1
Es gab keinen Ort auf der Welt, an dem Mia in diesem Moment lieber gewesen wäre als genau hier: zwischen den Regalen der Bibliothek von Pennygrave.
Sie liebte den Anblick der dicht aneinandergedrängten Buchrücken in den Regalen. Während die Krimis und Thriller sich förmlich aneinander festklammerten, um vor Spannung nicht aus den Regalen zu fallen, kuschelten die Buchdeckel und Schutzumschläge der Liebesromane so innig miteinander, dass es fast unangenehm war, einen herauszunehmen und von seinem Partner zu trennen.
Zärtlich strich Mia über das Buch in ihren Händen, während sie in einem der Regale nach der passenden Lücke für das neue Schätzchen suchte. Alle Titel waren streng alphabetisch sortiert und mittlerweile kannte sie deren Standorte, als hätte sie jedes eigenhändig ins Regal gestellt. In den vergangenen vier Wochen hatte sie sich mit den Vorgängen und Räumlichkeiten der Bibliothek so vertraut gemacht, dass es ihr inzwischen nicht nur leichtfiel, sondern auch Freude bereitete, den Neuankömmlingen ihren würdigen Platz zuzuweisen. Lady Sophie brauchte diese Aufgabe nicht länger für sie zu übernehmen. Zudem war Mia viel besser zu Fuß als die achtundsechzigjährige Kollegin, die ihr in den vergangenen Wochen eine gute Freundin geworden war. In gleichem Maße wie ihre Freundschaft war auch ihre Teamarbeit in der Bibliothek fortgeschritten und so hatten sie die Arbeitsabläufe nach und nach optimiert. Lady Sophie entpackte die neu gelieferten Bücher und trug sie am PC in das System ein, woraufhin Mia sie anschließend in die Regale einsortierte. In effektiver Zusammenarbeit waren die beiden Bibliothekarinnen unschlagbar. Sowohl bei der Aufnahme neuer Bücher in die Pennygraver Bibliothek als auch beim Lösen eines Kriminalfalls.
Verträumt hob Mia das neue Buch vor ihr Gesicht und öffnete es. Als ihre Nase fast die Seite berührte, atmete sie tief ein. Sie liebte den Geruch druckfrischer Seiten, den vielversprechenden Duft einer nicht erzählten Geschichte, die noch unberührt ins Regal wanderte und ungeduldig auf den ersten Leser wartete, der sie herauszog.
Immer freitags, wenn die Neuankömmlinge geliefert, entpackt und einsortiert wurden, mischte sich der Geruch der neuen Bücher mit dem der alten, dem Duft von vergilbtem Papier, das von so vielen verschiedenen Fingern umgeblättert worden war. »Seid lieb zueinander«, mahnte sie leise, bevor sie das neue Stück Lesevergnügen zwischen die beiden älteren Titel schob, die sich vertrauensvoll an den Neuankömmling schmiegten.
Ja, nirgends hätte sie sich wohler fühlen können als genau hier. Zufrieden entfuhr ihr ein wohliger Seufzer. Dann griff sie nach dem nächsten Buch und suchte nach einem passenden Regalplatz.
