Leseprobe Gestohlene Küsse des Gentleman

1. Kapitel

Derbyshire

Montag, 16. Februar 1818

Mirabel Oldridge kam aus den Stallungen und lief den Schotterweg hinauf in Richtung Oldridge Hall. Als sie in den Garten einbog, stürmte der Hausdiener Joseph zwischen einigen Büschen hervor auf den Weg.

Man sah Miss Oldridge keineswegs an, dass sie kürzlich ihren einunddreißigsten Geburtstag begangen hatte. Besonders in diesem Moment – ihr rotgoldenes Haar war vom Wind zerzaust, ihre milchweißen Wangen schimmerten rosig, ihre blauen Augen funkelten lebhaft – wirkte sie überaus jung.

Dennoch war sie in jeder Hinsicht das Familienoberhaupt, und sobald ein Problem auftauchte, war es Miss Oldridge – und nicht ihr Vater –, an die sich alle Bediensteten wandten. Das mochte daran liegen, dass ihr Vater oft die Ursache des Problems war.

Aus Josephs plötzlichem Erscheinen und seinem atemlosen Zustand schloss sie, dass es Schwierigkeiten gab, noch bevor er auch nur ein Wort gesprochen hatte – was er aber schließlich in grammatikalisch bedenklicher Weise tat.

„Wollen Sie so freundlich sein, Miss“, fing er an, „da wär’ ein Gentleman, der wo Mr. Oldridge sprechen will. Der wo einen Termin hat, sagt er. Hat er auch, sagt Mr. Benton, weil das Buch von unserm Herrn offen gewesen ist und Mr. Benton es so klar wie am helllichten Tag gesehen hat, in der Schrift vom Herrn selbst.“

Wenn Benton, der Butler, sagte, dass es diesen Kalendereintrag gab, dann gab es ihn wohl, so unwahrscheinlich das auch war.

Mr. Oldridge vereinbarte nie mit irgendjemandem Termine. Seine Nachbarn wussten, dass sie ihre Besuche mit Mirabel absprechen mussten, wenn sie ihren Vater zu sprechen wünschten. Ging es um das Anwesen, musste man sich an Oldridges Verwalter Higgins wenden oder aber auch an Mirabel, die ohnehin ein wachsames Auge auf die Arbeit des Verwalters hatte.

„Möchte der Gentleman nicht lieber mit Higgins sprechen?“, fragte sie.

„Mr. Benton sagt, das schickt sich nicht, Miss, weil Mr. Higgins unter der Würde von dem Gentleman wär’. Ein Mr. Carsington, dem sein Vater der Earl von irgendwas sein tut. Mr. Benton hat gesagt von was. Irgendein gate, nur Billingsgate war’s nicht oder irgendeins von den andern aus London.“

„Carsington?“, wiederholte Mirabel. „Das ist der Familienname des Earl of Hargate.“ Eine alteingesessene Familie aus Derbyshire – aber keine, mit der sie gesellschaftlichen Umgang zu pflegen gewohnt war.

„Ja, das war’s, Miss! Er ist der Gentleman, den wo sie in Waterloo so heldenhaft niedergetrampelt haben, und deshalb hat Mr. Benton ihn in den Salon gebracht. Mit allem Respekt, Miss, aber es tut gar nicht geh’n, dass er sich da jetzt die Füß’ in den Bauch steht, als ob er niemand Besonders wär’.“

Mirabel sah an sich hinunter. Es hatte im Laufe des Vormittags immer wieder mal geregnet. Der Rock ihres recht durchnässten Reitkleides war von dicken Schlammspritzern übersät, und dank des kurzen Fußmarsches zu den Stallungen und zurück waren auch ihre Stiefel schlammverkrustet. Ihr Haar und ihre Haarnadeln waren unlängst getrennte Wege gegangen, und sie wagte kaum, sich Gedanken über den Zustand ihres Hutes zu machen.

Sie überlegte, was sie tun sollte. Es erschien ihr höchst despektierlich, derart verschmutzt vor dem Besucher zu erscheinen. Doch wenn sie sich erst zurechtmachte, würde das Ewigkeiten dauern, und man hatte den Gentleman – den berühmten Helden von Waterloo – bereits über Gebühr warten lassen.

Sie raffte ihre Röcke zusammen und rannte zum Haus.

 

Alistair wäre jetzt gern anderswo gewesen als in Derbyshire. Dem Landleben konnte er keinen Reiz abgewinnen. Er gab der Zivilisation den Vorzug, und damit meinte er London.

Oldridge Hall lag fern aller Zivilisation in einem gottverlassenen Winkel am Rande von Derbyshires gottverlassenem Peak.

Gordmor hatte ihm vom Krankenbett aus mit heiserer Stimme sehr trefflich die Reize des Peaks beschrieben: „Touristen, die malerische Aussichten und malerische Bauern bestaunen. Eingebildete Kranke, die sich an Mineralquellen laben und in mineralischen Bädern planschen. Erbärmliche Straßen. Kein Theater, keine Oper, keine Klubs. Es bleibt beim besten Willen nichts zu tun, als die Aussicht – Berge, Täler, Felsen, Bäche, Kühe und Schafe – zu bestaunen oder aber die Bauern, Touristen und Gebrechlichen.“

Mitte Februar entbehrte die Gegend sogar dieser Reize. Die Landschaft war von einem einheitlich kargen Braun und Grau, das Wetter bitterkalt und nass.

Aber Gordmors – und damit auch Alistairs – Problem war hier angesiedelt, und seine Lösung konnte nicht bis zum Sommer warten.

Oldridge Hall war ein hübsches altes Herrenhaus, das im Laufe der Jahre erheblich ausgebaut worden war. Es war allerdings höchst unwegsam gelegen am Ende einer langen Strecke von etwas, das man in dieser Gegend scherzhaft als „Straße“ bezeichnete: ein schmaler, holperiger Fahrweg, auf dem bei trockenem Wetter der Staub die Herrschaft übernahm und bei Regen der Schlamm.

Alistair war davon ausgegangen, dass Gordmor mit seiner Beschreibung der Straßenverhältnisse übertrieben habe. Tatsächlich jedoch hatte Seine Lordschaft untertrieben. Alistair konnte sich keine Gegend in ganz England vorstellen, die eines Kanals dringender bedurft hätte.

Nachdem er die Gemäldesammlung im Salon, in der sich einige vortreffliche Szenen aus Ägypten fanden, und das Muster des Teppichs eingehend begutachtet hatte, ging Alistair zu den Flügelfenstern hinüber und sah hinaus. Durch die Glastüren bot sich ein Ausblick auf die Terrasse, die zu einem reich bepflanzten Garten führte, hinter dem sich eine weitläufige, sanft ansteigende Parkanlage erstreckte, hinter der wiederum sich malerische Berge und Täler erahnen ließen.

Ihm entging jedoch jede einzelne dieser Naturschönheiten. Er sah nur ein junges Mädchen.

Es rannte die Treppe zur Terrasse herauf, den Rock bis zu den Knien gerafft, den Hut schräg auf dem Kopf, und ein wilder Haarschopf von der Farbe des Sonnenaufgangs tanzte um sein Gesicht.

Während er noch ganz in den Anblick ihres Haars versunken war – ein wirbelnder Feuerball, als eine Windbö es erfasste –, eilte sie über die Terrasse. Alistair war ein ungehinderter Blick auf ihre schlanken Fesseln und ihre wohlgeformten Waden vergönnt, bevor sie ihren Rock herabfallen ließ, um ihre Beine zu bedecken.

Als er ihr die Tür öffnete, stürmte sie herein und brachte Schlamm und Regen mit sich, doch das schien sie so wenig zu kümmern wie einen Hund.

Sie lächelte.

Ihr Mund war sehr voll, und so kam es Alistair vor, als würde ihr Lächeln kein Ende nehmen und ihn völlig umfangen. Ihre Augen waren blau – blau wie das Licht der Dämmerung –, und für einen Augenblick schien sie ihm der Anfang und das Ende von allem zu sein, vom morgensonnigen Strahlenkranz ihres Haars bis zum dämmrigen Blau ihrer Augen.

In diesem einen Augenblick konnte Alistair an nichts anderes mehr denken, nicht einmal an seinen eigenen Namen, bis sie ihn aussprach.

„Mr. Carsington“, sagte sie, und ihre Stimme war kühl und klar mit einem samtweichen dunklen Unterton.

Haare wie der Sonnenaufgang, Augen wie die Dämmerung. Und eine Stimme wie die Nacht.

„Ich bin Mirabel Oldridge“, fuhr sie fort.

Mirabel. Das bedeutete wunderbar. Und sie war wirklich …

Im Nu hatte Alistair sich wieder gefangen, bevor sein Verstand sich ganz verlor. Keine Poesie, ermahnte er sich. Keine Luftschlösser.

Er war geschäftlich hier, und das durfte er nicht vergessen.

Er konnte sich nicht erlauben, seine Gedanken abschweifen zu lassen, auch nicht für einen Moment, um bei dieser Frau zu verweilen … ganz gleich, wie zart ihre Haut war oder wie herzerwärmend ihr Lächeln … Wie die ersten lauen Frühlingslüfte nach einem langen, dunklen Winter …

Keine Poesie. Er sollte sie lieber betrachten wie ein … Möbelstück. Das sollte er.

Wenn er sich ein weiteres Mal ins Unglück stürzte – und ein solches war unvermeidlich, sobald er dem anderen Geschlecht zu viel Aufmerksamkeit widmete –, so würde er diesmal nicht nur wie üblich Enttäuschung, Herzschmerz und Kummer zu erleiden haben.

Diesmal würde seine Unbesonnenheit auch anderen schaden. Seine Brüder würden ihre Besitzungen verlieren, und Gordmor wäre, wenn auch nicht völlig ruiniert, so doch zumindest in entwürdigender Bedrängnis. Das war keine Art, es dem Mann zu entgelten, dem er nicht nur sein Leben, sondern auch sein Bein verdankte. Alistair wollte sich als des Vertrauens würdig erweisen, das sein Freund in ihn gesetzt hatte.

