Leseprobe Geheimnisse auf Schloss Traprain

Eins

Grace saß auf der Terrasse des Espy mit Harvey zu ihren Füßen und überblickte den Portobello Strand. Das Leben kann nicht viel besser werden als im Moment, dachte sie, nahm einen weiteren Schluck ihres Kaffees und hielt das Gesicht zufrieden in die frühmorgendliche Sonne. Für den 4. September war es noch ungewöhnlich warm. Sie gab Harvey das Würstchen, das sie von ihrem Frühstück für ihn abgezweigt hatte, und er verschlang es glücklich. Während Grace über die letzten intensiven Monate nachdachte, konnte sie kaum glauben, welche Richtung ihr Leben eingeschlagen hatte. Als sie an ihren kleinen Enkel Jack dachte, begannen die Mundwinkel zu zucken und ein unfreiwilliges Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Nachdem Grace ihren Sohn Conor vor drei Jahren durch Selbstmord verloren hatte, hätte sie nie im Leben mit einem so wertvollen Geschenk gerechnet.

Sie sah auf die Uhr, trank die Tasse leer und stand auf.

»Los gehts, Junge, es wird Zeit, unseren Lebensunterhalt zu verdienen«, informierte sie Harvey.

Grace schlenderte die Esplanade entlang und bewunderte die silberne Farbe auf dem blauen Schild, das aus einem Stück Treibholz hergestellt worden war, welches sie bei abnehmender Flut gefunden hatte. Schon jetzt fühlte sich ihre ehemalige Karriere bei der Polizei so an, als gehöre sie zu jemand anderem.

Als sie mit etwas Sand und einer kühlen Brise zur Tür der Agentur hereinfegte, grüßte sie lächelnd ihre Mitarbeiterinnen. Jean war bereits fleißig bei der Arbeit, tippte Berichte ab und winkte ihr abgelenkt zu. Hannah war mit Prüfungen der Lebensläufe von Angestellten für einen Großkonzern beschäftigt. Aufgrund von positiver Presse nach ihrem letzten Fall hatten sie einige neue Kunden gewinnen können. Brodie, ihr Ex-Mann, riskierte Kopf und Kragen, damit ihnen in den Medien zugesprochen wurde, dass sie die Polizei unterstützt hatten. Sie schenkte allen eine Tasse Kaffee ein und schnappte sich die Post, bevor sie mit Harvey nach hinten in ihr Büro ging.

Ein paar Minuten später steckte Jean den Kopf herein. »Ich habe einen Sacha Komorov am Telefon. Er möchte einen potenziellen Fall mit uns besprechen, besteht aber darauf, dass er nicht ins Büro kommen kann. Scheinbar handelt es sich um eine dringende, aber delikate Angelegenheit.«

»Ist das nicht der russische Oligarch, dem Schloss Traprain gehört?«

»Genau der«, stimmte Jean zu.

»Sag ihm, dass ich um elf Uhr zum Schloss kommen kann«, antwortete Grace, deren Interesse definitiv geweckt war. Die verbleibende Zeit nutze sie zum Recherchieren. Komorov war in der Arbeiterstadt Ivanov, vier Stunden von Moskau entfernt, aufgewachsen. Sein Vater schien ein Unteroffizier mit einem Hang zur Korruption zu sein. Seine Mutter starb, als er vierzehn war und sein Bruder gerade mal zwei Jahre alt. Es gab nicht wirklich viele Informationen dazu, wie er an seinen Wohlstand kam, aber es wurde spekuliert, dass er als Mitglied einer gewalttätigen Straßengang angefangen und sich dann in der russischen Mafia hochgearbeitet hatte. Er begann mit dem Bau von Krankenhäusern und an der Versorgung mit medizinischen Gütern mitzuwirken, baute sich eine legale wirkende Fassade auf, aber man ging davon aus, dass er weiterhin in Korruption verwickelt war und Gelder an Vladimir Putins Regime weiterleitete. Er mochte ganz offensichtlich keine Publicity. Es gab nur wenige Informationen über ihn, nachdem er von Russland nach Schottland gezogen war und Schloss Traprain gekauft hatte. Seine Frau Katya war eine Primaballerina beim Bolschoi Ballett gewesen, bis sie sich eine karrierebeendende Verletzung zugezogen hatte.

Grace fuhr den Computer herunter, ging in den Rezeptionsbereich, wo beide, die junge Hannah und Jean, je ihren eigenen Schreibtisch hatten. Harvey watschelte ihr hinterher und legte sich neben Jean, seinen größten Fan. Grace schenkte ihnen je eine weitere Tasse Kaffee ein, nahm sich ebenfalls eine und ließ sich in einen der gemütlichen Sessel in dem kleinen Wartebereich fallen.

Jean lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Das Gesicht war rot und sie fächerte sich mit einem Blatt Papier Wind zu. Als Dame in einem gewissen Alter litt sie manchmal an Hitzewallungen. Grace griff hinter sich, um ein Fenster hinter dem Rollo zu öffnen, und die kühle Meeresluft flutete den Raum.

»Das ist besser«, meinte Jean. »Es fühlt sich überhaupt nicht so an, als wäre es gleich voll Herbst.«

»Glaubst du, dass dieser Russe unser nächster großer Fall sein wird?«, wollte Hannah wissen, deren Augen vor Aufregung funkelten.

»Lasst es uns hoffen«, antwortete Grace grinsend. »Aber im Moment wisst ihr genauso viel wie ich. Es könnte alles oder nichts sein. Ich dachte, ihr beiden wolltet nach allem, was passiert ist, ein ruhiges Leben?«, neckte sie.

Ihre Angestellten warfen sich gegenseitig einen Blick zu, der von den Traumata ihrer letzten großen Ermittlung sprach. Seit die Detektei bekannter geworden war, kamen Fälle in Hülle und Fülle, aber keiner hatte dieselben Ausmaße. Stattdessen gab es alle Hände voll zu tun mit Kreditwürdigkeitsprüfungen, Hintergrundchecks von Angestellten und fremdgehenden Ehepartnern, die ihre erschöpften Mitarbeiterinnen beschäftigten. Grace hatte die Gelegenheit genutzt und ihre Angestellten in Überwachungstechniken und Polizeiprozeduren trainiert, damit sie nicht wieder in einer schwierigen Lage landeten.

»Meine Finger bekommen schon Schwielen von all dem ganzen Getippe«, beklagte sich Jean und hielt in gespieltem Entsetzen die Hände hoch.

»Mein Po muss eventuell operativ von diesem Stuhl entfernt werden«, erklärte Hannah dramatisch.

Grace sorgte sich, dass der letzte Fall mit ein paar haarsträubenden Momenten sie abgeschreckt hatte, daher freute sie sich sehr angesichts dieser Albernheiten. »Macht euch lieber nicht darüber lustig.« Sie lächelte. »Ich bin auch nicht gerade begeistert, aber immerhin sieht unser Firmenkonto deswegen wesentlich gesünder aus. Doch ich schätze mal, dass es an der Zeit ist, wieder einen spannenden Fall zu übernehmen. Lasst uns hoffen, dass Sacha Komorov uns den bietet. Ich nehme an, dass er keine halben Sachen macht.«

Nicht nur ihre Angestellten fühlten sich gelangweilt. Grace war selbst eine herausragende Ermittlerin in einer großen Ermittlergruppe gewesen, bevor ihr Sohn gestorben war.