Gerade mal einen Monat war es her, dass sie die Leitung der Pennygraver Bibliothek von Tante Lena übernommen hatte. Damals war sie vollkommen überstürzt von Deutschland nach Cornwall gereist und hatte noch nicht einmal den Hauch einer Ahnung gehabt, was sie in dem vermeintlich verschlafenen Nest alles erwarten würde. Erhofft hatte sie sich Ruhe, Abstand von ihren eigenen Problemen, um sich zu erden, eine Auszeit. Stattdessen war sie direkt in einen Mordfall verwickelt worden, hatte in Lady Sophie eine gute Freundin gefunden und in deren Sohn Sir William sowie dem hiesigen Detective Inspector Mellony zwei glühende Verehrer. Durch die enge Freundschaft mit Lady Sophie war Mia außerdem ein häufiger Gast im Anwesen der Gellams, dessen schiere Größe sie noch immer in fassungsloses Staunen versetzte. In dem imposanten Herrenhaus begegnete sie Sir William regelmäßig und konnte eine spürbare Anziehungskraft zwischen ihnen nicht leugnen. Lady Sophie sah es leider nicht besonders gern, wenn sich die beiden intensivere Blicke zuwarfen, aber das ignorierte Mia geflissentlich. Ab einem gewissen Alter hatte man durchaus das Recht, in manchen Dingen etwas eigen zu sein. Und da die meisten Mütter sowieso eigen waren, was die Damenwahl ihrer Söhne anbelangte, konnte sie Lady Sophie ihr seltsames Verhalten in dieser Beziehung nicht verdenken. Dafür behandelte Walter, der Butler der Gellams, sie nicht als den lästigen Dauergast, der sie de facto war, sondern schien sie direkt als neues Familienmitglied ins Herz geschlossen zu haben. Penibel achtete er darauf, dass das Veilchenzimmer jederzeit für Mia hergerichtet war, falls ihre Abende mit Lady Sophie wieder einmal ausuferten und sie spontan übernachten wollte ‒ ein Fall, der bereits mehrfach eingetreten war. Und ja, die Gästezimmer im Herrenhaus der Gellams waren nach ihrem jeweiligen Tapetenmuster benannt. Schließlich gab es an die fünfzig davon und anders hätte man sie wohl kaum auseinanderhalten können. Gut, mit Nummern vielleicht, aber wenn Mia eines verstanden hatte, dann die Tatsache, dass Lady Sophie erheblich mehr an Wörtern lag als an Zahlen.
»Mia?« Der laute Ruf Lady Sophies riss sie so unerwartet aus ihren Gedanken, dass sie kurz zusammenschreckte. Ein verzücktes Lächeln im Gesicht eilte sie zurück zur Theke, wo die adrette alte Dame hinter mehreren Bücherstapeln kaum mehr zu erahnen war.
»Was ist denn los?«, fragte Mia freundlich.
Lady Sophies Scheitel erhob sich hinter der Büchermauer. Dann die zarten Augenbrauen, unter denen zwei wache Augen blitzten und schließlich die Nasenspitze. Zu mehr reichte es nicht. Um ihren Mund hinter den Stapeln auftauchen zu lassen, hätte sie wohl aufstehen müssen.
»Hier herrscht Stau.« Nun schnellte Lady Sophies rechte Hand hinter den Büchern in die Höhe und landete mit der Handfläche auf dem ersten und höchsten der Papiertürme. »Wo bleibst du denn so lange? Ich hatte schon befürchtet, du bist entführt worden.«
»Das hättest du wohl gerne. Nur damit du wieder einen neuen Fall bekommst, Lady Schnüffelnase.«
Mia lachte über die gespielte Empörung, die sich sofort auf dem Gesicht der Freundin abzeichnete. Es war nun wirklich kein Geheimnis, dass Kriminalfälle der adligen Dame das größte Vergnügen bereiteten. Dabei waren ihr die realen noch viel lieber als die literarischen, welche sie bändeweise verschlang.
Lady Sophie schnaubte und klopfte nachdrücklich auf die Stapel vor sich. »Im Moment wäre es mir am liebsten, wenn du deinen Teil der Aufgabe erledigen und die Bücher einsortieren würdest. Du brauchst doch sonst nicht so lange.«
»Tut mir leid.« Mit einem entschuldigenden Lächeln nahm Mia gleich den gesamten vorderen Stapel vom Tisch und stellte ihn auf dem Boden ab. »Ich werde jetzt in Rekordgeschwindigkeit arbeiten«, versprach sie, griff das erste Buch vom Stapel, rannte zum entsprechenden Regal, sortierte es ein und raste wieder zurück.
Grinsend betrachtete Lady Sophie den Vorgang einen Augenblick, bevor sie sich wieder dem Entpacken und Digitalisieren weiterer Bücher zuwandte.
