1.
Fassungslos starrte Mona auf das Handy, das in ihrer Hand im Schoß lag. Das Licht, mit dem die kurze WhatsApp leuchtete, bildete einen fast absurden Kontrast zur nächtlichen Dunkelheit der Stadt.
Es tut mir leid …
Ein unkontrolliertes Zittern überkam sie, und das lag nicht daran, dass die Juninacht empfindlich kühl war. Es tut mir leid, spulte es in Dauerschleife in ihrem Kopf. Eine schmerzhafte, endlose Wiederholung, die sich kratzend in ihr Herz bohrte. Tränenblind hob sie den Blick. Das nächtliche Hamburg mit seiner in Eimsbüttel fast beschaulichen Gemütlichkeit wirkte seltsam unwirklich auf sie. Als böte es die Kulisse in einem surrealen Film. Ein Film, in dem sie nicht mitspielen wollte. Und doch schien sie keine Wahl zu haben. Es dauerte, bis sie es schließlich schaffte, mit steifen Beinen aufzustehen und in die Küche zu wanken. Sie ging, als sei sie betrunken, dabei hatte sie noch keinen einzigen Tropfen Alkohol intus.
Zigarette! Wo sind die verdammten Kippen?, fragte sie sich, als sie in die Küche stolperte. Sie rauchte selten, hatte es sich in den letzten Monaten eigentlich gänzlich abgewöhnt. Chris mochte es nicht … Vielleicht war das der Grund, warum der Wunsch nach Nikotin plötzlich derart heftig in ihr aufwallte. Mit zusammengebissenen Zähnen durchwühlte sie die Schubladen in ihrer großzügigen Altbau-Küche mit den stilvollen alten Kacheln an den Wänden. Endlich fand sie ein zerdrücktes Päckchen in der Schublade, in der sie all jene Dinge sammelte, die bislang keinen angestammten Platz in der Wohnung gefunden hatten.
Das Zittern ihrer Hände endete, als sie die Zigarette angezündet hatte. Gierig sog sie den Rauch tief in die Lungen und ließ ihn langsam wieder entweichen. Die Rauchschwaden, die durch die Küche waberten, lösten eine eigenartige Genugtuung in ihr aus. Sie sah Chris` Gesicht vor sich, das er angewidert verzog. In der Wohnung zu rauchen, gehörte zu seinen absoluten No-Gos.
Für mich ist ab sofort ein Tut-mir-Leid, das es nicht geben müsste, das stärkste No-Go!, beschloss Mona wütend. Aber Nikotin allein reichte nicht. Sie nahm eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, öffnete sie und trank einen großen Schluck.
Mit der Zigarette in der einen und dem Bier in der anderen Hand ging sie auf den Balkon zurück und ließ sich auf den Eisenstuhl vom Sperrmüll fallen. Was sollte sie denn jetzt bloß machen? Die Zukunft ohne Chris lag wie ein Abgrund vor ihr. Verdammt! Sie war immer unabhängig gewesen. Noch nie hatte sie ihr Glück von dem Handeln oder Nichthandeln eines Mannes bestimmen lassen. Jetzt wusste sie wieder, warum das so wichtig war. Nur änderte diese Tatsache nichts daran, dass sie in genau diese Falle getappt war. Und – schlimmer noch – seit über zwei Jahren darin zappelte. Zwei Jahre! Trauer und Verzweiflung schwappten wie eine riesige Welle in ihr auf, die ihr für einen Moment den Atem nahm.
Als sie schließlich wieder Luft holen konnte, drängte sich ein anderer Gedanke in ihr Bewusstsein. Sie musste die Stimme von Nila, ihrer besten Freundin, hören! Nichts brauchte Mona gerade dringender als Trost. Das und ein paar aufmunternde Worte, aber vor allem die Gewissheit, nicht ganz allein vor dem Abgrund zu stehen.
Sie hatte das Handy schon in der Hand, als ihr wieder einfiel, dass Nila gerade selbst genug Sorgen hatte. Und vor allem überhaupt keine Zeit. Die Abendstunden waren mit die anstrengendsten im Hotelgeschäft, und gerade in der Anfangszeit des jungen Betriebes durfte nichts schiefgehen.
Mona stellte das kaum angerührte Bier auf den Tisch, nahm noch einen Zug von ihrer Zigarette und stand auf.
Ein Telefonat würde ohnehin nichts wirklich ändern. Sie musste andere Maßnahmen ergreifen, wenn sie nicht wahnsinnig werden wollte.
Zwei Jahre zuvor
Mit weichen Knien ging Mona den endlos scheinenden Krankenhausflur entlang. Sie hasste den typischen Geruch nach Desinfektionsmittel, Krankheit und Angst. Noch mehr hasste sie ihre Verzweiflung und Ohnmacht, die sie seit jenem Moment fest im Griff hatte, als der Verdacht im Raum stand, dass die Schwäche und Abgeschlagenheit ihrer Mutter vielleicht doch nicht mit ihrer Grippe zusammenhingen, die sie vor einigen Wochen geplagt hatte. Leukämie. Dieses Wort schwebte seit Mams Zusammenbruch vor zwei Tagen wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen.
Heute waren weitere Tests gemacht worden, deren Ergebnis gleich mit dem Arzt besprochen werden sollte.
Mona blinzelte die aufsteigenden Tränen weg, bevor sie die Hand auf die Türklinke des Krankenzimmers legte, in dem ihre Mutter auf die Diagnose des Arztes wartete. Urteil trifft es eher, dachte Mona, und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so eine verdammte Angst gehabt zu haben. Mam war doch erst zweiundfünfzig. Viel zu jung, um eine tödliche Prognose zu erhalten! Natürlich wusste Mona, dass der Gedanke Quatsch war. Als Physiotherapeutin hatte sie selbst schon so viele Schwerstkranke betreut, die deutlich jünger als ihre Mutter waren. Dennoch hatte sie sich bisher in dem menschlichen Irrglauben befunden, solche Schicksale träfen nur die anderen.