Er wollte zudem Lord Hargate beweisen, dass sein dritter Sohn keineswegs ein untätiger Schmarotzer und nutzloser Geck war.

In der Hoffnung, dass seine Miene ihn nicht verriet, trat Alistair einen Schritt zurück, verbeugte sich und murmelte die üblichen Worte der Höflichkeit.

„Ich weiß, dass Sie meinen Vater sprechen wollten“, sagte die junge Frau. „Er hatte für heute einen Termin mit Ihnen vereinbart.“

„Daraus schließe ich, dass er derzeit andernorts unabkömmlich ist.“

„So ist es“, erwiderte sie. „Ich habe schon erwogen, ihm dies auf seinen Grabstein schreiben zu lassen: ‚Sylvester Oldridge, geliebter Vater, andernorts unabkömmlich‘. Wenn er einmal einen Grabstein braucht, wäre es ja sogar zutreffend, nicht wahr?“

Die leicht rosige Färbung ihrer Wangen strafte den kühlen Klang ihrer Stimme Lügen. Alistair gab dem Impuls nach, sich ein wenig zu ihr zu neigen, um zu sehen, ob sie noch rosiger erröten würde.

Ziemlich hastig trat sie beiseite und begann, die Bänder ihres Hutes aufzuschnüren.

Alistair kam rasch wieder zu Verstand, straffte die Schultern und sagte sehr gefasst: „Ihren Worten entnehme ich, dass er somit nur auf die übliche Weise unabkömmlich ist und keineswegs im endgültigen Sinne.“

„Allzu üblich“, seufzte sie. „Wenn Sie ein Stück Moos oder eine Flechte wären oder über Stempel und Staubgefäße oder sonst eine pflanzliche Eigenschaft verfügten, würde er sich bis in das letzte Detail an Sie erinnern. Aber selbst wenn Sie der Erzbischof von Canterbury wären und das Seelenheil meines Vaters davon abhinge, Sie zu einer bestimmten Zeit zu treffen, würde es Ihnen genauso ergehen wie jetzt.“

Alistair war viel zu sehr damit beschäftigt, ungelegene Gefühle zu unterdrücken, als dass er auch nur eines ihrer Worte verstanden hätte. Glücklicherweise zog ihre Garderobe schließlich seine Aufmerksamkeit auf sich und trieb ihm jegliche poetische Anwandlung aus.

Das Reitkleid war aus teurem Stoff und gut geschnitten, doch bar aller Eleganz und von einem Grün, das ihr sehr unvorteilhaft zu Gesicht stand. Auch der Hut war von guter Machart, aber fürchterlich altmodisch. Alistair war sprachlos. Wie konnte es sein, dass einer Frau, die offenbar Wert auf Qualität legte, jedes Gespür für Mode abging?

Dieser Widerspruch bereitete ihm Verdruss, der, gepaart mit seinen zu verdrängenden Gefühlen, vielleicht erklären mochte, warum es ihn so über die Maßen aufbrachte, wie sie nun, statt die Bänder ihres Hutes zu lösen, diese nur noch weiter verhedderte.

„Und daher möchte ich Sie bitten, die Abwesenheit meines Vaters als eine Eigenart oder auch eine Schwäche seines Charakters zu entschuldigen“, bat sie ihn, während sie versuchte, die Schnüre zu entwirren, „und nicht als Beleidigung aufzufassen. Verflixt.“ Sie zerrte an den Bändern und zurrte dabei den von ihr geschaffenen gordischen Knoten nur noch fester.

„Dürfte ich Ihnen behilflich sein, Miss Oldridge?“, fragte Alistair.

Sie wich einen Schritt zurück. „Danke, aber ich wüsste nicht, warum wir uns beide von einem widerspenstigen Stück Band ärgern lassen sollten.“

Er ging auf sie zu. „Ich bestehe darauf. Sie machen es nur noch schlimmer.“

Sie umklammerte das verknotete Band mit einer Hand.

„Sie können ja nicht einmal sehen, was Sie da tun“, stellte er fest und schob ihre Hand beiseite.

Sie ließ die Arme seitlich herabhängen und machte sich steif wie ein Brett. Ihre blauen Augen waren starr auf den Knoten seiner Halsbinde gerichtet.

„Ich müsste Sie bitten, Ihren Kopf ein wenig nach hinten zu neigen“, meinte Alistair.

Sie tat es und richtete ihre Augen nun auf einen Punkt, der irgendwo rechts über seinem Kopf liegen musste. Ihre Wimpern waren lang und dunkler als ihr Haar. Ein rosiger Hauch glitt über ihre Wangen, verschwand aber schnell wieder.

Alistair zwang seinen Blick weiter nach unten – über ihren wundervollen Mund hinweg – zu dem Knoten, der sehr klein und sehr fest war. Er musste sich nah heranbeugen, um erkennen zu können, wo er sich wohl öffnen ließ.

Augenblicklich wurde er eines Geruchs gewahr, der nicht von nasser Wolle herrührte, sondern unverkennbar weiblich war. Sein Herz schlug schwer.

Fest entschlossen, diesen störenden Ablenkungen keine Beachtung zu schenken, gelang es ihm, mit einem seiner gepflegten Fingernägel eine winzige Öffnung zu finden. Aber die Bänder waren feucht, und der Knoten gab kein bisschen nach – und er konnte ihren Atem auf seinem Gesicht spüren. Sein Puls beschleunigte sich.

Er richtete sich auf. „Ein hoffnungsloser Fall“, beschied er. „Ich rate zur Operation.“

Später kam ihm der Gedanke, dass er ihr hätte raten sollen, nach ihrer Zofe zu schicken, aber in besagtem Augenblick war er zu sehr von dem Anblick abgelenkt, wie sie sich gedankenverloren auf die Unterlippe biss.

„Nun gut“, meinte sie und sah noch immer zu dem Punkt rechts über seinem Kopf hinauf. „Zerreißen Sie es, oder schneiden Sie es auf – was am schnellsten geht. Das Ding macht mehr Ärger, als es wert ist.“

Alistair holte sein Taschenmesser hervor und durchtrennte das Band säuberlich. Er verspürte das Bedürfnis, ihr den furchtbaren Hut vom Kopf zu reißen, ihn auf den Boden zu werfen, darauf herumzutrampeln und ihn dann ins Feuer zu werfen – und den Hutmacher öffentlich an den Pranger zu stellen, weil er so Schreckliches überhaupt hergestellt hatte.

Stattdessen zog er sich in sichere Entfernung zurück, steckte sein Taschenmesser wieder ein und mahnte sich zur Ruhe.

Miss Oldridge warf den Hut achtlos auf einen in der Nähe stehenden Sessel.

„Das ist gleich besser“, meinte sie und sah Alistair mit einem strahlenden Lächeln an. „Ich fürchtete schon, ich müsste das Ding nun für den Rest meines Lebens tragen.“

Die lichte Wolke ihres feuerroten Haars und ihr Lächeln ließen Alistairs Gedanken durcheinanderpurzeln wie umfallende Kegel.

„Das will ich nicht hoffen“, erwiderte er aufrichtig.

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie damit behellige“, erwiderte sie. „Sie haben meines Erachtens schon genug damit auf sich genommen, die lange Fahrt hierher zu machen – wenngleich ich gar nicht weiß, von wo Sie gekommen sind.“

„Matlock Bath“, ließ er sie wissen. „Kein langer Weg. Ein paar Meilen.“ Ihm war es wie mindestens zwanzig Meilen erschienen, auf verschlammten Straßen und unter einem Himmel, aus dem sich eisiger Regen ergoss. „Das macht nichts. Ich werde an einem anderen Tag wiederkommen, wenn es besser passt.“ Wenn sie, wie er inständig hoffte, andernorts unabkömmlich sein würde.

„Es sei denn, Sie kämen als Dreilappiger Papau-Baum wieder, wäre es nur ein weiterer unnützer Weg“, stellte sie fest. „Selbst wenn Sie meinen Vater zu Hause antreffen sollten, fänden Sie ihn doch nicht zu Hause vor – wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Alistair verstand es zwar keineswegs, aber bevor er sie noch bitten konnte, es ihm zu erklären, kamen zwei Diener mit Tabletts herein, auf denen sie Verpflegung für ein ganzes Dragonerregiment vor sich hertrugen.

„Bitte stärken Sie sich mit einer kleinen Erfrischung“, forderte sie ihn auf, „derweil ich mich einen Moment zurückziehe, um mich wieder vorzeigbar zu machen. Wenn Sie schon einmal hier sind, können Sie genauso gut mich mit Ihrem Anliegen betrauen. Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein.“

Alistair war überzeugt, dass es fatale Folgen haben würde, wenn er noch mehr Zeit mit ihr allein verbrachte. Dieses Lächeln brachte ihn entsetzlich durcheinander.

„Nein, Miss Oldridge, es macht mir wirklich keine Umstände“, versicherte er ihr. „Ich kann ein andermal wiederkommen. Ich werde noch eine Weile hier in der Gegend bleiben.“ So lange wie nötig. Er hatte versprochen, sich des Problems anzunehmen, und er würde nicht nach London zurückkehren, bis er das getan hatte.

„Es würde Sie nicht weiterbringen, ganz gleich, wann Sie kommen.“ Sie machte sich auf den Weg zur Tür. „Sie könnten Papa vor sich in den Boden pflanzen, und er würde keinem Ihrer Worte Beachtung schenken.“ Sie blieb stehen und bedachte ihn mit einem kritischen Blick. „Es sei denn, Sie gehören doch zur Spezies des Vegetativen.“

„Wie bitte?“

„In den Bereich der Botanik“, erläuterte sie. „Ich weiß zwar, dass Sie in der Armee waren, aber das heißt ja nicht, dass Sie als Zivilist nicht einer anderen Beschäftigung nachgingen. Sind Sie etwas Botanisches?“

„Nicht im Geringsten“, entgegnete Alistair.