Sie schnappte sich die Schlüssel, warf eine leichte Jacke über und nahm ihre Tasche.

»Passt es euch immer noch mit heute Abend?«, erkundigte sie sich bei Jean und Hannah.

»Ich freue mich schon darauf.« Jean lächelte.

Hannah nickte, aber das Gesicht blieb verschlossen. Graces Mutter hatte sich extrem darüber gefreut, zu erfahren, dass ihr verstorbener Enkel Connor ein Kind hatte, aber sie neigte dazu, ihre Meinung sehr deutlich kundzutun. Grace wusste, dass es zwischen ihr und Hannah schwierig werden würde, da Morag ein schrecklicher Snob war und Hannah selbst eine gewaltige Last mit sich trug, was dazu führt, dass sie manchmal schnippisch und defensiv auftrat. Statt bei ihrer Mutter zu essen, hatte man daher entschieden, dass es für Hannah und den kleinen Jack angenehmer sei, wenn Graces Schwester Cally und deren Ehemann Tom das Dinner ausrichteten.

 

Kurze Zeit später fuhr Grace die A1 entlang, ließ die geschäftige Stadt hinter sich, während die Luft frischer wurde und sich der Beton in weite grüne Felder verwandelte. Das reife Getreide würde bald geerntet werden. Es gäbe eine Schwemme an Gemüse in den lokalen Supermärkten und auf den Märkten in ganz Ost-Lothian. Sie musste den Impuls unterdrücken, jedes Mal »Traktor« zu rufen, wenn sie einen sah, da Jack gerade in einer Landwirtschaftsphase steckte. Da es ein wunderschöner Tag war, entschied sie sich, die Küstenstraße zu nehmen, lenkte das Auto in Richtung der blauen Unendlichkeit des Meeres und ließ das Fenster herunter.

Nach ungefähr dreißig Minuten erreichte sie eine hohe Steinmauer mit zwei großen, kunstvoll gearbeiteten schmiedeeisernen Toren. Auf der Mauer befand sich Glas, aber ob es dazu diente, Menschen drinnen oder draußen zu halten, konnte sie nicht sagen. Der Gesamteindruck ließ auf bedrohliche Erhabenheit schließen. Als Grace näherkam, öffneten sich stumm die Tore und schlossen sich hinter ihr, während sie die beeindruckende Auffahrt entlangfuhr. Sie folgte dem kurvigen Weg, bis sich das Schloss mit den vielen Türmen in seiner wiederhergestellten Pracht vor ihr ausbreitete. Grace stellte das Auto auf dem ausgewiesenen Parkplatz ab, fragte sich kurz, ob sie Eingang für Bedienstete nehmen sollte, bevor sie sich straffte, um die große Treppe am Haupteingang hinaufzugehen.

Grace klingelte, hört das Echo durch das Gebäude hallen. Die kräftige Holztür schwang auf, um den Blick auf eine ernste, nicht lächelnde Frau in einem perfekt geschnittenen Anzug freizugeben. Ihre Blässe in Verbindung mit den tiefschwarzen Haaren war so auffällig, dass sich Grace sofort an die Addams Family erinnert fühlte.

»Grace McKenna für Herrn Komorov«, stellte sie sich lächelnd vor, was jedoch nicht erwidert wurde. Vor dieser Frau wollte sie keine Stand-up-Comedy performen.

»Er erwartete Sie bereits«, kam es von der Frau mit starkem Akzent.

Sie folgte der angespannten Erscheinung durch eine schön geschnittene holzvertäfelte Eingangshalle. Ein Feuer brannte in einem hübschen, in Stein gefassten Kamin und der Duft von Lilien in einer großen kristallenen Vase auf einem runden Walnusstisch, gemischt mit dem Geruch nach brennendem Holz, erfüllte die Luft. Dann kamen sie in eine achteckige Halle, erhellt von natürlichem Licht, das von einer gewölbten Glaskuppel herabstrahlte, durch die sie einen Blick auf einen zinnenbewehrten Turm mit spiralförmigem Schornstein werfen konnte. Ein paar ausgewählte, exquisite Bilder hingen an den blauen Wänden. Grace versuchte, wegen der opulenten Umgebung nicht zu starren, während sie in eine wunderschöne Bibliothek geführt und allein gelassen wurde.

Der Raum war groß, ausgestattet mit bequemen Ledersofas und einem weiteren atemberaubender Kamin. In diesem brannte jedoch kein Feuer.

Am hinteren Ende des Zimmers stand ein beeindruckender, mit Leder verzierter Mahagoni-Schreibtisch, auf dem alle möglichen Papiere verstreut lagen. Der Teppich war hellgrün und strahlte mit den vielen Mustern Wärme aus. Die Wände waren in einer Palette aus Salbei- und Cremetönen gestrichen. Grace ging zu den zimmerhohen Regalen und erkannte eines der Bücher, welches sie in der Schule behandelt hatte, und zog es heraus.

»Vorsichtig damit!«, schnauzte eine tiefe Stimme hinter ihr, was Grace erschreckte und herumwirbeln ließ. »Das ist eine Erstausgabe.«

Sie fühlte sich getadelt, reichte Komorov das ungeöffnete Buch und er schob es an seinen vorgesehenen Platz zurück, bevor er sich mit einem kleinen Lächeln, das seine eisblauen Augen nicht erreichte, zu ihr drehte, um sie zu begrüßen. Groß und mit einer breiten grauen Strähne, die sich durch das schwarze Haar zog, ragte er über ihr auf.

»Wollen wir?«, fragte er und deutete zu den zwei burgunderfarbenen Sesseln zu beiden Seiten des Kamins. »Der Grund, weshalb ich Sie hierher bestellt habe, ist, dass einer meiner Wertgegenstände, das Juwel meiner Kollektion, gestohlen wurde. Ich möchte, dass Sie ermitteln und den Verräter in meinem Haus finden. Es verlangt jedoch höchste Diskretion.«

Er sah blass und angespannt aus, das Zucken des Mundwinkels ein nervöser Tick.

»Haben Sie den Diebstahl der Polizei und Ihrer Versicherung gemeldet?«, erkundigte sich Grace.

»Ich habe ihn meiner Versicherung gemeldet, aber der Antrag ist noch in Bearbeitung.«

»Und der Polizei?«

»Sagen wir einfach, da ich aus Russland komme, habe ich ein kleines Vertrauensproblem, was die Behörden angeht.«

»Sie wissen aber, dass ich früher bei der Polizei gearbeitet habe?«

»Ja, ich habe Sie gründlich recherchiert«, bestätigte er, immer noch, ohne zu lächeln. »Ich habe ebenfalls Kriminalhauptkommissar Brodie McKenna unter die Lupe genommen, mit dem Sie nach wie vor verkehren.«

Grace verkniff sich einen Kommentar, während ihr Gesicht vor Gereiztheit rot anlief.