Ehrgeizig zog Mia ihren Vorsatz durch und schaffte es innerhalb kürzester Zeit, die ersten beiden Stapel abzutragen und zu verräumen. Bald konnte sie Lady Sophie damit aufziehen, dass diese zu langsam katalogisierte.
Erneut flitzte Mia zurück in Richtung Verleihtresen. Da trat vollkommen unerwartet Clara Clottingham aus einem der Gänge. Zu spät setzte Mia den Bremsvorgang ein und prallte mit voller Wucht gegen die stattliche Dame. Glücklicherweise dämpfte deren üppiger Vorbau den Aufprall etwas ab, was den Zusammenstoß aber für Mia umso peinlicher machte, die ihr Gesicht mit geröteten Wangen aus der weichen Brust der Kundin schälte.
»Müssen Sie denn wie eine Verrückte durch die Gänge rennen?«, keifte Mrs Clottingham sofort los. »Ich dachte, das ist eine Bibliothek und kein Sportplatz. Wenn ich Lust auf ein paar Knochenbrüche habe, dann stelle ich mich bei einbrechender Dunkelheit auf eine Autobahn, wenn es recht ist.«
»Es tut mir unglaublich leid, Mrs Clottingham«, entschuldigte Mia sich schnell. »Ich habe Sie einfach nicht gesehen.«
»Vielleicht sollten Sie dann mal über den Gebrauch einer Brille nachdenken«, zeterte Mrs Clottingham weiter. »In manch einem Gesicht soll eine solche nicht nur im Hinblick auf die Sehkraft wahre Wunder wirken.«
Höflich überging Mia die eindeutige Beleidigung. Sie war Mrs Clottingham nicht böse, niemand war dieser Frau wegen einer Beleidung böse. Bissige Kommentare gehörten bei ihr zum guten Ton. Erst wenn man von Clara Clottingham einmal ausgiebig beleidigt worden war, galt man als von ihr akzeptiert.
»Es tut mir wirklich leid«, entschuldigte sich Mia erneut. »Kann ich Ihnen dafür vielleicht bei irgendetwas behilflich sein, Mrs Clottingham?«
»Sie könnten mir diese Rezeptbücher nach Hause tragen, wenn Sie es schon anbieten.« Mit diesen Worten deutete Clara Clottingham auf vier dicke Backbücher, die bei dem Zusammenprall aus ihren Armen zu Boden gepurzelt waren.
Schnell bückte sich Mia, hob die Werke auf und stapelte sie auf ihrem Arm. »Es wäre mir eine wahre Freude, Mrs Clottingham«, sagte sie freundlich, obwohl sie das Gewicht der vier dicken Wälzer bereits jetzt deutlich spürte. Glücklicherweise lag Mrs Clottinghams Cottage nicht allzu weit von der Bibliothek entfernt, sonst würde der Transport zu Fuß eine ganz schöne Herausforderung.
»Planen Sie für ein Fest? Oder haben Sie Ihre Liebe zum Backen entdeckt?«
Verächtlich rollte Mrs Clottingham mit den Augen. »Es geht Sie zwar überhaupt nichts an, aber ich bin auf der Suche nach dem perfekten Rezept für den Backwettbewerb am kommenden Wochenende.«
»Ach, Clara, da brauchst du dir gar keine Mühe zu geben, Cleopatra gewinnt doch sowieso.« Die durchdringende Stimme gehörte zu Melody Clearmont, einer zweiundsiebzigjährigen Dame, die in diesem Moment den Kopf zwischen zwei Regalen hervorstreckte und anschließend zielstrebig aus der Regalreihe hervortrat. Ihre körperlich nachlassenden Kräfte machte sie durch ihren wachen Verstand und durch ihr aktives Mundwerk hundertfach wett. Als Melodys Melodien wurde der als Geschichten getarnte Klatsch und Tratsch gerne bezeichnet, den die alte Dame mit größter Leidenschaft in Pennygrave verbreitete. Ebenso, wie man einmal von Mrs Clottingham beleidigt worden sein musste, war man erst dann ein vollwertiges Mitglied der Pennygraver Gesellschaft, wenn Melody Clearmont mindestens ein Gerücht über einen verbreitet hatte.
