Leseprobe Geküsst von einem Dämon

Kapitel 1

Alle Dinge, Ereignisse und Erscheinungen verändern sich von Minute zu Minute.
Dalai Lama

 

Die Lagerhalle war stockdunkel und scheinbar menschenleer, als sich eine rotgetigerte Katze durch die zerbrochene Fensterscheibe schlich. Sie verweilte nur Sekunden auf der Fensterbank und sprang dann elegant ins Innere der Halle. Als sie auf dem Betonboden landete, umwehte ein leichter Wind ihren geschmeidigen Körper. Für einen Moment blieb die Katze unbeweglich in der leeren Halle stehen. Der Luftwirbel nahm an Heftigkeit zu und als er sich legte, hockte auf dem kalten Boden eine zierliche, nackte Frau. Sie stand auf und strich mit einer Hand ihre langen, feuerroten Locken aus dem Gesicht. Mit katzenartiger Geschmeidigkeit ging sie durch die Halle, als plötzlich ein Mann aus dem Schatten eines Betonpfeilers trat.

„Wo bist du gewesen, Keira?“

„Das geht dich überhaupt nichts an, Timor“, entgegnete die Rothaarige kühl. Sie steuerte unbeirrt auf eine Tür am anderen Ende der Halle zu.

„Abgesehen davon, dass du mal wieder zu spät kommst, geht es mich sehr wohl etwas an! Ich bin der Clanchef! Vergiss das nicht, Keira.“

Die junge Frau lachte ein leises, glockenhelles Lachen. „Als ob du es mich jemals vergessen lassen würdest. Und nun geh mir aus dem Weg.“

Doch der hochgewachsene Mann gab den Weg nicht frei. „Du willst doch wohl nicht so auf eine Clan-Versammlung gehen?“

„Seit wann stört dich Nacktheit, Timor? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du früher so prüde warst.“ Keiras Stimme hatte einen neckenden Klang angenommen.

Timor zog zornig die Augenbrauen zusammen. „Ich bin nicht prüde, aber dein Auftritt ist in Anbetracht der Situation völlig unangemessen! Du solltest mehr Respekt zeigen.“

„Respekt? Vor dir?“ Keira legte fragend den Kopf zur Seite. In ihren Augen blitzte der Schalk.

„Vor deinem Vater, der mich zum Clanchef ernannt hat, und vor Sallys Familie. Sie sind völlig aufgebracht.“

Die junge Frau starrte ihr Gegenüber überrascht an. „Sallys Familie? Ist etwas passiert?“

„Sally ist seit zwei Tagen spurlos verschwunden. Nun komm, du wirst bei der Versammlung alles erfahren.“

„Zwei Tage?“, murmelte Keira ungläubig. Mit einem Schlag war sie ernst geworden. „Das sieht Sally gar nicht ähnlich. Hoffentlich ist nichts Schlimmes passiert.“

Timor nickte bedächtig. „Der Clan ist in heller Aufregung. Vor allem, weil Bob erst vor einer Woche verschwunden ist. Dein Vater versucht alle zu beruhigen.“

„Dann sollte ich mir vielleicht doch etwas anziehen.“

„Ja, das solltest du. Ich habe dir Sachen mitgebracht. Sie liegen dort hinter dem Pfeiler.“ Timor deutete ans andere Ende der Halle.

„Danke.“ Keira nickte ernst und ging zügig in die angegebene Richtung.

 

***

 

„Das kann doch nicht dein Ernst sein!“, entrüstete sich Frederic. „Du willst einen Vampir in unserer WG aufnehmen? Und dann auch noch einen Franzosen!“

„Ich wusste gar nicht, dass du etwas gegen Franzosen hast.“ Aimée hob eine Augenbraue und griff ungerührt nach einer Scheibe Toast. Sie war die hitzigen Diskussionen ihrer dämonischen Mitbewohner am Frühstückstisch mittlerweile gewohnt.

George goss sich Kaffee nach und grinste. „Hat er eigentlich auch nicht, aber den Franzosen sagt man einiges Geschick beim Umgang mit dem schönen Geschlecht nach und dann auch noch ein Vampir … Die machen die Frauen ja haufenweise schwach. Er hat einfach nur Angst, dass nichts mehr für ihn übrig bleibt.“

Aimée lachte. „Oh, là, là. Da wittert unser lieber Frederic wohl Konkurrenz. Das muss ganz schön hart für einen Incubus sein.“

Frederics Augen funkelten. „Unsinn! Aber ein Vampir! In unserer WG! Das geht nun mal gar nicht.“

„Wieso nicht?“, hakte Aimée nach und strich Orangenmarmelade auf ihren Toast.

„Warum? Das will ich dir sagen, Liebes. Wir sind Dämonen und er ist ein dreckiger, nach Knoblauch stinkender Vampir.“ Der blonde Incubus warf theatralisch die Hände in die Höhe.

„Äh, also ich dachte, Vampire mögen keinen Knoblauch? Das ist doch so, oder?“ Aimée schaute irritiert zu Cyrus, der die Diskussion bisher schweigend verfolgt hatte. Bevor er allerdings auf die Frage antworten konnte, erklärte Frederic schlicht: „Aber er ist Franzose und die essen alle Knoblauch!“

Aimée machte große Augen. „Sag mal, kann es sein, dass du gewisse Vorurteile hast? So hätte ich dich gar nicht eingeschätzt.“

„Ich habe überhaupt keine Vorurteile. Das ist allgemein bekannt.“ Frederic warf ihr einen beleidigten Blick zu. „So eine Kreatur passt einfach nicht in unsere Dämonen-WG.“

„Hast du nicht etwas vergessen, wenn du schon so vehement darauf pochst, dass dies eine Dämonen-WG ist? Ich bin ein Mensch.“ Aimée verschränkte die Arme.

„Das ist doch etwas anderes.“ Frederic winkte ab. „Du gehörst zu Cyrus und außerdem hast du besondere Fähigkeiten. Vermutlich bist du gar kein richtiges Menschenmädchen, sondern …“ Er suchte nach den passenden Worten. „… sondern auch eine Dämonin. Zumindest ein bisschen.“

„Wie kann man denn ein bisschen Dämon sein? Abgesehen davon, dass ich gar keine Dämonin sein möchte. Nichts gegen euch, Jungs, aber ich bin sehr gern ein Mensch.“

„Du willst mich einfach nicht verstehen, oder?“ Frederic raufte sich die Haare. „Ich habe überhaupt nichts gegen Menschen. Vor allem nicht gegen die weiblichen Menschen. Immerhin sind 95 Prozent meiner Geliebten Menschenfrauen. Aber wir reden hier von einem blutschlürfenden Vampir. Das ist Abschaum!“

„Die Diskussion nimmt meiner Meinung nach eine unschöne Wendung an“, mischte sich Cyrus ein. Er legte Aimée einen Arm um die Taille und zog sie liebevoll an sich.

„Du sei mal ganz still, du hast uns doch die Suppe eingebrockt. Von wegen wir haben jetzt ein Zimmer frei und schulden Daniel noch einen Gefallen, weil er uns im Kampf gegen die Engel unterstützt hat“, fuhr Frederic nun Cyrus an.

George zündete sich eine seiner geliebten Zigarren an und paffte dicke Rauchschwaden in die Luft. Ihn schien die hitzige Diskussion eher zu amüsieren.

„Nun beruhige dich doch, Frederic. Sollten wir denn einem Freund eine Bitte ausschlagen? Du weißt genau, dass dies gegen alle dämonischen Regeln verstößt“, argumentierte Cyrus.

„Ach, komm mir nicht mit dämonischen Regeln! Du willst doch nur die Flasche alten Rotweins, die dieser französische Schürzenjäger mitbringen will“, knurrte Frederic. „Außerdem hast du alle Regeln in den Wind geschossen und dich in ein Menschenmädchen verliebt. Nur deinetwegen hat uns der Rat auf dem Kieker!“

Aimée hatte Frederic noch nie so aufgebracht erlebt. Seine sonst so samtene, dunkle Stimme war schneidend. Er hatte Cyrus und sie bisher nicht wegen ihrer Liebe verurteilt. Dass ausgerechnet er dies jetzt tat, zeigte ihr, wie wütend er wirklich war.