„Dann wird er Sie nicht beachten.“ Sie ging weiter zur Tür.

Alistair wünschte, er hätte sie sich mit ihrem Hutband strangulieren lassen. „Miss Oldridge, ich bekam einen Brief von Ihrem Vater, in dem er nicht nur sein Interesse an meinem Vorhaben bekundet, sondern auch durchblicken lässt, dass er sich dessen Tragweite bewusst ist. Ich kann mir daher nur schwer vorstellen, dass der Mann, der diesen Brief geschrieben hat, meinen Worten keine Beachtung schenken würde.“

Wie angewurzelt blieb sie stehen. Sie wandte sich zu ihm um und sah ihn mit weit aufgerissenen blauen Augen an. „Mein Vater hat Ihnen geschrieben?“

„Er hat unverzüglich auf meinen Brief geantwortet.“

Es folgte eine längere Pause, bevor sie meinte: „Sie sprachen von einem Vorhaben – aber es sei nichts Botanisches …“

„Eine langweilige Geschäftsangelegenheit“, winkte er ab. „Ein Kanal.“

Sie erblasste ein wenig, dann gefror ihr bislang so lebhaftes Gesicht zu einer höflichen Maske. „Lord Gordmors Kanal.“

„Sie haben demnach davon gehört?“

„Wer hätte das nicht.“

„Ja … nun, es scheint einige Missverständnisse zu geben, was die Pläne Seiner Lordschaft betrifft.“

„Missverständnisse“, wiederholte sie und verschränkte ihre Hände vor dem Bauch.

Die Zimmertemperatur schien rapide zu sinken.

„Ich bin gekommen, um das zu klären“, meinte Alistair. „Lord Gordmor ist derzeit krank – die Grippe –, aber ich bin einer seiner Geschäftspartner und mit allen Einzelheiten des Vorhabens vertraut. Ich bin mir sicher, die Vorbehalte Ihres Vaters entkräften zu können.“

„Wenn Sie glauben, dass wir nur Vorbehalte hätten“, wies sie ihn zurecht, „geben Sie sich einer schwerwiegenden Fehleinschätzung hin. Wir – und ich denke, dass ich damit für die Mehrheit der Grundbesitzer von Longledge Hill spreche – sind unwiderruflich gegen den Kanal.“

„Bei allem Respekt, Miss Oldridge, mir scheint, dass Ihnen das Vorhaben falsch dargelegt wurde. Aber ich bin sicher, dass die Herren von Longledge mir aus Gründen der Fairness Gelegenheit geben werden, diesen Eindruck zu korrigieren. Da Ihr Vater über die meisten Ländereien verfügt, wollte ich zuerst mit ihm sprechen. Seine Fürsprache wird gewiss einen guten Einfluss auf seine Nachbarn haben.“

Ihre Mundwinkel zuckten leicht und deuteten ein Lächeln an, das ihn auf unerfreuliche Weise an das seines Vaters erinnerte.

„Wie Sie meinen“, erwiderte sie. „Dann suchen wir Papa. Aber vielleicht geben Sie mir ein paar Minuten Zeit, damit ich mir etwas anziehen kann, das ein wenig trockener und sauberer ist als das hier.“ Sie deutete auf ihr Reitkleid.

Alistair stieg glühende Hitze ins Gesicht. Ihr Lächeln und der Geruch ihrer Haut hatten ihn in einen Zustand versetzt, über dem er ganz vergessen hatte, wie durchnässt und wahrscheinlich auch durchgefroren sie war. Und er hatte sie hier die ganze Zeit aufgehalten, während sie sich sicher nichts sehnlicher wünschte, als aus ihren nassen Kleidern herauszukommen!

Nein, er würde sich nicht gestatten, daran zu denken, was damit einherging, sich ihrer Kleider zu entledigen … die Knöpfe und die Verschlüsse und die Korsettschnüre, die geöffnet werden mussten …

Nein.

Er konzentrierte seine Gedanken auf Kanäle, Kohlegruben und Dampfmaschinen und entschuldigte sich für seine Unachtsamkeit.

Sie tat seine Entschuldigung kühl ab, bat ihn, es sich bequem zu machen und eine kleine Stärkung zu sich zu nehmen, lächelte noch immer das Lächeln, das nun kaum mehr eines war, und verließ den Salon.

 

Miss Oldridge – die jetzt ein anderes, aber nicht minder unvorteilhaftes Kleid trug – führte Alistair zu einem Wintergarten, der sich durchaus mit dem des Prinzregenten in Carlton House messen konnte. Der des Regenten wurde jedoch vor allem für Gesellschaften und Feiern genutzt, wobei je nach Bedarf Pflanzen aufgestellt oder hinausgeräumt wurden. Mr. Oldridges Pflanzen waren weitaus zahlreicher und weniger beweglich.

Der Wintergarten wirkte weniger wie ein überdachter Garten, sondern mutete eher an wie ein Museum oder eine Bibliothek voller Pflanzen.

Jede Spezies war sorgfältig beschriftet und mit Anmerkungen und Querverweisen versehen. Auf dem Boden lagen aufgeschlagene Notizbücher herum, in denen handschriftliche Aufzeichnungen auf Latein standen, und Alistair erkannte Mr. Oldridges Schrift wieder.

Der Schreiber selbst fand sich im Wintergarten jedoch nicht, ebenso wenig war er vor dem Haus noch in den Gewächshäusern oder im Garten.

Von einem der Gärtner erfuhren sie schließlich, dass Mr. Oldridge ganz darin vertieft sei, die Moosvegetationen in den höheren Regionen zu studieren. Wahrscheinlich sei er auf den Heights of Abraham, wohin es ihn seit Kurzem bevorzugt zog.

Alistair wusste nur zu gut, dass die Heights of Abraham sich in Matlock Bath erhoben. Selbst wenn der bewaldete Hang mit der hervorspringenden Felskuppe, der direkt hinter seinem Hotel lag, seiner Aufmerksamkeit entgangen wäre, so ließen sich doch die zahlreichen Karten und Hinweisschilder, von denen der Ort nur so wimmelte, schwerlich übersehen.

Kaum zu glauben, dass er auf dieser erbärmlichen Straße hierher hatte kommen müssen, nur um zu erfahren, dass der Mann, den er hatte aufsuchen wollen, sich derweil dort aufhielt, von wo er gekommen war, und womöglich just in diesem Moment von einem Felsen stürzte und sich den Hals brach!

Alistair sah zu Miss Oldridge hinüber, deren Blick in die Ferne gerichtet war. Er fragte sich, was sie wohl dachte.

Sogleich ermahnte er sich, dass ihre Gedanken nichts zur Sache taten. Er war geschäftlich hier – was zählte, waren die Ansichten ihres Vaters.

„Ihr Vater scheint eine ungewöhnliche Hingabe zu seinem … äh … Hobby zu haben“, bemerkte er nun. „Es gibt sicher nicht viele Leute, die zu dieser Jahreszeit auf Berge hinaufsteigen. Halten Moose keinen Winterschlaf oder was immer Pflanzen im Winter machen?“

„Ich habe nicht die geringste Vorstellung.“

Ein eisig kalter Nebel senkte sich herab, und Alistairs schlimmes Bein nahm die Witterung mit Krämpfen und stechenden Schmerzen zur Kenntnis. Miss Oldridge lief jedoch von dem Wetter unbeirrt weiter in den Garten hinaus, und Alistair humpelte neben ihr her.

„Sie teilen seine Begeisterung demnach nicht“, stellte er fest.

„Es übersteigt meinen Horizont“, erwiderte sie. „Wie unwissend ich bin, zeigt sich daran, dass ich mir einbilde, er sollte doch eigentlich genügend Moos und Flechten auf seinem eigenen Grundstück finden, als dass er bis zum Derwent River wandern müsste, um welche zu suchen. Aber das Wandern und Klettern hält ihn beweglich, und zumindest ist er so nicht … ah, da kommt er.“

Ein Mann von mittlerer Größe und schlankem Körperbau tauchte zwischen den Büschen auf und schlenderte zu ihnen herüber. Mit einem Hut und einem Übermantel aus Öltuch war er bestens gegen die Witterung geschützt, und seine abgelaufenen Stiefel machten einen sehr robusten Eindruck.

Als er näher kam, bemerkte Alistair die Ähnlichkeit zwischen ihm und seiner Tochter, und er kam zu dem Schluss, dass Miss Oldridge ihre Gesichtszüge wohl der mütterlichen Seite verdankte, während ihre Haare und ihre Augen eine jüngere und lebhaftere Version derer ihres Vaters waren. Das Alter hatte seine Haare eher an Leuchtkraft verlieren lassen, als dass sie ergraut wären, und auch seine Augen schienen zu einem blasseren Blau verblichen zu sein, wenngleich sein Blick immer noch wach und rege war.

Als sie einander vorgestellt wurden, deutete jedoch nichts in seiner Miene darauf hin, dass er wusste, wer Alistair war.

„Mr. Carsington hat dir einen Brief geschrieben, Papa“, erinnerte ihn Miss Oldridge. „Wegen Lord Gordmors Kanal. Du hattest für heute einen Termin mit Mr. Carsington verabredet.“

Mr. Oldridge runzelte die Stirn. „Habe ich das wirklich?“ Er dachte einen Augenblick nach. „Ach ja. Der Kanal. Genauso hat Smith seine Beobachtungen gemacht, müsst ihr wissen. Faszinierend, sehr faszinierend. Auch Fossilien. Äußerst erhellend. Nun, Sir, ich hoffe, Sie bleiben zum Abendessen.“

Weg war er und ließ Alistair sprachlos zurück.