Dies hob die Sorgfaltspflicht auf ein ganz neues Level. »Und?«, hakte sie kühl nach.

»Ich bin zufrieden, was Ihre Kompetenz und Integrität betrifft.«

»Es kann nützlich sein, mit Kriminalhauptkommissar McKenna zu arbeiten, da er zeitweise an Informationen kommt, die mir nicht zugänglich sind. Darf ich den Fall informell mit ihm besprechen, soweit ich es für nötig erachte?«

»In Ordnung, solange der Kontakt lediglich zwischen uns beiden besteht und nicht auf die Polizeibehörde ausgedehnt wird.«

»Warum sagen Sie mir nicht, was überhaupt gestohlen wurde?«

»Was wissen Sie über Fabergé-Eier?«, wollte er wissen.

»Einige von ihnen sind exquisit und von unvorstellbarem Wert«, antwortete Grace. »Ich habe vor ein paar Jahren Russland mit meinem Vater besucht. Er war ein riesengroßer Fan russischer Literatur. Wir haben einige schöne Exemplare im Fabergé-Museum in St. Petersburg gesehen.« Es war ihre letzte gemeinsame Reise vor seinem Tod gewesen.

»Dann wissen Sie bestimmt auch, dass Fabergé vom russischen Zaren beauftragt wurde, ein Geschenk für die Frau des Zaren zu kreieren, in Form eines mit Juwelen besetzten Eis mit einer unglaublichen Überraschung im Inneren. Fünfzig wurden hergestellt, aber seit der Revolution sind sieben verschwunden.«

Grace wurde langsam aufgeregt. »Warten Sie, wollen Sie mir sagen, dass der gestohlene Gegenstand eines der vermissten sieben Eier ist?« Sie schluckte schwer.

»Ja. Es handelt sich um das Hennen-Ei mit Saphir-Anhänger. Auch wenn kein Foto davon existiert, ließ ich es mir von zwei Experten authentifizieren und zu seinem ehemaligen Glanz aufarbeiten. Ich habe eine Aufnahme von vor dem Diebstahl.« Er nahm ein iPad und reichte es ihr, nachdem er das passende Bild gefunden hatte.

Das Foto zeigte ein goldenes Gehäuse mit rosafarbenen Diamanten, das mit Saphiren besetzt war. Das zweite bildete das Ei in geöffneter Form ab; es präsentierte eine kleine goldene Henne, bedeckt mit rosafarbenen Diamanten und gebeugt über ein Nest aus goldenem Stroh, die aussah, als hätte sie gerade das blaue Saphir-Ei mit dem Schnabel aufgepickt.

»Es ist einfach wunderschön. Wie viel ist es wert?«, fragte Grace.

»Das lässt sich unmöglich sagen, ohne es zum Verkauf anzubieten, aber für mich ist es unbezahlbar. Es geht dabei nicht nur um Schönheit und Schmiedekunst, sondern um die Geschichte. Etwas so Einzigartiges zu besitzen: einen Teil der blutigen Geschichte Russlands. Dem kann man keinen Preis geben.«

»Wie haben Sie es erhalten?«

Ein kurzes Zögern lag in seinem Blick.

»Wenn die Chance bestehen soll, dass wir miteinander arbeiten, dann müssen Sie vollkommen ehrlich mit mir sein«, erklärte Grace. »Ich kann Ihnen keine Resultate liefern, wenn ich nur die halbe Geschichte kenne. Wie bereits gesagt, ich bin nicht die Polizei.«

»Die vermissten Fabergé-Eier aus dem Besitz des Zaren wurden für mich zu einer Obsession«, sagte er. »Private Sammler auf diesem internationalen Niveau bilden eine elitäre Gruppe. Wir sind Rivalen in einer globalen Schatzsuche nach den exquisitesten und seltensten Stücken. Ich habe weltweite Verbindungen. Viele Sammler könnten es sich nicht leisten, solch ein Stück selbst zu kaufen, aber sie erzählen privaten Liebhabern wie mir davon und erhalten dafür eine beachtliche Kommission.«

»Ist es das, was passiert ist?«

»Das Ei wurde in einem kleinen Antiquitätengeschäft in Antwerpen von einem einheimischen Händler gefunden, der den Wert des Stückes nicht erkannte. Ich glaube, er zahlte dafür dreihundert Pfund. Dann wurde es bei einer Auktion einer kleinen Gruppe von Elitesammlern angeboten. Man akzeptierte mein Gebot und dann musste ich das Ei unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen hierher bekommen, wofür ich mehrere Fälschungen nutzte. Es war eine aufwendige Operation.«

»Warum habe ich davon nichts in den Medien erfahren?«, hakte Grace nach.

Er warf ihr einen herablassenden Blick zu. »Wir möchten keinen Ruhm, sondern so ziemlich das Gegenteil davon. Die meisten privaten Sammler halten sich bedeckt hinsichtlich ihrer Juwelen. Wer das nicht tut, lädt die Diebe praktisch zu sich nach Hause ein. Außerdem setzt man sich dadurch, sagen wir, gesellschaftlichem Druck aus.«

»Das kann ich mir gut vorstellen«, erwiderte Grace trocken.

»Ich möchte mein Privatleben privat halten«, erklärte er mit wertendem Blick.

Einige von uns verfügen nicht über diesen Luxus, dachte Grace und erinnerte sich an all die Schlagzeilen und Artikel über den Selbstmord ihres Sohnes und jene, die ihrer ungerechtfertigten Kündigung von der Polizei gewidmet waren.

»Kommen andere rivalisierende Sammler aus dem Vereinigten Königreich infrage?«, wollte sie wissen.

Komorov schürzte die Lippen und sein Gesicht verdunkelte sich.

»Dreiundzwanzig. Einer davon ist Harris Hamilton. Er besitzt das benachbarte Anwesen Balhousie und ist mir ein Dorn im Auge. Ich kann nicht zulassen, dass er so einen wichtigen Teil der russischen Geschichte in seine rüpelhaften Hände bekommt.«

»Kann es sein, dass er, nachdem er bei der Versteigerung gescheitert ist, sich entschieden hat, das Ei zu stehlen?«

»Zutrauen würde ich es ihm«, überlegte Komorov, die Lippen zu wütenden Linien verzogen.

»Ich benötige eine Liste aller Anwesenden inklusive Kontaktdaten«, erklärte Grace. »Gab es irgendwelche Zeichen eines Einbruchs?«

»Keine.«

Ein Insider-Job? Kein Wunder, dass er so angespannt wirkte. »Können Sie mir die genaue Stelle zeigen, von der das Stück entwendet wurde?«, wollte Grace wissen und erhob sich.