„Schluss jetzt!“ Cyrus’ Stimme war nun auch eine Spur kälter. „Die Sache haben wir so besprochen! Solange Chris auf seiner Selbstfindungsreise in Griechenland ist, bekommt Jean-Claude sein Zimmer.“

„Bitte? Er heißt auch noch Jean-Claude? Das wird ja immer besser.“ Frederic schnaubte.

„Du wirst dich bestimmt an ihn gewöhnen. Daniel sagte, er wäre ein wirklich netter Kerl“, versuchte Cyrus ihn zu beruhigen.

„Ja, und wer weiß, vielleicht werdet ihr sogar Freunde“, sagte Aimée hoffnungsvoll.

„Glaubt, was ihr wollt. Ich bin auf jeden Fall dagegen.“ Der Incubus schob geräuschvoll seinen Stuhl zurück und stand auf.

„Und ich bin mir auf jeden Fall sicher, dass es sehr lustig wird.“ George zwinkerte Aimée zu. Er schien nicht zu spüren, dass die Diskussion sich gerade in einen handfesten Streit verwandelte.

„Euch ist nicht zu helfen! Ihr werdet noch sehen, was ihr davon habt. Wenn der Blutsauger erst mal an Aimées zartem Hals hängt, werdet ihr vielleicht nicht mehr über mich lachen!“ Damit drehte sich Frederic um und rauschte aus der Küche.

George kicherte. „Bei allen Dämonen, unser Fredde ist aber heute gar nicht gut drauf.“

Aimée schwieg einen Moment betreten. Dann sah sie Cyrus fragend an. „Ob er sich wirklich Sorgen um mich macht?“

„Ach, Unsinn, Süße“, warf George ein. „Er ist nur um seinen guten Ruf als Womanizer besorgt.“

„Er schien aber wirklich wütend zu sein. Und er hat noch nie etwas gegen unsere Beziehung gesagt.“ Aimée zog sorgenvoll die Augenbrauen zusammen.

Cyrus schüttelte den Kopf. „Ich denke nicht, dass dir Gefahr droht. Nur junge und unerfahrene Vampire können ihren Blutdurst nicht kontrollieren und sind ein unberechenbares Risiko für Menschen. Die älteren Vampire können sich sehr wohl beherrschen. Ich glaube nicht, dass Daniel uns einen jungen Vampir als Mitbewohner schickt, zumal er immerhin an deiner Rettung beteiligt war und weiß, dass du hier mit uns zusammen wohnst. Er würde dich doch nie einer solchen Bedrohung aussetzen wollen. Außerdem bin ich ja noch da und passe auf dich auf.“ Cyrus drückte Aimée erneut liebevoll an sich. Sie blickte in seine honigfarbenen Augen und entspannte sich sofort. Seine Nähe gab ihr immer ein Gefühl von Wärme und Halt.

„Hm, vermutlich hast du recht.“ Aimée hob die Hand und strich ihm zärtlich eine Strähne seines schwarzen Haares aus der Stirn.

„Ich werde euch Turteltäubchen jetzt auch mal allein lassen.“ George stand ebenfalls vom Frühstückstisch auf. „Weil der Rat unseren guten Cyrus hier vorläufig von seiner Aufgabe als Amor freigestellt hat, habe ich nun mehr zu tun als vorher.“

„Oh, wie kommt’s?“, fragte Aimée neugierig.

„Der oberste Rat hat mich einem anderen Amor zugeordnet. Sie haben sein Tätigkeitsfeld um den Bereich London erweitert. Er war gestern vor Ort, um sich ein Bild der Lage zu machen, und er hat mir schon heute früh eine To-do-Liste zukommen lassen. Die ist so lang, dass ich erst dachte, im Dämensionskreis liegt eine Klorolle! Scheint so, als wollte dein Vertreter die halbe Stadt miteinander verbandeln.“ George grinste.

Cyrus zog eine Augenbraue hoch. „Entweder das, oder er will beim Rat Eindruck schinden. Wer ist es?“

George blickte zu Boden und kaute verlegen auf seiner Zigarre herum. „Nun … ich glaube, das wird dir nicht gefallen. Es ist Cyrill.“

Für einen Moment war es komplett still in der Wohnküche, nur die Wanduhr tickte. Cyrus’ Blick verfinsterte sich und er presste die Lippen zusammen. „Wann wolltest du es mir sagen?“

„Eigentlich überhaupt nicht. Aber da ihr es bei eurem Termin heute vermutlich sowieso erfahrt … na ja …“ George zuckte mit den Schultern.

„Verdammt!“ Plötzlich schlug Cyrus mit der Faust auf den Tisch. Das Geschirr schepperte heftig und Kaffee schwappte aus den Tassen. Aimée zuckte vor Schreck zusammen.

„Wer ist dieser Cyrill?“

„Mein Bruder“, antwortete Cyrus knapp. Dann erhob er sich und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche. Aimée starrte ihm entgeistert hinterher.

„Was war denn das, bitte?“, fragte sie fassungslos.

George griff ungerührt nach einem Lappen und kümmerte sich um die Kaffeelache. Er wischte ausgiebig den Tisch ab und verkniff sich ganz gegen seine Gewohnheit jeden Kommentar.

Aimée packte seinen Arm. „Jetzt reicht es mir. Du sagst mir sofort, was das alles zu bedeuten hat. Und hör auf, den Tisch zu putzen! Das machst du doch sonst auch nicht!“

George ließ den Lappen los und murmelte: „Ich brauche einen Schluck Whisky. Willst du auch einen, Süße?“

Aimée schüttelte den Kopf. „Es ist gerade mal acht.“

„Okay, bleibt mehr für mich.“ George ging zum Küchenschrank und holte ein Whiskyglas raus. Dann nahm er die halbvolle Flasche Single Malt und schenkte sich großzügig ein. „Ehrlich gesagt, kann ich dir dazu nicht wirklich etwas sagen. Ich weiß nur, dass Cyrill sein Zwillingsbruder ist und Cyrus nicht über ihn spricht. Muss wohl ’ne alte Familiensache sein. So zwischen Brüdern. Ich frag da lieber nicht nach.“

Aimée runzelte die Stirn. „Er war wirklich aufgebracht. Ob ich mal mit ihm reden sollte?“

„So, wie Cyrus gerade drauf ist, würde ich das nur tun, wenn du jung sterben willst, Süße.“ Er sah sie ernst an.

„Aber er ist mein Freund und ich will für ihn da sein!“

George verdrehte die Augen. „Ich vergesse immer wieder, wie naiv ihr Menschen seid, wenn es um Liebesbeziehungen geht.“

„Das ist nicht hilfreich.“

„Ich meine doch nur, dass er die neue Situation erst mal mit sich selbst ausmachen möchte. Gib ihm etwas Zeit, Süße.“

„Okay.“ Aimée nickte. „Aber wenn das Verhältnis der beiden nicht so gut ist, warum hat Cyrill nun ausgerechnet London übernommen?“

George drehte das Whiskyglas in der Hand und betrachtete die goldene Flüssigkeit darin. „Eigentlich ist Cyrill für Irland zuständig. Warum der Rat ihn nun für London eingesetzt hat, weiß ich auch nicht. Vielleicht ist das schon ein Teil der Strafe.“

„Du glaubst wirklich, der Rat will Cyrus damit bestrafen?“ Aimée machte große Augen. „So hätte ich Ferox gar nicht eingeschätzt. Er schien mir ganz okay zu sein.“

„Na ja, Süße, Ferox ist nur eines der dreizehn Ratsmitglieder. Da sind ein paar ganz üble Typen bei. Richtige Beamte. So, wie ich den Hohen Rat kenne, werden sie sich noch etwas ganz anderes ausdenken. Aber ausgerechnet Cyrill mit Cyrus’ Aufgabe zu betrauen, ist ­natürlich besonders teuflisch.“

Aimée seufzte. „Das hört sich nicht gut an.“

Für einen Moment schwiegen beide.

„Wann habt ihr heute euren Termin beim Dämonenrat?“, erkundigte sich George.

Aimée blickte auf die Küchenuhr. „Oh je, schon in einer Stunde. Ich wollte noch duschen.“

„Ja, Süße, brezle dich ordentlich auf, dann können die steifen Alten deinem süßen Arsch nicht widerstehen und der gute Cyrus wird vielleicht nicht in die Wüste des ewigen Schweigens geschickt.“ George grinste.