Mona holte tief Luft, versuchte ein Lächeln auf ihre zusammengepressten Lippen zu zaubern und öffnete nach einem kurzen Klopfen die Tür.
Ihre Mutter lag in einem Zweibett-Zimmer, aber die Bettnachbarin war nicht im Raum. Mona war dankbar, dass sie beide unter sich und ungestört waren.
„Hey Mam, ich hoffe, ich bin nicht zu spät. War der Arzt schon hier?“ Mona trat ans Bett und gab ihrer Mutter einen Kuss auf die blasse Wange, die sich kühl anfühlte.
„Schön, dass du hier bist, Schatz.“ Simone Frankenthal lächelte matt und richtete sich im Bett auf. „Nein, du bist absolut pünktlich. Wir werden sehen, ob Dr. Weingärtner es ebenfalls ist, die haben hier ziemlich viel zu tun.“
„Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Mona öffnete ihren Rucksack und holte eine Schachtel mit den Lieblingspralinen ihrer Mutter heraus.
„Ach, das sollst du doch nicht!“ Das kurze Leuchten in den Augen ihrer Mutter bewies Mona allerdings, dass es richtig gewesen war, eben den Umweg zu der kleineren Chocolaterie zu machen und die köstlichen belgischen Nougatpralinen zu besorgen.
„Soll ich nicht, will ich aber!“ Jetzt war Monas Lächeln echt. Es gefror allerdings auf ihren Lippen, als ein forsches Klopfen an der Tür den jungen Arzt ankündigte, der kurz darauf ins Zimmer trat.
Mona sah den blonden Mediziner zum ersten Mal. Gebannt starrte sie ihm entgegen. Er wirkte sympathisch, aber schrecklich jung … Kaum älter als sie selbst mit ihren dreißig Jahren. Natürlich konnte man in diesem Alter bereits einen Doktortitel haben, aber Mona war unsicher, ob er erfahren genug war, tödliche Diagnosen zu stellen.
„Dr. Chris Weingärtner, Sie sind die Tochter?“ Der Arzt kam mit ausgestreckter Hand auf Mona zu.
Mona nickte stumm. Sein Händedruck war kurz und fest.
„Frau Frankenthal …“ Der Arzt wandte sich an seine Patientin, die ihn mit ängstlich geweiteten Augen ansah. „Wir haben jetzt endlich den Befund. Leider hat es etwas gedauert mit dem Labor und wir mussten noch einige Ungereimtheiten klären.“ Er lächelte entschuldigend.
Sag es schon!, dachte Mona mit aufkeimender Ungeduld. Ein willkommenes Gefühl, das sie für einen Moment von ihrer Verzweiflung ablenkte.
„Zunächst einmal habe ich gute Nachrichten: Der Verdacht, dass wir es mit einem leukämischen Geschehen zu tun haben, hat sich nicht bestätigt.“
Mona hielt für einen Moment die Luft an. Hatte er das gerade wirklich gesagt oder war es nur Wunschdenken?
„Aber wir haben etwas anderes gefunden, das Ihre Beschwerden auslöst. Sie haben eine Herzmuskelentzündung, die zwar ernst genommen werden muss, aber aller Voraussicht nach ohne Spätfolgen ausheilen wird.“ Der junge Arzt lächelte Mutter und Tochter an.
Mona wurde schwindelig. Ein Seufzen stieg aus den Tiefen ihrer Brust auf. Am liebsten hätte sie Dr. Weingärtner umarmt. Erst jetzt fiel ihr auf, wie attraktiv er eigentlich war.
„Danke, Doktor“, murmelte Mona und hätte ihn am liebsten geküsst.
„Sie sind ein Engel“, sagte Simone Frankenthal. Ihre Erleichterung war fast greifbar, und Mona spürte, dass auch ihre Mutter ihn am liebsten drücken würde.
„So etwas wie mit dir habe ich noch nie erlebt!“ Chris streckte sich seufzend im Bett aus und zog Mona dichter zu sich heran.
„Hm“, murmelte Mona träge und genoss den Moment nach dem Sex, in dem ihr Verstand noch nicht wieder das Kommando übernommen hatte.
Manchmal konnte sie die Entwicklung der letzten Wochen kaum fassen. Drei Tage, nachdem Dr. Chris Weingärtner von ihrer Mutter als Engel bezeichnet worden war, war Mona dem jungen Arzt beim Joggen im Park begegnet. Sie waren eine Weile gemeinsam gelaufen und danach schien es nur natürlich, dass er sie zu einem Kaffee einlud. Schon in diesem Moment konnte sich Mona nicht länger einreden, dass es ein harmloses Treffen war, das nur dazu diente, den Gesundheitszustand ihrer Mutter zu besprechen. Mam war ohnehin auf einem guten Weg und stand kurz vor der Entlassung aus dem Krankenhaus.
Als Einstieg in die Verlängerung des zufälligen Treffens hingegen war der Grund perfekt. Dr. Chris Weingärtner schien das ähnlich zu sehen. Das charmante Funkeln in seinen blauen Augen und die scheinbar zufällige Berührung von Monas Arm, die einen Schauer über ihren gesamten Körper schickte, sendeten deutliche Signale.
