Leseprobe Gerichtet wirst du

1

Du musst ihn töten.

Rosalee Klein saß in ihrem Mercedes, starrte durch die Windschutzscheibe auf eine weißgestrichene Ziegelmauer und umklammerte das Lenkrad so fest, dass ihre Finger taub wurden. In ihrem Kopf hallte die eintönige, ruhige Stimme, und sie vernahm die Worte klar und deutlich. Es war nicht ihre eigene Stimme.

Es ist völlig logisch, und du weißt es. Töte ihn, dann hast du das alles hinter dir.

Mittlerweile hatte Rosalee sich angewöhnt, in ihr die Stimme der Gerechtigkeit zu sehen, da sie zunächst die Tatsachen aufzählte und daraufhin entschied, wie gehandelt werden musste. Sie erging sich nicht in Mehrdeutigkeiten und Behauptungen, sondern war fest und unerbittlich wie ein niedersausendes Fallbeil, vollkommen gnadenlos. „Ich will nicht“, sagte Rosalee. Zu ihrem eigenen Ekel klang sie dabei wie ein bockiges Kind, das greint, weil es ins Bett gehen soll.

Doch, du willst es. Du willst ihn sogar sehr gern töten. Denn er hat es verdient, und das weißt du. Dir fehlt es einfach nur an der Entschlossenheit und dem nötigen Mumm. Aber mir nicht, und ich habe hier das Sagen. Ich werde dir die Kraft verleihen, es zu tun. Hat er es denn etwa nicht verdient, für das zu büßen, was er getan hat? „Doch“, flüsterte sie.

Du machst es ja nicht wirklich selbst, sondern gehorchst lediglich Mächten, die du nicht kontrollieren kannst. Ist die Kugel verantwortlich für den Tod, den sie bringt? Oder sollte nicht vielmehr derjenige die Schuld auf sich nehmen, der den Abzug drückt? „Aber … meine Kinder …“

Ja, deine Kinder. Willst du, dass sie ohne Mutter aufwachsen?

Allein von der Vorstellung wurde ihr speiübel. Die süße kleine Madeline und Joel, der Rabauke. Beide waren noch nicht einmal alt genug für die Schule. Das konnte sie nicht zulassen. „Ich könnte im Gefängnis landen …“ Das wird nicht passieren. Nicht wenn du tust, was ich dir sage. Du wirst eine Heldin.

Verzweifelt schlug sie auf das Lenkrad ein. „Ich tu’s nicht! Allermindestens werde ich meine Zulassung verlieren …“ Ihr Ausbruch erstarb in einem würgenden, unartikulierten Röcheln. Sie wurde von Schmerzen geschüttelt, die ihren ganzen Körper erfassten. Qualvoll zogen sich ihre Muskeln zusammen, und sie zuckte unkontrolliert. Das war nicht der erste Anfall, den sie erlitt, aber mit Abstand der schlimmste. Wider Willen schrie sie auf, während sie von rasenden Schmerzen gepeinigt wurde, bis sie benommen und halb ohnmächtig über dem Lenkrad zusammensackte. Dir kann Schlimmeres passieren, als deine Zulassung zu verlieren, Rosalee. Steig aus dem Auto und geh in das Gebäude. Auf dich wartet eine Aufgabe. Sie tat, wie man ihr befahl.

Auf wackligen Beinen stöckelte sie auf den Eingang des Beverly Hills Imago Medical Center zu und hoffte, dass sie nicht allzu zerzaust aussah. Das große, runde Gebäude bestand ganz aus blankem Stahl und Glas und war nicht einmal ein Jahr alt. Die Klinik hatte sich auf Schönheitschirurgie und eine sehr betuchte Klientel spezialisiert, vor allem auf Schauspieler, Rockstars und andere Promis, die bereit waren, für die derzeit angesagtesten Operationen Geld auszugeben. Von der gläsernen Fassade prallten die Strahlen der kalifornischen Sonne wie Nadeln ab und stachen Rosalee ins Auge, als sie den Parkplatz überquerte. Deshalb kramte sie nach ihrer Sonnenbrille, bevor sie die Klinik betrat. Nur einer der vier Herren am Empfangsschalter grüßte sie, denn die anderen waren mit Patienten oder Telefonaten beschäftigt, doch sie ging, ohne darauf zu reagieren, an ihm vorbei. Diese Unhöflichkeit würde nicht weiter auffallen, denn wenn in Beverly Hills Leute spät hereintorkelten, eine Sonnenbrille trugen und Gespräche vermieden, bedeutete das lediglich, dass sie zu lange auf der gestrigen Party geblieben und noch nicht bereit waren, sich dem Arbeitsalltag zu stellen.

Sie schaffte es in ihr Büro, setzte sich und versuchte, ihren Atem wieder zu beruhigen. Dann griff sie nach dem Tiffany-Handspiegel auf ihrem Schreibtisch, den ihr ein Rapper geschenkt hatte, nachdem sie ihn behandelt hatte, nahm die Sonnenbrille ab und betrachtete ihr Spiegelbild. Sie war gerade einmal dreißig Jahre alt, blond, sonnengebräunt und besaß das gute Aussehen, das so viele Frauen in L.A. als Selbstverständlichkeit hinnahmen. Das lag an den Hollywood-Genen, wie sie vermutete, das Resultat von Millionen attraktiver Möchtegernstars, die Jahrzehnt um Jahrzehnt in die Stadt geströmt waren und sich vermehrt hatten. Sogar ihre eigene Mutter war eine gescheiterte Schauspielerin gewesen, und ihr Vater hatte mit seinen Drehbüchern Oscars erlangen wollen, hatte es aber nur zu sporadischen Beiträgen für irgendwelche Sitcoms gebracht. Sie hoffte, dass ihre Kinder einmal in ihre eigenen Fußstapfen treten und nicht dem Beispiel ihrer Großeltern folgen würden. Die Vorstellung, Madeline und Joel würden später einmal ein Leben führen, bei dem sie ständig zurückgewiesen wurden oder unter permanentem Erfolgsdruck standen, war ihr unerträglich. Ein Leben, bei dem man sie jederzeit vernichten konnte.