»Selbstverständlich«, bekräftigte er und stand ebenfalls auf. »Folgen Sie mir.«

Zwei

Sie gingen durch die holzvertäfelte Halle und bogen am Ende rechts ab. Komorov blieb neben einem Bücherregal stehen und griff dahinter. Es gab ein gedämpftes Klicken von sich, dann schwang das Möbelstück zur Seite und legte einen kleinen Aufzug mit blauem Teppich frei. Anschließend nahm der Hausherr eine Karte aus seiner Jackentasche, steckte sie in die dafür vorgesehene Vorrichtung und die Tür öffnete sich.

»Wollen wir?«, erkundigte er sich und deutete ihr an einzutreten. Grace war es etwas unangenehm, sich mit jemandem, den sie kaum kannte, in einen so engen Raum zu quetschen. Keiner der beiden war scheinbar sonderlich gut in Small Talk, also schwiegen sie unbeholfen, während der Lift sanft seinen Weg vier Stockwerke nach unten in den Keller nahm.

Als sie den Aufzug verließen, erstrahlten angenehme Lichter an den Wänden, um den Weg zu beleuchten. Die Luft war kühl und Grace hörte das gedämpfte Summen eines Generators. Eine Tür glitt auf, als sie sich näherten und Grace konnte mutwillige Flecke moderner Kunst an den weißen Wänden erkennen, die alle sorgfältig beschienen und dargestellt wurden, um einen möglichst großen Effekt zu erzielen.

Es gab acht Zimmer oder Galerien, die alle unterschiedliche Arten von Kunst an den Wänden hängen hatten. Der letzte Raum, den sie betraten, unterschied sich und stellte eine Vielzahl an Schätzen zur Schau. Sie alle schienen an eine Alarmanlage angeschlossen zu sein. In der Mitte des Zimmers stand eine leere Vitrine.

»Wie konnte das passieren? Ist der Alarm nicht angegangen?«, erkundigte sich Grace.

»Der Alarmschaltung ist über den Generator umgeleitet worden und der Schaltkreis des Fabergé-Eis wurde erfolgreich umgangen.«

»Kann man nur mit dem Aufzug hier heruntergelangen oder gibt es noch einen weiteren Eintrittspunkt? Also, was macht man beispielsweise im Fall eines Feuers?«

»Aufgrund der Vorschriften gibt es zwei Stahltüren, die ebenfalls einen Alarm besitzen. Keiner wurde ausgelöst.«

»Also gehen Sie davon aus, dass jemand aus ihrem Hausstand der Täter sein muss oder ein Besucher, der an Ihre Aufzugskarte gekommen ist, hier runterfuhr und sich dann mit dem kaiserlichen Ei aus dem Staub gemacht hat?«

»Das sind die einzigen Erklärungen, die meines Erachtens Sinn ergeben, obwohl es mich auch schmerzt, dies einzugestehen«, bestätigte er.

»Wissen Sie, wann der Diebstahl stattgefunden hat?«

»Ich kann nicht hundertprozentig sicher sein, aber ich sah das Ei zum letzten Mal am Freitagabend. Am nächsten Tag brachte ich meine Dinner-Gäste hier herunter, um es ihnen zu zeigen, aber es war verschwunden. Es war einfach unfassbar peinlich!«, erzählte er, das Gesicht angespannt vor Wut. »All unsere Gäste und Angestellten unterzogen sich einer Durchsuchung, bevor sie an diesem Abend gingen, es wurde jedoch nichts gefunden.«

Das muss sehr seltsam gewesen sein, dachte Grace.

»Was ist mit Überwachungskameras?«, fragte sie, da ihr die kleinen Apparate aufgefallen waren, die jede noch so winzige Bewegung verfolgten.

»Die Aufnahmen wurden unterbrochen. Zuerst bemerkte ich das gar nicht, da sie sich einfach wiederholten und so alles normal aussah.«

»Ich bezweifle sehr, dass dies ein Ein-Mann-Job war«, meinte Grace. »Man benötigt ein gewisses Maß an technischer Kompetenz, was darauf schließen lässt, dass es sich um eine gut geplante und komplizierte Operation handelte, auch wenn es Hilfe von innen gab.«

»Das ist der Teil, mit dem ich mir schwertue«, gestand er. »Ich bin unfassbar wütend, aber leider auch nicht überrascht, dass jemand, der Zugang zu meinem Zuhause hat, mich so hintergehen würde. Und dann ausgerechnet das Wertvollste in meiner Sammlung zu stehlen, etwas, das ich jahrelang besitzen wollte? Es gab so viele andere Gegenstände, die man hätte entwenden und relativ einfach weiterverscherbeln können. Das kaiserliche Ei ist jedoch ungewöhnlich und wird jede Menge Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Jetzt, da es restauriert ist, sollte jeder seinen Wert erkennen. Es wird zu gefährlich sein, es weiterzuverkaufen, daher ist es eine seltsame Wahl.«

Grace hatte darauf keine Antwort. Noch nicht.

Nachdem sie denselben Weg zurückgenommen hatten, setzte sich Grace in der Bücherei Komorov gegenüber hin. In ihrer Abwesenheit war ein Tablett mit Tee und frischen Scones auf den Kaffeetisch zwischen ihnen gestellt worden. Grace fühlte, wie ihr Magen knurrte, und nahm sich ein Gebäckstück. Es war immer noch warm und schmolz förmlich in ihrem Mund. Sie schloss die Augen und stöhnte beinahe vor Freude. Erneut öffnete sie die Augen, merkte, wie sie rot anlief, als sie Komorovs amüsierten Gesichtsausdruck sah.

»Entschuldigen Sie, diese Scones sind wirklich köstlich und es fühlt sich an, als wäre das Frühstück schon eine Ewigkeit her.«

»Ich sehe es gern, wenn Leute ihr Essen genießen«, erwiderte er mit einem kleinen Lächeln.

Nachdem sie ihren Scone verschlungen und mit einer zierlich kleinen Tasse Tee hinuntergespült hatte, zog Grace ihr Notizbuch heraus und widmete sich wieder ganz dem Geschäftlichen. »Ich benötige eine vollständige Liste von den Personen in diesem Haushalt sowie Zugang zu ihren Personalakten. Es darf keine Ausnahmen geben«, fügte sie streng hinzu, als er den Mund zum Protest öffnete. »Des Weiteren brauche ich Nahaufnahmen von all Ihren Angestellten und Mitgliedern Ihres Haushaltes, auch von Ihnen selbst.« Sie richtete das Handy auf ihn und schoss ein Foto, auf dem er sie wütend anfunkelte. »Außerdem benötige ich die Pläne des Sicherheitssystems und detaillierte Pläne des Schlosses. Jegliche Fahrzeuge, die zu dem Haushalt gehören, müssen ebenfalls genau gelistet werden, ebenso jene, die regelmäßig zu Besuch kommen.

Den Aufzug und die Galerie werde ich auf Fingerabdrücke untersuchen müssen, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dabei fündig zu werden, wenn man die Professionalität des Einbruchs bedenkt. Ich benötige die Fingerabdrücke von allen, die Zutritt dort unten haben, um sie ausschließen zu können.«

Komorov sah alles andere als glücklich aus. »Ist dies denn wirklich nötig?«

»Ja«, bestätigte Grace streng. »Das ist es leider. Ich gebe Ihnen mein Wort, das alles nach Abschluss meiner Ermittlungen zerstört wird.«

»Na gut.« Er seufzte.