Während des Kaffeetrinkens wurde das Knistern zwischen ihnen stärker. Simone Frankenthal und ihr körperlicher Zustand waren schnell abgehakt und sie landeten bei privaten Themen. Musik, Filme, Hobbys. Sie sprangen von einem Thema zum nächsten, während Chris es immer wieder schaffte, Mona zum Lachen zu bringen. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Männer mit Humor gehabt, aber bei keinem hatte sie bislang diese Mischung aus Intellekt, Humor und gegenseitiger Anziehung erlebt. Es schien, als vereinte Chris alle Wünsche, die sie jemals in Bezug auf Männer gehabt hatte.
Als das Café schließlich schloss, gingen sie wie selbstverständlich in Monas Wohnung. Noch nie war Mona mit einem Mann im Bett gelandet, mit dem sie zuvor lediglich Kaffee getrunken hatte.
In der nächsten Zeit trafen sie sich, so oft es Chris` Schichtplan zuließ. Beide konnten nicht genug voneinander kriegen, und zunächst fiel es Mona nicht auf, dass sie sich immer nur in ihrer Wohnung trafen. In den letzten Tagen allerdings war ihr das immer bewusster geworden. Regelmäßig tauchte seitdem das ungute Gefühl in ihr auf, dass etwas in der Verbindung, die sie so schnell und vorbehaltlos mit Chris eingegangen war, nicht stimmte. Sie wusste, dass sie der Sache auf den Grund gehen musste. Besser früher als später.
„Wollen wir später zum Italiener gehen?“, fragte Mona und sah Chris erwartungsvoll an. Sie war niemand, der wichtige Dinge aufschob. Manchmal handelte sie sogar erst und dachte anschließend nach. Davon konnte hier allerdings nicht die Rede sein. Sie hatte darüber nachgedacht. Eigentlich schon viel zu lange.
Als sich Chris` Augen bei der einfachen Frage kurz verengten, wurde Mona klar, dass sie sich nicht irrte. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht.
„Ich habe Bereitschaftsdienst. Was hältst du davon, wenn wir lieber eine Pizza bestellen?“
„Aber ich würde gerne auch einmal etwas außerhalb dieser Wohnung unternehmen“, beharrte Mona und ließ ihn nicht aus den Augen.
Mit einer müden Handbewegung wischte sich Chris über das Gesicht. „Das machen wir auch“, versprach er und ließ seinen Blick über ihren nackten Oberkörper wandern. Zum ersten Mal war ihr das unangenehm. Nicht, weil er ihren Körper betrachtete, sondern weil sie gemerkt hatte, dass er ihr nicht in die Augen sehen konnte. „Sobald es in der Klinik ruhiger wird. Wenn die Krankenstände sich bessern …“
Mona stieß ein kleines Lachen aus. „Oh ja, also nie.“
„Vertrau mir, bald werden wir mehr Zeit zusammen verbringen können.“ Er sah sie bittend an.
Sie nickte. Tu ich das? Vertraue ich dir?, fragte sie sich zögernd. Ich bin verrückt nach dir und – so irre es sich anhören mag – ich kann mir jetzt schon vorstellen, den Rest meines Lebens mit dir zu verbringen. Aber mein Vertrauen hast du gerade eben verloren.
Nichts von alldem sprach sie laut aus. Vielleicht irrte sie sich ja tatsächlich, nichts wünschte sie sich mehr. Deshalb musste sie zunächst herausfinden, ob das, was sie vermutete, der Wahrheit entsprach.
„Lass uns Pizza bestellen! Ich habe Hunger!“, sagte sie munter und strahlte ihn an. Im Zweifel für den Angeklagten. Zunächst.
Noch am selben Abend wusste Mona Bescheid: Der charismatische Dr. Chris Weingärtner, der ihr Herz und ihre Seele in dieser kurzen Zeit tiefer berührt hatte, als sie sich jemals hätte vorstellen können, lebte mit einer anderen Frau zusammen. Lena Schlottkes und Christopher Weingärtners Namen waren auf dem schlichten Klingelschild mit einem Herz verbunden. Das Herz schloss damit gleich aus, dass es sich um eine Wohngemeinschaft handeln könnte. Am ganzen Körper zitternd stieg Mona wieder in ihr Auto. Klarheit zu bekommen, war so erschreckend einfach gewesen. Und so verdammt schwer zu ertragen.
Chris hatte nicht einmal gemerkt, dass sie ihm gefolgt war. Vermutlich lag der Gedanke außerhalb seiner Vorstellungskraft, dass sie so etwas tun könnte. Nach dem angeblichen Notruf aus der Klinik, mit dem er zum sofortigen Dienst beordert wurde, hatte er Monas Wohnung im Eiltempo und natürlich mit Bedauern verlassen. Als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, hatte Mona keine Sekunde gezögert, sich eine Jogginghose und ein T-Shirt überzuwerfen und ihm zu folgen. Ihr Auto parkte nur wenige Meter von seinem entfernt, sodass sie ohne Mühe die Verfolgung aufnehmen konnte. Er hatte keinen einzigen Blick in den Rückspiegel geworfen.
Nun kannte sie den wahren Grund, warum sie sich ausschließlich in ihrer Wohnung trafen.
Monas Hände krampften sich ums Lenkrad, während sie ihr Auto mit starrem Blick nach Hause lenkte.
Eine Stunde später hatte sie sich so weit gefasst, dass sie endlich die wütende WhatsApp schreiben konnte, mit der sie die junge Beziehung – Affäre traf es eher, wie sie inzwischen wusste – beendete.
Seine Antwort: Lass uns reden!, ließ sie vorerst unbeantwortet.
