhnisch nach. „Dem Schrecken von Torcliff.“
„Von wem?“
„O ja.“ Die Frau beugte sich vertraulich zu ihr. „Es heißt, er sei von einem Werwolf angegriffen worden.“
Alexandra gelang es mit Mühe, nicht die Nase zu rümpfen. „Das klingt ziemlich …“ Verrückt. Absurd. Unglaublich. „Ziemlich unwahrscheinlich, oder?“
Die Frau zuckte die Achseln und streichelte dem Baby auf Alexandras Arm die Wange. Wie gut es sich dort anfühlte. Wie klein und niedlich es war. „Ich weiß eins: Seit er nach Schloss Redmayne zurückgekehrt ist, ist der Nebel seltsam.“
Das lenkte Alexandras Aufmerksamkeit von dem glucksenden Baby ab. „Inwiefern seltsam?“
„So wie jetzt!“ Sie breitete die Arme aus, als wolle sie den ganzen Bahnhof umfangen, auf dem sich die Aufregung nach dem überstandenen Schrecken langsam legte. „Ein Tier weiß, wenn der Teufel in der Nähe ist, hat meine Großmutter immer gesagt. Kein Wunder, dass das Pferd durchgegangen ist. In diesen Dämpfen lauert Gefahr. Teufel und Dämonen und dergleichen.“
„Sie glauben doch wohl nicht, dass er ein Dämon ist.“ Alexandra war nicht abergläubisch, doch ihr lief ein Schauer über den Rücken und ihr sträubten sich die Haare.
Die Frau zuckte wieder mit den Schultern. „Jede schwarze Seele, die auf Schloss Redmayne lebt, ist vom Unglück verfolgt. Es treibt sie zu jeder Art von Wahnsinn.“ Sie machte eine Kopfbewegung in die Richtung, in die Alexandras Retter verschwunden war. „Und der Schrecken von Torcliff hat reichlich davon erlebt. Es heißt, der Teufel habe ihn zwei Mal berührt.“
Alexandra dachte an seine Hände, die sie auf sich gespürt hatte. An das seltsame Gefühl, das sie geweckt hatten.
„Der Schrecken von Torcliff“, flüsterte sie. Ein Teufel, dem man am besten aus dem Weg ging.