»Wer ist ihr Sicherheitschef? Haben Sie jemanden auf dem Gelände?«

»Ja. Viktor Levitsky ist schon seit vielen Jahren für mich tätig. Er hat ein Cottage auf dem Anwesen.«

Das ist dann ein riesengroßes Versagen für ihn, dachte Grace. »Ich werde mit ihm sprechen müssen«, meinte Grace.

Komorov zögerte. »Er ist Russe und wird nicht sehr hilfsbereit sein. Schätze ich mal.«

Grace sah ihn an. Er konnte als Chef doch bestimmt Viktor Levitskys Zusammenarbeit sicherstellen, oder nicht?

»Wenn Sie eine freie Stelle haben, wird diese dann besetzt?«, erkundigte sich Grace. »Nutzen Sie dafür eine Personalvermittlerfirma?«

»Das überlasse ich meiner Haushälterin Irina Petrova. Sie arbeitet ebenfalls bereits seit einer langen Zeit für mich. Ich werde alles, was Sie benötigen, zusammenstellen und zu ihrem Büro bringen lassen. Jedoch besitze ich keine Baupläne des Schlosses. Das Architekturbüro hat sie vor der Renovierung erstellt, ging dann aber Jahre später pleite und hat sie mir niemals übergeben.«

»Da die Wahrscheinlichkeit recht hoch ist, dass es sich dabei zumindest teilweise um einen Insiderjob gehandelt hat, schlage ich vor, Hannah, meine jüngste Angestellte, hier einzuschleusen. Sie könnte in Teilzeit als Dienstmädchen oder in einer anderen haushälterischen Tätigkeit arbeiten, da es sehr viel wahrscheinlicher ist, dass die anderen mit ihr sprechen werden, wenn sie nicht wissen, dass sie für mich tätig ist.«

»Kein Problem.«

»Ich würde es bevorzugen, wenn absolut niemand etwas über Hannah weiß, nicht einmal Ihre Frau. Vielleicht könnten Sie ihr sagen, dass Hannah die Tochter von jemandem ist, dem Sie einen Gefallen schulden und dass sie etwas Arbeitserfahrung benötigt?«

»Ist diese ganze Heimlichtuerei wirklich nötig? Ich halte meine Frau für vollkommen unschuldig«, erklärte er mit einem stahlharten Blick.

»Ja, das ist sie”, entgegnete Grace und begegnete wütend seinem Blick. »Wenn ich die Ermittlungen nicht anständig durchführen kann, dann verschwenden wir hier beide unsere Zeit.« Sie erhob sich in der Hoffnung, dass ihr Bluff funktionierte.

»Na schön, wir werden es so machen, wie Sie es wollen«, schnauzte er und sprang ebenfalls auf. »Aber es ist lächerlich, sie ebenfalls zu verdächtigen. Sie hätte es so oder so bekommen. So, wie der Zar von Russland das allererste Ei seiner Frau am Ostersonntag präsentierte, wollte ich es Katya zu ihrem Geburtstag schenken und der ist diesen Samstag.«

»Wusste sie davon?«

»Nein, es sollte eine Überraschung sein«, murmelte er.

»Verstehe«, murrte Grace. Die Leidenschaft und Liebe zu seiner Frau waren unübersehbar in Komorovs Blick. »Es ist nicht so, dass ich Ihre Frau verdächtige, darin involviert zu sein, ich möchte nur sichergehen, dass Hannahs Rolle nicht auffliegt und sie von anderen Angestellten bedroht wird. Sie müssen sie als eine von ihnen betrachten.«

Als sie die Tür zur Halle öffnete, sah Grace das Ende eines roten Chiffonschals um die Ecke verschwinden und hörte das Geräusch davoneilender High Heels auf dem gefliesten Boden. Sie blickte zu Komorov, der ein amüsiertes, manche würden vielleicht sogar sagen, verliebtes Lächeln im Gesicht hatte.

»Meine Frau Katya«, erklärte er. »Sie ist immer in Bewegung. Ich kann sie einfach nicht dazu bringen, sich hinzusetzten und zu entspannen.«

Grace lächelte ihn gequält an. Sie beschlich das Gefühl, dass diese Frau an der Tür gelauscht hatte. Wenn das der Fall war, wie viel hatte sie dann gehört?

Drei

Grace eilte die Esplanade entlang zu ihrem Büro, die Gedanken rasten hinsichtlich des neuen Falls. Komorov hätte eine größere Detektei wählen können, hatte sich aber bewusst entschieden, ihr zu vertrauen aufgrund ihrer investigativen Erfahrungen durch ihre Arbeit als Polizistin und vielleicht auch, weil er sie für eine Außenseiterin hielt, die sich vor dem Arbeitsgericht mit der Polizei angelegt und gewonnen hatte. Der neue Fall stellte ein massives Unterfangen für so eine kleine Agentur dar und sie hoffte, dass sie die Aufgabe bewältigen konnte. Sie hatte einen Kuchen von einer lokalen, noch selbst backenden Konditorei mitgebracht, um zu feiern.

Sobald sie die Tür öffnete, kam Harvey zu ihr gerannt, als ob sie den ganzen Tag weg gewesen wäre und nicht nur ein paar Stunden. Er sprang wie ein Welpe umher, obwohl er inzwischen bereits sechs Jahre alt war. Sie legte ihre Sachen auf den Tisch und bückte sich, um ihn zu streicheln. Dann drehte sie sich zu Hannah und Jean und zeigte ihnen ein Daumenhoch. »Wir haben den Fall!«

»Also, wie ist dieser Russe so?«, wollte Hannah wissen, als sie Grace dabei half, alles nach hinten in ihr Büro zu tragen.

Grace dachte darüber nach, bevor sie antwortet. »Er ist sehr groß und streng aussehend. Ich erinnere mich daran, als ich vor ein paar Jahren in Russland war, dass die Menschen dort nicht lächeln, um soziale Interaktionen angenehmer zu gestalten, wie wir es tun, nicht einmal in Läden, wenn sie versuchen, einem etwas zu verkaufen. Es ist etwas befremdlich. Zu Beginn wirken sie oft recht mürrisch.«

»Und worum geht es bei dem Fall?«, hakte Jean interessiert nach, als beide sich Grace gegenübersetzten. Diese zog ein Leckerli für Harvey hervor, der es mit einem Happs verschlang und dann seine übliche Position zu ihren Füßen einnahm.

»Habt ihr je von den verschollenen kaiserlichen Fabergé-Eiern gehört?«, begann Grace und lehnte sich nach vorne.

Hannah runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.

»Ich dachte, du hättest gesagt, dass es spannend wäre?«, meinte Jean. »Bitte sag mir nicht, dass es mit irgendeinem langweiligen alten Artefakt zu tun hat.«

Grace begann zu lachen. »Wenn du mit langweilig ein Geschenk meinst, das vom russischen Zaren für seine dem Untergang geweihte Frau in Auftrag gegeben wurde … Ein wunderschönes juwelenbesetztes Ei, das sich öffnet, um eine Überraschung im Inneren preiszugeben.«

»Ein Überraschungsei für Reiche«, murmelte Hannah.