Doch im Moment hatte sie andere Sorgen. Jetzt ging es erst einmal um eine unmittelbarere Art der Vernichtung. Sie erhob sich und zog einen weißen Arztkittel über den weiten Pulli. Zwar war es draußen für das eine wie das andere zu heiß, aber wegen der allgegenwärtigen Klimaanlagen war es drinnen so angenehmer. Dann machte sie die Tür zu ihrem Behandlungszimmer auf und ging hinein. Der Raum wurde von einem mächtigen, gepolsterten und mit rotem Leder bezogenen Liegestuhl beherrscht. Auf beiden Seiten waren auffällige metallene Ablagen angebracht, und darüber hing an einem Ausleger ein Helios3000-LED-Punktstrahler, der lauerte wie das Auge eines räuberischen, roboterhaften Zyklopen. Eigentlich hätte ihr Arzthelfer bereits hier sein und alles vorbereiten sollen, aber er würde heute nicht erscheinen. Gestern Abend hatte Rosalee ihn am Telefon gefeuert. Doch selbst da hatte sie noch nicht geglaubt, dass sie tatsächlich durchziehen würde, was sie jetzt vorhatte. Wie die meisten Ärzte der Imago-Klinik war auch Rosalee eine Spezialistin, wenn auch keine Schönheitschirurgin. Ihr Feld war vielmehr die ästhetische Zahnheilkunde. Promis kamen zu ihr, um sich die Zähne begradigen, aufhellen oder gar anspitzen zu lassen. Rappenden Multimillionären passte sie auch speziell angefertigte, juwelenbesetzte Grills aus Platin oder Gold an die Zahnreihen an.

Heute allerdings nicht. Heute hatte sie einen Kunden, der sich einen Diamanten auf den Schneidezahn setzen lassen wollte, eine relativ einfache Prozedur, für die man normalerweise keine Betäubung brauchte, da der Stein einfach aufgeklebt wurde. Der Kunde hatte jedoch auf einen ganz bestimmten Stein bestanden, dessen Form nicht gerade ideal war. Deshalb würde sie erst eine Fassung in den Zahnschmelz schleifen müssen, um anschließend die überstehenden Kanten mit Füllung zu verfugen. „Der Zwei-Uhr-Termin ist da.“ Sie zuckte zusammen, aber es war nicht die Stimme. Nur die Sprechstundenhilfe, die sie über die Sprechanlage wissen ließ, dass ihre Zeit abgelaufen war.

„Schicken Sie ihn rein.“

Darauf watschelte ein Mann herein, der mit seinen über zwei Metern kaum durch die Tür passte. Er brachte bestimmt hundertfünfundzwanzig Kilo auf die Waage, bestand aber vor allem aus Muskeln. Er hatte eine flache Nase, ein breites Kinn und extrem kurzgeschorene Haare. Bekleidet war er mit einem T-Shirt der Oakland Raiders, weiten grauen Hosen und Ledersandalen. An den Mittelfingern seiner Hände prangte jeweils ein goldener Superbowl-Ring. „Tag, Frau Doktor“, sagte er. „Alles bereit, um mich noch ein bisschen schöner zu machen?“

Sie schluckte und versuchte, sein Lächeln zu erwidern. „Voll und ganz, Mr. Hampton. Nehmen Sie Platz.“ Äußerst behutsam setzte er sich, da wohl schon so manches Möbelstück unter ihm zusammengebrochen war. „Bitte, Frau Doktor, ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass Sie mich Okay nennen sollen. Mr. Hampton ist der Typ, der meine Mutter geheiratet hat.“

Okay Hampton war ein Mann, der zu vielem imstande war und mit mancherlei Berühmtheit erlangt hatte. Zunächst war er als Linebacker erfolgreich gewesen, hatte dann aber als Profi-Wrestler noch größere Erfolge gefeiert. Zu absolut beeindruckendem Ruhm war er allerdings erst als Angeklagter aufgestiegen.

Der lässige, liebenswerte Okay Hampton, der in einer ganzen Serie von Kool-Aid-Werbespots mitgespielt und der sich im Ring ‚Captain Okay‘ genannt hatte, hatte seine Frau getötet. Mit einer Hantel hatte er sie bei sich zu Hause totgeprügelt und nachher behauptet, er hätte aus Notwehr gehandelt. Nach einigen Jahren, vielen teuren Anwälten und einem sensationellen Prozess war er wieder auf freiem Fuß. Offenbar glaubten ihm die Geschworenen, dass seine Gattin eine Waffe gezogen und versucht hatte, ihn zu erschießen. Bedauerlicherweise ließ sich ihre Version des Hergangs nicht mehr in Erfahrung bringen. „Okay, äh … okay“, sagte sie. „Sie sind sich sicher, dass es dieser Stein sein soll? Auf Dauer wäre etwas mit flacherem Profil angenehmer zu tragen.“ Sie wollte nur Zeit gewinnen, denn sie wusste, dass sie ihn nicht davon abbringen konnte. Und sie wusste auch, weshalb. „Sie haben ihn doch nicht verloren, Frau Doktor? Das wäre ja mal eine Geschichte für Ihre Online-Freunde.“ Obwohl Rosalee keine Kundendaten ausplaudern durfte, folgten ihr massenhaft Leute über Twitter. Ihre Einträge dort waren zwar sehr vage, aber spannend, denn sie machte Andeutungen über die Berühmtheiten, die sie behandelte, ohne ins Detail zu gehen. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie jedoch überhaupt nicht getwittert. „Nein, nein, natürlich nicht. Hier ist er.“