Les Issambres
Nila
Auf Zehenspitzen schlich Nila zur Tür des Kinderzimmers. Nach unzähligen Strophen bunt gewürfelter deutscher und französischer Kinderlieder fühlte sich ihr Mund trocken an. Normalerweise schlief Jeanne mit ihren fünf Monaten nachts schon sehr gut. Bis auf ein, zwei Unterbrechungen kamen sie inzwischen besser durch die Nacht, als Nila je zu hoffen gewagt hatte. So viele Mütter kannte sie inzwischen, die ihre Seele verkaufen würden, um ein einziges Mal länger als zwei Stunden am Stück schlafen zu dürfen. Und sie hatten Babys, die viel älter waren als Jeanne.
Nila war also darauf gefasst gewesen, noch für einige Monate auf einen geregelten Schlaf zu verzichten. Dass es dann doch anders gekommen war, empfand sie als großes Zusatzgeschenk.
Das Hauptgeschenk war ihre wunderschöne kleine Tochter, die sie seit dem ersten Moment mit einer Innigkeit liebte, die sie anfangs fast erschreckte.
Vincent ging es nicht anders. Er vergötterte sein kleines Mädchen, das nur auf die Welt gekommen zu schien, um jeden zu verzaubern, der es erblickte. Das Strahlen ihrer blauen Augen entzückte selbst Menschen, die von sich behaupteten, mit dem Charme von Babys nicht viel anfangen zu können. Mehr als einmal hatte Nila in Augen, die schon zu viel in ihrem Leben gesehen hatten, sodass ihr eigenes Leuchten unwiederbringlich verloren schien, ein Aufglimmen erkannt. Als hätte Jeanne ihnen in einem einzigen Augenblick gezeigt, dass das Glück auch für sie wieder greifbar sein könnte.
Nila atmete noch einmal tief den Babyduft ihrer Tochter ein und schloss leise die Kinderzimmertür hinter sich.
Während sie nach unten schlich, wanderten ihre Gedanken zurück zu ihrer Hochzeit vor fast einem Jahr. Da war sie schon schwanger gewesen, ohne es zu ahnen. Wie so oft genoss sie die kostbare Erinnerung an das rauschende Fest, bei dem sie endlich wieder alle ihre Lieben um sich versammeln konnte.
Ihre Eltern, ihre Schwester Hannah mit Kindern und natürlich Mona, ihre beste Freundin – sie alle waren aus Deutschland angereist und eine Woche in der Provence geblieben. Damals war das Hotel noch nicht eröffnet und so gab es genug freie Zimmer für alle. Für Nila war es eine wundervolle Zeit, dafür verschob sie ihre Flitterwochen gern. Selbst wenn sie damals schon gewusst hätte, dass es ein Verschieben auf unbestimmte Zeit sein würde.
Ihre Hochzeit war tatsächlich einer der glücklichsten Tage in ihrem Leben. Danach aber begann das richtige Leben mit all seinen Facetten von Liebe und Glück, aber auch von Schicksalsschlägen und Sorgen.
Jetzt, ein Jahr später, kam es ihr manchmal unwirklich vor, als wären schon viele Jahre vergangen und nicht erst zwei, seit sie ihrem Leben in Hamburg den Rücken gekehrt hatte.
Nila schüttelte die Gedanken ab und stieß die Küchentür auf. Sie musste sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren.
Wie erwartet strömte ihr sofort ein köstlicher Duft entgegen. Laurence, ihr Koch, stand mit dem Rücken zu ihr am Herd.
Als er sie hörte, wandte er sich um. Ein Lächeln erschien auf seinem konzentrierten Gesicht. Sie kannte den Ausdruck nur zu gut. Wenn Laurence kochte, vergaß er alles um sich herum. Dann tauchte er in seine eigene Welt ein und gab sich völlig dem Gelingen raffinierter Rezepte hin, die neben Nila und Vincent auch die Gäste in immer neues Entzücken versetzte.
Laurence ist auch ein Geschenk, dachte Nila dankbar und nicht zum ersten Mal. Ohne ihn wäre der Erfolg des kleinen Hotelbetriebes nicht denkbar. Den tragischen Grund, der ihn aus Paris zurück in seinen Geburtsort Les Issambres geführt hatte, verdrängte Nila wie immer schnell. Laurence sprach nicht darüber. Vincent und sie respektierten seinen offensichtlichen Wunsch, die Vergangenheit ruhen zu lassen.
„Schläft die Kleine?“, fragte Laurence, während er den Topf, in dem er rührte, nicht aus den Augen ließ.
„Tief und fest.“ Nila seufzte leise. Zu gerne hätte sie sich zu ihrem Kind gelegt. Trotz der halbwegs geregelten Nächte fühlte sie sich abends erschöpft. Seitdem Vincent nicht mehr hier war, wuchs der Druck, den die Verantwortung für das kleine Hotel mit sich brachte. Auch Jeanne spürte die Veränderung. Seitdem ihr Vater nicht mehr bei ihnen war, wachte sie nachts wieder häufiger auf. So klein wie sie war, schien sie trotzdem schon sehr feine Antennen für ihre Umgebung zu haben.
„Hast du etwas Neues von deiner Schwiegermutter gehört?“ Laurence sah für einen Moment von der Herdplatte auf.