»Vielleicht ist es endlich an der Zeit, dass unsere liebe Cleopatra vom Thron gestoßen wird«, keifte Mrs Clottingham selbstbewusst in Miss Clearmonts Richtung.
»Ach, das glaubst du ja wohl selbst nicht«, winkte diese ab.
Auch Mia konnte sich kaum vorstellen, dass irgendjemand in der Lage wäre, bessere Kuchen zu backen als Cleopatra Fairwell, die Inhaberin der örtlichen Bäckerei. Die Kuchen und Torten, die es dort täglich gab, waren ein Gedicht. In Deutschland hatte Mia gerne mal ein bisschen gebacken, rein zum Vergnügen und zur Entspannung nach einem anstrengenden Arbeitstag, doch seit sie ein Stück von Cleopatra Fairwells Schokoladentorte probiert hatte, hatte sie sich regelrecht durch deren Sortiment gefressen, was es vollkommen unnötig gemacht hatte, selbst eine Rührschüssel zur Hand zu nehmen.
»Wollen Sie auch am Wettbewerb teilnehmen?«, wandte sich Miss Clearmont nun an Mia.
»Oh nein, auf keinen Fall.« Mia lachte. »Gegen Mrs Fairwells Backkünste bin ich gänzlich chancenlos.«
»Kluges Mädchen.«
»Staaaaaaau!«, brüllte Lady Sophie vom Verleihtresen aus.
»Ich komme«, brüllte Mia zurück und wandte sich dann zerknirscht an die Kundinnen. »Entschuldigen Sie bitte, meine Damen, wir haben noch ordentlich zu tun. Mrs Clottingham, die Kochbücher bringe ich Ihnen heute direkt nach Feierabend nach Hause, versprochen.«
Mit diesen Worten raste Mia zurück zu Lady Sophie, die bereits ungeduldig mit den Fingern auf einen der Bücherstapel trommelte, welcher zwischenzeitlich schon wieder eine bedenkliche Höhe erreicht hatte.
»Tut mir leid, ich war gewissermaßen in einem Kundengespräch«, entschuldigte sie sich schnell.
»Ja«, setzte Lady Sophie an, doch da kamen Mrs Clottingham und Miss Clearmont auch schon hereingestürmt und bauten sich genau vor dem Verleihtresen auf. Letztere legte zwei Romane auf dem Tresen ab und reichte Lady Sophie ihren Bibliotheksausweis, damit diese sie darauf verbuchen konnte.
Während Lady Sophie mit wenigen Klicks die Datenbank wechselte, linste Miss Clearmont neugierig auf die Backbücher, die Mia noch immer bei sich trug.
»Ach Clara«, seufzte sie dann, als tadle sie ein kleines Kind und keine erwachsene Frau von fast fünfzig Jahren. »Als ob dir diese Backbücher irgendwie helfen könnten. Sieh es doch ein: Cleopatra ist nicht nur mit den Rezepten ihrer Großmutter, sondern auch mit einem unglaublichen Talent gesegnet. Beidem hast du absolut nichts entgegenzusetzen.«
Clara schnaubte vor Wut. »Das wollen wir doch erst einmal sehen! Ihr haltet Cleopatra für die perfekte Bäckerin, ja? Aber wer seid ihr schon? Hausfrauen vom Dorf, ohne Sinn und Geschmack für das Außergewöhnliche. Zufällig habe ich aber erfahren, dass Theresa Morten es geschafft hat, Patrick Gloster erneut für die Jury zu gewinnen. Ich bin sicher, im Gegensatz zu euch wird er einen langweiligen Landkuchen von einer kulinarischen Delikatesse unterscheiden können.«
»Nein«, entfuhr es Lady Sophie ungläubig, während Mia ein staunendes »Das gibt es doch nicht« von sich gab und Melody Clearmont überrascht nach Luft schnappte.