Grace verdrehte die Augen bei der Aussage ihrer jüngsten Mitarbeiterin. »Unser Klient ist ein privater Sammler von immensem Reichtum und Einfluss. Schatzjäger haben überall nach den verschollenen kaiserlichen Eiern gesucht, die während der bolschewistischen Revolution verschwanden. Jedes Einzelne ist Millionen wert.«

Bei dieser Erklärung setzte sich Hannah etwas aufrechter hin.

»War es versichert?«, drängte Jean weiter.

»Ja, die Versicherungssumme muss unvorstellbar hoch sein«, meinte Grace.

»Was ist mit der Polizei?«, fragte Jean.

»Er möchte nicht, dass sie informiert wird«, erklärte Grace und schüttelte angesichts dieser Dummheit ihres Klienten den Kopf. »Ich schätze mal, da er den Großteil seines Lebens in Russland verbracht hat, traut er allem, was er als Staatsapparat ansieht, nicht. Aber ich vermute, dass die Versicherungsgesellschaft irgendwann darauf bestehen wird.«

»Und was erwartet er, wie wir den Fall lösen?«, überlegte Jean. »Wenn das Ei im Auftrag irgendeiner internationalen Gang gestohlen wurde, dann befindet es sich vermutlich nicht einmal mehr im Lande.«

»Er vermutete, dass es zumindest teilweise ein Insider-Job war«, antwortete Grace. »Dadurch haben wir einen eingegrenzten Pool von Verdächtigen, die es zu prüfen gilt. Etwas so Wertvolles zu bewegen erfordert Zeit. Es ist nicht so einfach, wie man sich das vorstellt. Natürlich werde ich Komorov in eine andere Richtung lenken müssen, wenn ich zu irgendeinem Zeitpunkt das Gefühl bekomme, dass dieser Fall unsere Ressourcen überschreitet. Sollten wir jedoch erfolgreich sein, dann wäre das die Kirsche auf der Sahnehaube. Hannah, was hältst du von etwas Undercover-Arbeit?«

»Wie eine russische Spionin?«, strahlte Hannah, indem ihre Fantasie mit ihr durchging.

»Nein, wie eine Angestellte im Haushalt des Schlossherren.«

»Ich bin trotzdem dran interessiert«, entgegnete sie tapfer, auch wenn sie definitiv mit einem Krach zurück auf den Boden der Tatsachen gekommen war.

»Du wirst morgen um 9:45 Uhr dort anfangen und jeden Tag gegen 16 Uhr Feierabend machen, damit du Jack vom Kindergarten abholen kannst. Erzähl ihnen von der Arbeit im Golfklub bei Brian. Die offizielle Version lautet, dass Sacha einem Geschäftspartner einen Gefallen tut, da du etwas Arbeitserfahrung benötigst, weil du in den Bereich Hotelmanagement möchtest. Niemand dort, abgesehen von Sacha Komorov persönlich, weiß, dass du Teil des Ermittlungsteams bist.«

»Nicht einmal seine Frau?«, wollte Jean wissen.

»Nein, ich habe dafür gesorgt, dass er es verspricht«, erklärte Grace.

»Ich habe einige Nachforschungen betrieben, während du unterwegs warst«, meinte Jean. »Das ist ja wirklich eine Schande, was ihr zugestoßen ist. Sie flog früher durch die Lüfte, als besäße sie Flügel. Ich hätte sie zum Höhepunkt ihrer Karriere unglaublich gern tanzen sehen.«

»Jean, ich wusste gar nicht, dass du Ballett magst«, sagte Grace.

»Ich hatte als Kind Ballettstunden«, erzählte Jean und wirkte leicht verlegen. »Ich hätte gern damit weitergemacht, aber ein Wachstumsschub hat diesem Traum ein Ende gesetzt. Wenn ich die Tänzerinnen über die Bühne gleiten sehe, dann stelle ich mir immer noch vor, wie es wäre, eine von ihnen zu sein.«

»Ich würde mir lieber selbst die Fingernägel ausreißen, als mir eine Ballettaufführung anzusehen«, mischte sich Hannah auf ihre üblich saloppe Art und Weise ein.

»Ich habe online ein Bild von Katya Komorov nach ihrem Sturz gesehen«, erzählte Grace.

»Ihr Partner Sergei Nanov hat sie fallen lassen«, meinte Jean. »Es gab ein paar Gerüchte, dass dies Absicht gewesen wäre, aber die wurden schnell beseitigt. Kurz darauf hat er das Theater verlassen und wurde nie wieder gesehen. Angeblich ist er in der Wolga gelandet, entweder durch eigenes Verschulden oder es hat jemand nachgeholfen.«

»Bei Russen klingt alles immer unfassbar dramatisch«, sagte Hannah.

»Auf mich wirkten sie stets sehr zwiespältig«, ergänzte Grace. »Auf der einen Seite gibt es diese Tradition von Leidenschaft und Drama und auf der anderen eben diesen großen Stoizismus.«

Das Läuten der Glocke an der Eingangstür und Harveys enthusiastische Reaktion darauf ließen Grace schlussfolgern, dass Brodie gekommen war.

»Unser Klient möchte nicht, dass die Polizei bei diesem Fall offiziell involviert ist, aber Komorov hat mir Gott sei Dank die Erlaubnis gegeben, mich mit Brodie direkt auf einer informellen Ebene zu beraten. Es wird jedoch das Beste sein, ihm nur das absolute Minimum zu erzählen.«

Ein kurzes Klopfen an der Tür, dann erschien das Gesicht ihres Ex-Mannes.

»Was könnt ihr mir nicht erzählen?« Er grinste. »Habt ihr vor, die Regierung zu stürzen?« Harvey sprang erfreut zu ihm und Brodie machte sein typisches Theater, bis er ein Leckerli aus der Hosentasche hervorzog.

Hannah sah aus, als würde sie gleich explodieren, so sehr musste sie sich davon abhalten, ihm alles über ihren neusten Fall zu berichten.

Brodie reichte ihr einen Rucksack mit der Abbildung von Thomas, die kleine Lokomotive«. »Jack hat den vergessen, als Jules und ich auf ihn aufgepasst haben. Ich dachte mir, er braucht ihn vielleicht.«

Jules und ich. Diese Worte trafen Grace wie ein Schwerthieb. Auch wenn ihre Scheidung seit ein paar Wochen amtlich war, tat sie sich immer noch schwer damit, zu akzeptieren, dass diese sandalentragende, linsenfressende Hippienudel Julie gekommen war, um in Brodies Leben zu bleiben. Die Tatsache, dass sie die Tochter von Brodies Chef war, Polizeihauptkommissar Blair, ihrer früheren Nemesis, half auch nicht gerade. Selbst Julies Job wirkte, als wäre das Leben ein Ponyhof. Sie arbeitete als Kunsttherapeutin. Nichts davon war jedoch in dem warmen Lächeln zu erkennen, welches sich Grace ins Gesicht gepflastert hatte.