„Leider nein.“ Nila seufzte erneut. Renée hatte vor einer Woche einen Schlaganfall erlitten und lag seitdem in einer Klinik in Italien, wo sie gerade Urlaub mit Giuseppe, ihrem Lebensgefährten, gemacht hatte. Nila fiel es noch immer schwer, sich vorzustellen, dass ihre lebensfrohe, jung gebliebene Schwiegermutter jetzt an Schläuchen angeschlossen in einem Krankenhausbett liegen sollte. Gern hätte sie Vincent in die Toskana begleitet, aber ihnen war klar, dass es für die Führung des Hotels schwierig genug werden würde, wenn einer von ihnen fehlte. Wenn sie zusammen reisten, wäre das eine Katastrophe. Nila wusste so schon kaum, wie sie die ganze Arbeit schaffen sollte. Gutes Personal zu bekommen, ähnelte momentan einem Hauptgewinn im Lotto. Vincent und sie waren schon froh gewesen, in Alice ein engagiertes Zimmermädchen gefunden zu haben. Diese konnte eigentlich nur wenige Stunden am Morgen arbeiten, bis ihre drei Kinder aus der Schule kamen. Seit Vincents Abreise half sie Nila noch beim Servieren des Abendessens. Aber das sollte eine absolute und möglichst kurz währende Ausnahme sein. Nila hatte schon jetzt ein schlechtes Gewissen, weil sie noch gar nicht abschätzen konnte, wie lange sie weiterhin auf Alice` Hilfe angewiesen sein würde.
Laurence war mit dem kulinarischen Verwöhnen der Gäste ausgelastet, sodass alles Weitere an Nila hing. Von der Buchung bis zur Gästebetreuung lag das Gelingen des jungen Betriebes vorübergehend gänzlich in ihren Händen.
„Du wärst gerne bei Renée, richtig?“ Laurence warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor er ein zartes Rindermedaillon behutsam in das zischende Fett der Pfanne legte.
„Ja, das stimmt. Daran ist momentan aber leider nicht zu denken. Es sei denn, es taucht noch einmal ein Glücksfall wie du auf, der anstatt der Aufgaben in der Küche meine im Service übernimmt. Dann säße ich sofort im Flieger.“ Nila lächelte matt und wandte sich zum Gehen. In der Küche lief wie gewohnt alles wie am Schnürchen. Sie musste Alice ablösen und heim zu ihren Kindern schicken.
„Das Menü ist gleich fertig.“ Laurence öffnete die Backofentür, aus der ein herrlicher Duft nach Knoblauch und Thymian stieg.
„Wunderbar“, sagte Nila. Sie wusste, dass der Speiseraum und die Terrasse wie üblich voll besetzt waren. Wie jeden Abend konnte sie nur hoffen, dass das Babyfon still blieb und sie nicht zwischen Gästebetreuung und dem Beruhigen ihrer kleinen Tochter hin und her wechseln musste.
Sie straffte sich und verließ die Küche.
2.
„Ich weiß, dass du die Praxis eine Weile allein führen kannst“, sagte Mona mit Nachdruck zu Marc Leneweit, ihrem besten Mitarbeiter, und schaute ihn ermutigend an. Marc erinnerte sie sehr an sich selbst vor einigen Jahren. Genau wie sie damals plante auch er seit seiner bestandenen Prüfung zum Physiotherapeuten, so schnell wie möglich in die Selbstständigkeit zu starten. Bis dahin musste er Praxiserfahrungen sammeln. Mona würde seinen Weggang bedauern, konnte ihn aber bestens verstehen.
„Aber ich habe erst vor einem halben Jahr bei dir angefangen!“, wandte Marc ein und raufte sich die rotblonden Locken, die trotz ihrer Kürze stets ein interessantes Eigenleben führten. Die Geste brachte seine ohnehin nicht besonders ordentliche Frisur weiter durcheinander. Mona verkniff sich ein Grinsen. Das Erschrecken in seinen blauen Augen war echt. Aber Mona konnte daneben auch ein erfreutes Aufglimmen erkennen, das sie innerlich frohlocken ließ.
„Aber erstens bist du mein bester Mitarbeiter. Und zweitens der einzige, der in Vollzeit arbeitet“, ergänzte sie ihre Argumente. „Ich weiß, dass du den Laden rockst!“
Er nickte zögernd, während er unschlüssig seine Hände knetete.
„Außerdem wird das die wichtigste und beste Erfahrung sein, die du machen kannst, um für deine eigene Praxis gerüstet zu sein.“ Sie lächelte ihn aufmunternd an und versuchte, ihre Ungeduld zu zügeln. Ein bisschen Zeit musste sie ihm für diese wichtige Entscheidung wohl lassen …
„Wann würdest du denn in die Provence reisen?“, fragte er schließlich zögernd.
Sie hatte gewonnen! Der leise Zweifel, ob sie es tatsächlich schaffen würde, ihn zu überzeugen, löste sich auf. Erleichterung durchströmte sie. Der Wunsch, aus Hamburg wegzugehen, war in der letzten Nacht so übermächtig geworden, dass ihr Plan, Marc die Leitung der Praxis zu übergeben, einfach aufgehen musste. Nun hatte sie es geschafft! Flucht schien ihr momentan die einzige Lösung, um dem schier endlos anmutenden Kreislauf ihres Beziehungsdramas zu entkommen. Es konnte nicht ewig so weitergehen wie in den letzten beiden Jahren. Mona konnte nicht mehr sagen, wie oft sich Chris inzwischen von Lena getrennt hatte, weil er Mona liebte und mit ihr zusammen sein wollte. Aber jedes Mal war er zu Lena zurückgegangen. Er liebte sie zwar nicht, aber sie brauchte ihn angeblich, weil sie zu labil war, um ohne ihn zu leben. Es war noch zu früh … Es brauchte Zeit, um alles in die richtigen Bahnen zu lenken … Wieder und wieder war Mona mit Bauchschmerzen darauf eingegangen. Sie wiederum liebte Chris, aber sie hasste seine Wankelmütigkeit. Sein vermeintliches Mitgefühl für Lena, die ohne ihn verloren schien. Es fühlte sich für Mona absolut richtig an, diese vertrackte Situation endgültig zu lösen, indem sie zunächst einmal eine größtmögliche Distanz zwischen Chris und sich brachte. Was lag da näher, als zu Nila zu fahren? Warum war sie nicht viel eher darauf gekommen? Vielleicht war es die enge Verbindung zu ihrer Praxis, die sie mit so viel Herzblut aufgebaut hatte. Die Patienten, die sie brauchten. Aber nun gab es Marc, ihren engagiertesten Mitarbeiter. An ihn als Vertretung hätte sie längst denken können! Und sie würde ja nicht ewig fortbleiben. Nur so lange, bis sie ihr Herz wieder unter Kontrolle hatte.