Aimée unterdrückte ein Lächeln. „Du bist unverbesserlich!“

 

Als Aimée unter der heißen Dusche stand, wurde ihr die Tragweite des bevorstehenden Termins erst richtig bewusst. Seit sie vor ein paar Tagen die Ladung erhalten hatten, hatte Aimée die möglichen Konsequenzen verdrängt. Sie hatte darauf vertraut, dass man ihre Liebe anerkennen würde. Schließlich hatte der Rat zuvor entschieden, dass sie nach ihrer Rettung bei Cyrus bleiben durfte. War alles nur ein kurzer Traum gewesen?

Bei dem Gedanken daran, dem Dämonenrat gegenüberzutreten, flatterte Aimées Herz wie ein kleiner Vogel im Sturm. Vor ihrem inneren Auge zogen die letzten Wochen wie ein Film vorüber.

Ihr Leben hatte sich komplett verändert. Das große Herrenhaus, in dem ihre Familie lebte, war schon immer ein kalter Klotz gewesen. Doch nach dem Tod ihres Vaters wurde es Aimée fast unerträglich, in diesem Haus zu wohnen. Ihr Bruder spielte sich als Despot auf und ließ sie kaum nach draußen. Als er sie mit seinem Geschäftspartner verheiraten wollte und Aimée zu allem Überfluss auch noch einen Mord im Keller beobachtete, floh sie Hals über Kopf in Richtung London. Vor den Häschern ihres wahnsinnigen Bruders fand Aimée in dieser ungewöhnlichen WG Schutz. Das Zusammensein mit den Jungs war wie ein Lichtblick in dieser dunklen Zeit gewesen. Sie fühlte sich beschützt und zum ersten Mal in ihrem Leben gab es für sie so etwas wie ein Zuhause. Was sicherlich auch damit zusammenhing, dass sich Aimée sofort zu dem ernsten Cyrus hingezogen fühlte. Als sich nach der Nacht im Club dann herausstellte, dass die verrückten Jungs allesamt Dämonen waren, war sie zwar zunächst schockiert gewesen und wollte es nicht glauben. Aber nach all den Ereignissen der letzten Wochen dachte Aimée, dass sie nichts mehr erschüttern könnte. Außerdem, wer konnte schon von sich behaupten, mit einem sexy Incubus, einem frechen Amoridicius und einem charmanten Veritas-Dämonen befreundet zu sein?

Auf die Bekanntschaft mit dem Schwarzen Mann hätte Aimée allerdings gern verzichtet. Sie spürte immer noch diese herzzerreißende Traurigkeit, die er ausgestrahlt hatte. Dennoch hatte Jeremy sie zusammen mit den anderen Jungs aus den Fängen der Kampfengel gerettet. Bis zuletzt hatte Aimée es nicht wahrhaben wollen, dass ihr eigener Bruder sie an Arik, den Heerführer der Kampfengel verschachern wollte. Er hatte sogar ihren Tod in Kauf genommen, nur um seine Gier nach Macht zu befriedigen. Doch all diese schrecklichen Dinge verblassten vor der Tatsache, von einem echten Amordämon geliebt zu werden. Für einen Moment traten die Bilder der letzten Nacht in Aimées Gedächtnis, als sie stundenlang miteinander über Philosophie, das Leben und die Liebe geredet hatten. Sie hatten Rotwein getrunken und sie hatte in seinen Armen gelegen. Cyrus hatte sie so unglaublich zärtlich liebkost, wie es vermutlich kein anderer Mann je tun könnte. Er ließ sie all den vergangenen Schmerz vergessen.

Aimée trat aus der Dusche und wickelte sich in ein großes, flauschiges Handtuch. „Alles wird gut!“, sprach sie sich selbst im Badezimmerspiegel Mut zu. „Jetzt gib bloß nicht auf. Du bist immerhin den Fängen deines Bruders und eines Kampfengels entkommen. Der Termin beim Dämonen-Rat kann auch nicht schlimmer sein.“

Kapitel 2

Es gibt zwei Möglichkeiten, vor dem Elend des Lebens zu flüchten: Musik und Katzen.
Albert Schweitzer

 

Geschmeidig lief Keira über die Dächer der endlosen Reihenhäuser. Ein leichter Dunstschleier hing noch über der Stadt, aber am Horizont färbte sich der Himmel bereits rosa und es versprach ein schöner Tag zu werden. Dennoch lag schon ein Duft von Herbst in der Luft. Alle Gerüche dieses Morgens nahm Keiras feine Nase auf. Auch die Geräusche, die von den Straßen heraufklangen, nahm sie wahr, doch all dies interessierte die kleine Katze nicht. Sie steuerte unbeirrt ihrem Ziel entgegen.

Als sie einen Schornstein umrundete, spürte sie die düstere Aura bereits. Ein feines Kribbeln breitete sich von ihren Schnurrhaaren bis zu ihrem Schwanz aus. Bald schon würde sie wieder in seiner Nähe sein. Sie würde es niemals zugeben, aber sie hatte ihn vermisst.

Mit schnellen Schritten lief sie auf das offene Dachfenster zu, aus dem verheißungsvoll die kratzige Stimme von Tom Waits erklang. Das, was andere Menschen in tiefste Trauer oder Wut stürzte, faszinierte sie. Seine wundervolle schwermütige Aura elektrisierte jede Zelle ihres Körpers. Sie konnte es kaum erwarten, sich an ihm zu reiben und seinen herben Duft nach Weihrauch und Sandelholz zu riechen. Seit Tagen hatte sie ihn nicht mehr besuchen können. Wie sehr sehnte sie sich danach, sich von seinen schlanken Fingern streicheln zu lassen. Heute, nach all der unerträglich langen Zeit, würde sie ihm sogar erlauben ihren Bauch zu kraulen.

Keira erreichte das Dachfenster und sprang leichtfüßig auf die schmale Fensterbank. Sie spähte in den Raum. Von Jeremy war nichts zu sehen. Sie erkannte ein zerwühltes Bett und stellte sich vor, wie sie sich auf dem Laken rekeln würde. Das Kribbeln in ihrem Magen nahm zu. Ob er sich ebenso freuen würde, sie wiederzusehen? Vielleicht konnte sie ihm dieses zarte Lächeln entlocken, das er nur ihr zeigte.

Sie war bereits seit Stunden auf den Beinen, um ihn zu finden. London war wahrlich keine kleine Stadt, aber ihr untrügliches Gespür führte sie wie magisch zu ihm. Dennoch war es nicht immer einfach seiner Spur zu folgen, da Jeremy als Schwarzer Mann regelmäßig seine Unterkunft wechseln musste. Menschen ertrugen diese düstere Atmosphäre nicht lange. Keira spürte, dass dieses Haus in Fulham bereits von seiner Aura durchdrungen war. Vermutlich waren die anderen Bewohner bereits ausgezogen oder hatten sich gegenseitig umgebracht. Jedenfalls hatte Jeremy nie Probleme, auch in den besten Gegenden der Stadt eine Bleibe zu finden. Er brauchte sich nur für ein paar Stunden in der Nähe des Hauses aufzuhalten und schon wurde eine passende Wohnung frei.

Aus einem anderen Fenster drang das Geräusch von fließendem Wasser an ihr Ohr. Keira sprang auf die nächste Fensterbank, reckte sich und erspähte tatsächlich Jeremy durch das Fenster. Er stand von ihr abgewandt unter der Dusche. Keiras Blick glitt von seinem Rücken hinab zu seinem wohlgeformten Po. Sie liebte seinen Anblick. Die blasse Haut war ebenmäßig wie weißer Marmor und seine schlanke, aber durchaus muskulöse Erscheinung versetzte sie jedes Mal in Entzücken. Jeremy drehte das Wasser ab und fuhr sich mit der Hand durch das nasse Haar. Keira wollte gerade zurück auf die andere Fensterbank springen, um durch das offene Fenster in sein Schlafzimmer zu schlüpfen und ihn zu begrüßen, als sie eine maunzende Stimme vernahm.

„Hallo, Keira.“

Keira erschrak innerlich, doch sie zeigte keine Spur davon, als sie sich betont langsam zu dem schwarzen Waldkater umdrehte. Er saß keinen Meter entfernt auf einem Schornstein. Auch er trieb sich auffällig häufig in Jeremys Nähe herum. Im Gegensatz zu ihr war der große Kater kein Gestaltwandler, dennoch war irgendetwas an ihm seltsam. Keira misstraute ihm, da er immer wie aus dem Nichts auftauchte.