Der Fernsehkoch Patrick Gloster war bereits bei einem früheren Wettbewerb in die Jury eingeladen worden, hatte sich damals aber nicht gerade mit Ruhm bekleckert, weil er sich von den weiblichen Reizen einer Teilnehmerin derart hatte betören lassen, dass er sie unrechtmäßig zur Siegerin ernannt hatte.
Melody Clearmont malmte so fest ihre Zähne aufeinander, dass es knirschte. Wie ein Raubtier fixierte sie Clara Clottingham. »Ach, das habe ich längst gewusst. Ich dachte nur, es verdirbt euch die Überraschung, wenn ich euch von unserem prominenten Gast schon vorab erzähle.«
»Pah, das kannst du ja gar nicht gewusst haben. Ich habe es eben erst von Theresa erfahren und diese hatte gerade erst die Zusage erhalten«, feixte Mrs Clottingham.
Offenbar war die Bloßstellung die Retourkutsche für die Beleidigung, die sie von Miss Clearmont bezüglich ihrer Backkünste hatte dulden müssen. Jeder wusste, wie sehr Melody es hasste, nicht als Erste über Neuigkeiten informiert zu sein.
Verächtlich verzog diese das Gesicht. »Ja und? Vielleicht hat sie die Zusage eben erst bekommen, aber ich wusste lange vor dir, meine liebe Clara, dass Theresa diesen Gloster erneut gefragt hat. Und jeder mit auch nur ein bisschen Verstand weiß ja wohl, dass er eine solche Möglichkeit niemals ablehnen würde. Immerhin gibt ihm das die Möglichkeit, seinen Ruf zu rehabilitieren. Zumindest vor den Bürgern von Pennygrave. Obwohl … wenn ich so darüber nachdenke … vielleicht ist er ja nur auf den Geschmack gekommen und lässt sich erneut auf eine Bestechung ein. Vielleicht ist es an der Zeit, sich neue Unterwäsche zuzulegen. Ich empfehle rote Seide. Nein, warte, Mr Gloster ist sicherlich eher der Lack- und Leder-Typ.« Sie lachte hämisch.
Clara Clottingham rollte genervt mit den Augen. »Dir wird das Lachen schon noch vergehen, Melody. Die Torte, die ich plane, wird spektakulär. Dagegen wird Cleopatras Backwerk wie banales Brot erscheinen.«
»Überrasch mich«, provozierte Melody Clearmont schnippisch, packte die Romane in ihren Korb und verabschiedete sich mit einem würdevollen Nicken. Ein letztes Grinsen in Clara Clottinghams Richtung verkniff sie sich dann aber doch nicht.
Diese kochte derart vor Wut, dass man fast erwartete, kleine Dampfwölkchen aus ihren Ohren quellen zu sehen. Dann riss sie Mia die Backbücher mit einem Ruck aus den Händen.
»Ach geben Sie schon her, ich mache das selbst«, schimpfte sie, knallte die Bücher Lady Sophie vor die Nase, die sie hastig im System registrierte, klemmte sie sich dann unter den Arm und rauschte grußlos davon.
»Da nimmt aber jemand diesen Wettbewerb ziemlich ernst«, murmelte Mia, die Mrs Clottingham verwundert hinterher sah.
»Na?« Lady Sophie grinste schelmisch. »Willst du vielleicht doch mitmachen?«
»Bei einem Backwettbewerb?« Lachend schüttelte Mia den Kopf. »Niemals. Und schon gar nicht, wenn ich mit solchen Furien als Konkurrenz rechnen muss.« In einer spontanen Idee sog sie scharf die Luft ein. »Aber du! Du solltest mitmachen. Du erzählst mir doch immer, wie schwer es dir fällt, dich bei den Menschen hier zu integrieren. Ich bin mir sicher, wenn du dich an ihrem Backwettbewerb beteiligst, werden sie dich als eine von ihnen anerkennen.«
Nun war es an Lady Sophie, kopfschüttelnd zu lachen. »Ganz sicher nicht. Du warst doch bei mir zu Hause. Ich wurde Zeit meines Lebens von Personal bekocht. Ich weiß ja nicht mal, wie man einen Teig anrührt.«
Daran hatte Mia tatsächlich nicht gedacht. »Okay, dann lass uns wenigstens zusammen hingehen. Wird bestimmt lustig.« Grinsend dachte sie an den Schlagabtausch zwischen Miss Clearmont und Mrs Clottingham.
