Leseprobe Glei schebberts

1

„Des isch jetzt aber net Ihr Ernscht!“ Erbost stemmte Franzi ihre Hände in die Hüften und funkelte den vor ihr stehenden Mann wütend an.

„Was wollen Sie denn?“, antwortete der und zuckte mit den Schultern. „Immerhin hab ich Sie doch verständigt.“

Franzi atmete tief durch und zählte bis zehn. Das tat sie immer, wenn sie wütend war, und das war sie. Stinksauer! „Wann ham Sie die Leiche noch mal gefunden?“, fragte sie nun deutlich ruhiger.

„Das hab ich Ihnen doch bereits gesagt! Das war gestern.“ Verständnislose Blicke trafen Franzi.

„Sie ham geschtern ein Skelett g’funden und ham uns heute erscht verständigt? Versteh i Sie da wirklich richtig, Herr Professor?“

Gutmann kratzte sich verwirrt an seiner Halbglatze. „Äh, ja. Aber ich versteh Ihre ganze Aufregung nicht. Es handelt sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit um einen Skelettfund aus der Römerzeit. Die Beschaffenheit der Knochen verrät, dass die Leiche verbrannt wurde, was für die damalige Zeit üblich war, verstehen Sie?“

„Was heutzutage üblich isch, Herr Professor, isch, dass man sofort die Polizei verständigt, wenn man eine Leiche findet!“ Franzi schüttelte erneut den Kopf über so viel Ignoranz und Dummheit.

„Aber …“

„Nix aber!“, sagte Franzi energisch. „Sie können von Glück sagen, wenn die Staatsanwaltschaft Ihnen da keinen Strick draus dreht! Die werden gar net erfreut sein, wenn die hören, dass Sie uns den Fund der Leiche net sofort g’meldet ham!“ Sie fuhr sich durch die Locken.

Professor Gutmann trug inzwischen eine ungesunde Gesichtsfarbe zur Schau. „Frau Kommissarin, ich bitte Sie, warum so kleinlich? Ich hab Ihnen den Fund doch gleich heute gemeldet, und jetzt machen Sie so ein Drama draus. Außerdem sehen Sie doch, dass die Überreste eine deutliche dunkle Verfärbung aufweisen, was auf eine Brandbestattung hinweist. Das lässt eindeutig auf eine römische Bestattungszeremonie schließen.“

Er zog ein weißes Stofftaschentuch aus seiner Tasche und fuhr sich hastig über die schwitzende Halbglatze.

Franzi zog die Augenbrauen hoch. Der Professor schien wirklich auf dem Schlauch zu stehen.

„Jetzt nomml für Sie zum Mitschreiben …“, sagte sie langsam und in einem Tonfall, der deutlich machte, dass sie mit ihrer Geduld am Ende war. „Wenn Sie in Zukunft eine Leiche finden, melden Sie die uns g’fälligscht sofort! Klar so weit?“

„Aber wenn die Leiche doch gar nicht in ihren Aufgabenbereich fällt, Frau Kommissarin!“, sagte er, während er nervös seine Hände knetete.

„Und wer bitte entscheidet des?“, fragte Franzi genervt. „Etwa Sie? Sicher net!“

„Was gedenken Sie nun zu tun?“, fragte der Professor.

„Na, was wohl? Die Leiche muss in die Gerichtsmedizin, damit die Kollegen dort feststellen können, wie lange das Skelett schon in der Erde lag.“

„Sind Sie wahnsinnig?“, rief Gutmann entsetzt. „Womöglich befinden sich im direkten Umfeld des Skeletts weitere Funde von unschätzbarem Wert! Die Bergung darf auf keinen Fall überhastet erfolgen, um die Stelle nicht zu kompromittieren!“

Franzi lachte auf. „Ach, Sie meinen, wir könnten die Stelle kompromittieren?“ Sie malte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft. „Und Sie? Ham Sie etwa net so gut wie alle Spuren unweigerlich zerstört, als Sie mit unzähligen Leuten an dem oder der Toten rumgekrabbelt haben?“

„Rumgekrabbelt?“ Professor Gutmann schob erbost seine Brille hoch. „Das verbitte ich mir. Wir krabbeln nicht an Sachen herum, wir untersuchen Gegenstände höchst wissenschaftlich!“

„Wobei Sie sämtliche für uns relevante Spuren höchstwahrscheinlich vernichtet haben“, erwiderte Franzi trocken.

„Das ist ein Skelett aus der Römerzeit, verstehen Sie das doch endlich! Es hat für Sie keinerlei Relevanz!“

„Wir werden sehen“, knurrte Franzi. „I ruf jetzt jedenfalls die Spurensicherung an, und Sie entfernen sich bitte sofort vom Ort des Geschehens.“

Franzi ließ den nach Luft schnappenden Professor am Rand der Grube zurück und kletterte kopfschüttelnd nach oben. Dort zog sie ihr Handy aus der Tasche und verständigte die Spurensicherung, die zusagte, baldmöglichst vor Ort zu sein.

Eine Dreiviertelstunde später rollten die weißen Lieferwagen der SpuSi endlich an. Franzi begrüßte die Kollegen und gab ihnen eine kurze Einweisung.

„Es gibt eine kleine Planänderung“, sagte Paul Winkler, der Leiter der Abteilung. Erstaunt zog Franzi die linke Braue hoch. „Der Chef hat grad angerufen und uns angewiesen, uns erst mal im Hintergrund zu halten. Die Archäologen bekommen noch Zeit, im Umfeld des Skeletts zu graben, bevor wir es entfernen. Wir sollen lediglich dabei sein und aufpassen, dass keine für uns relevanten Spuren zerstört werden.“

Entsetzt starrte Franzi ihn an. „Aber … Wieso …?“ Vor Aufregung brachte sie kaum ein vernünftiges Wort heraus.

„Der Gutmann hat anscheinend beste Kontakte zum Chef. Die kennen sich schon ewig, verstehsch?“

Franzi schüttelte erbost den Kopf. „Des isch doch net richtig! Was soll denn dieser ganze Mischt?“

Winkler legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. „Kein Stress, Franzi, so wie du mir das vorhin geschildert hast, haben die eh schon so gut wie alles angefasst. Da macht’s wirklich keinen Unterschied mehr, ob wir etwas früher oder später ran können. Außerdem sind wir ja jetzt da und können aufpassen, dass die nix mehr antatschen, was sie nix angeht.“

Franzi seufzte. Sie hasste Vetternwirtschaft, bei der man nur kurz den Hörer in die Hand nehmen musste, um einen Gefallen einzufordern.

„Wann dürft ihr ran?“, fragte sie resignierend.

„In ein, zwei Tagen, hat er gesagt. Dann sehen wir weiter. Wir geben dir Bescheid, wenn wir was haben.“

Franzi nickte, verabschiedete sich und trat den Rückzug an. Im Weggehen nahm sie noch Professor Gutmanns zufriedenen Gesichtsausdruck wahr, der sein Team wieder um sich versammelte.