„Seit wann bist du so unvorsichtig?“

„Ich weiß nicht, was du meinst, Othello“, sagte Keira bewusst ungerührt.

„Tatsächlich nicht?“ Der große Kater legte den Kopf schief. „Du hast meine Anwesenheit doch gar nicht gespürt. Normalerweise lässt du niemanden so nah an dich herankommen.“

Keira ignorierte seine Bemerkung und fragte spitz: „Was willst du von mir?“

Othello streckte sich und sprang zu ihr auf die Fensterbank. „Du besuchst unseren gemeinsamen Freund?“

„Wie du siehst.“

„Er hat dich vermisst.“ Othello sah Keira mit seinen unergründlichen Augen an.

Keira wandte den Blick ab und starrte wieder in das mittlerweile leere Badezimmer. „Ich weiß“, murmelte sie. „Es war mir einfach nicht möglich, zu ihm zu kommen. Die Situation ist schwierig und ich … ich musste beim Clan bleiben.“

Othello deutete ein Nicken an. „Deshalb wundere ich mich, dass du ausgerechnet jetzt hier bist.“

„Wie meinst du das?“

„Du weißt es wirklich nicht?“ Der Kater beobachtete ihr Gesicht genau.

„Nun sag schon!“

„Die Spatzen pfeifen es quasi von den Dächern. Eine Gestaltwandlerin wurde heute Morgen tot aufgefunden. Sie trieb in der Themse.“ Seine Stimme war ruhig und beinahe unbeteiligt, aber seine buschige Schwanzspitze zuckte.

„Sie? Du redest doch wohl nicht von Sally?“, fragte Keira voller Unbehagen.

„Den Namen der Wandlerin kenne ich nicht. Aber man trug mir zu, dass der Leichnam ziemlich entstellt gewesen sei.“

Keira erfasste ein unheilvolles Gefühl. „Ich muss sofort zu meiner Familie.“ Sie sprang von der Fensterbank auf das Dach und wandte sich zum Gehen.

„Das ist vermutlich besser so. Bleib lieber in Sicherheit bei deinem Clan. Nicht dass du Nummer Sieben wirst“, rief Othello ihr zu.

Schockartig erstarrte Keira in ihrer Bewegung. „Willst du damit sagen, es sind noch mehr Wandler verschwunden?“

Othello wiegte den Kopf hin und her. „Nun, man hört so dies und das. Anscheinend sind die Straßen Londons für euch Wandler nicht mehr sicher. Vielleicht solltest du die Deinen aufsuchen und mehr herausfinden.“

„Das werde ich.“

In eiligen Sprüngen rannte Keira über die Dächer in Richtung Osten.

 

***

 

Othello sprang zurück auf seinen Beobachtungsposten. Eine Weile saß er unbeweglich auf dem Schornstein und blickte der kleinen rotgetigerten Katze hinterher, als plötzlich ein Metallrohr aus dem Schornsteinschlot in die Höhe fuhr. Am Ende des Rohrs befand sich ein kleiner Bildschirm. Zunächst erschien darauf ein Flackern, dann sah Othello einen alten Mann mit strähnigen grauen Haaren und tiefschwarzen Augen. Er hatte eine schmutzige Küchenschürze umgebunden.

„Hallo Othello, mein Bester. Wie ist es gelaufen?“, krächzte die Stimme von Artkis Ramschus aus dem Lautsprecher. „Hast du alles in die Wege geleitet?“

Othello maunzte zustimmend. Artkis rieb sich die Hände.

„Sehr schön, sehr schön! Dann kommt jetzt mal Bewegung in die Angelegenheit.“ Er kicherte. „Ich erwarte dich zum Abendessen. Ich versuche gerade ein neues Rezept. Leberwurstsuppe mit Linsen und saurem Hering.“

Othello starrte Artkis eine Weile regungslos an, dann zog er angewidert die linke Lefze hoch. Bevor er sich allerdings umdrehen und dem Bildschirm demonstrativ seinen puscheligen Po entgegenstrecken konnte, fuhr das Metallrohr wieder in den Schornstein zurück.

 

***

 

Keira hastete über die Dächer der Reihenhäuser, solange es möglich war. Irgendwann musste sie über eine Feuertreppe hinunter auf die Straße, um den Weg Richtung Südosten einzuschlagen. Im bunten Gewirr der Menschenfüße kam sie auf ihren Samtpfoten allerdings nicht schnell genug in Richtung der Docklands, aber ohne Kleidung und Geld wäre das Vorankommen in ihrer menschlichen Gestalt vermutlich noch unmöglicher geworden. Wie alle erfahrenen Gestaltwandler hatte auch Keira überall in London Verstecke angelegt, in denen ein paar Pfundnoten und einige Klamotten hinterlegt waren, aber ausgerechnet in dieser Gegend war keines davon in erreichbarer Nähe und Keira wollte nicht unnötig Zeit verlieren.

Kurz darauf lief sie in eine Underground-Station. Als Katze brauchte man schließlich kein Ticket und so könnte sie einen Großteil der Strecke mit der Bahn zurücklegen. Sie schlüpfte mit den Menschen zusammen in den Wagon, setzte sich selbstbewusst auf einen Sitz und wurde von den Mitreisenden nicht schlecht bestaunt. Einige lächelten sie an und wollten sie streicheln. Es ging eine Weile gut, bis eine verwahrloste alte Frau, die mit diversen Plastiktüten beladen war, in die Bahn einstieg und sich Keira gegenübersetzte. Sie stellte ihre Taschen ab und lächelte Keira zuckersüß an.

„Du bist ja eine süße Maus.“ Keira verdrehte innerlich die Augen. Die alte Frau fuhr fort: „Wie bist du bloß hier hereingekommen? Jemand muss dir wohl helfen, wieder rauszukommen.“

Ein Mädchen blickte von ihrem Smartphone auf. „Sie haben recht. Wir könnten die Katze einfangen und rausbringen.“

Die alte Frau nickte. „Ja, eine gute Idee. Ich kann sie in eine meiner Taschen packen und mitnehmen.“ Sie beugte sich zu Keira vor und streckte die Hand aus.

In Keiras Kopf schrillten die Alarmglocken. Diese alte Frau roch nach Alkohol und Tod. Sie fauchte die Frau an und schlug mit der Tatze nach der Hand.

„Oh, da ist aber jemand ein böses Kätzchen. Ich will dir doch nur helfen.“ Die Frau zog ihre blutende Hand zurück und ihre Augen funkelten tückisch.

Keiras Instinkt sagte ihr, dass diese Frau log.

„Man sollte den Tierfänger rufen“, schaltete sich ein junger Mann ein. „Die können die Katze mit ins Tierasyl nehmen.“

Hastig sprang Keira vom Sitz und lief aufgeregt durch das Zugabteil. Dabei war sie darauf bedacht, keinem der Fahrgäste zu nahe zu kommen, sodass sie keiner plötzlich greifen konnte. Sie musste unbedingt aus dem Zug raus.

Keira huschte zwischen den Füßen der Menschen hin und her. Die alte Frau war aufgestanden und folgte ihr. Sie versuchte Keira mit süßer Stimme zu locken. „Nun komm her, Kätzchen. Komm, musch, musch. Ich habe ein Leckerchen für dich in meiner Tasche.“

Von wegen, alte Hexe, dachte Keira. In diesem Moment bremste der Zug und ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sich die Türen endlich öffneten. Hastig sprang sie auf den Bahnsteig und rannte, so schnell sie zwischen den Beinen der Menschen vorankam, aus der Underground-Station. Keira verlangsamte ihr Tempo nicht, denn sie hatte aus den Augenwinkeln gesehen, dass auch die alte Frau die Tube verlassen hatte. Wäre es ihr wirklich nur darum gegangen, Keira aus der Bahn zu helfen, warum hätte sie ihr dann folgen sollen?

 

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit und als Keira sich ganz sicher war, die alte Frau abgehängt zu haben, gestattete sie sich, kurz stehen zu bleiben. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust. Eine unbestimmte Angst breitete sich in ihr aus. Ob diese alte Frau in ihr mehr erkannt hatte als eine Katze? Oder hatte sich Keira von Othellos seltsamen Aussagen unnötig ängstigen lassen und die Frau war einfach nur eine verrückte Alte? Waren die Straßen in London tatsächlich nicht mehr sicher für Gestaltwandler, oder spielten ihre Nerven ihr einen Streich?