Lady Sophie reckte zustimmend den Daumen in die Luft. »Geht klar. Aber zuerst sortieren wir unsere Babys hier ein.« Mit wild fuchtelnder Geste deutete sie auf die hohen Bücherstapel, die noch immer auf dem Verleihtresen ihrem Schicksal harrten. »Staaaaaaaaaaau!«
»Geht ebenfalls klar«, antwortete Mia und salutierte, bevor sie sich das nächste Buch griff, um es seinem vorgesehenen Platz zuzuführen.
2
Es klingelte. Theresa Morten seufzte. »Ach Mann, nicht mal beim Frühstück hat man seine Ruhe.«
»Gottes Gnade kennt keine Uhrzeit«, belehrte Reverend Martin Morten seine Frau.
»Mein Magen aber sehr wohl«, erwiderte diese angefressen. Theresa Morten liebte ihren Mann aufrichtig und sie bewunderte ihn dafür, wie aufopferungsvoll er sich um die Mitglieder dieser verrückten Gemeinde kümmerte. Doch manchmal war es wirklich zu viel des Guten. Sie hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl bei diesem Pennygrave gehabt. Die Menschen hier hatten auf sie sofort den Eindruck gemacht, als hätten sie jede Menge zu beichten. Doch dass sie Martin in dieser hohen Frequenz behelligten und dabei keinerlei Rücksicht auf dessen Familienleben nahmen, das ging ihr schon seit Jahren gegen den Strich. Ja, sie hatte Verständnis für die emotionalen Wehwehchen der Pennygraver. Ja, sie tat alles, um von den Bürgerinnen und Bürgern gemocht zu werden. Schließlich lag es auch in ihrer Verantwortung, ihrem Mann den Rücken zu stärken und einen guten Eindruck zu hinterlassen. Doch bei manchen Gemeindemitgliedern war es wirklich eine Herausforderung, ihr überschäumendes Temperament zu zügeln.
Lächelnd erschien Martin Morten wieder in der Tür. »Ist für dich, mein Schatz.«
»Für mich?« Verwundert stellte Theresa die Kaffeetasse ab und blickte erwartungsvoll zur Tür, durch die nun Melanie McTrout und Cleopatra Fairwell eintraten.
»Oh, Melanie, Cleopatra, das ist ja eine Überraschung! Wollt ihr euch nicht setzen und mit uns frühstücken?«
Melanie McTrout war eine der wenigen Frauen hier in Pennygrave, die Theresa von Anfang an gemocht hatte. Sie war so bodenständig. So ehrlich und normal.
»Danke, das ist wirklich nett, aber wir möchten gar nicht lange stören«, entschuldigte sich Melanie, der ihr Eindringen sichtlich unangenehm war. »Es tut mir auch wirklich leid, dass wir zu dieser unchristlichen Uhrzeit hier hereinplatzen, aber wir sind gerade Melody auf dem Dorfplatz begegnet. Stimmt ihre neueste Melodie, die sie singt? Hast du Patrick Gloster wieder in die Jury geholt?«
»Ja, allerdings.« Theresa nickte stolz. Dann hielt sie erstaunt inne. Cleopatras Gesichtsausdruck zufolge war diese nicht hier, um sie für diesen Erfolg zu beglückwünschen. Sie wirkte eher zerknirscht als dankbar.