„Er muss jetzt seine neue Spezies besuchen“, ließ sich die samtweiche Stimme kühl neben ihm vernehmen. „Dann wird er sich zum Abendessen umziehen. In den Wintermonaten essen wir früh, und der einzige Ort, an dem Sie meinen Vater zuverlässig finden können, ist abends im Speisezimmer, pünktlich auf die Minute. Ganz gleich, wo er tagsüber gewandert oder von welchem botanischen Rätsel er gerade in Beschlag genommen wird, er schafft es stets, rechtzeitig zum Essen zu Hause zu sein. Ich rate Ihnen, seine Einladung anzunehmen. Das gibt Ihnen gut zwei Stunden, Ihren Fall darzulegen.“

„Es wäre mir eine Ehre“, erwiderte Alistair, „aber ich bin für den Anlass nicht passend gekleidet.“

„Sie sind bereits jetzt eleganter gekleidet als alle Leute, mit denen wir im Laufe der letzten Jahre zu Abend gegessen haben“, versicherte ihm Miss Oldridge. „Papa wird ohnehin nicht bemerken, was Sie anhaben. Und mir ist es völlig gleichgültig.“

 

Es stimmte tatsächlich, dass Mirabel Oldridge die feinen Nuancen der äußeren Erscheinung recht einerlei waren. Nur selten achtete sie darauf, wie andere sich kleideten, und es machte ihr das Leben leichter, wenn die anderen es an ihr ebenso wenig beachteten. Sie kleidete sich schlicht, weil sie die zahlreichen Männer, mit denen sie zu tun hatte, ermutigen wollte, sie ernst zu nehmen – ihr zuzuhören, statt sie nur anzuschauen – und sich auf das Geschäftliche zu konzentrieren.

Zu ihrem größten Unbehagen musste sie sich nun eingestehen, dass sie Mr. Carsington wiederholt und sehr aufmerksam betrachtet hatte, vom Scheitel seines eleganten Hutes bis zur Sohle seiner auf Hochglanz polierten Stiefel.

Ihr war nicht entgangen, dass sein dunkelbraunes Haar einen goldenen Schimmer hatte, wie er auch in seinen tief liegenden Augen aufschien. Sein Gesicht war kantig, sein Profil bis ins kleinste Detail aristokratisch. Er sah auf beunruhigende Weise gut aus, hochgewachsen, schlank und doch breitschultrig. Selbst seine Hände waren lang und feingliedrig. Als er angeboten hatte, ihr mit dem verknoteten Hutband zu helfen, war ihr von einem einzigen Blick auf seine Hände ganz schwindelig geworden.

Dass er dann so nah bei ihr gestanden hatte, um die Bänder zu entwirren, hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Ein angenehmer Duft hatte sie gestreift, Rasierseife vielleicht – so schwach, dass Mirabel nicht einmal sagen konnte, ob sie es sich nicht nur eingebildet hatte.

Sie meinte zu wissen, dass ihre Verwirrung allein ihrer Aufregung zuzuschreiben sei – was nur allzu verständlich wäre. Schließlich war etwas geschehen, was nicht nur gänzlich ungewöhnlich und unerwartet, sondern ihr auch sehr unlieb war.

Nachdem es vor Jahren fast ein Desaster gegeben hätte, war sie dazu übergegangen, sich über alle Belange ihres Vaters auf dem Laufenden zu halten. Auf diese Weise würde niemand sich auf seine Kosten einen Vorteil verschaffen oder aber ihr selbst unliebsame Überraschungen bereiten können. Auf diese Weise würde sie jederzeit genau wissen, was zu tun war.

So erledigte sie beispielsweise die gesamte Korrespondenz ihres Vaters. Er musste sich nur noch durchlesen, was sie geschrieben hatte, und seine Unterschrift daruntersetzen. Zumindest schien es so, als würde er sich durchlesen, was sie ihm vorlegte. Mit Sicherheit ließ sich nie sagen, ob er in Gedanken wirklich bei der Sache war. Meist war er viel zu sehr damit beschäftigt, die Geheimnisse floraler Fortpflanzung zu entschlüsseln, um seine Aufmerksamkeit den Briefen der Verwandtschaft zu widmen oder einem Schreiben seines Anwalts – oder was immer fern seinen botanischen Interessen lag.

Da sie aber niemals einen einzigen Brief von Mr. Carsington zu Gesicht bekommen hatte, wusste sie auch nicht, was er geschrieben hatte und was ihr Vater ihm geantwortet haben mochte.

Wenn sie beim Abendessen nicht völlig unvorbereitet erscheinen wollte, sollte sie diese Wissenslücke nun besser rasch schließen.

Und deshalb hielt sie sich nicht lange auf, bevor sie Mr. Carsington der Dienerschaft überließ, die sich darum kümmern würde, seine „unpassende“ Garderobe zu trocknen und abzubürsten und was immer noch er für seine Toilette brauchte.

Doch einen Moment verharrte Mirabel und sah ihm nach, wie er davonhumpelte, und wünschte sich sogleich, dass sie es nicht getan hätte: Denn ihr wurde auf einmal ganz warm ums Herz, als ob sie sich nach ihm sehne, was natürlich töricht war.

Sie hatte geholfen, Verwundete zu pflegen, die weitaus schlimmere Verletzungen davongetragen hatten. Sie kannte Männer als auch Frauen, die ebenso viel durchlitten hatten wie er, wenn nicht gar mehr. Sie wusste von einigen, die tapfer gewesen waren, genau wie er, und denen dennoch nicht annähernd so viel Bewunderung gezollt wurde. Und überhaupt, sagte sie sich, er wirkte viel zu elegant und selbstsicher, als dass er ihres Mitleids bedurft hätte.

Mirabel verbannte das lahmende Bein in den hintersten Winkel ihrer Gedanken und eilte zum Studierzimmer ihres Vaters.

Wie Joseph ganz richtig berichtet hatte, lag der Kalender seines Herrn mit dem heutigen Datum aufgeschlagen auf dem Schreibtisch, und der Termin war sorgfältig eingetragen.

Mirabel durchwühlte den Schreibtisch, fand aber keine Spur von Mr. Carsingtons Brief. Wahrscheinlich hatte Papa ihn in die Tasche gesteckt und dann Feldnotizen daraufgekritzelt. Oder ihn verloren. Die Abschrift seiner Antwort war glücklicherweise erhalten geblieben – er hatte sie in sein Notizbuch geschrieben anstatt auf ein loses Blatt Papier.

Der Brief war auf zehn Tage zuvor datiert und enthielt genau das, was Mr. Carsington erwähnt hatte: Ihr Vater signalisierte sein Interesse, zeigte sich mit der Tragweite des Vorhabens vertraut und versicherte seine Bereitschaft, den Kanal ausführlicher besprechen zu wollen.

Nachdem Mirabel die Worte gelesen hatte, musste sie schlucken.

In diesem Brief sah sie den Vater wieder, den sie einst gekannt hatte. Der an vielerlei Dingen und Menschen interessiert war, der gern redete – und auch aufmerksam zuhörte, sogar dem Geplapper eines kleinen Mädchens. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie während der zahlreichen Abendessen, der Kartenrunden und Gesellschaften heimlich auf der Treppe gesessen und den Stimmen unten gelauscht hatte. Und wie oft mochte sie mit angehört haben, wie er sich mit ihrer Mutter unterhielt, bei Tisch, in der Bibliothek, dem Salon oder in diesem Studierzimmer?

Doch seit dem Tod ihrer Mutter vor fünfzehn Jahren hatte sich sein Interesse zunehmend auf das Leben der Pflanzen gerichtet anstatt auf das seiner Mitmenschen. Wenn er bei Gelegenheit einmal aus dem Reich der Botanik auftauchte, was selten genug geschah, dann war es immer nur für kurze Zeit.

Mirabel musste die letzte solche Gelegenheit verpasst haben. Er schien von seiner Umgebung Notiz genommen zu haben, während sie einige Tage lang in Cromford bei ihrer einstigen Gouvernante zu Besuch gewesen war.

Während dieses Besuches hatte Mirabel sich auch den Hut gekauft, mit dessen Bändern sie sich heute Nachmittag schier erdrosselt hatte.

Nach wie vor konnte sie es nicht fassen, dass sie sich von diesem Mann so völlig aus der Ruhe hatte bringen lassen! Schließlich hatte sie mit Leuten seiner Art schon früher einmal Bekanntschaft gemacht.

Sie kannte diese kultivierten Stimmen, den trägen Tonfall und das leichte Lispeln, das einige der Reichen und Schönen aufsetzten, kannte das Gelächter, den Klatsch und die Koketterien.

Auch Stimmen wie die seine hatte sie vernommen, so tief und wohlklingend, dass sie selbst der belanglosesten Bemerkung noch den Anschein größter Vertraulichkeit gaben und jedes Klischee wie ein köstliches Geheimnis klang.

„Habe ich alles schon einmal gehört und gesehen“, murmelte sie vor sich hin. „Er ist nichts Besonderes, einer dieser Londoner Gecken, die uns für Landeier und Bauerntölpel halten. Dumme Hinterwäldler, die nicht wissen, was gut für sie ist.“

Mr. Carsington sollte schon bald entdecken, dass er sich täuschte.

Bis dahin stand ihm jedoch noch eine höchst vergnügliche Abendunterhaltung mit Mr. Oldridge bevor.

2. Kapitel

Wenngleich Alistair noch nie Anspruch auf überragende geistige Fähigkeiten erhoben hatte, so war er doch durchaus in der Lage, eins und eins zusammenzuzählen, und das an sich recht schnell.

Heute jedoch schien sich alles gegen ihn verschworen zu haben. Gemessen an den indiskutablen Maßstäben von Miss Oldridge, mochte er für ein abendliches Essen auf dem Lande elegant genug gekleidet sein. Doch er wusste es besser.

Dank der gewissenhaft arbeitenden Dienerschaft und eines prasselnden Kaminfeuers war seine Kleidung nun zumindest trocken und ordentlich abgebürstet. Aber es war Kleidung für den Nachmittag, und auch die eifrigsten Diener konnten daraus keine angemessene Abendgarderobe zaubern.

Zudem fand sich keine Zeit mehr, seine Halsbinde frisch zu stärken. Schlaff hing sie herab und warf an den falschen Stellen Falten, was ihn schier wahnsinnig machte.