Doch all diese Überlegungen spielten vorerst keine Rolle. Sie musste schnell zurück zu ihrem Clan. Durch diesen ungeplanten Zwischenfall hatte Keira ihre Route ändern müssen und sie würde für den weiteren Weg öffentliche Verkehrsmittel meiden. Keira seufzte innerlich. Sie hatte noch einen recht langen Weg vor sich bis zu der leerstehenden Lagerhalle am Südufer der Themse.

 

***

 

Aimée legte die Arme um Cyrus und schmiegte sich eng an ihn. Sie standen beide in dem kleinen Raum mit dem Dämensionskreis.

„Bist du aufgeregt?“, fragte er, während das Portal aufleuchtete.

Aimée nickte. „Wohin werden wir reisen? Ich meine, was ist das für eine Dimension?“

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete Cyrus. „Diesen Sprung vollführe nicht ich, sondern der Rat schickt uns sozusagen eine Einladung.“

„Und das bedeutet?“

„Das bedeutet, sie sprechen die Beschwörung und holen uns durch das Portal. Der Rat trifft sich nie an einem speziellen Ort. Sie wandern kreuz und quer durch die Dämensionen. Wir können uns nur überraschen lassen. Aber ich denke nicht, dass sie uns in eine menschenfeindliche Umgebung holen werden.“

„Menschenfeindlich?“, wiederholte Aimée erschrocken. „Wie muss ich mir das vorstellen?“

„Es gibt Dämensionen, die voller giftiger Dämpfe sind, oder Temperaturen haben, die den menschlichen Vorstellungen der Hölle entsprechen. Aber keine Bange, Kleines. Da wir beide vor den Rat bestellt wurden, nehme ich an, sie wählen eine Umgebung, die keine Gefahr für dich darstellt.“

„Na hoffentlich, sonst wird es für mich ein verdammt kurzer Besuch“, bemerkte Aimée sarkastisch.

Plötzlich stieg Nebel aus dem Kreis auf und kroch wie Schlangen um ihre Beine. Ein gelbes Licht erstrahlte, der Nebel verdichtete sich und Aimée konnte den Raum nicht mehr erkennen. Dann löste sich der Boden unter ihren Füßen auf und sie fielen. Aimée klammerte sich fest an Cyrus. Ein gewaltiger Sog zerrte an ihnen und verschiedene Lichter wirbelten so schnell um sie herum, dass Aimée ganz schlecht wurde. Als sie glaubte, sich jeden Moment übergeben zu müssen, hatte sie auf einmal wieder festen Boden unter den Füßen. Vermutlich wäre sie auf allen vieren gelandet, wenn Cyrus sie nicht so fest im Arm gehalten hätte.

„Alles in Ordnung?“, fragte er besorgt. Er ließ sie los, trat einen Schritt zurück und blickte in ihr Gesicht.

„Ja, alles klar. Aber ich weiß schon jetzt, dass ich diese Dämensionsreisen hasse. Wenn es nicht sein muss, möchte ich das nie wieder machen.“

Er lächelte. „Ich werde es mir merken.“

Aimée sah sich um. Sie standen inmitten einer lehmig-gelben Ebene, die sich in alle Richtungen bis zum Horizont erstreckte. Kein Strauch und kein Stein waren zu sehen. Nichts gab dem Auge etwas zu tun. Der Himmel war von einem nahezu blendendem gelb-weißen Ton und obwohl es nicht wirklich heiß war, glaubte man, in der Gluthitze einer Wüste zu stehen. Das Licht war so gleißend hell, dass es Aimée in den Augen brannte.

„Wo sind wir?“, fragte sie.

Cyrus wirkte nun zum ersten Mal etwas beunruhigt. „Wir sind in der Wüste des ewigen Schweigens.“

Aimée zuckte zusammen. Von dieser Wüste hatte George ihr berichtet. Hierher wurden Dämonen geschickt, wenn sie gegen die Regeln des Rates verstoßen hatten. Manchmal für Tausende von Jahren. Es war ein Ort der Strafe. Aimée drehte sich im Kreis und konnte sich gut ausmalen, dass dieser Ort einen in den Wahnsinn treiben konnte. Sie schluckte. Dann kam ihr ein furchtbarer Gedanke. „Und wenn es gar keinen Ratstermin gibt? Wenn das hier eine Falle ist. Unsere Strafe?“

„Nein!“ Cyrus schüttelte entschieden den Kopf. „Dem Rat obliegt es nicht, dich zu strafen. Du bist ein Mensch. Sie dürfen nur Dämonen ihren Regeln unterziehen. Außerdem kannst du nichts für deine Gefühle. Es steht dir frei, dich in einen Amordämonen zu verlieben. Anders ist es bei mir. Also sei unbesorgt, wenn dieser Ort meine Strafe sein sollte, hätten sie nur mich herbestellt.“

„Also ich weiß nicht.“ Aimée schlang schützend die Arme um sich. „Wo sind sie denn? Ich meine der Rat. Müssten sie nicht hier sein, um uns zu empfangen?“

Cyrus schwieg und sah sich mit zusammengezogenen Augenbrauen um. Die Minuten vergingen, oder waren es nur Sekunden? Aimée kam es wie eine Ewigkeit vor, die sie dort standen. Mit jedem Moment fühlte sie sich deprimierter. Es war nichts zu hören. Eine völlige Stille, nicht einmal das Wehen des Windes vernahm sie, obwohl Aimée das Gefühl hatte, einen Luftzug zu spüren. Dieser Luftzug wirkte zugleich heiß und eisigkalt.

„Was sollen wir nun tun? Hier warten, oder müssen wir irgendwohin gehen?“ Aimée blickte Cyrus hoffnungsvoll an.

„Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Der Rat hat mich noch nie an diesem Ort empfangen.“

„Und wenn sie gar nicht kommen? Was machen wir dann?“ Langsam stieg Panik in Aimée auf. „Können wir dann zurückreisen?“

Cyrus schüttelte den Kopf. „Aus dieser Dämension heraus kann nur ein Mitglied des Rates reisen.“

„Natürlich, wie dumm von mir, sonst wäre es ja kein Gefängnis für Dämonen. Allerdings muss ich sagen, dass ich diese Strafe als ziemlich grausam empfinde.“

„Sch, nicht so laut“, zischte Cyrus ihr zu. „Sie könnten dich hören und es als Kritik an ihren Regeln empfinden.“

Aimée machte große Augen. „Du meinst, sie belauschen uns?“

„Das ist durchaus möglich.“ Cyrus blickte sich um.

„Also ist das so etwas wie ein Test? Sie beobachten uns wie Versuchsratten in einem Labyrinth? Wie krank ist das denn?“ Aimée stemmte die Hände in die Hüften.

Cyrus trat dicht an sie heran und legte ihr einen Finger an die Lippen. „Bitte beruhige dich. Ich weiß auch nicht, was dies alles bedeutet, aber ich bin mir sicher, dass wir es herausfinden, wenn wir ruhig und besonnen bleiben. Lass und ein Stück gehen.“

„Gehen? Wohin sollen wir gehen? Hier ist doch nichts.“ Aimée drehte sich im Kreis.

„Das spielt keine Rolle. Komm!“ Er nahm ihre Hand und sie wanderten eine Weile schweigend über die Ebene.

Aimée warf einen Blick zurück. Alles sah gleich aus. „Lass uns nicht zu weit laufen, sonst finden wir diesen … diesen Dimensionskreis nicht wieder“, bat sie.

„Hier gibt es keinen Dämensionskreis. Du kannst von jedem Punkt aus die Wüste verlassen oder von keinem. Wie gesagt, das liegt in der Hand des Rates.“

„Na, wunderbar“, murmelte Aimée.

Sie liefen und liefen, aber Aimée hatte nicht das Gefühl, dass sie sich auch nur einen Meter fortbewegten, obwohl ihre Füße anfingen zu schmerzen. Es war keine Änderung in der Landschaft zu sehen. Nicht einmal Fußabdrücke hinterließen sie auf dem harten Boden. Aimées Zunge klebte bereits an ihrem Gaumen und ihre Kehle fühlte sich so trocken an, als seien sie schon seit Tagen durch diese Wüste geirrt. Sie glaubte, verdursten zu müssen.

„Können wir eine Pause einlegen?“, fragte sie.