„Gut. Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Größe. Ich bin ein großer Junge und habe einen großen Klunker verdient. Und mir gefällt die Vorstellung, dass ich ihn immer spüren kann und merke, dass er da ist. Wie ein Prüfstein, nicht wahr?“

Erneut schluckte sie. „Und wollen Sie wirklich Lachgas? Ich verspreche Ihnen, dass Sie keinen Schmerz spüren werden.“ Eigentlich hätte sie ihn das gar nicht fragen dürfen, denn wenn ein Kunde in der Imago-Klinik Gas wollte, dann gab man es ihm ohne Wenn und Aber und setzte es als stattlichen Extraposten auf die Rechnung. Bisher hatte sich niemand beklagt, dass er es hatte zahlen müssen. „Ja, verdammt. Ich sehe vielleicht groß und böse aus, aber wenn es um den Zahnarzt geht, bin ich eine kleine Heulsuse. Sie wollen nicht, dass ich bei meiner Größe Panik bekomme und anfange, wild um mich zu schlagen, das kann ich Ihnen versichern.“

Träge grinste er sie an, und ihre Blicke trafen sich. Für einen Sekundenbruchteil erkannte sie in ihm die Bestie, die sich hinter der leutseligen Fassade verbarg und andere Menschen wie ein wild gewordener Stier überrannte. Dieselbe Bestie, die Nancy Hampton in den letzten Momenten ihres Lebens erblickt hatte. „Kein Problem“, sagte sie.

Sie steckte ihm den Lachgasschlauch in die Nase, damit sie ungehindert an seinem Kiefer arbeiten konnte. Bevor sie den Hahn aufdrehte, stockte sie.

Verlier jetzt nicht die Nerven, sagte die Stimme. Es ist schon fast vorbei.

Daraufhin drehte sie den Hahn auf.

Was du tust, ist richtig. Er ist ein Ungeheuer, er hat seine Frau mit einem Metallteil totgeschlagen, und jetzt hat er ein breites Grinsen im Gesicht. Du hast doch den Artikel in der Variety gelesen und weißt, was er als Nächstes tun wird. Er wird seinen vorzeitigen Ruhestand beenden und als Schurke wieder in den Ring zurückkehren. Indem er als Comicversion des Bösewichts auftritt, der er in Wahrheit ist, wird er Millionen machen und die Welt dabei zum Narren halten. Damit verspottet er nicht nur die Justiz, sondern auch das Leben und sein Opfer. Jemand muss dafür sorgen, dass er dafür bezahlt.

Doch diesmal war es nicht die Stimme der Gerechtigkeit, sondern ihre eigene.

Jack saß in einem Raum voller Schrecken und Schönheit und sinnierte über Kunst. Über Kunst und die Verantwortung des Künstlers gegenüber seinem Publikum, seinem Handwerk und sich selbst.

Früher hatte Jack sich für einen Künstler gehalten. Aber das war, bevor er zum Serienmörder geworden war. Die Medien hatten ihn den ‚Closer‘ getauft. Seine Opfer stellten sich allesamt selbst als Mörder heraus, und wenn Jack mit ihnen fertig war, wurden die ungelösten Mordfälle, für die sie verantwortlich waren, auf einen Schlag aufgeklärt. Denn Jack entlockte seinen Opfern Aussagen: detaillierte Informationen darüber, was sie getan hatten, wem sie es angetan hatten, wann, wo und wie. Für gewöhnlich überließ er diese Informationen zusammen mit der Leiche des Mörders, den er zuvor gefoltert hatte, der Polizei. Trotz seiner abscheulichen Methoden war Jack kein Sadist. Bei seinem Tun empfand er kein Vergnügen, lediglich eine gewisse Zufriedenheit darüber, dass er den Angehörigen der Mordopfer einen Abschluss verschaffte. Das hatte Jack sich jedenfalls eingeredet. So lange, bis er den Typen geschnappt hatte, der für den brutalen Mord an seiner Familie verantwortlich war.

Der Mann, der Jacks Eltern, seine Frau und seinen Sohn abgeschlachtet hatte, nannte sich Patron, ‚der Mäzen‘, denn er suchte sich seine Opfer ausschließlich unter den Angehörigen von Künstlern. Jack waren Mörder untergekommen, die behaupteten, ihre Taten wären Kunst. Der Patron jedoch hatte andere Beweggründe. „Ich schaffe keine Kunst“, hatte er Jack mitgeteilt. „Ich schaffe Künstler.“

Und die zutiefst erschreckende Tatsache war, dass es stimmte.