Sein Bein, welches das feuchte Klima hasste und eigentlich in Marokko hätte leben müssen, rächte sich derweil dafür, dass er es im eisig kalten Nebel spazieren geführt hatte, und schnürte sich zu einem Strang pulsierender Knoten zusammen.

All diese Ärgernisse hatten dazu beigetragen, dass ihm bislang nicht bewusst geworden war, was jeder halbwegs intelligente Mensch schon Stunden zuvor gemerkt hätte.

Miss Oldridge hatte von Stempeln und Staubgefäßen gesprochen und ihn gefragt, ob er „etwas Botanisches“ sei. Alistair hatte den Wintergarten gesehen, die Notizbücher, die endlosen Reihen der Gewächshäuser.

Aber wenn er nicht gerade einen Anfall wegen seiner Kleidung hatte oder von seinem Bein gequält wurde, war er wegen Miss Oldridge völlig durcheinander gewesen. Und deshalb ging es ihm erst auf, als sie sich vor dem Essen im Salon trafen und Mr. Oldridge ihm Hedwigs Beobachtungen zu den Fortpflanzungsorganen der Moospflanzen erklärte – der Mann war das Opfer einer fixen Idee.

Alistair war dieses Krankheitsbild nicht unbekannt. Immerhin hatte er eine evangelistische Schwägerin und eine Cousine, die versuchte, den Stein von Rosetta zu entziffern. Da solche Menschen nur selten aus eigenem Antrieb ihren bevorzugten geistigen Aufenthaltsort verließen, musste man sie fest am Ellenbogen packen – bildlich gesprochen – und in andere Gefilde führen.

Sobald sein Gastgeber zu Beginn des zweiten Gangs seine Ausführungen unterbrach, um sich auf das Anschneiden der Gans zu konzentrieren, ergriff Alistair daher rasch die sich ihm bietende Gelegenheit.

„Ich bin beeindruckt, über welchen Fundus an Wissen Sie verfügen“, meinte er. „Ich wünschte, Sie hätten uns mit Ihrem Rat zur Seite gestanden, bevor wir den ersten Entwurf des Kanals vorstellten. Doch ich hoffe, dass Sie uns von nun an beraten werden.“

Mr. Oldridge fuhr fort, das Geflügel zu zerlegen, spitzte lediglich kurz die Lippen und runzelte nachdenklich die Stirn.

„Wir sind natürlich gern bereit, den Verlauf des Kanals zu ändern, wenn das Ihr dringlichstes Anliegen ist“, fuhr Alistair fort.

„Könnten Sie ihn nicht in eine andere Grafschaft verlegen?“, schlug Miss Oldridge vor. „Vielleicht nach Somersetshire, wo Schlackenhaufen bereits die Landschaft verunstalten.“

Alistair sah sie über den Tisch hinweg an, was er von nun an tunlichst vermied, da er erstmals ihre Abendgarderobe erblickte.

Die Farbe ihres Kleides war ein kühles Lavendelblau, obwohl sie doch nur warme, kräftige Farben tragen dürfte! Es hatte keinen nennenswerten Ausschnitt, und ein Besatz aus Spitzenrüschen verdeckte auch noch das wenige, was das Oberteil von Hals und Schultern sehen ließ. Ihr herrliches Haar war wahllos aufgesteckt und hinten am Kopf recht ungeschickt zu einem Knoten zusammengefasst. Als Schmuck trug sie eine Kette mit einem schlichten Silbermedaillon.

Alistair fragte sich, wie es ihr möglich war, in den Spiegel zu blicken und dabei das Offensichtliche nicht zu sehen – alles, was sie ausgewählt und getan hatte, um sich zu kleiden und zu schmücken, war ein einziger, wahrhaftiger, unverzeihlicher Fehlgriff! Es musste ihr an einer Fähigkeit mangeln, über die alle anderen Frauen dieser Welt verfügten. Er überlegte, ob es sich dabei vielleicht um eine Störung handelte, die der Unmusikalität verwandt war, und ihr Anblick löste bei ihm dieselbe Irritation aus, wie ein Musikliebhaber sie verspüren musste, wenn er ein verstimmtes Instrument hörte oder einen Sänger, der den Ton nicht traf.

Er würde sie am liebsten wieder hinauf in ihr Zimmer schicken, damit sie sich ordentlich zurechtmachte, aber das konnte er natürlich nicht, was sehr ärgerlich war.

Das mochte erklären, warum er ihr nun in einem Ton antwortete, den er an sich für seine jede Geduld strapazierenden jüngeren Brüder reserviert hatte. „Miss Oldridge, gestatten Sie mir, Ihre kleine Fehleinschätzung zu berichtigen. Durch Kanäle entstehen keine Schlackenhaufen. Sie dachten sicher an Kohlegruben. Gegenwärtig ist es nur Lord Gordmor, der in dieser Gegend Kohle abbaut, und seine Gruben befinden sich fast fünfzehn Meilen von hier entfernt. Die Landschaft ist zudem sein Grund und Boden, und er verunstaltet sie, weil der Besitz zu nichts anderem nutze ist.“

„Ich möchte meinen, dass er mit weitaus weniger Aufwand und Lärm dort Schafe weiden lassen könnte und ihm damit genauso gut gedient wäre“, erwiderte sie.

„Es steht Ihnen natürlich frei zu meinen, was immer Sie wünschen“, sagte Alistair. „Ich möchte keineswegs eine rege Fantasie im Keim ersticken.“

Ihre Augen funkelten, doch bevor sie etwas erwidern konnte, wandte Alistair sich erneut seinem Gastgeber zu. „Wir streiten keineswegs ab, dass unsere Beweggründe eigennützig und praxisorientiert sind“, sagte er. „Das vorrangige Ziel ist, die Kohle besser und billiger transportieren zu können.“

Oldridge, der damit beschäftigt war, die besten Stücke des Geflügels seiner Tochter und seinem Gast aufzutragen, nickte nur.

„Lord Gordmor erreicht dadurch einen größeren Kundenkreis“, fuhr Alistair fort, „und kann die Kohle zu einem günstigeren Preis veräußern. Trotzdem sind er und seine Kunden nicht die einzigen Nutznießer. Der Kanal ermöglicht Ihnen und Ihren Nachbarn einen besseren Zugang zu bestimmten Waren. Zerbrechliche Güter, die sanft auf dem Wasserweg transportiert werden statt über holprige Straßen, erreichen ihr Ziel unbeschadet. Der Kanal ist ein günstiger Transportweg, auf dem Sie Dünger und landwirtschaftliche Erzeugnisse zu den Märkten verschiffen können. Kurzum, alle Anwohner von Longledge, vom einfachen Arbeiter bis zum Landbesitzer, werden davon profitieren.“

„Lord Hargate war in letzter Zeit nur selten auf seinem Landsitz anwesend, selbst dann nicht, wenn das Parlament pausierte“, bemerkte Mr. Oldridge. „Die Politik kann sehr an den körperlichen und geistigen Kräften zehren. Ich hoffe doch, dass er wohlauf ist.“

„Meinem Vater geht es recht gut“, versicherte Alistair ihm. „Er ist zudem in keiner Weise an dem Vorhaben von Lord Gordmor beteiligt, wie ich betonen möchte.“

„Ich erinnere mich noch gut an die Kanalbegeisterung im letzten Jahrhundert“, sinnierte Oldridge. „Damals haben sie den Cromford Canal gebaut und den Peak Forest begonnen. Mr. Carsington, möchten Sie nicht ein wenig von diesem Curry probieren?“

Alistair war bestens darauf vorbereitet, den Nutzen von Gordmors Kanal in allen Einzelheiten darzulegen. Doch letztlich saß er hier beim Abendessen, wo man – normalerweise – keine geschäftlichen Dinge besprach. Er hatte das Thema nur deshalb angeschnitten, weil Miss Oldridge ihm geraten hatte, dass nun die beste Gelegenheit dazu sei.

Es sollte ihm jedoch nicht allzu schwerfallen, die Geschäfte eine Weile ruhen zu lassen. Er musste nicht lange gebeten werden, es sich schmecken zu lassen, denn die Speisen übertrafen, sowohl was die Vielfalt als auch die Zubereitung anbelangte, bei Weitem das, was er so fern der Zivilisation erwartet hätte.

Die Köchin war ganz offensichtlich Gold wert. Auch der Butler und die Hausdiener hätten mit Leichtigkeit in einem Londoner Haushalt bestehen können, Hargate House eingeschlossen.

Es war wahrlich eine Schande, dass eine Frau, die so vortreffliche Bedienstete zu wählen wusste, nicht in der Lage war, eine Zofe zu finden, die sie davon abzuhalten vermochte, modische Todsünden zu begehen.

„Was hat Ihr Interesse am Kanalbau geweckt?“, fragte Mr. Oldridge ihn nun. „Die technischen Details sind ja in der Tat sehr faszinierend. Aber nach Cambridge sehen Sie mir gar nicht aus.“

„Oxford“, sagte Alistair.

„Smith war meines Wissens Autodidakt“, meinte der Gastgeber nachdenklich. „Kennen Sie sich mit Fossilien aus?“

„Sie meinen, abgesehen von den Professoren in Oxford?“, fragte Alistair.

Er meinte ein unterdrücktes Lachen zu hören und sah über den Tisch hinweg, war jedoch nicht schnell genug.

Miss Oldridges Miene war ebenso ernüchternd wie ihre Garderobe.

„Papa bezieht sich auf Mr. William Smith’ Darstellung der Gesteinsschichten anhand eingeschlossener Fossilien“, erklärte sie. „Haben Sie das Werk nicht gelesen?“

„Für mein Verständnis scheint es mir zu tiefschürfend“, meinte er und sah, wie sie sich ein Lächeln über das Wortspiel verkneifen musste. „Ich bin kein Gelehrter.“

„Aber es handelt auch von Erzeinlagerungen“, wandte sie ein. „Ich dachte nur …“ Sie runzelte die Stirn, was bei ihr weitaus hübscher aussah als bei ihrem Vater. „Sie haben doch sicher von Mr. Smith’ geologischer Karte Gebrauch gemacht.“

„Um den Verlauf des Kanals festzulegen?“, erkundigte Alistair sich.