Cyrus nickte und Aimée setzte sich auf den harten Boden, der unerwartet kalt war. Sie sah sich in der Trostlosigkeit dieser Dimension um und spürte, wie sich in ihr aufkeimender Ärger mit beginnender Hoffnungslosigkeit mischte. „Auch auf die Gefahr hin, den Rat zu verärgern, ich denke langsam, dass sie uns tatsächlich hier ausgesetzt haben, um uns hier verrotten zu lassen“, murrte Aimée.

Cyrus stand neben ihr und starrte in die Ferne. „Das kann ich einfach nicht glauben.“

Sie sah zu ihm hoch. Er wirkte sehr ernst und angespannter, als sie ihn kannte.

„Und was denkst du?“, erkundigte sich Aimée. „Bist du dir noch immer sicher, dass es nur eine kleine Prüfung ist?“

„Nein, aber sie werden uns ganz sicher nicht sterben lassen. Dämonen können in der Wüste des ewigen Schweigens nicht sterben. Auch wenn sie vermutlich irgendwann so weit sind, dass sie es sich ersehnen.“

„Dämonen vielleicht nicht, aber ich komme jetzt schon halb um vor Durst. Ich wünschte, ich hätte beim Frühstück mehr getrunken.“

Cyrus sah erschrocken auf sie herunter. Er setzte sich neben sie und legte den Arm um Aimée. „Was auch kommt, ich verspreche dir, dass ich mir etwas einfallen lasse. Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendetwas passiert, Kleines. Ich finde einen Weg, dich nach Hause zu schicken.“

„Und wenn nicht?“

„Daran darfst du nicht denken“, versuchte er Aimée zu beruhigen.

„Wer weiß, vielleicht soll ich hier sterben. Bestimmt ist das deine Strafe“, mutmaßte Aimée.

„Wenn dir etwas passiert, werde ich jedes einzelne Mitglied des Rates zur Rechenschaft ziehen. Das schwöre ich dir!“

„Und wie willst du das machen?“, erkundigte sich Aimée.

„Ich bringe sie alle um“, knurrte Cyrus.

„Eine solche Tat wäre äußert ungehörig. Denk nicht mal dran, junger Amor, und sprich solch eine Drohung nicht noch einmal aus“, erklang plötzlich eine tiefe Stimme.

Aimée und Cyrus fuhren herum. Hinter ihnen stand Ferox. In dieser kahlen Wüste wirkte er noch größer, als Aimée ihn in Erinnerung hatte. Er trug eine lange rote Robe und sein Haupt zierten gigantische Widderhörner. Aimée und Cyrus beeilten sich, auf die Füße zu kommen. Cyrus ergriff Aimées Hand und gemeinsam gingen sie einige Schritte auf Ferox zu.

„Wo ist der Rest des Rates?“, verlangte Cyrus zu erfahren. Seine Stimme war scharf und Aimée bemerkte, dass er sich nur mit Mühe beherrschen konnte, Ferox nicht an die Gurgel zu gehen. Die ganze Zeit hatte er erstaunlich ruhig gewirkt. Doch jetzt, da sie Ferox endlich gegenüberstanden, schien Cyrus’ Geduld am Ende zu sein.

„Deine Ungeduld ziemt sich nicht im Angesicht des hohen Rates. Du hast uns deinen Respekt zu zollen“, ermahnte Ferox ihn.

Cyrus stieß ein leises Grollen aus und Aimée griff beruhigend seinen Arm. „Wo ist denn der Rat? Ich sehe ihn nicht“, bemerkte sie und zog die Aufmerksamkeit von Ferox auf sich.

Der mächtige Dämon wandte sich nun ihr zu. „Der Rat versammelt sich gerade.“ Er wies auf den Horizont, wo Aimée jetzt mehrere Wirbelstürme erkannte, die sich schnell näherten. Sekunden später waren sie umkreist von elf hohen Windhosen und einem grünlichen Etwas, das aussah wie ein überdimensionaler Wackelpudding. Aimée starrte den knapp einen Meter großen Klumpen an, der unentwegt hin und her schwankte. Unter ihrem Blick wurde das Zittern dieser unförmigen Masse merklich schneller. Aimée wandte den Blick ab.

Cyrus verneigte sich knapp vor dem Rat und Aimée tat es ihm gleich. Dann drückte sie sich näher an Cyrus und raunte ihm zu: „Der Rat besteht aus Wirbelstürmen?“

„Nein, aber wir haben entschieden, dass wir unsere wahre Gestalt vor deinem menschlichen Auge geheim halten. Du hast auch so schon zu viel von unserer Welt erfahren. Abgesehen von mir natürlich. Immerhin hatten wir ja schon einmal das Vergnügen“, antwortete Ferox lächelnd, der anscheinend ein hervorragendes Hörvermögen besaß.

„Und was ist mit dem da?“, platzte es unüberlegt aus Aimée heraus. Sie zeigte auf den Wackelpudding. Die grüne Masse waberte nun noch wilder umher und stieß seltsame Laute aus, die vermutlich seiner Empörung Ausdruck verleihen sollten.

„Das ist ein Verovante. Seine Art kann kaum andere Formen annehmen. Dafür haben sie andere Fähigkeiten“, klärte Cyrus sie leise auf.

„Ich möchte mir nicht vorstellen, was das sein mag“, murmelte Aimée. „Aber jede Form ist besser als diese Wirbelstürme, mir dreht sich schon alles im Kopf.“ Sie stutzte, als sie bemerkte, wie sich Ferox die Hand vor den Mund hielt, um ein Grinsen zu verstecken. Ihn schien ihre Bemerkung zu belustigen.

Ferox neigte den Kopf. „Nun, vielleicht sagt dir diese Form eher zu. Sieh es als guten Willen des Rates an, euren Fall angemessen zu verhandeln.“

Mit einem Mal waren die Windhosen verschwunden. Stattdessen standen neben Ferox elf völlig identische Herren mit blassen Gesichtern und grauen Anzügen. Sie wirkten wie das fahle Abziehbild eines britischen Gentlemans, vom Bowler bis zum Regenschirm. Neben den elf Herren stand der grüne Wackelpudding – ebenfalls mit einer grauen Melone auf dem Kopf. Aimée musste sich zusammenreißen, um nicht hysterisch loszulachen. Die bleichen Gentlemen starrten sie aus kohlrabenschwarzen Augen an. Dieser Anblick war fast noch erschreckender als die bedrohlichen Wirbelstürme.

Cyrus räusperte sich und verneigte sich erneut. „Wir danken dem Rat für diese Gunst. Wir stellen uns dem Verfahren und hoffen auf eine weise und gnädige Entscheidung.“

Kapitel 3

Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.
Johann Wolfgang von Goethe

 

Als Keira endlich die Isle of Dogs erreichte, waren mehrere Stunden vergangen. Ihre Pfoten schmerzten und sie sehnte sich nach einer Pause. Doch die Zeit, um sich im Millwall Park in die Sonne zu legen, hatte sie nicht. Sie steuerte den Greenwich Fußgängertunnel an, um so ans Südufer der Themse zu gelangen. Von dort aus waren es noch knapp zweieinhalb Meilen, also nur noch ein Katzensprung gemessen an der Strecke, die Keira bisher zurückgelegt hatte. Sie folgte der Woolwich Road, bis sie beim Gewerbegebiet von Charlton ankam, und bog dort in Richtung des großen Warenlagers von Sainsburys Thameside ab. Zwischen Autoreifenhändlern, einer Kfz-Prüfstelle und Logistikunternehmen gab es auch einige Lagerhallen, die man mieten konnte. Eine davon stand offiziell leer und wurde von den Clanmitgliedern als Treffpunkt genutzt.

Keira schlüpfte ungesehen in die Halle und traf zunächst auf Ginger, eine kleine Schildpattkatze mit verschiedenfarbigen Augen. Sie hockte zusammengekauert an einem der Stützpfeiler der Halle. Sie war noch sehr jung und hatte erst vor Kurzem die Wandlung vollständig vollzogen.

„Hallo Ginger, hast du meinen Vater gesehen?“

Ginger schüttelte den Kopf.

„Und Timor?“, hakte Keira ungeduldig nach.

„Nebenan. Er redet mit diesem Polizisten.“ Ginger nickte in Richtung einer schweren Tür.