Was Jack umgab, hatte er den Anstrengungen des Patrons zu verdanken. Es waren Werke eines Künstlers, dem Geliebte, Eltern und Freunde auf grausame, albtraumhafte Weise geraubt worden waren. Der Patron hatte bevorzugt in den Ferien und an Feiertagen zugeschlagen, wenn sich Familien und Partner besonders nahe waren. Die Leichen der Opfer hatte er so einfallsreich drapiert, dass die emotionale Wirkung auf den, der sie fand, möglichst groß war und dabei handelte es sich meist um den Künstler selbst. So hatte Jack seine Familie an Weihnachten ermordet aufgefunden.

Seither feierte er Weihnachten nicht mehr. Der Patron war ein Ungeheuer mit einer unmenschlichen Intelligenz, die umso schrecklicher war, da er die menschliche Natur so klar durchschaute. Denn oft sollte er recht behalten. Zwar stürzten die meisten der Künstler, denen der Patron so etwas angetan hatte, in einen Strudel der Selbstzerstörung, doch die wenigen, die diesen überlebt hatten, schafften den Sprung von der Mittelmäßigkeit zum Genie. Nun war Jack von ihren Werken umgeben, die Zeugnis von der Widerstandsfähigkeit des schöpferischen Geistes ablegten. Es war die Privatsammlung des Patrons.

Schon jetzt war sie etliche Millionen wert, und Jack vermutete, dass man einige Kunstwerke aus der Sammlung bald als unbezahlbar erachten würde.

Jack wusste jedoch, dass das nicht stimmte, denn er kannte den Preis sehr genau.

Der Patron war dem Closer nicht entkommen. Am Ende hatte Jack ihn aufgespürt und ihm dieselben Fragen gestellt, die er auch den anderen gefangenen Mördern gestellt hatte … aber er hatte keine Antworten mehr bekommen. Nachdem er ihn zwanzig Minuten lang verhört hatte, hatte der Patron einen Herzschlag bekommen und war gestorben.

Jack begutachtete das Kunstwerk vor ihm, eine Neoninstallation, die an Drähten von der Decke hing. Es stellte ein Labyrinth von Wörtern aus gebogenem, leuchtendem Glas dar. Die Buchstaben waren so miteinander verbunden, dass die Wörter ineinander übergingen und sich gegenseitig umschlangen; Verlust und Freude und Schmerz und Dank und Haut und süß und Blut, sie alle waren unentwirrbar ineinander verflochten. Dabei waren die Wörter am Rande des Knäuels am leichtesten zu lesen, während die in der Mitte nur noch ein Wirrwarr aus Lichtern darstellten. Es war schön und ergreifend. Jedes Mal, wenn Jack es betrachtete, wollte er es mit einem Schlosserhammer zertrümmern.

„Hey.“ Nikki, Jacks Partnerin, stand mit einer Flasche Wasser in der Tür. Die beiden waren kein Liebespaar, und statt romantischer Gefühle verbanden sie Gewalt und Schmerz. Sie trug weite graue Trainingshosen, Laufschuhe und ein wenig körperbetontes schwarzes T-Shirt. Vom Laufen war ihr blondes Haar schweißnass. Die Mittdreißigerin besaß den robusten Körperbau einer Athletin, markante Gesichtszüge und eisblaue Augen. Bevor sie Jack kennengelernt hatte, hatte sie sich mit Blowjobs durchgeschlagen. „Hat Deslane sich zurückgemeldet?“

„Ja.“ Rene Deslane war einer der Künstler, den der Patron im Visier gehabt hatte. „Hat mir eine E-Mail geschickt und gemeint, ich solle mich zum Teufel scheren. Hat mir nicht geglaubt, dass ich der bin, für den ich mich ausgebe, oder dass ich getan habe, was ich behaupte. Er hat mir einfach nicht geglaubt, Punkt.“

„Du hast ihm die Informationen zukommen lassen, oder?“ Sie nahm einen ordentlichen Schluck Wasser. „Ja. Aber das ist ziemlich mager, Nikki … Wir haben einfach nicht so viele harte Fakten, wie wir sie aus den anderen herausgekitzelt haben.“

„Das ist nicht deine Schuld, Jack. Woher sollten wir wissen, dass er einfach so den Löffel abgeben würde?“ Sie hatten dem Patron den Ausweis abgenommen und seine Leiche in eine Seitengasse in Vancouvers East Side geworfen. Da er eines natürlichen Todes gestorben war, brauchten sie sich nicht die Mühe zu machen, ihn ganz verschwinden zu lassen. Nur ein einziger Mensch konnte sie in Verbindung mit dem Toten bringen, nämlich derjenige, auf den der Patron seine Schandtaten hatte abwälzen wollen. Würden sie diesem aber die Beweise vorlegen, dass der Patron ihm eine Mitschuld an den Morden hatte unterschieben wollen, wäre es ein Leichtes, sein Schweigen zu erlangen. So erdrückend das Beweismaterial war, so wenig sagte es über die Leben derer aus, die der Patron vernichtet hatte. Jack und Nikki waren nun zwar im Besitz der Kunstsammlung, aber die schuf nur eine Verbindung zu denjenigen Fällen, bei denen der Patron erfolgreich war. „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, sagte Jack. „Ich meine, mit denen, die sein Prozedere nicht überstanden haben. Ich weiß noch nicht einmal, wie ich sie ausfindig machen soll. Manche sind tot, andere sind Junkies oder Alkoholiker oder sitzen in der Klapse. Und die sollten am dringendsten erfahren, dass er nicht mehr ist.“

„Wir können sie aufspüren.“

„Können wir das? Er hat sich nicht auf ein bestimmtes Alter, Geschlecht oder auf eine Hautfarbe beschränkt. Er ist im ganzen Land herumgereist und hat nie zweimal dieselbe Methode angewandt.“