„Also, wann würdest du fahren?“, wiederholte Marc seine Frage geduldig.
Mona hatte sich in ihren Gedanken verloren, anstatt ihm zu antworten. „Oh, entschuldige! In drei Stunden geht mein Flieger!“ Sie strahlte ihn an.
„In drei Stunden?“, rief er entsetzt.
„Meine Taschen sind gepackt und zu Hause ist alles erledigt. Bis mein Taxi kommt, können wir alles noch in Ruhe besprechen.“
„Na, dann ist ja alles in Ordnung“, sagte er ironisch und schüttelte den Kopf. „Jetzt weiß ich wieder, warum ich so bald wie möglich mein eigener Chef sein will!“
Sie mussten beide lachen. Mona befreit, bei Marc klang es eher nach Galgenhumor.
3.
Am frühen Abend bezahlte Mona den Taxifahrer, schulterte ihren Rucksack und ging auf das kleine Hotel ihrer Freundin zu. Trotz der langen Reise fühlte sie sich nicht erschöpft, sondern spürte noch immer diese kribbelige Aufgeregtheit, die sie seit Besteigen des Flugzeugs nicht mehr verlassen wollte. Es fühlte sich an, als hätte sie Brausepulver in Champagner aufgelöst und getrunken.
Bewusst hatte sie Nila nicht von ihrem Kommen informiert. Nicht nur deshalb, weil Mona Überraschungen liebte und Nilas Gesicht sehen wollte, wenn sie plötzlich vor ihr stand. Mona hatten schlicht die Worte gefehlt, mit denen sie ihrer Freundin das Gefühl beschreiben sollte, dass sie so dringend aus Hamburg vertrieb. Im persönlichen Gespräch würde das anders sein, das wusste Mona.
Bei dem Gedanken hielt sie kurz inne und verlangsamte ihren Schritt. Der Abgrund … Seit Beginn ihrer Reise war er in den Hintergrund getreten, lag nicht mehr bedrohlich direkt zu ihren Füßen, sondern war in wohltuende, sichere Ferne gewandert. Nicht verschwunden, natürlich nicht. Er blieb sichtbar, aber sie verspürte keine Angst, jeden Augenblick hineinzufallen. Und jetzt, da sie vor dem alten Steinhaus stand, das Nila und Vincent so liebevoll zu einer Herberge für Gäste umfunktioniert hatten, schien der Abgrund in noch weitere Ferne gerückt zu sein. Mona holte tief Luft. Die Rosenbeete, die den Weg zum Haus säumten, verströmte einen betörenden Duft. Sie schloss für einen Moment die Augen. Nur einen Augenblick noch, dann konnte sie endlich Nila wieder in die Arme schließen. Seit deren Hochzeit hatte sie ihre beste Freundin nicht mehr gesehen. Freude verdrängte alle anderen Gefühle, als sie die Augen öffnete, sich wieder in Bewegung setzte und schließlich die schwere Eingangstür aufstieß.
Die große Halle mit den gefliesten Natursteinen war angenehm kühl und menschenleer. Die Rezeption war ebenfalls nicht besetzt, aber Mona konnte Stimmengewirr aus einem angrenzenden Raum vernehmen. Es musste sich um das Speisezimmer handeln, das bei ihrem letzten Besuch noch in Planung war.
Mona ließ ihren Rucksack von den Schultern gleiten und stürmte los. Dem Stimmengewirr folgend öffnete sie schwungvoll die Tür. Wie erwartet fand sie das frühere große Wohnzimmer vor, dessen gemütlicher Charme trotz des Umbaus erhalten geblieben war. Sowohl der gemauerte Kamin als auch das Klavier waren unverändert Blickfang und Mona vertraut. Suchend schweifte ihr Blick umher. Alle Tische waren besetzt von gut gekleideten Paaren und einigen Familien. Die Frauen trugen überwiegend leichte Kleider und die Männer sommerliche Anzüge. Mona war froh, zumindest einen jungen Mann in Jeans und T-Shirt zu erblicken. Kurz wanderte ihr Blick an sich und ihrer schlichten Reisegarderobe hinab. Weißes T-Shirt und weiße Jeans. Ihre Privatklamotten unterschieden sich meist kaum von ihrer Praxisgarderobe. Ein Umstand, der sie sonst nicht störte. Anders als ihre Freundin Nila machte sich Mona nicht besonders viel aus Mode. Trotzdem war sie in diesem Moment froh, ihre beiden einzigen Sommerkleider nach kurzem Zögern doch noch in den Rucksack gestopft zu haben. Noch lieber wäre ihr allerdings, wenn sie eins davon jetzt auch tragen würde. Obwohl die Blicke der Anwesenden freundlich auf ihr ruhten und einige Gäste ihr zur Begrüßung zunickten, fühlte sie sich für einen Moment fehl am Platz. Das ungewohnte Gefühl abschüttelnd, wandte sie sich wieder zum Gehen. Vielleicht war Nila in der Küche, Mona würde dort nach ihr suchen. Gerade als sie nach der Türklinke des Speisezimmers greifen wollte, kam ihr jemand zuvor. Die Tür schwang auf und Nila, die in der einen Hand einen gefüllten Teller trug und im anderen Arm ihr Baby balancierte, erstarrte mitten in der Bewegung. Mit großen Augen starrte sie Mona an. Während Monas Gesicht sich zu einem breiten Lächeln verzog, schien Nila zur Salzsäule erstarrt. Schließlich öffnete sie ihren Mund und bewegte die Lippen, über die aber kein Ton kam.