„Nein, um zu entscheiden, ob es sich lohnt, in einer so unzugänglichen Gegend überhaupt Kohle abzubauen.“ Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite und betrachtete Alistair, als wäre er ein Fossil, das der Katalogisierung bedurfte. „In England gibt es fast überall Kohlevorkommen, aber mancherorts ist sie sehr schwer und nur unter großem Kostenaufwand abzubauen und zu transportieren“, fuhr sie fort. „Sie haben sicher einen guten Grund, wenn Sie meinen, dass die Kohlegrube in Lord Gordmors Besitz einen so großen Aufwand rechtfertigt. Oder haben Sie einfach angefangen zu graben, ohne sich über die praktischen Notwendigkeiten Gedanken zu machen?“

„Es ist bekannt, dass der Peak reich an Bodenschätzen ist“, meinte Alistair leichthin. „Bei einer Bohrung musste Lord Gordmor zwangsläufig auf irgendetwas stoßen – Blei, Kalkstein, Marmor, Kohle.“

„Lord Gordmor? Meinten Sie nicht, Sie seien einer seiner Partner – ‚mit allen Einzelheiten des Vorhabens vertraut‘, das waren Ihre Worte, soweit ich mich erinnere.“

„Wir sind seit November Geschäftspartner“, stellte er klar. „Er hat bereits vor einiger Zeit mit dem Bergbau begonnen – kurz nachdem er vom Kontinent zurückgekehrt ist.“

Tatsächlich hatte Gordmor bei seiner Rückkehr aus dem Krieg feststellen müssen, dass seine Finanzen derweil in eine bedenkliche Schieflage geraten waren. Er konnte es sich nicht einmal mehr leisten, sein Anwesen in Northumberland weiter zu unterhalten. In seiner Verzweiflung war er dann dem Rat seines Verwalters gefolgt, seinen Besitz in Derbyshire zu erschließen, und hatte dort zu bohren begonnen.

Alistair hatte jedoch nicht die geringste Absicht, die persönlichen Umstände seines Freundes vor einer neugierigen jungen Dame offenzulegen – an sich ging das überhaupt keinen Außenstehenden etwas an.

„Ich verstehe.“ Miss Oldridge blickte auf ihren Teller. „Sie haben demnach beide dem Duke of Wellington beigestanden. Aber Ihnen eilt der Ruhm voraus. Sogar hier, in der Wildnis von Derbyshire, hat jeder schon von Ihnen gehört.“

Alistairs Gesicht begann zu glühen. Er war sich nicht sicher, ob sie sich auf Waterloo bezog oder auf die Episoden der Dummheit. Beides war weithin bekannt – leider. Er sollte es mittlerweile gewohnt sein, immer wieder von seiner Vergangenheit eingeholt zu werden, denn es geschah oft. Aber er würde sich nie daran gewöhnen und wünschte sich, dass die Geschichten über ihn sich nicht gar so weit verbreitet hätten.

„Sie haben große Ähnlichkeit mit Lord Hargate“, stellte Mr. Oldridge fest. „Er hat einige Söhne, nicht wahr?“

Alistair war so erleichtert, das Thema wechseln zu können, dass er fast freudig eingestand, vier Brüder zu haben.

„Manche würden wohl meinen, das sei nicht viel“, befand Mr. Oldridge. „Unser armer König hat fünfzehn Kinder gezeugt.“

George III. war seit einigen Jahren gänzlich dem Wahnsinn verfallen und folglich den Staatsgeschäften nicht mehr gewachsen. Deshalb regierte derweil sein ältester Sohn – der zwar nicht verrückt war, sich aber auch nicht durch Vernunft auszeichnete – als Prinzregent.

„Es wäre wünschenswert gewesen, unser Monarch hätte weniger Kinder gezeugt und stattdessen mehr Wert auf die Qualität seines Nachwuchses gelegt“, bemerkte Miss Oldridge. „Lord und Lady Hargate haben nur fünf Söhne hervorgebracht, doch zwei davon sind wahre Musterexemplare, und einer ist der berühmte Held von Waterloo. Ich nehme fast an, dass Ihre beiden jüngeren Brüder sich als ebenso bemerkenswert erweisen werden, wenn sie erst einmal zur Reife gelangt sind.“

„Sie scheinen recht viel über meine Familie zu wissen, Miss Oldridge“, meinte Alistair.

„So wie jeder hier in Derbyshire“, entgegnete sie. „Ihre Familie ist eine der ältesten der Grafschaft. Ihr Vater steht im Ruf, im Oberhaus den Ton anzugeben. Ihre älteren Brüder haben sich verschiedener verdienstvoller Belange angenommen. In allen Londoner Zeitungen fanden sich ausführlichste Schilderungen Ihrer Erfolge auf dem Schlachtfeld, und auch die Lokalblätter haben darauf ein wahres Meer an Tinte verwandt. Selbst wenn mir Ihr Name in gedruckter Form trotzdem entgangen sein sollte, so hätte ich doch nicht unwissend bleiben können, denn eine Zeit lang fanden Sie in jedem Brief Erwähnung, den ich von Freunden und Verwandten aus London erhielt.“

Alistair zuckte unmerklich zusammen. Er war nicht einmal zwei Tage an den Kampfhandlungen beteiligt gewesen. Angesichts seiner Unerfahrenheit war es ohnehin ein Wunder, dass er sich nicht die eigene Nase abgeschossen hatte. Warum die Zeitungen ausgerechnet ihn zum Helden erkoren hatten, war ihm ein Rätsel – und noch dazu eines, das ihm größten Verdruss bereitete.

Sein Bein machte sich mit einigen Krämpfen bemerkbar. „Das ist ein alter Hut“, beschied er in einem kühlen Ton, mit dem er es stets vermochte, jedem Thema ein sofortiges Ende zu bereiten.

„Hier nicht“, erwiderte Miss Oldridge. „Sie sollten sich darauf gefasst machen, die Bewunderung der Landbevölkerung über sich ergehen zu lassen.“

Seine Kühle schien sie völlig unbeeindruckt zu lassen. Ihr fröhlicher Tonfall hingegen ließ ihn aufhorchen.

Er wusste sehr wohl – besser als die meisten Männer, um ganz genau zu sein –, dass die Worte einer Frau voll versteckter Bedeutungen sein konnten, die keine erkennbare Ähnlichkeit mit dem haben mussten, was sie laut sagte. Er wusste zwar nicht immer genau, was eine Frau meinte, aber er merkte zumeist, wann sie mehr meinte, als sie sagte, und dieses „mehr“ verhieß in der Regel nichts Gutes.

Er spürte förmlich, wie das Unheil ihm auflauerte, wie es sich jetzt jeden Augenblick aus der Dunkelheit ihrer Gedanken auf ihn stürzen würde, aber ihm wollte nicht in den Sinn kommen, worum es sich dabei handeln könnte.

Ein Unheil, das ihm hingegen kaum entgehen konnte, war ihre sogenannte Frisur, die sich nun auch noch aufzulösen begann. Einige kupferrote Locken hatten sich aus dem Knoten gelöst und hingen unordentlich herab. Oben auf dem Kopf standen einzelne Locken störrisch hervor. Er sah, wie sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich und hinter dem Ohr feststeckte.

Es war eine Geste, wie Frauen sie wohl nach dem Auskleiden machten, nachdem sie ihr Haar gelöst hatten … oder morgens, wenn sie sich von ihrem Kissen erhoben … oder nach der Liebe.

Bei Tisch schickte sich diese Geste nicht. Sie hätte ordentlich frisiert und dem Anlass entsprechend gekleidet zum Abendessen erscheinen sollen, dann säße sie jetzt nicht so vor ihm, derart in Auflösung begriffen, als ob sie soeben verführt worden wäre.

Alistair ermahnte sich, dem keine weitere Beachtung zu schenken und sich stattdessen für das drohende Unheil zu wappnen. Er versuchte, seine Aufmerksamkeit dem Essen zu widmen, aber er verspürte keinen Appetit mehr. Er war sich ihrer Anwesenheit zu sehr bewusst – ihre berückende Geste, die wirren Locken – und spürte die Spannung zwischen ihnen. Selbst wenn er seinen Blick abwandte und seine Gedanken anderem zuwandte, war er sich doch immer noch ihrer Nähe bewusst.

Sein Gastgeber bemerkte ganz offensichtlich nichts von alledem und aß unbeirrt, mit einer Miene gedankenverlorener Zufriedenheit weiter. Es gereichte dem Botaniker sicher zu seinem Vorteil, dass er so viel wanderte und kletterte, denn er verzehrte, was zwei ausgewachsene Männer hätte sättigen können.

Im weiteren Verlauf des Abendessens erörterte Mr. Oldridge Experimente mit Tulpen. Schließlich verabschiedete sich Miss Oldridge, überließ die Männer ihrem Portwein und erlaubte Alistair, endlich aus seinen Gedanken zu verbannen, was ihm nicht mehr vor Augen war.

Er wandte seine ganze Aufmerksamkeit dem Geschäftlichen zu und begann sein Plädoyer für den Kanal.

Während er sprach, schien sein Gastgeber in die Betrachtung des Kronleuchters versunken, musste aber dennoch etwas von seinen Worten vernommen haben, denn als Alistair mit seinem Vortrag endete, meinte der Botaniker: „Ja, nun, ich verstehe Ihr Anliegen durchaus, aber es ist alles nicht so einfach, müssen Sie wissen.“

„Kanäle sind nie ganz einfache Vorhaben“, stimmte Alistair zu. „Wenn man zudem darauf angewiesen ist, über anderer Leute Grund und Boden zu verfügen, muss man sich darauf einstellen, den Landbesitzern entgegenzukommen und sie zu entschädigen, und letztlich hat jede der beteiligten Parteien ganz unterschiedliche Vorstellungen.“

„Ja, ja. Es verhält sich wie mit dem Tulpenexperiment“, stellte sein Gastgeber fest. „Wenn Sie Farina fecundens im Freien pflanzen, trägt sie keine Samen. Das findet sich in Bradleys Darstellung erläutert, aber Miller hat ähnliche Experimente durchgeführt. Diese Ausführungen finden Sie allerdings nicht in jeder Ausgabe des Gardener's Dictionary. Ich werde Ihnen einen meiner Bände leihen, damit Sie es in Ruhe nachlesen können.“

Im Anschluss an seinen befremdlichen Kommentar schlug Mr. Oldridge vor, dass sie sich nun wieder zu Mirabel gesellten, die in der Bibliothek auf sie wartete.