Sie gab dem Streifenwagen, der sie hergebracht hatte, kurz Bescheid, dass er abziehen konnte. Jetzt benötigte sie dringend etwas frische Luft. Die Ausgrabungsstelle lag in der Nähe des Augsburger Doms, war also sehr zentral gelegen, was ihr gerade recht kam. So konnte sie ihre Mittagspause gleich in der Stadt verbringen und erst ins Präsidium zurückkehren, wenn der gröbste Ärger verraucht war.

Nachdem sie um die Ecke gebogen war, kam sie in die Frauentorstraße, die zwischen dem Dom und dem Fischertor verlief. Franzi liebte diese Gegend, auch wenn sie nicht besonders häufig hier war. Hier war immer was los. Zwei große Schulen standen in direkter Nachbarschaft, weswegen auch Horden von Kindern und Jugendlichen unterwegs waren, und es fanden sich außerdem noch alteingesessene Geschäfte, wie zum Beispiel ein Hutladen, bei dem früher ihre Oma immer eingekauft hatte. Außerdem konnte man hier richtig gut essen. Für jeden Geschmack war etwas dabei.

Nach einigem Überlegen entschied sich Franzi für ein Dürüm, weil es einfach gar zu köstlich aus dem türkischen Schnellimbiss duftete. Mit ihrer Beute in der Hand lief sie die wenigen Meter bis zum Platz vor dem Dom, wo sie sich auf einer Bank in der Sonne niederließ, um ihre Mahlzeit zu genießen. Beim ersten Bissen schloss sie genießerisch die Augen. Das war jetzt genau das Richtige nach dem ganzen Ärger eben! Dieser Professor Gutmann war aber auch ein Vollpfosten! Franzi schüttelte den Kopf. Sie hatte wirklich keine Lust, sich über diesen Trottel aufzuregen. Dazu war ihr ihre Mittagspause viel zu schade.

Während sie genüsslich weiteraß, ließ sie den Blick über das imposante Bauwerk direkt vor ihren Augen schweifen. Der Augsburger Dom war eine der größten und meistbesuchten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Kein Wunder, immerhin war er auch schon richtig alt, da er aus dem Mittelalter stammte. Der ehemalige Papst Johannes Paul II. hatte hier sogar vor vielen Jahren mal Halt gemacht und einen Gottesdienst gefeiert. Franzi war damals zwar noch ein Kind gewesen, konnte sich aber gut daran erinnern, wie unzählige Augsburgerinnen und Augsburger dem Pontifex auf den Straßen zugejubelt hatten und dass der gut gelaunte Papst lächelnd aus seinem Papamobil zurückgewinkt hatte.

Franzi wischte sich mit der Serviette über den Mund. Das Dürüm war richtig lecker gewesen! Mit den Augen folgte sie einer Schulklasse, die auf die Rückseite des Doms zusteuerte. Eine junge, energische Lehrerin lief voran, gefolgt von einer Meute Jugendlicher, die es nicht besonders eilig hatten, ihrer motivierten Lehrkraft zu folgen. Immer wieder musste sie stehen bleiben und die Kids antreiben. Sicher wollten sie zu den römischen Artefakten, die hinter dem Dom unter einer Bedachung ausgestellt waren. Eigentlich handelte es sich dabei nur um Nachbildungen, doch sie wirkten überaus realistisch und durften darüber hinaus angefasst werden. Franzi musste unwillkürlich grinsen, als sie sich vorstellte, wie unzählige Kinderhände, vor Professor Gutmanns Augen, original römische Artefakte betatschten. Der Gute würde dabei sicher einen Herzkasper erleiden.

Seufzend erhob sie sich und warf ihren Abfall in den Mülleimer, der neben der Bank bereitstand. Gerne würde sie jetzt noch ein Weilchen in der Sonne sitzen bleiben, aber die Arbeit rief. Entschlossen machte sie sich auf den Weg. Unweit des Doms war eine Straßenbahnhaltestelle, zu der sie sich nun aufmachte.

 

Als sie eine Viertelstunde später vor dem Polizeipräsidium Schwaben Nord ausstieg, waren Wolken am Himmel aufgezogen.

Als wüssten die, dass ich jetzt wieder an die Arbeit muss, dachte Franzi amüsiert, während sie die Eingangstür aufdrückte.

„Na, hören Sie mal, die Sarah ist jetzt schon seit gestern verschwunden!“, hörte sie eine aufgebrachte Männerstimme rufen, kaum dass sie das Innere des Gebäudes betreten hatte.

Vor dem Glaskasten, in dem immer ein Beamter für die Anmeldung von Besuchern saß, stand ein aufgeregter, mittelschlanker Mann, der mit dem Fingerknöchel immer wieder gegen die Scheibe klopfte.

„Das ist doch nicht normal, dass jemand einfach so verschwindet“, sagte er zu der genervt aussehenden Polizistin hinter dem Glas.

„Ich hab Ihnen doch grad schon gesagt, dass es noch viel zu früh ist, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben!“, antwortete diese augenrollend. „Und hören Sie endlich auf, gegen die Scheibe zu klopfen! Da wird man ja wahnsinnig!“

„Aber die Sarah …“ Der Mann legte seine Hand auf die Scheibe.

„Wird höchstwahrscheinlich längst zu Hause auf Sie warten.“ Die Beamtin zwinkerte Franzi zu, die neugierig stehen geblieben war und den Schlagabtausch verfolgte.

„Das … Das glaube ich aber nicht.“ Der Mann fuhr sich mit der Hand über die Augen. Franzi bekam Mitleid mit ihm, weil er gar so verzweifelt wirkte.

„Wissen’S was?“, sagte sie schließlich zu ihm. „Kommen’S doch einfach mit mir nei und erzählen mir, was eigentlich passiert isch, okay?“

Der nickte ihr dankbar zu. Hoffnung breitete sich in seinen Zügen aus.

„Franziska Danner, Kripo“, sagte Franzi und reichte ihm die Hand, die er kräftig schüttelte.

„Anton Wiebert“, antwortete er.

Franzi nickte der Beamtin am Eingang zu, die ihr ein „Danke“ zuraunte.

„Folgen’S mir doch bittschön“, sagte sie über ihre Schulter und lief zum Aufzug voraus. In ihrem Büro im zweiten Stock angekommen, deutete sie auf die Besucherecke, in der sich ein kleiner runder Tisch mit vier Stühlen befand. Kurz streifte ihr Blick den leeren Schreibtisch, an dem normalerweise ihre Kollegin und beste Freundin Helena saß. Lena hatte sich drei Wochen freigenommen, da sie mit ihrem Verlobten Nick ein Haus baute. Nach der Arbeit würde Franzi auf der Baustelle vorbeifahren, um nach dem Rechten zu sehen. Darauf freute sie sich jetzt schon.

„So“, sagte Franzi und setzte sich Anton Wiebert gegenüber. „Nun erzähln Se mal von Anfang an.“

„Die Sarah ist net heimgekommen, Frau Kommissarin, und jetzt hab ich richtig Angst, dass ihr was passiert ist!“

Nervös nestelte Wiebert an seinem Hemdkragen herum und strich sich über das bereits schütter werdende Haar.