„Überraschung!“ Mona legte eine Hand auf den Rücken des Babys, das leise, quengelnde Laute ausstieß. Gerne hätte sie Nila fest in den Arm genommen, was aber vor allem wegen des vollen Tellers unmöglich war.
„Das gibt es doch nicht!“, brachte Nila hervor, als sie schließlich ihre Sprache wiederfand. „Wie … Was machst du … Warum weiß ich nicht …“ Sie verstummte, stellte den Teller auf einem Beistelltisch ab und zog Mona fest in ihre Arme. Das Baby war augenblicklich still.
„Es wird höchste Zeit, dass ich Jeanne kennenlerne“, sagte Mona schnell in Nilas Ohr.
„Aber du wolltest doch erst im August bei uns Urlaub machen.“ Nila löste sich aus der Umarmung und betrachtete Mona eingehend. „Es ist natürlich großartig, dass du jetzt schon da bist. Allerdings …“ Ein Schatten glitt über ihr Gesicht, in dem sich die Wiedersehensfreude spiegelte.
„Allerdings?“, wiederholte Mona zögernd.
„Hier ist gerade die Hölle los. Warte, ich serviere eben das letzte Abendessen, dann haben wir einen Moment Ruhe.“ Sie drückte der perplexen Mona ihr Baby in den Arm, schnappte sich den Teller vom Beistelltisch und ging zu dem Mann in Jeans und T-Shirt, der als Einziger noch kein Essen vor sich stehen hatte. Als sie zurückkam, legte sie den Arm um Mona und zog sie aus dem Speiseraum Richtung Terrassentür. Erst jetzt bemerkte Mona, dass die Tische unter den riesigen Sonnenschirmen im großzügigen Außenbereich ebenfalls vollständig besetzt waren.
Nila ging voraus, warf dabei prüfende Blicke auf jeden Tisch und jeden Gast.
„Du hast hier alles bestens im Griff“, stellte Mona fest. Sie hatte auch nichts anderes erwartet, denn von Anfang an hatte ihre Freundin all ihr Herzblut in das kleine Hotel – ihren großen Traum – gesteckt. Da wunderte es sie nun nicht, dass alles wie am Schnürchen zu klappen schien.
Nila drehte sich halb zu ihr um und lächelte schief. „Wenn das mal nicht täuscht.“
„Also, ich sehe überall zufriedene Gäste. Mir scheint die Gästebetreuung ziemlich perfekt zu sein. Wo steckt eigentlich dein Mann?“
Nilas Lächeln verschwand. Stumm lief sie weiter, bis sie schließlich in einem ruhigen Teil des weitläufigen Gartens angekommen waren. Mit einem Seufzen ließ Nila sich auf einer der weiß lackierten Holzbänke nieder und klopfte einladend neben sich.
Mona setzte sich und legte das Baby behutsam so zurecht, dass sie zum ersten Mal einen ausgiebigen Blick auf das kleine Gesicht mit den strahlend blauen Augen werfen konnte. Die Kleine sah sie aufmerksam und etwas skeptisch an, wie Mona fand.
„Mona – Jeanne, Jeanne Mona“, stellte Nila übertrieben ernst die beiden einander vor.
Mona lachte. „Sie ist in Natur ja noch viel entzückender als auf den Fotos!“
„Das finden wir auch“, stimmte Nila stolz zu.
„Und sie riecht so gut.“ Mona drückte ihre Nase an den Hals des Babys, das daraufhin begeistert gluckste.
„Und wo ist nun der Vater des Wonneproppens?“ Mona hob den Blick und sah Nila fragend. Hier stimmte doch etwas nicht.
„Vincent … Er ist in der Toskana.“ Nilas Stimme klang plötzlich ernst.
„Oh nein! Sag nicht, dass ihr euch getrennt habt!“ Mit aufgerissenen Augen starrte Mona ihre Freundin an.
„Was? Nein, Quatsch!“ Nila lachte kurz auf und schüttelte den Kopf.
„Puh, das hätte mich jetzt auch aus den Latschen gehauen.“ Mona wiegte erleichtert das Baby. Nila und Vincent zählten zu den wenigen Paaren in ihrem Freundeskreis, die den Glauben an die Liebe in ihr aufrecht hielten.
„Aber es ist trotzdem ernst.“ Nila verstummte kurz und schluckte. Schließlich sprach sie weiter. „Renée ist in der Klinik, sie hatte vor einer Woche einen Schlaganfall.“
„Oh, mein Gott, wie schrecklich!“, rief Mona aus. „Warum hast du denn nichts gesagt? Und wie geht es deiner Schwiegermutter? Ist sie stabil?“ Sie fröstelte trotz des warmen südfranzösischen Abends plötzlich.