„Ja, aber er ging auch nicht gerade subtil vor. Hat bevorzugt in den Ferien zugeschlagen und die Leichen immer bizarr hergerichtet. Mit so einem Markenzeichen können sie doch nicht so schwer aufzufinden sein.“ „Vielleicht nicht. Aber selbst wenn ich sie finde, was soll ich ihnen sagen? Bislang kann ich ja nicht einmal diejenigen überzeugen, bei denen wir was Handfestes haben.“ Jack hielt inne und fuhr sich mit der Hand übers stoppelige Kinn. „Und ich bin nicht einmal so sicher, ob wir es überhaupt versuchen sollen.“

Nikki leerte die Flasche vollends und stellte sich Jack gegenüber. „Ja, das kann ich verstehen. Wenn es jemand hinkriegt, die beschissenste Tragödie seines Lebens in seine Kunst einfließen zu lassen, seinen Schmerz nutzt, um etwas Schönes zu erschaffen, dann ist das doch ein Gewinn, nicht wahr? Solche Geschichten kommen doch immer in den Sechs-Uhr-Nachrichten als Beispiel dafür, zu was der Mensch alles fähig ist.“ Sie beäugte die Installation, die Jack die ganze Zeit angesehen hatte. „Aber wir wissen es besser. Wir wissen, dass das von Anfang an geplant war. Dieser ganze Prozess Schock, Trauer, Kreativität war nichts als der Gang durch das Labyrinth eines Verrückten.“

„Mithilfe ihrer Kunst haben sie das Schlimmste, was ihnen jemals widerfahren ist, überwunden“, sagte Jack. „Sie verdienen es, die Wahrheit zu erfahren. Doch wie soll ich ihnen die beibringen? Wie kann ich es ihnen sagen, wenn die Wahrheit womöglich ihre Errungenschaften zunichtemacht oder sie gar selbst zugrunde richtet?“

„Ich weiß nicht, Jack.“ Nikki schüttelte den Kopf. „Fragen waren schon immer deine Spezialität, nicht wahr?“

2

Terrance Laramie, der Beamte der Mordkommission, musterte die Frau, die ihm im Verhörzimmer gegenübersaß. Sie war dreißig, gut aussehend, verheiratet und hatte zwei Kinder. Dazu hatte sie einen ordentlichen Job und war nicht vorbestraft. Verrückt wirkte sie eigentlich nicht, nur ein bisschen benommen. Das würde ihm vermutlich genauso gehen, wenn er eben während einer Zahnbehandlung einen Mann umgebracht hätte.

„So, Mrs. Klein“, sagte er mit freundlicher Stimme. „Gehen wir das der Reihe nach durch, einverstanden?“

„In Ordnung.“ Sie klang gedämpft und ein wenig zittrig. Ängstlich, aber auch noch etwas anderes. Erleichtert? „Mr. Hampton hatte einen Termin bei Ihnen. Sie haben ihn bereits gekannt, nicht wahr?“

„Ja. Ich hatte ihn zuvor schon ein paarmal behandelt. Das letzte Mal war er da, um den Diamanten anzupassen, den ich ihm einsetzen sollte.“

„Ach ja, der Diamant. Ein ziemlicher Klunker, was?“

„Er war … ansehnlich, ja.“

„Hat es damit irgendwelche Probleme gegeben?“

„Eigentlich nicht. Der Zahnschmelz bot eine ebenmäßige, große Fläche. Ich musste eine Vertiefung hineinschleifen, um ihn richtig einsetzen zu können, aber dabei drang ich längst nicht bis zum Nerv durch.“

„Beschreiben Sie mir das, Schritt für Schritt.“

Ihr Atem ging gleichmäßiger, und ihre Stimme zitterte nicht mehr. Wenn es um die technischen Details ihres Broterwerbs ging, fühlte sie sich sicherer. „Ich habe ihm eine Dosis Lidocain in den Oberkiefer gespritzt, um ihn zu betäuben. Als die Betäubung wirkte, habe ich die Fassung mit einem Wolframkarbidbohrer eingefräst.“ „Klingt schmerzhaft.“

Sie runzelte die Stirn. „Nein, er hat davon nichts gespürt. Wie ich bereits sagte, war der ganze Bereich narkotisiert.“

„Na schön. Und dann?“

„Ich habe den Zahn mit Watte isoliert und ein Ätzmittel aus siebenunddreißigprozentiger Phosphorsäure aufgetragen. Nach zehn Sekunden habe ich den Auftrag abgetupft …“

„Nur zehn Sekunden? Heftiges Zeug. Das muss höllisch brennen, wenn man es auf die Haut kriegt.“

„Nein, nicht sonderlich. Für eine Säure ist sie ziemlich schwach, ist sogar in Coca-Cola enthalten. Wenn man sie direkt auf die Haut bekommt, kann es zu einer leichten Reizung führen, aber sonst passiert nichts.“

„Okay. Weiter?“

„Ich habe die Fläche abgespritzt und getrocknet und das Ganze noch einmal wiederholt. Dann habe ich eine dünne Schicht Füllung aufgetragen und ließ sie ungefähr zwanzig Sekunden unter der Polymerisationslampe anhärten. Auch auf die Unterseite des Diamanten habe ich Füllung aufgetragen und ihn mithilfe einer mit Wachs besetzten Applikationshilfe in die Fassung gesetzt. Das Ganze habe ich mit der Lampe ausgehärtet. Anschließend habe ich die Fugen mit Füllung geschlossen, sie ausgehärtet und noch mal einige Schichten aufgetragen, damit es besser hält. Zwischen jeder Schicht bestrahlte ich die Füllung mit der Polymerisationslampe. Schließlich habe ich den Zahn abgespült, und das war’s.“