»Danke«, sagte Hannah. »Es hat ihm super bei euch gefallen.«

»Also ein mysteriöser neuer Fall, hm?«, neckte er und sah eine der Frauen nach der anderen an, um zu prüfen, welche zuerst nachgäbe. Alle betrachteten ihn mit fest verschlossenen Lippen.

»Na schön.« Er seufzte. »Ich verschwinde ja schon. Lasst es mich aber wissen, wenn ich helfen kann.«

»Ich bringe dich raus«, meinte Grace.

Es war ein wunderschöner Tag, als sie sich auf die niedrige Mauer setzten, die die gepflasterte Esplanade von den weiten Flächen des goldenen Portobello Strands trennte. Das Meer zeigte heute ein tiefes Kobaltblau und die Sonne sorgte dafür, dass die Tropfen, die von den Wellen in die Luft geschleudert wurden, wie Diamanten funkelten. Sie saßen nah bei einander, ihre Körper berührten sich und es fühlte sich bittersüß an. Wären sie immer noch zusammen, wenn Connor nicht ertrunken wäre?

»Wofür war das?«, fragte er und blickte sie von der Seite an. Die Augen leuchteten besorgt. Sie hatte wohl laut geseufzt.

»Nichts«, erwiderte sie fröhlich. »Ich habe nur über den riesengroßen Berg Arbeit nachgedacht, der auf mich wartet. Ich finde den Beginn einer neuen Ermittlung immer etwas angsteinflößend.«

»Mir geht es genauso. Seit wir letzte Woche diese Mordermittlung abgeschlossen haben, warte ich auf einen Anruf, der das Team erneut ins Chaos stürzten wird.«

»Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst.« Sie lachte. »Der Kunde hat mir die Erlaubnis gegeben, mich mit dir zu beraten, soweit ich es für nötig erachte. Anscheinend hat er uns beide überprüft, bevor er mich engagierte. Er muss die Artikel zu unserem Fall letzten Mai gesehen haben.«

»Na los, erzähl schon«, forderte Brodie, die warmen braunen Augen strahlten vor Neugier.

»Der Klient ist Sacha Komorov und er besaß eines der verschollenen Fabergé-Eier, das aus seiner Sammlung gestohlen wurde. Es ist sozusagen unbezahlbar.«

Brodie pfiff anerkennend. »Ich habe bereits von ihm gehört. Es wird behauptet, dass er oberflächlich mit der russischen Mafia zu tun hat, aber eine blütenreine Weste besitzt, seit er hier angekommen ist. Die Abteilung für Organisiertes Verbrechen hat ihn ein paar Jahre lang im Auge behalten, aber ich glaube, er scheint damit zufrieden zu sein, sein Leben mit seinem großen Vermögen zu verbringen. Ich nehme mal an, dass er nicht möchte, dass die Polizei involviert wird?«

»Scheinbar nicht, also behalte es erst einmal für dich. Sollte sich die Situation ändern, wirst du der Erste sein, der es erfährt.«

»Vermisst du es manchmal?«, fragte Brodie. »Es gab eine Zeit, da warst du so eng mit der Polizei verschmolzen, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass du jemals etwas anderes machen wirst.«

»Es war nicht wirklich meine Wahl zu gehen, aber ich bereue es auch nicht«, sinnierte sie. »Jedoch vermisse ich es, Zugang zu den Ressourcen zu haben, die dir zur Verfügung stehen. Die Regeln und die Büropolitik? Die fehlen mir nicht wirklich.«

»Melde dich, wenn du Hilfe brauchst«, bot Brodie an und löste sich von der Mauer. »Ich werde tun, was ich kann.«

»Gleichfalls, Brodie«, meinte Grace, sprang von der Mauer und machte sich auf den Weg zurück ins Büro, um einen Angriffsplan zu entwickeln. Es tat gut zu wissen, dass sie trotz ihrer kürzlichen Scheidung immer noch für einander da waren.

Vier

Wie besprochen kam der Kurier von Komorov, hinterließ einen Geruch nach Leder und Öl, indem er zwei verhältnismäßig große Boxen auf den Boden stellte und Jean das Klemmbrett für eine Unterschrift unter die Nase hielt.

»Der hat es scheinbar auch nicht wirklich mit Höflichkeit«, murmelte sie, sobald er ging.

»Sieht so aus, als würde ich heute durcharbeiten«, überlegte Grace, während die drei die Kartons zu ihrem Schreibtisch schleppten.

»Ich kann später vorbeikommen und dir helfen, nachdem ich Jack ins Bett gebracht habe, wenn du möchtest«, meinte Hannah. »Meiner Schwester Katie wird es nichts ausmachen, auf ihn aufzupassen.«

»Ich helfe gern, nachdem wir von dem Essen bei deiner Schwester zurück sind«, bot Jean an. »Das wird wohl kaum nach 20:30 Uhr sein, oder?«

»Das ist schon in Ordnung. Ihr werdet morgen ausreichend beschäftigt sein, um die ganzen Papiere zu ordnen, sobald ich einen ersten Blick auf den Inhalt dieser Boxen geworfen habe, um sicherzustellen, dass alles von mir Geforderte auch da ist.«

Jean lächelte und nickte. Sie hatte sich so sehr über die Einladung von Graces Schwester gefreut und Jean tat Grace leid. Ihr Ex-Mann Derek war kontrollierend gewesen und hatte dafür gesorgt, dass Jean sich komplett einigelte. Und obwohl sie jetzt nicht mehr dem Stress ausgesetzt war, mit ihm zusammenzuleben, wirkte Jean einsam und hatte noch kein richtiges eigenes Sozialleben entwickelt. Nicht, dass Grace etwas deswegen sagen konnte.

Nachdem ihre Angestellten nach Hause gegangen waren, um sich umzuziehen, machte Grace mit Harvey einen Spaziergang durch den Figgate Park. Als sie die kleinen Jungs auf dem Klettergerüst entdeckte, musste sie unweigerlich lächeln, da sie sich darauf freute, Connors Sohn aufwachsen zu sehen. Zuvor hatten solche Eindrücke nur ihre eigene Trauer über das Kind, das sie verloren hatte, verstärkt.

Harvey hüpfte an der Leine neben ihr her, hoffe darauf, einen Hund oder besser noch eine ältere Person mit Leckerlis in der Tasche zu treffen.

Sobald sie zurück in der Wohnung waren, gab sie Harvey sein Abendessen, duschte schnell und zog sich um. Sie hatte mit den anderen besprochen, dass sie sie abholen würde und erreichte kurz vor sechs vollbepackt und mit Harvey im Kofferraum ihr Ziel. Jack quasselte zu Jeans Freude ununterbrochen, aber Hannah wirkte blass und angespannt. Grace hoffe, dass ihre Mutter nicht darauf anspringen würde. Sie konnte manchmal sehr von sich eingenommen sein, hatte eindeutige Meinungen und Hannah konnte sich bislang bei den paar Malen, die sie einander gesehen hatten, nicht mit ihr anfreunden.