Alistair äußerte sein Bedauern, aber es sei schon spät, und er müsse in sein Hotel zurückkehren.

„Aber Sie bleiben natürlich über Nacht“, erwiderte Mr. Oldridge. „In der Dunkelheit können Sie nicht den langen Weg zurückfahren. Die Straße, das muss ich leider sagen, kann recht tückisch sein, sogar am helllichten Tag.“

Ja, und deswegen brauchen Sie einen Kanal!, hätte Alistair ihn am liebsten angeschrien.

Da er nun schon versucht war, seinen Gastgeber anzuschreien, war es wohl tatsächlich an der Zeit, sich zurückzuziehen.

In jedem Fall musste er nachdenken, und das hieß, er musste fort von hier. In der Nähe von Miss Oldridge würde er keinen vernünftigen Gedanken fassen können.

Die Situation war gänzlich anders, als er und Gordy angenommen hatten. Alistair konnte nicht einmal genau sagen, wo das Problem lag. Bislang wusste er nur, dass Mr. und Miss Oldridge ihn auf geradezu beängstigende Weise aus der Fassung zu bringen vermochten, was – wie Gordy ganz richtig bemerkt hatte – äußerst schwierig war.

Alistair verfügte über keine nervöse Disposition. Was Frauen anbelangte, konnten seine Gefühle zwar aus dem Gleichgewicht geraten, aber seine Nerven waren unerschütterlich – was vielleicht sein Verhängnis war. Denn er glaubte, dass ein weniger gleichmütiger Mann nicht annähernd so oft in Schwierigkeiten geraten wäre wie er, würde ein solcher Mann doch gezögert und nachgedacht haben – wenn schon nicht zweimal, so doch zumindest einmal.

Gegenwärtig zeigten Alistairs Nerven jedoch besorgniserregende Symptome der Anspannung.

Aber selbst wenn dem nicht so wäre, so würde er doch nicht bleiben können. Er hatte den ganzen Tag dieselben Kleider getragen – selbst beim Abendessen –, was ihm ein wenig elend zumute sein ließ und zweifelsohne seiner gereizten Stimmung zuträglich war.

Auf dem Schlachtfeld hatte Alistair solche Entbehrungen tapfer ertragen, weil ihm keine andere Wahl blieb. Oldridge Hall war kein Schlachtfeld – zumindest noch nicht.

Kurze Zeit später machte Alistair sich daher, nachdem er auch das Angebot seines Gastgebers, ihm einen Wagen anspannen zu lassen, ausgeschlagen hatte, zu Pferd und bei stetig fallendem Schneeregen auf den Weg nach Matlock Bath.

 

Mr. Carsington war bereits aufgebrochen, als Mirabel davon erfuhr.

In einem Zustand leichter Verwirrung teilte ihr Vater ihr die Neuigkeit mit. „Er hatte es sehr eilig aufzubrechen, und es war mir ganz unmöglich, ihn davon abzubringen.“

Mirabel lief zum Fenster und sah hinaus. Sie konnte nur so weit blicken, wie das Licht der Bibliothek in die Nacht hinausschien, aber das genügte ihr, um sich ein Bild von den Witterungsverhältnissen zu machen.

„Schneeregen“, stellte sie fest. „Wie konntest du Lord Hargates Sohn bei diesem Wetter nach Matlock Bath zurückkehren lassen? Und dann noch zu Pferd!“

„Du hast sicher recht“, meinte ihr Vater. „Vielleicht hätte ich einen Diener rufen sollen, damit er Seine Lordschaft zur Vernunft bringt und ihn festbindet.“ Er sah sich um, als ob er einen günstigen Platz dafür suche. „Ich wüsste nicht, wie wir ihn sonst hätten zurückhalten sollen.“

„Warum hast du nicht mich gerufen?“

Ihr Vater runzelte die Stirn. „Das kam mir gar nicht in den Sinn. Ich bedauere, dass ich darauf nicht gekommen bin. Das Problem war, dass er anfing, mich an einen Kaktus zu erinnern, und ich ganz in Gedanken über die Stachelbüschel versunken war, die vielleicht der Fortpflanzung dienen, wenngleich man bislang noch davon ausgeht … Kind, warte! Wo willst du denn hin?“

Mirabel eilte hinaus in den Korridor. „Ich werde versuchen, ihn einzuholen. Sonst bricht er sich noch den Hals oder seinem Pferd das Bein – oder beides, was wahrscheinlicher ist –, und der Ärger wird für uns kein Ende mehr nehmen. Gütiger Himmel! Der Sohn eines Earls. Der Sohn des Earl of Hargate! Kein Geringerer als der berühmte Held von Waterloo, verwundet im Dienste Seiner Majestät. Oh, ich darf gar nicht daran denken! Ganz ehrlich, Papa, eines Tages wirst du mich noch in den Wahnsinn treiben. Der Mann begibt sich in den sicheren Tod, und du machst dir Gedanken über Kaktusstachel.“

„Aber, meine Liebe, das ist von vielleicht ungeahnter …“

Mirabel rannte jedoch schon den Korridor hinunter und hörte ihn nicht mehr.

 

Kurz darauf ritt Mirabel auf einem unschönen, aber trittsicheren und unerschütterlichen Wallach in die Nacht hinaus. Unweit der Parkmauern holte sie ihren Gast ein. Der Schneeregen war einem eisigen Regen gewichen, und sie wusste, dass das Wetter jederzeit erneut umschlagen konnte.

„Mr. Carsington!“, rief sie durch die Dunkelheit. Sie konnte nicht mehr erkennen als einen menschlichen Umriss auf einem schemenhaften Pferd, aber der Mensch war groß genug und hielt sich so aufrecht im Sattel, obwohl ihm der Regen von der Krempe seines Hutes den Hals hinabströmte, dass nur er es sein konnte – und wer hätte es auch sonst sein sollen?

Er hielt an. „Miss Oldridge?“ Obwohl er sich nun zu ihr umwandte, war es zu dunkel, um sein Gesicht zu erkennen. „Was machen Sie hier? Haben Sie den Verstand verloren?“

„Sie müssen sofort mit mir zum Haus zurückkehren“, erwiderte sie.

„Sind Sie verrückt?“, entgegnete er.

„Sie sind hier nicht in London“, ließ sie ihn wissen. „Das nächste Haus ist meilenweit entfernt. Bei diesem Wetter brauchen Sie mindestens zwei Stunden, bevor Sie Matlock Bath erreichen – vorausgesetzt, Sie haben keinen Unfall.“

„Es ist aber unerlässlich, dass ich in mein Hotel zurückkehre“, sagte er. „Ich bitte Sie, nach Hause zurückzukehren. Man hätte Sie dort gar nicht gehen lassen dürfen. Hier werden Sie sich den Tod holen.“

„Mir könnte gar nicht wärmer sein“, sagte sie. „Sie sind es, der sich geradewegs in den sicheren Tod begibt. Und was sollen wir dann Ihrem Vater erzählen?“

„Miss Oldridge, mein Vater lässt sich von niemandem etwas erzählen“, erwiderte er.

„Sie aber auch nicht, wie mir scheint.“

„Miss Oldridge, während wir hier stehen und uns streiten, kühlen die Pferde aus. Ich halte es für besser, wenn wir ihnen wieder etwas Bewegung verschaffen – sei es in Ihrer Richtung oder in meiner. Ich möchte Ihnen zudem für Ihre Gastfreundschaft danken und weiß es zu schätzen, dass Sie sich so sehr um mein Wohlergehen besorgt zeigen, aber es ist mir leider nicht möglich, auf Oldridge Hall zu bleiben.“

„Mr. Carsington, welche Termine auch immer Sie morgen haben mögen …“

„Miss Oldridge, Sie verstehen mich nicht: Ich habe nichts anzuziehen.“

„Sie wollen sich über mich lustig machen“, stellte sie pikiert fest.

„In derlei Angelegenheiten scherze ich nie“, ließ er sie wissen.

„Nichts anzuziehen.“

„So ist es.“

„Ich verstehe“, sagte sie.

Aufgefallen war es ihr schon vor einer Weile, aber bis jetzt hatte sie noch nicht den logischen Schluss aus ihren Beobachtungen gezogen. Die Logik hatte hinter Reaktionen zurückstehen müssen, die unterhalb der geistigen Ebene angesiedelt waren.

Dabei hatte sie ihn so aufmerksam betrachtet … hatte kaum aufhören können, ihn zu beobachten.

Sie erinnerte sich lebhaft daran, wie sein maßgeschneiderter und sichtlich teurer Gehrock sich um die breiten Schultern schmiegte und der kräftige Oberkörper sich zur schmalen Taille hin verjüngte. Sie sah alles deutlich vor sich – die fein bestickte seidene Weste, deren oberster Knopf offen gestanden hatte … die eng sitzende Hose, unter der sich seine muskulösen Beine abzeichneten … seine langen Beine. Die bloße Vorstellung ließ sie wohlig warm erbeben, obwohl sie hier auf ihrem Pferd im Dunkeln inmitten eines eisig kalten Regengusses saß.

Sie kam nicht dagegen an. Es war eine ganz natürliche Reaktion, sagte sie sich. Er war ein Held und sah auch so aus – groß, kraftvoll, gut aussehend. Kaum eine Frau würde sein Anblick unberührt lassen.