„Fang mer mal ganz von vorne an“, sagte Franzi geduldig. „Wer isch jetzt nomml diese Sarah?“

„Sarah Liebinger, meine Verlobte.“

„Und seit wann isch se weg?“

„Seit gestern … Bitte, Sie müssen was machen!“ Flehend sah Anton Wiebert Franzi an.

„Jetzt beruhigen’S sich doch mal. I bin ja scho dabei, was zu machen, ge?“ Franzi deutete auf ihren Notizblock.

„Ja, klar. Entschuldigen Sie bitte, ich mach mir halt solche Sorgen.“ Er zwirbelte einen kleinen, goldenen Anhänger in seinen Fingern hin und her, der an einer dünnen Kette um seinen Hals hing. Franzi erkannte interessiert, dass es sich dabei um eine winzige Zirbelnuss handelte, das Stadtwappen Augsburgs. So ein Anhänger könnte ihr auch gefallen.

„Verschteh i scho, Herr Wiebert, drum sitz mer ja da. Also, die Sarah isch geschtern net heimgekommen, richtig?“

„Ja, genau!“

„Wann hätten Sie se denn zurückerwartet und von wo?“, fragte Franzi.

„Sarah ist meistens gegen fünf von der Arbeit gekommen, aber obwohl ich’s mehrfach probiert hab, hab ich sie nicht erreichen können.“

Irritiert zog Franzi die Augenbraue hoch. „Erreichen können? Ja, wohnen Sie net mit Ihrer Verlobten zusammen?“

„Nein, leider noch nicht. Ihre Wohnung ist zu klein, meine auch und darum sehen wir uns momentan nach was Geeignetem um, verstehen Sie? Damit wir uns gemeinsam was aufbauen können.“ Wiebert nestelte weiter an seiner Kette herum.

Franzi hoffte, dass diese dem Geruckel standhielt. „Also, wo genau arbeitet jetzt die Frau Liebinger?“

„Ach so, ja … Entschuldigung, das hatten Sie ja vorhin schon gefragt. Ich bin nur so durcheinander!“

Franzi nickte verständnisvoll und lächelte ihn freundlich an. Sie hatte schon oft erlebt, dass Menschen in Ausnahmesituationen kaum einen klaren Gedanken fassen konnten. „Basst scho, Herr Wiebert. Also nomml, wo arbeitet Ihre Sarah?“

„Beim Augsburger Kurier“, antwortete Herr Wiebert. „Sie ist Journalistin.“

„Haben Sie dort schon nachgefragt, ob Ihre Verlobte heute erschienen ist?“

„Natürlich!“, antwortete Herr Wiebert aufgebracht. „Ich hab gleich heute früh dort angerufen, aber die wollten mir einfach keine Auskunft geben!“ Empört schnaubte er durch die Nase.

„Sie müssen scho verschtehn, Herr Wiebert, dass man heutzutag net jede Auskunft übers Telefon kriegen kann. Der Datenschutz, Sie verschtehn?“

Kraftlos ließ Anton Wiebert die Schultern fallen. „Aber wie soll ich denn sonst rauskriegen, ob die Sarah vielleicht doch in der Arbeit ist?“

„Herr Wiebert“, sagte Franzi freundlich, „für eine Vermisstenanzeige isch es sowieso no zu früh. Was halten’S denn davon, wenn mer einfach no den heutigen Tag abwarten und Sie kommen morgen nomml her, falls Ihre Verlobte wirklich net auftaucht.“

Anton Wiebert wischte sich über die Augen. „Aber dann ist es sicher schon zu spät“, flüsterte er heiser.

„Aber woher denn?“ Franzi suchte seinen Blick und lächelte ihn aufmunternd an. „Wahrscheinlich isch Ihrer Sarah bloß was dazwischengekommen und sie isch zurzeit putzmunter in der Arbeit.“

„Warum konnte ich sie dann gestern die ganze Zeit nicht auf dem Handy erreichen?“

„Akku leer?“

Anton Wiebert schwieg eine Weile bedrückt. Dann sah er auf. „Frau Kommissarin, ich hab da ein ganz mieses Gefühl.“

„Es isch ja au völlig normal, dass Sie beunruhigt sind, Herr Wiebert“, sagte Franzi beschwichtigend. „Aber in den allermeisten Fällen steckt ’ne völlig harmlose Erklärung dahinter, wenn man ’ne Person net erreichen kann. Mal spinnt der Akku, mal ein spontanes Treffen mit jemandem, den man schon lange net mehr g’sehen hat … Es gibt unzählige Gründe, warum ma jemanden a mal ’ne Zeitlang net erreichen kann.“

„Meinen Sie?“

Franzi nickte bestimmt. „Ja, mein i. Jetzt gehn’S nach Hause und versuchen’S weiterhin, Ihre Verlobte zu erreichen, ja?“

Sie erhob sich und wartete, bis Anton Wiebert ebenfalls aufstand, bevor sie ihm die Hand reichte.

„Ach, eins wollt i Sie no fragen. Wo ham sie eigentlich diese schöne Kette her?“, fragte Franzi und deutete auf die winzige Zirbelnuss.

„Ach, das alte Ding! Die hat mir damals mein Mentor an der Uni geschenkt.“

„Ach so … Also, i find die richtig schön! Passt gut zu unserer Stadt. Auf Wiederschaun und Kopf hoch!“

Wiebert verabschiedete sich zögerlich und verließ das Büro.

Franzi seufzte. Ihr tat der Mann ja leid, aber was sie ihm gesagt hatte, entsprach absolut der Wahrheit. In den allermeisten Fällen steckten harmlose Erklärungen dahinter, wenn jemand vermeintlich verschwand. Man blickte ja nicht hinter die Kulissen. Vielleicht hatten sich die beiden gestritten und Sarah Liebinger benötigte eine Auszeit? Da wäre sie nicht die Erste und würde auch nicht die Letzte sein, die ihren Lebensgefährten dann kurzzeitig auf Abstand hielt oder ghostete, wie man auf Neudeutsch sagte.

In Deutschland verschwanden durchschnittlich gut einhunderttausend Personen pro Jahr. Das entsprach immerhin zwischen zweihundert und dreihundert Vermisstenmeldungen pro Tag! Über fünfzig Prozent der Fälle klärten sich innerhalb der ersten Woche auf. Weitere dreißig Prozent lösten sich binnen eines Monats. Nur eine sehr geringe Anzahl an Fällen blieb tatsächlich über längere Zeit ungelöst. Herr Wiebert hatte also sehr gute Chancen, seine Verlobte gesund und munter wiederzusehen. Franzi wünschte es ihm von ganzem Herzen. Doch sie würde diesbezüglich heute nichts unternehmen können, da die vorgeschriebene Frist eingehalten werden musste. Alle würden ihr den Vogel zeigen, wenn sie bereits nach knapp vierundzwanzig Stunden eine Fahndung nach der Frau herausgeben würde. Die Wahrscheinlichkeit war viel zu groß, dass Sarah Liebinger einfach nur eine Zeitlang nicht erreichbar war oder nicht erreicht werden wollte.