„Erledigen solche Dinge wie Abspülen nicht normalerweise Arzthelferinnen?“

Sie zögerte. „Ich … habe gerade keinen Arzthelfer. Den letzten musste ich entlassen, das passierte ziemlich unvermittelt.“

„Ach? Wieso das?“

„Wir sind auf persönlicher Ebene aneinandergeraten. Zwischen uns hat einfach die Chemie nicht gestimmt.“ „Normalerweise hätte Ihr Arzthelfer das Gas verabreicht, ist das richtig?“

Diesmal zögerte sie um einiges länger. „Ja, das stimmt.“ „Nur heute nicht. Heute haben Sie es selbst verabreicht.“ Sie schluckte. „Ja.“

„Wann haben Sie gemerkt, dass Mr. Hampton nicht mehr atmete?“

„Ich … ich bin mir nicht sicher.“

„Ich nehme an, dass Sie es erst nach der Behandlung festgestellt haben.“ Er lächelte. „Zumindest glaube ich nicht, dass Sie die Behandlung fortgesetzt hätten, wenn Ihnen bewusst gewesen wäre, dass er tot war, nicht wahr?“ „Nein. Natürlich nicht.“

„Und was haben Sie dann gemacht?“

„Ich habe das Gas abgedreht.“

„Auch den Sauerstoff?“

„Ja. Beide Gase zusammen sind entzündbar.“

„Sicher, das ist sinnvoll.“ Er ließ einige Sekunden verstreichen. „Mit dem, was nun folgt, habe ich so meine Probleme.“

„Ich brauchte ein wenig Zeit, um nachzudenken.“

„Aha. Darum haben Sie die Klinik verlassen, sind in Ihr Auto gestiegen und nach Santa Monica gefahren. Direkt nach Marina del Rey, wo Sie ein kleines Boot gemietet haben, mit dem Sie fünfzehn Meilen weit auf den Pazifik hinausgefahren sind. Dort haben Sie sich nicht lange aufgehalten, sondern sind schnurstracks wieder zurückgekehrt, geradewegs zurück in die Klinik, wo Ihre Mitarbeiter die Leiche bereits aufgefunden hatten und die Polizei wartete. Das musste Ihnen bewusst gewesen sein.“ „Ich … ja.“

Laramie schüttelte den Kopf. „Weshalb sind Sie zurückgekommen? Verstehen Sie mich nicht falsch, denn man hätte Sie so oder so gefunden, da das Boot einen GPS-Sender hatte. Aber Sie hätten es bis nach Mexiko schaffen können.“

„Ich bin ja nicht geflohen, sondern brauchte nur ein bisschen Zeit, um nachzudenken. Um einen klaren Kopf zu bekommen. Das ist alles.“

„Aha. Aber wissen Sie, mir fällt es einfach schwer zu glauben, dass eine professionelle Medizinerin wie Sie es fertigbringt, eine solche Behandlung durchzuziehen, ohne zu merken, dass der Patient nicht mehr atmet. Meines Wissens führt Lachgas ja nicht einmal zu Bewusstlosigkeit, oder?“

„Nein, es ist kein Narkotikum im eigentlichen Sinne, sondern dient nur dazu, den Patienten zu entspannen. Wir mischen es mit Sauerstoff, um zu vermeiden, dass …“ Sie stockte.

„Dass Unfälle passieren. Ja. Aber sie kommen trotzdem vor, nicht wahr? Wenn eine Zahnärztin zum Beispiel nur einen Gashahn aufdreht anstatt beide. Wenn ein Mann, der berühmt ist, weil er seine Frau totgeprügelt hat, im Behandlungsstuhl erstickt, während ihm eine Zahnärztin  eine Frau wohlgemerkt  den Verlobungsring seiner verstorbenen Gattin ins grinsende Gesicht klebt. Stimmt’s?“

„Ich hatte keinerlei Veranlassung, Mr. Hampton etwas Böses zu wünschen“, sagte sie leise. „Ich habe Familie und einen guten Beruf. Wieso sollte ich all das aufgeben? Mrs. Hampton habe ich gar nicht gekannt. Was ihr zugestoßen ist, ist zwar schrecklich, aber schließlich hat das Gericht ihren Mann für unschuldig befunden. Ich bin keine … ich habe nicht das Recht, ihn zu verurteilen. Es war ein Missgeschick, nichts als ein dummes Missgeschick.“

„Ja, das war es.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich würde nur zu gern wissen, worin das Missgeschick, das Sie begangen haben, genau bestand …“

Der Patron war nicht der einzige Mörder gewesen, den Jack zur Strecke gebracht hatte. Die letzten fünf allerdings hatten sich von den anderen unterschieden: Road Rage, Gourmet, Djinn-X, Deathkiss und der Patron waren allesamt Mitglieder einer Online-Community von Serienkillern, die sich ‚das Rudel‘ nannte. Jack hatte den Webmaster, Djinn-X, umgebracht und seine Internetseite, das Jagdrevier, übernommen. Indem er sich selbst als Djinn-X ausgegeben hatte, war es ihm gelungen, die anderen Mitglieder einen nach dem anderen zu ködern und in eine Falle zu locken.