„Hier?“, fragte Keira verwundert. „Wieso hat Timor einen Polizisten hierhergeführt?“

Ginger antwortete nicht, sondern ließ wieder den Kopf hängen. Keira seufzte und ging an Ginger vorbei durch die Stahltür in den Versammlungsraum des Clans. Dieser Teil der Halle hatte keine Fenster, nur durch Oberlichter in der Decke fiel etwas Licht hinein. So war der Clan vor neugierigen Blicken geschützt. Hier standen einige alte Sofas und Sessel herum, auf denen die jüngeren Clanmitglieder gerne außerhalb der offiziellen Treffen herumlümmelten. An der hinteren Wand hatten sie zudem einen Tischkicker aufgestellt und in der Mitte befand sich ein kleines Rednerpodest, neben dem zwei Gestalten standen.

Keira ging mit geschmeidigen Schritten auf die beiden Männer zu. Einer von ihnen war Timor, der zweite Mann, der Keira den Rücken zuwandte, musste der Polizist sein, von dem Ginger gesprochen hatte. Der Fremde war etwas kleiner als Timor, aber dafür deutlich breitschultriger als der Clanchef. Sie waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie Keira zunächst gar nicht bemerkten. So konnte sie noch hören, wie Timor an den anderen Mann gewandt sagte: „Es ist ein harter Schlag für den Clan. Sally war bei allen sehr beliebt. Wir werden alles tun, um ihre Eltern in dieser schweren Zeit zu unterstützen. Danke, dass Sie mich informiert haben, Detective.“

Man hat also tatsächlich Sally aus der Themse gefischt, schoss es Keira durch den Kopf. Auf dem ganzen Weg hierher hatte sie gehofft, dass sich ihre Befürchtung nicht bestätigen würde. Zeitgleich wunderte sie sich, warum Timor sich dem fremden Polizisten so offen anvertraute. Sie kam jedoch nicht dazu, sich weiter Gedanken zu machen, da Timor sie nun entdeckt hatte und sich ihr zuwandte.

„Keira, da bist du ja! Es gibt schlechte Neuigkeiten.“

Keira blieb stehen und nickte bedrückt. „Ja, ich habe das Gerücht gehört, dass einem von uns etwas zugestoßen ist.“

„Das ist leider kein Gerücht. Sally ist tot“, sagte der Clanchef tonlos, doch Keira bemerkte, dass Timor um Fassung rang.

„Was ist geschehen?“ Sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihr diese Nachricht zusetzte. Keira wollte vor diesem Polizisten auf keinen Fall ihre Haltung verlieren.

Nun drehte sich auch der andere Mann um. Er zog überrascht eine Augenbraue hoch. „Keira?“

Entgeistert starrte Keira in ein Gesicht, das ihr immer noch bekannt vorkam, auch wenn sie es seit Jahren nicht gesehen hatte.

„Deacon? Bist du es wirklich?“ Für einen Moment verdrängte die Wiedersehensfreude mit ihrem alten Freund den traurigen Anlass. Sofort trat sie an ihn heran und schlang die Arme um ihn. Er ließ es geschehen und erwiderte die Umarmung fast ein wenig unbeholfen. Keira drückte ihn an sich. Er roch vertraut nach Aftershave und Eukalyptusbonbons. Dann löste sie sich und trat einen Schritt zurück.

„Es ist so schön, dich wiederzusehen, Kätzchen.“ Deacon zeigte ihr ein schiefes Lächeln. Seine Stimme war rau und in seinem Blick lag die gleiche Verwunderung, die auch Keira angesichts dieses unerwarteten Wiedersehens fühlte. Sie musterte Deacon. Er wirkte übernächtigt und auf seinen Wangen waren Bartstoppeln zu sehen. Vermutlich war er schon länger im Einsatz. Seine vollen hellbraunen Haare waren kurz und strubbelig. Keira entdeckte einige graue Strähnen darin, obwohl Deacon gerade mal vier Jahre älter war als sie. Am auffälligsten waren immer noch seine strahlend hellblauen Augen.

„Wie lange ist es jetzt her, dass wir uns gesehen haben?“, fragte Keira.

Deacon zuckte die Schultern. „Zu lange“, bemerkte er leise.

Ein leichter Schmerz der Erinnerung durchzuckte Keira, als sie daran dachte, wie ihr bester Freund sich vor acht Jahren von ihr verabschiedet hatte, um ins Ausland zu gehen. Damals hatte sie sich in ihr Studium gestürzt und seitdem hatte sich so vieles verändert. Nun sah sie ihn nach all der Zeit zum ersten Mal wieder. Doch Keira gestattete sich nicht, dass die Melancholie ihr Herz ergriff. So schüttelte sie die Erinnerung ab und straffte die Schultern. „Du bist nun also bei der Polizei?“

„Ja, bei Scotland Yard“, bestätigte Deacon.

„Er ist der ermittelnde Detective Inspektor“, mischte sich Timor ein, der die Wiedersehensszene bisher stumm verfolgt hatte. Keira warf ihm nur einen kurzen kühlen Blick zu und antwortete: „Das dachte ich mir. Würdest du uns wohl einen Moment allein lassen, Timor? Ich möchte mit Deacon unter vier Augen sprechen.“

Timor blickte zwischen den beiden hin und her und schien zu überlegen, ob er Keiras Wunsch nachkommen, oder sie wegen ihrer erneuten Missachtung seines Ranges gegenüber Clanfremden rügen sollte.

Deacon schien die Anspannung zu spüren und zog ein Notizbuch aus der Jackentasche. „Das wäre gut, da ich auch noch einige Fragen an dich habe, Keira.“

Der Clanchef nickt Deacon zu. „Also gut. Wir haben ja soweit alles besprochen, Detective Murray.“ Timor ging in Richtung der Stahltür. Nach einigen Schritten blieb er stehen und drehte sich noch einmal um. „Ach, und Keira, vergiss nicht, dass heute Abend eine Versammlung stattfindet und hinterher findest du dich in meinem Büro ein!“

Keira setzte ein zuckersüßes Lächeln auf und schnurrte: „Aber natürlich, Timor. Dein Wunsch ist mir Befehl.“

Als die Stahltür hinter Timor mit einem lauten Knall zufiel, standen Deacon und Keira kurz schweigend da. Dann durchbrach Keira die Stille.

„So, du untersuchst also den Fall. Wo hat man Sally gefunden?“

„Hier ganz in der Nähe, beim Thames Barrier.“

„Beim Sperrwerk?“

„Ja, der Kapitän eines kleinen Ausflugsdampfers hat ihre Leiche im Wasser entdeckt.“ Deacon warf einen Blick in seine Aufzeichnungen.

„Weiß man schon Genaueres zur Todesursache?“

„Noch nicht.“ Deacon zuckte entschuldigend die Schultern. „Aber so, wie es aussieht, war es Selbstmord. Vermutlich hat sie sich in der Nacht zuvor von einer Brücke in den Fluss gestürzt. Dann wurde die Leiche flussabwärts getrieben.“

„Was? Nie im Leben!“, entrüstete sich Keira. „Es war bestimmt ein schrecklicher Unfall. Sally hätte sich niemals das Leben genommen!“

„Nun, alle Hinweise deuten darauf hin“, entgegnete Deacon ruhig.

„Welche Hinweise?“, verlangte Keira zu wissen.

„Sie hat kurz vor ihrem Tod ihren Eltern noch eine SMS geschickt, in der sie sich verabschiedet und um Verzeihung gebeten hat.“

„Nein, das glaube ich nicht.“ Keira schüttelte energisch den Kopf.

„Du bist aufgeregt, aber die SMS wurde definitiv von Sallys Handy geschickt. Du kannst mir das ruhig glauben.“

„Nein, nein und abermals nein! Sie war einfach nicht der Typ dazu, sich das Leben zu nehmen. Ich kenne Sally. Das würde sie ihrer Familie niemals antun.“

„Aha, und wie gut kanntest du sie?“

Keira zögerte. „Sie war meine beste Freundin …“

Deacon zog eine Augenbraue hoch. „Du hast eine beste Freundin? Seit wann?“

„Na ja, früher waren wir die besten Freundinnen. Sally war jeden Tag bei uns. Sie war quasi meine kleine Schwester. Wir sind zusammen aufgewachsen. Das habe ich dir doch damals erzählt.“ Keira traten bei der Erinnerung an die vergangenen Zeiten Tränen in die Augen. „Sie war immer so fröhlich. Wir haben viel gelacht.“

Deacon nickte. „Ich erinnere mich. Hast du nicht ihrer Barbiepuppe den Kopf abgebissen, weil sie nicht mit dir spielen wollte?“

„Das war doch im Kindergarten!“, verteidigte sich Keira. „Das ist eine halbe Ewigkeit her. Seitdem hat sich einiges verändert. Danach waren wir – wie gesagt – sehr gute Freundinnen. Ich erinnere mich, wie oft wir uns gemeinsam weggeschlichen haben, um auf Partys zu gehen.“

„Aha. Dann ist es vermutlich auch dieselbe Freundin, mit der du seit deinem letzten Schuljahr nicht mehr redest, weil sie dir damals diesen Typen ausgespannt hat“, stellte Deacon seelenruhig fest.