Sie sah auf die Uhr. In zwei Stunden war Feierabend. Sie beschloss, den Bericht über den Vorfall auf der Ausgrabungsstelle anzufertigen. Den würde sie heute noch weiterleiten.

Während sie schrieb, kochte ihre Wut wieder hoch. Sie atmete tief durch und gönnte sich ein paar Tropfen Lavendelöl auf ihren Handgelenken. Das roch nicht nur herrlich, sondern wirkte auch wunderbar beruhigend.

Als sie endlich fertig war, war beinahe Feierabend. Franzi beschloss, heute eine Viertelstunde früher zu gehen, da sie es sowieso kaum erwarten konnte, Lena endlich wiederzusehen. Die gemeinsame Arbeit fehlte ihr und sie konnte und wollte sich überhaupt nicht mehr vorstellen, ohne ihre Partnerin zu sein. Als Lena vor ein paar Jahren von Hamburg nach Augsburg gezogen war, hatten sich die beiden schnell angefreundet, auch wenn Lena am Anfang ziemliche Probleme mit dem Augsburger Dialekt hatte. Aber inzwischen hatte sie sich in der wunderschönen Fuggerstadt voll eingewöhnt und baute mit ihrem Verlobten sogar ein Haus ganz in Franzis Nähe, um sich permanent hier niederzulassen.

Franzi schnappte sich ihren Fahrradhelm vom Garderobenständer und warf sich ihre leichte Jacke über. Die letzten Tage waren ungewöhnlich warm gewesen, aber manchmal wurde es jetzt Ende Mai noch etwas ungemütlich.

Nach einer gemächlichen Fahrt erreichte sie schließlich den Stadtteil Göggingen, im Augsburger Süden. Sie beschloss, zunächst ihr Fahrrad heimzubringen und es dort abzustellen und gleichzeitig ihre geliebten Hunde zu holen, die sicher schon sehnsüchtig auf sie warteten. Tatsächlich wartete ihr Waschtl bereits an der Gartentür auf sie und wedelte freudig mit dem Schwanz. Kaum dass Franzi die Tür geöffnet hatte, stürzte sich der riesige Hund auch schon auf sie und schlabberte ihr über das ganze Gesicht.

„Ihhh, du Bär“, rief Franzi kichernd. Sie wuschelte über seinen verfilzten Kopf und drückte ihn fest an sich. „Ja, du hasch mir au gefehlt!“, raunte sie ihm zu. „Wer isch mein Beschter? Du bisch mein Beschter!“ Sie drückte ihm einen dicken Schmatzer auf den Kopf, bevor sie sich suchend umsah. „Aber wo isch denn mein Guschtl?“

Es raschelte im Gebüsch, aus dem plötzlich ein Langhaardackel herausschoss. Franzi bückte sich lächelnd und nahm den kleinen Hund auf den Arm.

„Ja, Herr Guschtav, da bisch du ja! Wo warsch denn du scho wieder, du Baraber? Ah ge, du Saubär, dei ganzes Fell isch voller Kletten!“ Liebevoll entfernte sie die lästigen Anhängsel.

„Kommt’s, ihr zwei, lasst’s uns zur Lena gehn. Da könnt’s ihr rumtoben, soviel ihr wollt’s!“

Sie setzte Herrn Guschtav wieder auf dem Boden ab, wo der kleine Hund sofort mit Waschtl um sie herumhüpfte. Franzi ging bei diesem Anblick das Herz auf. Herr Guschtav wohnte erst seit einem halben Jahr bei ihr. Als ihre liebe Freundin Marie bei einem tragischen Brand ums Leben gekommen war, hatte sie den Kleinen adoptiert und seitdem waren ihr Waschtl und Herr Guschtav ein Herz und eine Seele. Obwohl der Dackel nach einem Unfall nur noch drei Beine hatte, stand er dem viel größeren Waschtl in nichts nach und tobte mit ihm durch den ganzen Garten.

Franzi holte die Leinen der Hunde und machte sich auf den Weg zu Lena. Dies dauerte nur zwei Minuten, worüber Franzi sich wahnsinnig freute. Nach Maries Tod hatte sie das Grundstück ihrer Freundin geerbt, und sie hatte nicht lang überlegen müssen, was sie damit anstellen wollte. Früher hatte sie unzählige Stunden in Maries gemütlichem Garten zugebracht und mit ihr über Gott und die Welt geredet. Was lag da näher, als Lena das Grundstück zu schenken, und somit ihre beste Freundin ganz in ihrer Nähe zu wissen?

Lautes Hämmern und Sägen unterbrach Franzis Gedanken. Sie staunte, als sie um die Ecke bog und sah, wie weit Lenas Haus schon gediehen war. Lena hatte sich unbedingt ein Holzhaus gewünscht, wovon der Holzrahmen bereits stand. Sogar das Dachgerüst war aufgerichtet worden. Seit Franzi vor drei Tagen das letzte Mal hier gewesen war, hatte sich richtig was getan.

„Ja, die Franzi!“, erklang eine fröhliche Stimme. „Wie schön!“

Franzi sah Helena freudestrahlend auf sich zulaufen. Die provisorische Gartentür war nur angelehnt, und so dauerte es nicht lang und Franzi fand sich in einer innigen Umarmung mit ihrer Freundin wieder. Waschtl und Herr Guschtav bellten um die Wette und sprangen an den Frauen hoch, wodurch die sich in den Leinen verhedderten.

Helena lachte. „Ja, ihr zwei dürft natürlich auch nicht fehlen!“ Sie streichelte die Hunde ausgiebig, während Franzi schmunzelnd die Leinen entwirrte.

„Kommt doch rein“, sagte Helena und hielt das Gartentürchen einladend auf.

Das ließ sich Franzi nicht zweimal sagen. Sie betrat mit den Hunden das Grundstück und wickelte eine Leine sorgfältig um das Gartentürchen, um es zu verschließen, damit Waschtl und Herr Guschtav nicht ausbüxten.

„Sieh mal, Nick“, hörte sie Helena rufen. „Wir haben Besuch!“

Das Sägen verstummte und eine staubige Gestalt kam aus dem Inneren des Rohbaus.

„Ach, die Franzi!“, rief Nick erfreut. „Bist du heute etwa schon fertig damit, böse Buben zu fangen?“ Er zog sich die Handschuhe aus und stopfte sie in den Hosenbund, bevor er sich vorbeugte und Franzi ein Küsschen auf die Wange gab.

„Hallo, Nick“, antwortete Franzi grinsend. „Böse Buben fang i lieber mit deiner Lena, also hab i mer gedacht, dass i lieber zu euch komm, als im Präsidium rumzuhängen.“

Nick lachte. „Bald hast du sie ja wieder!“

„Obacht!“, rief jemand vom Dach. „Glei schebberts!“

Gerade noch rechtzeitig sprangen die drei zur Seite, bevor eine lange Latte neben ihnen auf den Boden knallte.