Inzwischen waren sie alle tot, und obwohl die Seite nur von angemeldeten Mitgliedern besucht werden konnte, hatte Jack sie nicht vom Netz genommen. Denn Djinn-X hatte auch ein paar andere Seiten eingerichtet und so verlinkt, dass potenzielle Neuzugänge den Weg ins Jagdrevier finden konnten, während Möchtegernmörder ausgesiebt wurden. Die letzte Bewährungsprobe, die dafür sorgte, dass sich wirklich nur anmeldete, wer auch bereit war, jemand Wildfremden zu töten, war so simpel wie narrensicher: Djinn-X fuhr in die Stadt, in der ein Bewerber lebte, holte sich dort Fingerabdrücke und Visitenkarte einer Nutte und setzte den Probanden auf sie an. Wenn Djinn-X innerhalb von ein paar Tagen in einem toten Briefkasten eine abgetrennte Hand vorfand, deren Fingerabdrücke übereinstimmten, hatte das Rudel ein neues Mitglied. Wenn nicht, änderten sie sämtliche Passwörter, und der Bewerber würde nie wieder von ihnen hören.

Nun steckte das Jagdrevier in dem Rechnerturm neben Jacks Schreibtisch. Allerdings barg es keine Geheimnisse mehr für ihn, denn Djinn-X hatte ihm Zugangscodes zu sämtlichen verschlüsselten Dateien gegeben, und er hatte sie alle gelesen. Die darin angesammelte Menge an Bosheit war niederschmetternd. Im Jagdrevier fand sich alles, von expliziten Beschreibungen von Morden und Verstümmelungen bis zu Listen mit geeigneten Orten, um Leichen zu entsorgen, die wie Sammelkarten unter den Mitgliedern getauscht wurden. Von langen Schimpftiraden auf die Opfer bis zu kalt berechneten Jagd- und Tötungsmethoden. Wahrscheinlich lieferte das Jagdrevier mehr Einsichten in das Gehirn eines Mörders als jede andere Quelle. Jack beabsichtigte, die Daten einem Institut für Kriminalpsychologie zu vermachen, wenn er sie nicht mehr brauchte.

Doch so weit war es noch nicht.

Er setzte sich vor den Rechner und fuhr ihn das erste Mal seit einer Woche wieder hoch. Nachdem der Computer die Startprotokolle durchlaufen und eine Verbindung zum Internet hergestellt hatte, meldete er Jack, dass eine Nachricht auf ihn wartete.

Bei der Betreffzeile lief es ihm kalt über den Rücken.

ICH WEISS, WER SIE SIND.

Er öffnete die Mail in der Hoffnung, dass es sich nur um einen Bluff handelte. Aber es war keiner.

Nein, ich kenne Ihren richtigen Namen nicht, und der interessiert mich auch nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass Sie nicht Djinn-X sind, der ursprüngliche Webmaster dieser Seite. Ich glaube vielmehr, dass dieser tot ist, genau wie einige andere Mitglieder.

Sie sind der Closer. Sie haben die anderen getötet. Bitte glauben Sie mir, wenn ich Ihnen versichere, dass ich Sie dafür bewundere. Mir geht es nicht darum, irgendjemanden zu rächen oder Sie an die Polizei zu verpfeifen. Eigentlich ist das viel eher so etwas wie eine Fan-Mail. Allerdings hoffe ich, dass Sie mich nicht einfach als einen Bewunderer, sondern als Gleichgestellten betrachten. Aber lassen Sie uns die Heldenverehrung erst hinter uns bringen, einverstanden? Man braucht schon einen verdammt scharfen Verstand, um auf die Existenz einer Online-Community von Serienkillern zu kommen auch noch einen Weg zu finden, sie zu isolieren und auszuschalten, war jedoch wahrhaft genial. Obwohl auch ich die Existenz einer solchen Internetseite vermutete, brauchte ich Monate intensivster Recherche, um sie zu finden. Und dann, als ich mich gerade daranmachte, mich in die Community einzuschleusen, war sie plötzlich gesperrt.

In dem Augenblick wusste ich natürlich, was geschehen war. Sie waren mir zuvorgekommen. Das nehme ich Ihnen nicht übel, denn ich gebe zu, dass ich überhaupt nur nach dieser Seite geforscht habe, um bei Ihnen Eindruck zu schinden. Ich hoffte, sie Ihnen als eine Art Arbeitsprobe präsentieren zu können, um mich Ihnen zu beweisen. Der Umstand, dass Sie mir zuvorgekommen sind, bedeutet, dass ich noch viel zu lernen habe. Immerhin hat sich dadurch ein anderes Problem für mich erübrigt, denn nun habe ich eine Möglichkeit gefunden, Sie direkt zu kontaktieren. Wie Sie vielleicht schon herausgelesen haben, habe ich Ihren Werdegang seit einiger Zeit mit großer Begeisterung verfolgt. Doch um Kontakt mit Ihnen aufzunehmen, hätte ich höchstens eine Nachricht auf den Hintern eines Psychopathen pinnen können. Nun aber haben wir einen sicheren Ort, um uns auszutauschen. Falls es nicht klargeworden sein sollte: Ich verstehe, was Sie tun, und heiße es gut. Sie befreien die Welt von Infekten, von Krankheiten auf zwei Beinen. Indem Sie gewaltige Risiken für Leib und Leben auf sich nehmen, machen Sie die Welt ein Stück besser und sicherer. Dabei ist Ihnen bewusst, dass der einzige Dank, den Sie jemals dafür erhalten werden, darin besteht, dass man Sie ins Gefängnis steckt oder eines dieser Ungeheuer Sie umbringt. Sie zeigen ein erstaunliches Maß an Hingabe und Edelmut. Ich ziehe den Hut vor Ihnen, Sir.