„Ja, vorerst schon, aber es geht ihr vor allem psychisch sehr schlecht. Vincent wollte erst nicht fahren, uns hier nicht allein lassen.“ Nila macht eine Geste Richtung Haus, das nun ein kleines Hotel war. „Aber ich habe ihm keine Wahl gelassen. So froh wir beide über ihre Versöhnung damals waren, gehört er jetzt einfach an ihre Seite. Ich wollte dich längst anrufen, aber ich bin einfach noch nicht dazu gekommen.“
Mona nickte langsam. „Das heißt, dass du hier jetzt mit allem allein bist?“
„Nun ja, ich habe Laurence, unseren fantastischen Koch, und Alice, das Zimmermädchen. Beide arbeiten jetzt deutlich mehr, als sie eigentlich müssten. Und nicht zu vergessen natürlich unseren alten Jacques. Auch er springt nach wie vor überall ein, wo Not am Mann ist. Ich habe also tolle Menschen um mich herum, aber vieles bleibt nun natürlich an mir hängen. Dabei wäre ich eigentlich lieber bei Vincent und der Familie.“ Nila seufzte und rieb sich müde über die Augen.
„Mist.“ Monas Gedanken fuhren Karussell. Ihre eigenen Sorgen kamen ihr plötzlich schrecklich banal vor.
„Und nun sag mir endlich, warum du jetzt schon gekommen bist anstatt im August.“
„Ich kann dir nichts vormachen.“ Mona atmete aus.
„Nein, das weißt du doch.“ Nila sah Mona auffordernd an. „Also?“
„Ich musste aus Hamburg flüchten“, sagte Mona leise und mit rauer Stimme, während sie Nilas Blick auswich. Es war auch im persönlichen Gespräch nicht einfach, über Chris zu sprechen, wie ihr nun klar wurde.
„Flüchten?“, wiederholte Nila verwirrt. „Wovor?“
„Vor Chris.“ Monas Stimme war nur noch ein Murmeln. Ihr Blick saugte sich am türkisblauen Meer fest, das durch den dichten Bewuchs am Ende des Gartens verführerisch hindurch blitzte.
„Stalkt er dich etwa?“, rief Nila entsetzt. „Ich dachte, ihr habt eine lockere … Beziehung.“
Mona verstand gut, warum Nila gestockt hatte. Sie selbst hatte es die letzten zwei Jahre so dargestellt, als wäre das, was sie mit Chris verband, kaum mehr als eine Bettgeschichte. Allerdings hatte Mona auch immer das Gefühl gehabt, als wenn ihre Freundin ihr das nicht ganz abnahm. Sie kannte Mona einfach zu gut.
„Das war lediglich die halbe Wahrheit“, gestand Mona nach einer Pause, atmete tief durch und sah Nila endlich wieder an. Ihre Freundin wartete geduldig und mit gerunzelter Stirn darauf, dass Mona weitersprach.
„Er lebt mit Lena zusammen“, presste Mona kaum hörbar hervor. „Und ich habe aufgehört zu zählen, wie oft er sich inzwischen von ihr getrennt hat …“ Sie schluckte mühsam. „Und zurückgegangen ist …“
„Dann hat es dich also doch richtig erwischt. Irgendwie hatte ich das immer vermutet. Auch wenn du hartnäckig das Gegenteil beteuert hast.“ Nila lächelte traurig.
Mona schossen nun doch die Tränen in die Augen. Sie senkte den Blick und biss sich auf die Lippe.
Als Nila behutsam eine Hand auf ihren Arm legte, sah Mona zögernd wieder auf. Die Anteilnahme in Nilas Augen überwältigte sie beinahe. Sie schluckte an dem Knoten in ihrem Hals vorbei. Von der kribbeligen Aufgeregtheit bei ihrer Ankunft war nichts mehr übrig, der Abgrund breitete sich wieder genau vor ihren Füßen aus. „Schlimmer geht nicht“, gab sie kleinlaut zu und grinste kläglich. „Verstehst du jetzt, warum nur eine Flucht aus Hamburg mich retten konnte?“ Hier stand sie zumindest nicht allein vor dem riesigen Nichts, in das sie jederzeit stürzen konnte. Den letzten Gedanken sprach sie lieber nicht aus. Nila hatte schon genug Sorgen. Sie sollte sich nicht auch noch Gedanken um ihre liebeskranke Freundin machen müssen.
Nila nickte verständnisvoll, in ihrem Gesicht arbeitete es. „Und deine Praxis?“
„Habe ich in Marcs beste Hände gelegt. Er ist darauf eingestellt, dass ich einige Zeit hierbleibe. Also, falls das okay ist.“
„Natürlich! Du weißt doch, dass wir immer einen Platz für dich haben. Warum hast du es mir nicht viel früher gesagt?“ In Nilas Stimme klang kein Vorwurf, nur tiefes Mitgefühl mit.
Mona konnte nicht antworten, sie zuckte hilflos die Schultern.
„Ach, Liebes.“ Nila streichelte sanft ihre Wange.
„Hör auf, sonst heule ich gleich so laut los, dass Jeanne den Schock ihres Lebens bekommt.“ Mona zog eine Grimasse und ließ den Blick über das Grundstück schweifen, bis er am Horizont hängen blieb, wo das Meer langsam dunkler wurde. Schließlich gab sie sich einen Ruck und straffte die Schultern. „Egal, jetzt bin ich hier und schüttele den ganzen Kram früher oder später sowieso ab.“ Sie hoffte, dass sie wieder klang wie die alte Mona. Nur dumm, dass sie sich nicht so fühlte. Aber diese Strategie hatte ihr bisher stets beim Überleben geholfen. Warum nicht auch dieses Mal?
„Schließt sich eine Tür, öffnen sich drei neue – dein Lebensmotto, wenn ich daran erinnern darf.“ Ein leichtes Lächeln umspielte Nilas Lippen. „Und ich glaube, ich habe die perfekte Idee, wie wir das beschleunigen können.“