„Sorry! Die ist mir ausgekommen!“

Franzi sah nach oben. Von dort blickte ein besorgtes Gesicht auf sie herunter. Mo! Sie wurde rot. Wenn sie ehrlich war, hatte sie gehofft, den schmucken Zimmermann hier anzutreffen.

„Ist nix passiert, oder?“

Alle schüttelten den Kopf.

„Da bin ich aber froh“, rief Mo erleichtert. „Was ist eigentlich mit mir?“, rief er an Franzi gewandt.

„Was soll mit dir sein?“, fragte sie irritiert.

„Krieg i etwa keinen Begrüßungskuss?“, erwiderte er prompt.

Franzi riss die Augen auf. Offenbar hatte er von oben gesehen, wie sie sich mit Lena und Nick begrüßt hatte.

„Einen Kuss? Ja, sag mal, spinnsch du?“

„Der Nick hat doch au einen bekommen!“, rief Mo über beide Backen grinsend.

„Des war höchschtens ein Küsschen und des au nur auf die Wange“, sagte Franzi. Aus dem Augenwinkel sah sie Helena breit grinsen.

„Macht ja nix! Du kannsch mich natürlich au woandersch hin küssen“, antwortete Mo frech.

Franzi drohte ihm spielerisch mit der Faust, bevor sie sich schnell wegdrehte, damit er das verräterische Leuchten in ihren Augen nicht zu sehen bekam.

Als sie Moritz vor einem halben Jahr zum ersten Mal begegnet war, hätte sie nie gedacht, dass sie ihm von da an so oft über den Weg laufen würde. Als Lena angefangen hatte, ein Holzhaus zu planen, war Zimmermann Mo gleich mit Feuereifer bei der Sache gewesen und seitdem sahen sie sich regelmäßig, wenn auch nur auf der Baustelle. Die Luft knisterte jedes Mal gewaltig, wenn Franzi und Mo sich sahen, zumindest fühlte es sich für sie so an. Ob irgendwann einmal mehr daraus werden würde, stand in den Sternen.

Lächelnd sah sie, wie Nick seine Lena in eine enge Umarmung zog, ihr Dinge ins Ohr flüsterte, die sie zum Erröten brachten, und ihr einen Kuss auf die Nasenspitze gab, bevor er sich wieder an die Arbeit machte. Liebe musste so schön sein!

 

Kurze Zeit später hatten es sich Franzi und Helena unter einem Sonnenschirm im hinteren Teil des Gartens auf zwei klapprigen Gartenstühlen gemütlich gemacht. Wobei der Begriff Garten echt übertrieben war, da die ganze Fläche durchgängig von einer Walze planiert worden war und kaum ein Hälmchen darauf wuchs. Durch den Brand und die schweren Maschinen, die das Haus danach abgerissen hatten, war der Garten so schlimm beschädigt worden, dass sie ihn vor dem Neubau erst einmal komplett planieren mussten.

Franzi ließ den Blick schweifen und seufzte. „Troschtlos!“

Helena nickte. „Ja, da hast du völlig recht, aber lange hält dieser Zustand ja nicht mehr an, nicht wahr?“ Sie zwinkerte ihrer Freundin zu und grinste.

Helena hatte Franzi das Versprechen abgerungen, ihr bei der Neugestaltung des Gartens zur Hand zu gehen, und die war gleich Feuer und Flamme gewesen. Franzi liebte Gartenarbeit und hatte schon zahllose Ideen im Kopf, die nur auf ihre Umsetzung warteten.

„I würd am liebschten heut scho anfangen!“, sagte Franzi sehnsüchtig.

Helena lachte. „Ich weiß! Mir geht es ja nicht viel anders, aber du weißt doch …“

„Ja, ja … Erscht, wenn der Rohbau von außen komplett fertig isch!“

„Eben.“ Helena legte Franzi die Hand auf die Schulter und suchte ihren Blick. „Sonst würden die Bauleute alles wieder zusammentrampeln, was du mühevoll angelegt hast. Das wäre doch jammerschade!“

„Du hasch ja recht. Aber mir isch es halt so schwer ums Herz, wenn i an Marie und ihren wunderschönen Garten denk!“

Helena legte ihre Hand auf Franzis Arm und sah sie ernst an. „Das weiß ich doch, meine Liebe. Aber glaub mir, der Garten wird wieder genauso schön, wie er einmal war!“

„Des wird die Marie freuen, wenn sie uns von da oben zuguckt“, sagte Franzi leise.

„Aber klar tut sie das“, antwortete Helena ernsthaft. „Und sie ist mit Sicherheit unheimlich stolz auf dich, weil du dich so gut um ihren Herrn Gustav kümmerst.“ Sie beugte sich vor und sah Franzi in die Augen. „Und weil du mir und Nick das Grundstück so großzügig überlassen hast! Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar wir dir sind! Wir hätten uns doch niemals ein Haus, noch dazu in dieser Gegend, leisten können!“

Franzi wurde rot und winkte ab. „Jetzt hörsch aber auf, Lena! Du weißsch doch, dass des alles andere als uneigennützig von mir war. I wollt di halt in meiner Nähe ham! Und i werd euch no oft g’nug auf’n Keks gehen. Wirsch scho sehen!“

Helena lachte. „Du bist hier immer willkommen, liebste Franzi! Für mich ist es doch auch das Größte, dich in meiner Nähe zu wissen!“ Sie stand auf und umarmte Franzi fest.

„So, und jetzt hole ich uns mal was zu trinken. Bei dem ganzen Staub hier bekommt man ja eine trockene Kehle!“

Franzi grinste. Tatsächlich schwirrten überall winzige Holzpartikel durch die Luft, was auch der einzige Grund für den aufgespannten Sonnenschirm war, da es jetzt im Frühling noch nicht so heiß war, dass man ihn gebraucht hätte.

Helena lief zu einer großen Kühlbox und holte eine Flasche Saft und zwei Gläser heraus. Sie drehte sich zu Franzi um und schwenkte die Flasche in der Luft.

„Schau mal, Nicks Kollege vom Stadtmarkt war zu Besuch und hat frisch gepressten Rhabarbersaft mitgebracht.“

„Hmmm … Des isch ja toll“, sagte Franzi erfreut. „Da hat sich mei Besuch ja scho gelohnt.“

Helena drohte ihr spielerisch mit dem Finger. „Und ich hab gedacht, dass du wegen mir gekommen bist …“

Franzi grinste und nahm Helena die Gläser ab, die von ihr umgehend gefüllt wurden.

„Wieso sollt i denn wegs dir kommen? I kann di doch au im Büro sehen, wenn du wieder da bisch.“

Helena lachte. „Du bist vielleicht eine! Aber mir ist eh klar, dass ich nicht der einzige Grund für deinen Besuch bin.“ Sie prostete Franzi zu und deutete mit dem Kopf in Richtung Haus.