Cally wohnte in einer großen Wohnung mit hohen Decken in der Warrender Park Road in der Nähe von The Meadows. Es war eine Gegend, die von Studierenden überrannt worden war, aber ihrer Schwester gefiel es und sie verspürte nicht den Wunsch umzuziehen. Sobald Grace klingelte, riss Cally die Tür auf, sprang auf sie zu und umarmte sie.

»Kommt rein, kommt rein! Ich freu mich so sehr, dass ihr alle da seid. Hallo, Jack«, grüßte sie und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Hamish!«, rief sie. »Jack ist da.«

Hamish, ihr achtzehnjähriger Sohn, kam, gefolgt von Callys anderen Kindern, Emily und Archer, aus dem Wohnzimmer geschlendert.

Grace drehte sich zu Hannah, um sie einander vorzustellen. Diese stand da und starrte Hamish entsetzt an – ihr Blick hatte sich an ihm festgesaugt. Verdammt, Grace hätte sie hinsichtlich der starken Ähnlichkeit zwischen Connor und seinem Cousin Hamish warnen sollen. Er war auf Reisen gewesen, bevor er mit der Uni begann, als Hannah den Rest der Familie kennengelernt hatte.

Zuerst wirkte Hamish etwas irritiert, dann fiel ihm jedoch, sensibel wie immer, auf, was los war.

»Hey, Hannah, macht es dir etwas aus, wenn ich Jack klaue? Ich habe all die Kleinen bei mir im Spielzimmer und halte sie beschäftigt, bis das Essen fertig ist.«

Hannah nickte schweigend und er hielt Jack die Hand hin, dieser folgte ihm und den anderen fröhlich, während sie ihn dauerhaft mit Fragen bombardierten.

»Möchtest du was trinken?«, fragte Cally Hannah.

»Ja, bitte. Eine Cola, falls du welche hast.«

»Ich nehme bitte auch eine, danke«, schloss sich Grace an. »Ich fahre.«

»Ich würde bitte einen Weißwein nehmen, danke«, meldete sich Jean zu Wort.

»Setzte euch gern ins Wohnzimmer«, wies Cally an. »Mum und Brian sind bereits da. Tom ist in der Küche.«

Sobald Hannah und Jean ins Wohnzimmer kamen, drehte sich Graces Mutter zu Hannah. »Wirst du meinen Enkelsohn nicht hereinbringen, damit er mich begrüßt?«, forderte sie herrisch.

Grace sah, wie Hannah sich in sich zurückzog, und schritt sofort ein. Sie wusste, dass es an der Art und Weise lag, wie ihre Mutter es gesagt hatte: als ob sie förmlich einen Art Besitzanspruch gegenüber Jack besäße.

»Mum, du kannst ihn später immer noch sehen. Er ist gerade mit den anderen Kindern beschäftigt.«

»Die Leute sind heutzutage ja so empfindlich«, zischte Graces Mutter in einem gespielten Flüsterton zu Brian, ihrem Mann.

»Mir gefällt Ihr Outfit«, änderte Jean das Thema und versuchte sie abzulenken. »Darf ich fragen, wo Sie es gekauft haben?«

Ihre Mutter badete in dem Kompliment und sie begannen, über Einkaufsmöglichkeiten zu sprechen.

»Entschuldigt mich«, murmelte Hannah leise. »Ich sehe wohl besser mal nach Jack.« Grace beobachtete mit einem unguten Gefühl, wie sie verschwand. Sie wollte unbedingt, dass Hannah mit ihrer Familie klarkam, aber ihre Mutter hatte es bereits geschafft, dies zu erschweren.

»Das Essen ist fertig«, rief Cally eine halbe Stunde später und sie begaben sich alle in die große Küche.

Hamish, Hannah und die Kinder kamen ebenfalls. Hannah wirkte wesentlich entspannter und lachte über etwas, das Hamish ihr zugeflüstert hatte. Sie schafften es, dass Hannah und Jack am entgegengesetzten Tischende von ihrer Mutter saßen. Morag war nicht unfreundlich, konnte aber für jemanden wie Hannah, der unter schwierigen Umständen aufgewachsen war, formelle Dinner nicht kannte und sich in Gesellschaft zurückhaltend sowie unsicher gab, etwas viel sein. Jean war ein wundervoller Gast und half auf jegliche Art, wo immer sie konnte, indem sie unangenehme Momente mit Small Talk füllte.

Als sie Hannah und Hamish unbekümmert mit einander reden sah, verspürte Grace einen exquisiten Schmerz, den sie niemals laut benennen würde. Er sah Connor so ähnlich und einen Moment lang konnte sie sich vormachen, dass er niemals gegangen war. Reiß dich zusammen, Grace, wies sie sich selbst zurecht.

Hinterher gelang es ihr, ihre Schwester ein paar Minuten allein zu erwischen.

»Ich wette, du würdest dich jetzt gern in ein abgedunkeltes Zimmer legen.« Grace grinste.

»Ja, tatsächlich«, summte Cally. »Jean ist super. Sie hat Mum den ganzen Abend um den Finger gewickelt. Ein echtes Goldstück!«

»Ich glaube, dass Mum für Hannah wieder etwas anstrengend war«, ergänzte Grace.

»Sie kann einfach nicht anders.« Cally seufzte. »Jack ist so süß. Was für ein toller kleiner Junge. Er zeigt wirklich, was er für eine wunderbare Mum hat. Aber was Hannah angeht, sie sieht aus, als könnte sie selbst eine Mutter gebrauchen. Ich mag sie, das tue ich wirklich, Grace. Es muss so schwer für sie gewesen sein, als Connor gestorben ist. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie es in diesem Alter sein muss, sich mit etwas so Großem auseinanderzusetzen.«

»Sie hat sich mir gegenüber diesbezüglich immer noch nicht geöffnet und ich möchte sie nicht unter Druck setzen.«

»Da hast du recht. Ich bin mir sicher, dass sie mit dir darüber sprechen wird, wenn sie soweit ist.«

»Wir sollten besser los, Cally. Danke für den schönen Abend. Ich weiß nicht, wann wir das nächste Mal Zeit haben werden. Wir haben gerade einen neuen Fall angenommen.«

Hannah, Jean und Jack warteten bereits unten an der Treppe auf sie und hatten sich verabschiedet. Cally umarmte sie alle noch einmal. »Ich hoffe sehr, dass wir das regelmäßig machen können. Lasst euch ja nicht von meiner verrückten Schwester in Grund und Boden schuften.”

Hamish lehnte an der Tür zum Wohnzimmer. Er hob zum Abschied die Hand, aber sein Lächeln galt nur Hannah.

Deren Handy klingelte. Sie blickte darauf und warf dann Hamish durch den Flur ein kleines Grinsen zu.

Das war eine unvorhersehbare Komplikation, dachte Grace, als alle ins Auto gestiegen waren und sie mit einem Abschiedshupen losfuhren.