»Gibt es ein Problem?«
»Ehrlich gesagt finde ich nicht, dass das eine gute Idee ist«, sagte Melanie McTrout leise. »Ich meine … sieh mal, Theresa, das letzte Mal, als er in der Jury war, hat er sich von Miss Meil bestechen lassen. Die ist jetzt tot. Dass sie ermordet wurde, ist gerade mal einen Monat her. Findest du nicht, dass das alles irgendwie eine schlechte Atmosphäre erzeugt?«
»Hm, so habe ich das noch gar nicht gesehen …«, gestand die Pfarrersfrau nachdenklich.
»Aber so ist es doch. Die Leute werden reden. Vermutlich wird man sich nicht nur in Pennygrave das Maul über den Backwettbewerb zerreißen, sondern auch darüber hinaus.«
Theresas Augen strahlten. »Das wiederum wäre doch ganz hervorragend. Publicity tut nicht nur dem Wettbewerb gut, sondern dem gesamten Ort.«
»Negative Publicity?«
»Egal welche. Aufmerksamkeit ist Aufmerksamkeit.«
»Das sehe ich anders, Theresa«, wandte Cleopatra Fairwell ein und verzog säuerlich das Gesicht. »Diesem Mann ist nicht zu trauen. Ich sage dir, er führt irgendetwas im Schilde. Was für einen Grund hätte er sonst, noch einmal hierherzukommen? Als ob sein Verhalten nicht Schande genug war, um ihn für immer vor den Bewohnern dieses Ortes lächerlich zu machen. Ich bitte dich, Theresa, sag ihm ab. Nimm jemand anderen in die Jury, aber nicht diesen Lügner.«
Theresa Morten schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Ihm jetzt noch abzusagen, wäre wirklich peinlich.«
»Ich kann das gerne für dich übernehmen.« Selbstbewusst verschränkte Cleopatra die Arme vor der Brust.
Kurz zögerte Theresa Morton, als würde sie sich auf den Vorschlag einlassen. Doch dann schüttelte sie erneut den Kopf.
»Das kann ich wirklich nicht machen. Ich verspreche euch aber, ein besonderes Augenmerk darauf zu haben, dass Mr Gloster sich an die Regeln hält.«
Cleopatra Fairwell schnaubte verächtlich.
»Mehr kann ich nicht für euch tun, es tut mir leid.« Entschuldigend, aber selbstbewusst hob Theresa die Hände. »Die Fernsehteams sind bereits informiert und Pennygrave hat ein bisschen Aufmerksamkeit dringend nötig.«
»Pennygrave oder du?«, murmelte Melanie McTrout leise, doch Theresa ging gar nicht weiter darauf ein.
»Ich danke euch für den Besuch und ich respektiere eure Beweggründe, aber ich bin mir sicher, Patrick Glosters Teilnahme war eine hervorragende Idee und daran werde ich auch nicht rütteln lassen.«
Während Melanie McTrout resigniert die Schultern hängen ließ, funkelten Cleopatra Fairwells Augen vor Wut. »Dann hoffe ich für dich, meine Liebe, dass du deine Entscheidung nicht bereuen wirst«, knurrte sie.
Melanie McTrout legte der Freundin beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Im Endeffekt ist es deine Entscheidung, Theresa«, versuchte sie zu schlichten. »Wir wollten zumindest mal unsere Bedenken äußern.«
»Und das habt ihr ja jetzt auch.«
Da war wirklich nichts zu machen.
Nachdenklich sah Theresa Morten ihren Freundinnen dabei zu, wie diese das Grundstück verließen.
Als sie eine sanfte Berührung an ihrer Schulter spürte, wusste sie, dass Martin hinter sie getreten war.
»Was war denn los, meine Liebe?«
»Ach, Melanie und Cleopatra haben Bedenken, dass Gloster wieder irgendein Ding drehen will.«
»Ja ja.« Der Reverend atmete tief und hörbar ein. »Vertrauen zu können, ist ein wahrer Segen.«
Theresa wagte es nicht, ihm in die Augen zu sehen.