Dennoch hatte sie sich genug Geistesgegenwart bewahrt, um seine absurd anmutende Entschlossenheit, bei diesem unwirtlichen Wetter durch die Nacht zu reiten, verstehen zu können.

Sie hatte zweimal eine Saison in London verbracht, und es ließ sich kaum vermeiden, dass sie in dieser Zeit auch etwas über das Wesen des Dandys lernte. Und hier hatte sie einen Dandy vor sich, wie er im Buche stand – wenngleich sie nie zuvor einem begegnet war, der seine Garderobe so stattlich zu füllen verstand.

„Nun, das ist natürlich etwas anderes“, sagte sie daher. „Gute Nacht, Mr. Carsington.“

Sie wendete ihr Pferd und ritt zurück.

Als sie zu Hause eintraf, fand sie ihren Vater zu ihrer Überraschung in der Eingangshalle auf und ab gehen. Normalerweise trank er um diese Zeit in der Bibliothek seinen Tee, las in seinen Botanikbüchern und ging danach noch in den Wintergarten, um den pflanzlichen Lebensformen dort eine gute Nacht zu wünschen.

„Oje. Du konntest ihn nicht überreden“, stellte er fest, als sie ihren tropfnassen Hut und Umhang dem Hausdiener reichte.

„Er hat nichts anzuziehen“, sagte sie.

Ihr Vater blinzelte sie verständnislos an.

„Er ist ein Dandy, Papa“, erklärte sie ihm. „Wenn man ihm die Kleidung versagt, die er für angemessen erachtet, ergeht es ihm wie einer Pflanze, der man die Nährstoffe entzieht. Er verwelkt und stirbt, und man vermag sich kaum vorzustellen, welche Qualen er bis dahin zu erleiden hat.“ Sie ging zur Treppe.

Ihr Vater folgte ihr. „Ich wusste, dass etwas nicht stimmt. Es verhält sich genauso wie mit den Kaktusstacheln.“

„Papa, ich bin völlig durchnässt und ein wenig verstimmt, und ich würde gern …“

„Aber er humpelt“, beharrte ihr Vater.

„Das ist mir nicht entgangen“, erwiderte Mirabel. Wie sehr sie sich wünschte, dass er nicht auf so herzzerreißende und berückend tapfere Weise humpeln würde! Der bloße Anblick weckte Gefühle in ihr, die sie sich nicht leisten konnte und wollte. Es war einfach nur lächerlich – in ihrem Alter und nach ihren Erfahrungen …

Sie ging die Treppe hinauf. „Soweit ich weiß, wurde er bei Waterloo recht schwer verwundet.“

Ihr Vater kam ihr hinterher. „Ja, Benton hat mir davon erzählt. Aber ich habe zudem den Verdacht, dass Mr. Carsington unwissentlich eine Kopfverletzung davongetragen hat. Ich habe schon von solchen Fällen gehört. Das würde es erklären, weißt du?“

„Was würde es erklären?“

„Die Kaktusstacheln.“

„Papa, ich habe nicht die geringste Vorstellung, was du meinst.“

„Nein, nein, das dachte ich mir.“ Sie hörte, wie seine Schritte hinter ihr verstummten. „Vielleicht versteht er die Sache mit den Tulpen ja doch nicht. Vielleicht hast du recht. Nun ja, gute Nacht, meine Liebe.“

„Gute Nacht, Papa.“ Mirabel stieg die restlichen Stufen hinauf und ging in ihr Zimmer. Doch sie fand keine Ruhe, obwohl sie müde war. Sie sagte sich, dass ihre Nerven überreizt waren, weil sie nicht darauf vorbereitet gewesen war. Wenn sie nur rechtzeitig von Mr. Carsingtons Ankunft gewusst hätte … aber sie hatte nichts davon gewusst, hatte diese Wendung der Ereignisse nicht einmal geahnt.

Sie hatte Lord Gordmor falsch eingeschätzt, und das könnte verheerende Folgen haben. Niemals hätte sie sich träumen lassen, dass er so hartnäckig sein würde.

Sie hatte sich getäuscht, und nun war es zu spät, den Fehler wiedergutzumachen. Ihr blieb nur, es sich eine Lehre sein zu lassen. Sie hatte ihr Kalkül auf unzureichende Informationen begründet. Diesen Fehler würde sie kein zweites Mal machen.

Nachdem sie sich ihrer durchnässten Kleider entledigt und in ein warmes Nachthemd und einen Morgenmantel gehüllt hatte, ging sie in ihr Wohnzimmer. Dort machte sie es sich in einem gemütlichen Sessel vor dem Kaminfeuer bequem und schrieb einen Brief an Lady Sherfield in London. Sollte es etwas über Mr. Carsington zu wissen geben, von dem Tante Clothilde nicht wusste, dann musste man es nicht wissen.

 

Wie Miss Oldridge ihm prophezeit hatte, brauchte Alistair tatsächlich zwei Stunden für „die paar Meilen“ von Oldridge Hall bis zu Wilkersons Hotel, in dem er logierte.

Er traf dort bis auf die Haut durchnässt ein, was seinem Bein entschieden zuwider war, sodass es sich folglich auch widersetzte, ihm beim Treppensteigen gute Dienste zu leisten.

Aber Alistair war die Launen seines Beines schon gewohnt und schaffte es auch ohne dessen Wohlwollen bis in sein Schlafzimmer. Dort empfing ihn sein Kammerdiener Crewe, der seine Missbilligung mit einem Hüsteln zum Ausdruck brachte und ein heißes Bad empfahl.

„Es ist bereits zu spät, um die Diener heißes Wasser nach oben schleppen zu lassen“, meinte Alistair.

Er ließ sich in einen Sessel vor dem Kaminfeuer fallen und begann, sein erbostes Bein zu massieren. Währenddessen schilderte er seinem Kammerdiener die Tücken des Tages – wohlbemerkt unter Auslassung seiner befremdlichen Reaktion auf Miss Oldridge.

„Es tut mir leid, Sir, dass Sie bei diesem Wetter einen so langen Weg ganz umsonst gemacht haben“, bemerkte Crewe. „Soll ich Ihnen vielleicht eine Flasche Wein und etwas zu essen holen?“

„Ich bin bereits mehr als reichlich verpflegt worden“, erwiderte Alistair. „Mr. Oldridge scheint zwei große Leidenschaften zu haben: die Botanik und sein Abendessen.“

„Das ist wohl wahr, Sir. Die hiesigen Diener haben mir einhellig berichtet, dass er noch nie zu spät zum Abendessen erschienen ist, sich dafür aber in jeder anderen Hinsicht verspätet oder gleich ganz abwesend ist.“

„Ich wäre besser hiergeblieben und hätte mir das Gerede der Dienstboten angehört“, stellte Alistair fest und sah gedankenverloren in die Flammen. „Ich war schlecht auf die Begegnung vorbereitet.“ Die glühenden Kohlen weckten in ihm Erinnerungen an Miss Oldridges Haar – wie es im Schein der Kerzen mal golden geschimmert und dann wieder feurig rot geleuchtet hatte. „Seine Tochter …“ Er zögerte. „Für ihr Alter vertritt sie ihre Ansichten recht entschieden.“

„Es heißt, sie sei eine sehr außergewöhnliche Dame, Sir. Das muss sie wohl auch sein, wenn sie ein so großes Anwesen führt und die Aufgaben ihres Vaters versieht.“

Alistair blickte auf und sah seinen Kammerdiener fragend an. „Miss Oldridge führt das Anwesen?“

„Sie kümmert sich um alles. Mir wurde erzählt, dass ihr Verwalter ohne ihre Zustimmung kaum zu atmen wagt. Sir, geht es Ihnen nicht gut? Vielleicht sollte ich doch besser etwas Wein holen. Oder eine heiße Würzmilch – denn sicher wünschen Sie nicht, ausgerechnet jetzt eine Erkältung zu riskieren, wo Sie doch so viel zu tun haben.“

Wenngleich er sich keineswegs krank fühlte, ließ Alistair seinen Kammerdiener gehen, damit er ihm eines seiner Milchgebräue bereite.

Derweil nutzte Alistair die Zeit, um in Ruhe das soeben Gehörte zu verdauen.

Das schlecht gekleidete, vorlaute Mädchen mit dem feuerroten Haar führte eines der größten Anwesen in Derbyshire!

„Nun, irgendjemand muss es ja machen“, brummelte er nach einer Weile, als er sich mit der neuen Situation abgefunden hatte. „Er kümmert sich offensichtlich nicht darum. Wie sie schon sagte: Wenn es nichts Botanisches ist, wird er ihm keine Aufmerksamkeit schenken.“

Auf einmal bemerkte er, dass Crewe bereits mit dem heißen Getränk neben ihm stand. „Hatten Sie etwas gesagt, Sir?“

„Wie alt ist sie?“, wollte Alistair wissen. „Ganz sicher kein junges Mädchen mehr. Ein Mädchen könnte unmöglich … Warum ist es mir nicht aufgefallen?“ Er schüttelte den Kopf und nahm die Tasse von seinem Kammerdiener entgegen. „Hat die redselige Dienerschaft zufälligerweise auch erwähnt, wie alt Miss Oldridge ist?“

„Einunddreißig“, antwortete Crewe.

Der Schluck Würzmilch, den Alistair gerade genommen hatte, landete geradewegs in der Luftröhre. Nachdem er aufgehört hatte zu husten und wieder zu Atem gekommen war, brach er in Gelächter aus. Was blieb ihm anderes übrig – der Witz ging auf seine Kosten.

„Einunddreißig“, wiederholte er.

„Seit letztem Monat, Sir.“

„Ich dachte, sie sei noch ein junges Mädchen“, sagte Alistair. „Jeder würde das gedacht haben. Ein schlankes, junges Mädchen mit einem Schopf kupferroten Haars und großen blauen Augen und einem solchen Lächeln …“ Er blickte auf die Tasse in seinen Händen, und bei der Erinnerung verging ihm sein eigenes Lächeln. „Der Herr möge uns beistehen. Der Kanal … alles hängt von ihr ab.“