Keira lief nervös hin und her. „Ja, na ja. Danach haben wir uns ein wenig entzweit, aber damit du es nur weißt, sie hat mir den Typen nicht ausgespannt, ich wollte ihn sowieso nicht. Außerdem spielt das doch jetzt keine Rolle. Denn ganz egal, was du auch denkst, Deacon. Ich bin mir sicher, dass Sally sich nicht umgebracht hat!“ Keira schwieg einen Moment. Sie fühlte sich schuldig, weil sie Sally so lange nicht gesprochen hatte. Nun war sie tot. „Wir hatten in der letzten Zeit vielleicht nicht mehr so viel Kontakt, aber man ändert sich doch nicht so komplett. Sally war immer ein positiver Mensch. Sie war die geborene Optimistin!“

Deacon verschränkte die Arme und sah Keira skeptisch an. „Und wie erklärst du dir dann die SMS? Das spricht nicht gerade für einen Unfall.“

„Dann war es eben kein Unfall, sondern ein Mord und ihr Mörder hat die SMS verschickt. Ich spüre einfach, dass es kein Selbstmord war.“ Sie fühlte sich so kribbelig, dass ihr beinahe Schnurrhaare gewachsen wären, während sie vor Deacon hin- und hertigerte.

Deacon fuhr sich entnervt mit der Hand durch die Haare. „Hör mal, Kätzchen. Auch wenn Sally früher mal deine Freundin war, so hast du doch anscheinend seit Jahren keinen großartigen Kontakt mehr zu ihr gehabt. Sonst wüsstest du vermutlich, dass Sally unter schweren Depressionen litt. Ihre Eltern haben es mir erzählt. Sie hatten Sally davon überzeugt, sich in Behandlung begeben. Leider zu spät.“

Keira blieb ruckartig stehen und starrte Deacon geschockt an. „Davon wusste ich nichts.“

„Nein, wie solltest du auch. Glaub es oder lass es sein, Keira. Aber es war ein Selbstmord. So traurig es auch ist.“

„Kann ich sie sehen?“, fragte Keira mit zitternder Stimme.

Deacon schüttelte den Kopf. „Ihre Eltern haben Sally identifiziert und die Leiche ist bereits auf dem Weg in die Gerichtsmedizin.“

„Ich will sie trotzdem sehen!“ Trotzig reckte Keira das Kinn.

„Das halte ich für keine gute Idee. Der Leichnam ist vermutlich in die Schraube eines Schiffes gelangt. Er ist übel zugerichtet und kein schöner Anblick.“

Keira spürte, wie Wut in ihr aufstieg. „Aha, und du willst mir den Anblick ersparen, oder hast du einfach Angst, du könntest Unannehmlichkeiten bekommen?“

„Rede keinen Unsinn!“, fuhr Deacon die junge Frau an.

Keira strich sich mit einer divenhaften Geste die roten Locken aus dem Gesicht. „Wer ist denn damals abgehauen, als es anfing schwierig zu werden?“

„Fang nicht wieder damit an!“, schnappte Deacon. „Ich bin aus beruflichen Gründen gegangen. Das hatte nichts mit unserer Freundschaft zu tun.“

„Natürlich nicht!“ Keiras Stimme nahm einen sarkastischen Tonfall an. „Deshalb hast du dich auch mit einer Nachricht auf meiner Mailbox verabschiedet, anstatt persönlich mit mir zu reden. Du hattest natürlich keine Angst, mir unter die Augen zu treten. Wir waren wie Geschwister und du haust einfach ab. Was ist das für eine Freundschaft, wenn du dich in all den Jahren nicht einmal gemeldet hast …“ Es tat ihr gut, ihren Zorn an Deacon abzulassen, denn ihr wurde bewusst, dass sie ihre Freundin Sally genauso im Stich gelassen hatte wie Deacon sie damals: ohne ein klärendes Gespräch. Nun war Sally tot und Keira fühlte eine Woge von unterschiedlichen Gefühlen in sich. Wut, Trauer und ein schlechtes Gewissen kämpften in ihrem Herzen miteinander.

In diesem Moment ertönte ein Handyklingeln. Deacon griff in seine Jackentasche und zog sein Smartphone raus. „Entschuldige, da muss ich rangehen.“

Keira schnaubte nur.

„Ja, hier Detective Murray. Ja, ich höre … okay, ich bin unterwegs.“ Deacon legte auf und steckte das Mobiltelefon wieder ein. „Entschuldige, ich muss los.“

„Natürlich musst du das“, sagte sie kühl. „Aber was wirst du nun wegen Sally unternehmen?“

Deacon seufzte. „Ich sagte dir doch schon, dass es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Selbstmord handelt. Natürlich werden wir noch die allgemeine polizeiliche Arbeit machen, aber im Großen und Ganzen ist der Fall so gut wie beendet.“

„Und was ist mit den anderen Wandlern?“, fragte Keira listig.

Deacon stockte und zog fragend eine Augenbraue hoch. „Was weißt du von den anderen Wandlern?“

Keira lächelte. Sie hatte ihn aufgeschreckt mit der Information, die ihr Othello gegeben hatte. „Man hört so einiges auf der Straße.“

„Ich nehme an, du redest von Danny. Dann weißt du auch, dass er obdachlos und mittellos war. Um zu überleben, hat er kleinere Diebstähle begangen und auch mal Blut gespendet. Sein Tod war eindeutig ein Unglücksfall. Das Haus, in dem er sein Lager eingerichtet hatte, ist abgebrannt. Vermutlich ist er mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen. Nichts deutete auf ein Fremdverschulden hin.“

„Und was ist mit den anderen?“, hakte Keira nach.

„Es gibt keine anderen.“ Deacon seufzte. „Eigentlich dürfte ich dir das alles gar nicht sagen, aber nur damit du Ruhe gibst, erzähle ich es dir. Wir haben zwar ein paar Vermisstenfälle, aber die sind noch in Bearbeitung und bisher gibt es keinen Hinweis, dass irgendwelche Gewaltverbrechen vorliegen. Eine junge Werwölfin ist beim letzten Vollmond mit einem Geliebten durchgebrannt. Sie hat ihrer Familie eine Karte aus Brasilien geschrieben. Also keine weiteren Unglücksfälle. Bist du jetzt zufrieden?“

„Wie auch immer, aber findest du es nicht merkwürdig, dass in den letzten Wochen bereits zwei Wandler ums Leben gekommen sind?“

„Nein. London ist eine große Stadt. Wir haben jeden Tag etliche Todesfälle und dass da auch mal Wandler darunter sind, ist völlig normal. Vor allem waren sie Angehörige verschiedener Spezies. Sie hatten nichts gemeinsam. Du siehst Zusammenhänge, wo keine sind.“

„Ich wundere mich ehrlich, Deacon. Wie kann jemand mit so wenig Instinkt Detective Inspektor werden?“

Deacon ignorierte Keiras Spitze. „Jedenfalls sind die beiden Todesfälle abgeschlossen. Es war schön, dich wiederzusehen. Trotz allem.“ Er nickte ihr zu und wandte sich zum Gehen.

„Ja, geh nur. Aber ich werde Sally nicht so einfach aufgeben. Ich werde rausfinden, was wirklich passiert ist. Ob nun mit deiner Hilfe oder ohne dich!“, rief Keira ihrem alten Freund hinterher. Wie konnte Deacon nur so stur sein und ihren Worten keinen Glauben schenken?

Keira warf sich auf einen Ledersessel und legte die Beine über die Lehne. Sie überlegte eine Weile, wie sie weiter vorgehen sollte, bis sie zu dem Entschluss kam, dass sie auf jeden Fall Einblick in die Ermittlungsakte brauchte. Sie wusste auch schon, wie sie es anstellen wollte. Beflügelt von ihrem Plan sprang sie auf die Beine und machte sich auf den Weg.