Franzi folgte ihrem Blick und sah Mo auf dem Dachgerüst herumkraxeln. Prompt spürte sie Wärme in den Wangen aufsteigen. „I weiß gar net, was du meinsch“, sagte sie mit Unschuldsmiene, obwohl ihr klar war, dass ihre roten Wangen ihre Worte Lügen straften.

Sie tranken den erfrischenden Saft und anschließend berichtete Franzi von ihrem Arbeitstag. Als sie ihre Begegnung mit dem Archäologen beschrieb, musste Helena mehrmals laut lachen. „Der tut mir ja schon beinahe leid, der gute Herr Professor“, sagte sie und kicherte.

„Ach was!“, rief Franzi aufgebracht, „Der hat doch net alle Tassen im Schrank! Findet ’ne Leiche und ruft erscht am nächschten Tag die Polizei! Wo gibt’s denn so was?“

„Na ja“, erwiderte Helena, „es war ja eher ein Skelett, wenn ich dich richtig verstanden habe, und keine frische Leiche mehr. Aber ich gebe dir schon recht, der hätte uns gleich verständigen müssen.“

„Ja, genau! Und dann ruft der au no sein Spezl an und verhindert, dass wir ordentlich unsre Arbeit machen können!“ Franzi schnaubte empört durch die Nase.

„Das ist allerdings ein starkes Stück!“, sagte Helena kopfschüttelnd. „Das hätte ich dem Mayer gar nicht zugetraut!“

Kriminalhauptkommissar Mayer war Franzis und Helenas Chef, der sich bisher eigentlich immer korrekt verhalten hatte. Ein typischer Beamtentyp, etwas bieder, aber normalerweise absolut zuverlässig.

„Ach, wo findsch des heutzutag net, diese Spezlwirtschaft“, meinte Franzi resignierend. Sie zuckte mit den Schultern und winkte ab. „Aber weißsch was, von dene beide lass mer uns fei net den Feierabend versauen, gell?“

Helena lachte. „Da hast du aber so was von recht! Prost, Franzi!“ Sie stieß mit ihrem Glas gegen Franzis.

„Fascht hätt i’s vergessen“, sagte Franzi. „Da war no so ’n Mann im Präsidium …“ Sie berichtete von ihrer Begegnung mit Anton Wiebert.

Helena hörte aufmerksam zu und hob schließlich hilflos ihre Hände. „Was soll man da machen? Uns sind in so einem Fall halt die Hände gebunden. Ich kann mir schon vorstellen, dass dir das schwerfällt, das würde mir genauso gehen. Aber so leid es einem tut, so ist es nun mal. Hoffentlich klärt sich die Sache mit der verschwundenen Verlobten schnell auf.“

Franzi nickte. „I hab ihm au g’sagt, dass sie sicher bald wieder auftaucht. Wahrscheinlich hockt der jetzt eh grad mit seiner Verlobten z’sam und lacht mit ihr drüber, dass er heut so ’nen Aufriss bei der Polizei g’macht hat.“ Sie trank ihr Glas aus. „Aber jetzt will i mit dir meine neueschten Ideen für den Garten besprechen“, sagte sie und klatschte voller Tatendrang in die Hände. „Was hältsch du von ’nem Hochbeet?“

Helena lachte über Franzis plötzlichen Themenwechsel, und gleich darauf vertieften sie sich in ein Gespräch über Hochbeete, Kräuterspiralen und vieles mehr, sodass die Zeit wie im Flug verging.

 

„Pizza?“, ertönte eine tiefe Stimme und unterbrach ihr Gespräch.

Franzi blickte überrascht auf. Direkt vor ihnen stand Mo, eine riesige Pizzaschachtel, aus der es verführerisch duftete, in beiden Händen balancierend.

„Was für eine hervorragende Idee!“, rief Helena begeistert und klatschte vergnügt in die Hände. Sie sprang von ihrem Stuhl auf. „Ich hole Nick, nicht dass der Arme mir noch verhungert.“ Und weg war sie.

Mo ließ sich auf den frei gewordenen Platz fallen. Die Pizza legte er in Ermangelung eines Tisches auf seinem Schoß ab.

„Mann, bin ich fertig!“ Er streckte sich ausführlich und ließ seinen Kopf kreisen.

„Des glaub i dir gern!“, erwiderte Franzi mitfühlend. „So wie du da oben immer umanander kraxelsch …“

Moritz stand auf und reichte ihr die Schachtel.

„Kannst du bitte kurz halten? Ich möchte mich doch noch kurz frisch machen, bevor wir essen.“

Er lief zum Brunnen, von dem nur noch die Pumpe stand, und betätigte den Hebel. Das Wasser lief in einen bereitstehenden Eimer. Als er voll war, zog Moritz sein verschwitztes T-Shirt aus, beugte sich nach vorne und goss sich das Wasser über Kopf und Oberkörper.

Franzi schluckte. Das Wasser lief in kleinen Bächen über Mos durchtrainierten Körper. Mit einer geschmeidigen Bewegung strich er sich das feuchte Haar nach hinten und wischte sich mit der Hand über das Gesicht.

„Tut das gut!“, bemerkte er zufrieden. Anschließend ergriff er erneut die Pumpe und füllte den Eimer ein zweites Mal. Diesmal tauchte er sein T-Shirt ein und knetete es durch. Dann nahm er das triefnasse Teil heraus und wrang es kräftig aus, bevor er es zum Trocknen über den Pumpenschwengel hängte.

Franzi beobachtete die Szene mit trockenem Mund. Mo war wirklich ein Bild von einem Mann! Sie war sich sicher, dass er sich seines unverschämt guten Aussehens mehr als bewusst war, wie sie seinem verschmitzten Grinsen entnahm, als er zurückkam und sich auf den Stuhl fallen ließ.

„Na, was gesehen, was dir gefällt?“

Franzi schnappte nach Luft. Das war ja wohl die Höhe! Was bildete sich dieser Lackaffe nur ein?

„Ja“, sagte sie trocken. „Die Pizza!“ Sie öffnete den Deckel und nahm sich ein Stück. Nach dem ersten Bissen schloss sie genießerisch die Augen und leckte mit der Zunge über die fettigen Lippen.

Als sie die Augen wieder öffnete, bemerkte sie aus den Augenwinkeln, dass Moritz sie beobachtete.

„Was gucksch du denn so?“, fragte sie irritiert.

„Köstlich“, sagte Mo leise und ließ seinen Blick von der Pizza zu Franzis Lippen schweifen.

Erneut spürte Franzi die verräterische Wärme in ihren Wangen aufsteigen. Schnell nahm sie sich noch ein Stück Pizza, um sich abzulenken.

„He, lasst ihr schon noch was für uns übrig?“, rief jemand hinter ihr.

Franzi drehte den Kopf.

„Klar, Nick! Komm her und hau rein!“

Helena folgte ihrem Verlobten hinterdrein und setzte sich neben ihn auf den Boden.