Und ich möchte Ihnen helfen.

Die Mail war mit keinem Namen unterzeichnet, aber die Absenderadresse lautete: remote@cerebral.org. Lange starrte Jack auf die Adresse, bevor er die Finger auf die Tastatur legte und eine Antwort tippte.

Remote. Ich kenne Sie nicht, und Sie kennen mich nicht. Im Internet kann jeder alles sein: Mörder, Bulle oder Aufschneider. Und es gibt keine Möglichkeit, dies herauszufinden. Was Sie schreiben, geht nicht über eine Reihe Vermutungen hinaus, die durch ein paar Indizien miteinander verbunden sind. Vielleicht sind Sie derjenige, der Sie zu sein behaupten, vielleicht auch nicht. Dasselbe trifft auf mich zu. Auf jeden Fall müssen Sie mir schon mehr bieten, wenn Ihnen daran gelegen ist, diese Konversation ernsthaft weiterzuführen.

Jack zögerte, bevor er die E-Mail abschickte. Remotes Mail las sich genau so, als habe sie ein verdeckt ermittelnder Polizist geschrieben, und im Jagdrevier gab es mehr als genug Beweise, um Jack hinter Gitter zu bringen. Angeblich war die Webseite zwar nicht erreichbar, aber Jack hatte sie nicht selbst eingerichtet und konnte denjenigen, der sie eingerichtet hatte, auch nicht mehr fragen.

Trotz allem klickte er auf den Senden-Button. Im Nachhinein war er sich nicht mehr sicher, weshalb er es getan hatte. Doch er erinnerte sich an etwas, was Djinn-X gesagt hatte, als er ihn ausgequetscht hatte.

Jeder braucht sein Rudel, Mann. Ich wusste, dass meines irgendwo da draußen war, also musste ich es nur noch finden. Hatte jemand nun etwa Jack gefunden?

Die Antwort kam schneller, als er erwartet hatte, keine zwanzig Minuten später. Jack aktivierte daraufhin die Chat-Funktion auf der Seite, damit sie die Textnachrichten schneller austauschen konnten.

REMOTE: Sie haben allen Grund, misstrauisch zu sein. Schließlich haben Sie die ursprünglichen Mitglieder dieses Forums offenbar hinters Licht geführt, genauso gut könnte Ich nun also versuchen, Sie hinters Licht zu führen. Das nehme ich Ihnen nicht übel.

Zum Problem der Authentizität: Ich nehme an, dass die Mitglieder dieser Seite etwas tun mussten, um ihre Vertrauenswürdigkeit unter Beweis zu stellen, und man kann sich leicht vorstellen, worin ein solcher Beweis bestanden hat. Für uns sieht die Sache heikler aus, denn wir töten nicht wahllos.

Ja, ich habe absichtlich ‚wir‘ geschrieben, denn auch ich habe bereits Erfolge zu verzeichnen.

Wir haben jedoch sehr unterschiedliche Herangehensweisen. Während Ihre Methoden den Boulevardblättern bereits Anlass zu Spekulationen geben, sind meine um einiges subtiler. Meine Taten sind regelrecht unsichtbar. Und wenn ich für meine Ergebnisse auch keine Lorbeeren einheimse, zumindest nicht öffentlich, so sind sie doch nicht von der Hand zu weisen.

Ich veranlasse andere, für mich zu töten. Aus der Ferne. Remote, Sie wissen schon … Bewusstseinskontrolle ist viel effizienter als Folter, meinen Sie nicht auch?

Jack hatte, ohne es zu merken, die Luft angehalten und entließ sie jetzt in einem langen Seufzer. „Wieder so ein Verrückter“, grummelte er vor sich hin, und er fühlte sich so … ja, wie nur? Enttäuscht?


CLOSER: Vermutlich ist es effizienter. Wie genau machen Sie das?

Jack widerstand dem Drang, eine Liste mit möglichen Methoden anzuhängen Telepathie? Hypnosestrahlen? Gehirnimplantate, die das Verhalten beeinflussten? , denn er wollte herausfinden, wie durchgeknallt dieser Bewunderer tatsächlich war. Doch die Antwort überraschte ihn.

REMOTE: Ich will meine Geheimnisse nicht alle auf einmal preisgeben. Aber wie Sie schon sagten, kann man im Internet praktisch alles behaupten, deshalb verrate ich Ihnen, was Sie wissen wollen. Stichhaltige Beweise. In der Bay Area in San Francisco gibt es einen Anwalt namens Vaughn Rycroft. Der ist ziemlich bekannt, wenn auch nicht sehr geschätzt. Zu seinen Klienten gehört die Black Triangle Gang. Die haben sich auf Menschenhandel spezialisiert und schleusen junge Frauen aus den ehemaligen Ostblockstaaten In die USA. Für den Transport müssen die Frauen bezahlen, indem sie In ihrer neuen Heimat als Prostituierte arbeiten. Mr. Rycroft sind diese Vorgänge vollkommen bewusst.

In drei Tagen wird er den Anführer der Black Triangle Gang und einige der wichtigsten Kapos ermorden, und es wird hinterher keine Beweise geben. Dann reden wir wieder miteinander …