„Du kannst deinen Stuhl gern zurückhaben“, sagte Moritz, ganz Gentleman der alten Schule.

Helena winkte ab und schmiegte sich an Nicks Seite.

„Ach, lass nur“, sagte sie grinsend, „ich bin genau da, wo ich am allerliebsten bin!“ Sie drückte Nick einen dicken Schmatzer auf die Wange. Der legte lächelnd den Arm um sie und zog Helena fest an sich.

Franzi lächelte. Sie freute sich so für ihre Freundin. Lena so glücklich zu sehen, war das Allergrößte.

Als sie den Kopf drehte, begegnete sie Mos Blick. Er sah sie lange an, bevor er sich an einem neuen Stück Pizza bediente.

Es kribbelte seltsam in Franzis Magen. Ob das die vielgerühmten Schmetterlinge im Bauch waren, von denen sie in kitschigen Liebesromanen gelesen hatte? Sie schüttelte schmunzelnd den Kopf. Nein, sie hatte wahrscheinlich einfach nur Kohldampf. Sie beschloss, sich darüber keine Gedanken zu machen, und langte lieber noch mal kräftig zu.

Erst als es dunkel wurde, machte Franzi sich zum Aufbruch bereit.

„Brrr, isch des jetzt aber kalt g’worden“, sagte sie schaudernd. Sie pfiff durch die Zähne. „Herr Guschtav, Waschtl, mir gehn jetzt!“

Die Hunde kamen angerannt und tollten um sie herum. Franzi lachte. „Jetzt kommt’s aber, ihr zwei, oder habt’s ihr kein Hunger net?“

Waschtl bellte und lief zur Gartentür. Herr Guschtav folgte seinem besten Freund auf dem Fuß.

„Tschüss, Lena, tschüss Nick“, sagte Franzi zu ihren Freunden und umarmte die beiden kräftig. „Danke für alles und bis hoffentlich bald.“

„Das will ich aber hoffen!“, erwiderte Helena augenzwinkernd.

„Ich pack’s jetzt auch. Darf ich dich noch ein Stück begleiten?“, fragte Mo.

Franzi nickte. Während Mo seine Sachen zusammenklaubte, nahm sie die Hunde an die Leine.

„Woll mer durch die Krautgärten gehn?“, fragte sie Mo, als er gehbereit neben ihr stand.

„Gerne“, antwortete er lächelnd.

Franzi wusste, dass Mo einen eigenen kleinen Krautgarten bewirtschaftete. Dort war sie ihm zum ersten Mal begegnet.

Sie verließen das Grundstück und bogen nach links in die Straße ab. Einträchtig schweigend liefen sie nebeneinanderher, bevor sie nach wenigen Gehminuten in die Krautgärten abbogen. Das Areal diente seit vielen Jahren als Anbaumöglichkeit für Obst und Gemüse jeder Art. Es war ursprünglich von der ortsansässigen Hessingklinik angelegt und an Mitarbeitende verpachtet worden. So konnten sich die Menschen früher ihre Lebensmittel selbst anbauen und Geld sparen. Heutzutage waren die kleinen Parzellen an Leute verpachtet, die sich hier ihr eigenes kleines Stück vom Paradies schufen. Im Gegensatz zu Schrebergärten stand hier jedoch der Anbau von Obst und Gemüse im Vordergrund.

Franzi und Mo schlenderten den schmalen Kiesweg entlang, der mitten durch die Parzellen führte. Die Hunde liefen ihnen an der Leine voraus.

„I lieb die Luft hier einfach“, sagte Franzi und atmete tief ein.

„Ich auch“, antwortete Mo lächelnd. „Hast du noch kurz Zeit?“

Franzi sah ihn fragend an.

„Ich würd dir gern noch meinen Krautgarten zeigen, wenn du Lust hast.“

„Au ja!“ Franzi strahlte. „I wollt mir scho immer mal einen von den Gärten genauer ansehen.“

„Dann mal los!“

Mo lief voran und bog nach kurzer Zeit in einen kleinen Weg links ab. Sie liefen an ein paar Parzellen vorbei, bis er schließlich vor einer kleinen hölzernen Gartentür stehen blieb.

„Willkommen in meinem Reich“, sagte er grinsend und hielt ihr galant die Tür auf.

Franzi betrat eine kleine Rasenfläche und wartete dort auf Mo, der das Türchen hinter sich verschloss.

„Wenn du willst, kannst du die Hunde hier laufen lassen.“

„Net, dass die dir no was kaputt machen!“, meinte Franzi zweifelnd und sah auf ihre aufgeregten Begleiter hinunter.

„Ach was.“ Moritz winkte ab. „Was sollen die beiden schon kaputt machen? Lass sie nur los.“

Franzi löste die Leine, woraufhin Waschtl und Herr Guschtav sich sofort aufmachten, das neue Terrain zu erkunden.

„Die können hier net raus. Du musst dir also keine Sorgen machen“, sagte Mo fürsorglich. „Darf ich dir das Grundstück zeigen?“

Franzi nickte begeistert.

Sie liefen ein paar Schritte auf eine kleine Hecke zu, die in der Mitte von einem Rosenbogen unterbrochen war. Um diese Jahreszeit trug die Rose kräftige Knospen und vereinzelte Blüten. Franzi staunte, wie dick die einzelnen Zweige der Rose waren und bewunderte die tiefrote Farbe der riesigen Blüten. Vorsichtig nahm sie eine Blüte in die Hand und atmete den lieblichen Duft der Pflanze tief ein. Dann folgte sie Mo durch den Rosenbogen und blieb erstaunt stehen. Vor ihr lag ein kleines Paradies. Links von ihr befand sich eine kleine Holzhütte, vor der eine selbst gezimmerte Bank zum Ausruhen einlud. Rechts von ihr standen mehrere Obstbäume und -sträucher. Um den Stamm eines alten Apfelbaums hatte Mo eine Sitzfläche angebracht, auf der man wunderbar im Schatten sitzen konnte. Um die Bäume und Sträucher herum wuchs eine wunderschöne Wildblumenwiese, in der es wunderbar summte und brummte. Franzi konnte Herrn Guschtav darin nicht sehen, aber Waschtls Kopf lugte hinter einem Baum hervor und sie vermutete, dass sein kleiner Freund wie immer in seiner Nähe war.

Sie liefen ein paar Schritte weiter. Vor ihnen erstreckten sich zwei große Beete, auf denen zartes Grün seine Köpfe in die Luft reckte. Zwischen den Setzlingen lagen Bretter, damit Mo darauf laufen konnte, ohne dem Gemüse zu schaden. Am Ende des Grundstücks floss ein Bächlein. Franzi betrachtete den kleinen Holzsteg, der es Mo ermöglichte, hier problemlos Wasser zu schöpfen.

„Marke Eigenbau?“

Mo nickte stolz. „Vorher war hier nur ein kleiner Trampelpfad nach unten, der war aber immer super rutschig und vor allem nach Regen überhaupt nicht begehbar“, erklärte er seiner Besucherin.

„Von wem hast du denn den Garten?“, fragte Franzi neugierig. Sie wusste, dass es nicht einfach war, an eine der begehrten Parzellen heranzukommen.

„Von meinem Opa“, antwortete Mo bereitwillig. „Viele Jahre hat er hier vor allem Kartoffeln und Bohnen angebaut. Irgendwann hat sein Kreuz nimmer mitmachen wollen, da hat er mich gefragt, ob ich den Garten haben will.“

„Es isch wirklich wunderschön hier“, sagte Franzi bewundernd. Sie konnte nicht fassen, wie ruhig es hier war, obwohl sich die Gärten im Stadtgebiet befanden. Auch die Nachbarparzellen störten nicht, da sie durch hohe Hecken abgeschirmt waren.

„Ich bin auch sehr gern hier“, sagte Mo zu. „Ich hab hier sogar schon übernachtet, aber sag’s net weiter. Das ist hier nicht so gern gesehen.“ Er deutete auf die Hütte.

Franzi grinste und hob zwei Finger in die Höhe. „Indianerehrenwort“, sagte sie feierlich.

Mo lachte. „Magst du vielleicht ein Bier?“

Franzi sah ihn erstaunt an. „Hasch du sogar ’nen Kühlschrank in deiner Hütte, oder was?“

„Komm“, sagte Mo und winkte ihr, ihm zu folgen. „Ich zeig dir was.“

Er lief voraus zur Hütte und öffnete die Tür mit einem Schlüssel. Innen drehte er eine Gaslampe an, die den Raum sofort in ein warmes Licht tauchte. Das Innere war gemütlich eingerichtet. Links stand eine Eckbank mit einem runden Tisch und zwei Stühlen und rechts war in die Holzwand eine Nische eingelassen worden, in der Franzi kariertes Bettzeug erkennen konnte.

Mo bückte sich und schob einen kleinen, bunten Teppich zur Seite. Erstaunt erkannte Franzi eine Falltür im Boden, die Mo an einem kleinen Eisenring anhob. Mit einem Bein kniete er sich auf den Boden und langte mit der Hand durch das Loch. Sein ganzer Arm verschwand darin und kurz darauf hielt er zwei kleine Flaschen Bier in der Hand. Er schloss die Luke wieder sorgfältig und schob den Teppich zurück. Dann drückte er Franzi eine der Flaschen in die Hand. Sie war schön kühl. Anschließend ließ er sich auf der Eckbank nieder und klopfte einladend auf den Platz neben sich. Franzi setzte sich auf das weiche Fell, das die Sitzfläche bedeckte. Es war angenehm warm in der Stube, obwohl die Tür weiterhin offen stand.

Mo öffnete sein Bier mit einem Flaschenöffner und reichte ihn dann Franzi weiter. Nachdem sie ihre Flasche geöffnet hatte, stießen sie miteinander an.

„Proscht!“

Franzi trank einen großen Schluck. „Hmmm, des isch aber lecker!“, sagte sie anerkennend.

„Ich find des auch richtig gut“, erwiderte Moritz lächelnd. „Ich hol des immer aus einer kleinen Brauerei in den Stauden. Das ist ein echter Familienbetrieb, bei dem schon mein Opa sein Bier geholt hat.“

„Die Hütte sieht gar nicht so alt aus“, sagte Franzi, während sie sich umsah.

„Gut beobachtet“, antwortete Mo. „Früher stand hier eine windschiefe Gartenlaube, die hab ich abgerissen und das Häuschen hingesetzt. Mein Gartenwerkzeug ist in einem Unterstand auf der Hinterseite.“

Franzi nickte verstehend. Sie hatte sich schon gewundert, wo die ganzen Schaufeln und Rechen waren, die man für so einen Garten brauchte. Sie liebte Pflanzen über alles und pflegte ihren eigenen Garten liebevoll, wobei ein großer Teil eher naturbelassen war. Das Beet vor der Terrasse mal ausgenommen.

Ein großer Schatten huschte vor der Tür vorbei, dicht gefolgt von einem kleinen.

„Deine beiden haben eine Mordsgaudi“, sagte Mo lachend.

Franzi grinste. „Ja, die sind so neugierig. Die müssen jetzt erscht mal alles erkunden. Die werden heut Abend todmüde sein, weil die doch scho bei der Lena so rumgetobt sind.“

„Ihr zwei versteht euch echt gut“, bemerkte Mo und sah Franzi forschend an.

„Ja, die Lena isch meine beschte Freundin“, erwiderte Franzi ernst. „I bin so was von froh, dass sie meine Partnerin isch. Auf sie kann i mi zu hundert Prozent verlassen.“

„Das hat Helena mir auch schon gesagt“, erwiderte Mo augenzwinkernd.

„Ihr habt’s über mi geredet?“, fragte Franzi erstaunt.

„Nur ein bisschen.“ Mo winkte ab. „Hat sich so ergeben.“

Franzi trank einen weiteren Schluck aus der Flasche, um sich ihre Irritation nicht anmerken zu lassen. Warum sprachen Lena und Mo über sie? Sie nahm sich vor, die Freundin beim nächsten Mal darauf anzusprechen.

Auf einmal stürmte Waschtl in die Hütte. Er legte seinen Kopf auf Franzis Bein und winselte leise. Herr Guschtav kam hinterher und hechelte aufgeregt.

Franzi strich ihrem Liebling über den Kopf. „Hasch du Hunger?“, fragte sie liebevoll. „Wart kurz. I trink nur no schnell mein Bier aus, dann könn mer los.“

Sie nahm den letzten Schluck und reichte die Flasche Mo. „Vielen Dank für das gute Bier, aber für uns wird’s jetzt Zeit zu gehen. Du siehsch ja, wie hungrig meine Baraber sind.“ Entschuldigend deutete sie auf die beiden Hunde, die treuherzig zu ihnen aufsahen.

„Gern geschehen“, erwiderte Mo. „Ihr seid hier jederzeit willkommen“, fügte er hinzu.

„Danke sehr“, sagte Franzi gerührt und stand schnell auf, damit er nicht sah, wie sehr sie sich über seine Einladung freute.

Als er aufstehen wollte, winkte sie ab. „Wir finden scho alleine raus. Bleib ruhig sitzen und trink in Ruhe dein Bier aus.“

Mo nickte gehorsam. „Also dann, eine gute Nacht, ihr drei.“

„Gute Nacht!“ Franzi verließ die Hütte und ging von den Hunden gefolgt zum Ausgang des Gartens. Dort leinte sie die beiden an. Sie warf einen letzten Blick zurück und verließ schließlich das Grundstück. Der restliche Nachhauseweg dauerte nur fünf Minuten.

Nachdem sie die Hunde gefüttert hatte, schmierte sie sich ein paar Brote und setzte sich vor den Fernseher. Sie konnte der Sendung allerdings nicht so recht folgen, war sie doch mit ihren Gedanken bei einer kleinen grünen Oase ganz in der Nähe.