1
Lucinda
»Rucke di guck, rucke di guck, kein Blut im Schuck: Der Schuck ist nicht zu klein, die rechte Braut, die führt er heim. Und als die Tauben das gerufen hatten, kamen sie beide herabgeflogen und setzten sich dem Aschenputtel auf die Schultern, eine rechts, die andere links, und blieben da sitzen.
Als die Hochzeit mit dem Königssohn sollte gehalten werden, kamen die falschen Schwestern … äh, ich meine, da kamen alle Gäste … und wenn sie nicht müde geworden sind, dann tanzen sie noch heute.«
Schnell schließe ich das uralte, in weiches Leder gebundene Märchenbuch und lasse es auf meinen Bauch sinken.
»Meine liebe Cinda, das haben die Herren Grimm aber anders aufgeschrieben.« Viktoria grinst mich an und stellt ihr Teeglas, in dem die Eiswürfel klirren, neben sich auf den Boden. Entspannt verschränkt sie die Arme hinter dem Kopf, während ihre Hängematte sanft hin und her schaukelt.
Rosanna, die bis eben mit geschlossenen Augen in einem Liegestuhl dem alten Märchen gelauscht hat, wendet sich Viktoria und mir zu. »So ist der Schluss viel schöner und außerdem schlummert Linda schon seit dem dritten Ball im Traumland.«
Ich erhebe mich aus meiner eigenen Hängematte und gehe zu Rosanna, um ihr vorsichtig deren kleine Nichte abzunehmen. Linda lächelt im Schlaf und schmiegt ihr Köpfchen mit dem flachsblonden Haarflaum an meine Halsbeuge.
»Ich lege sie in ihr Bettchen. Soll ich uns noch mehr Eistee mit rausbringen?«
Murmelnd deuten meine Mitbewohnerinnen ihre Zustimmung an und ich trage Rosannas Mini-Nichte über die Dachterrasse hinein in die Wohnung. In Rosannas Zimmer lege ich sie sacht in das Reisebettchen.
»Gute Nacht und schlaf recht schön, morgen werden wir uns wiedersehn«, flüstere ich beim Zudecken und schleiche aus dem Zimmer.
In der Küche schnappe ich mir den Krug mit dem restlichen Eistee, den wir am Nachmittag unter viel Gekicher zusammen mit Linda mit allen möglichen Kräutern zusammengebraut haben, und bringe ihn nach draußen.
Einmal im Monat gehört Rosannas Wochenende ganz einem ihrer diversen Nichten und Neffen. Auch ich liebe diese Tage und selbst Viktoria, deren Hauptlebensplatz ihr Arbeitsplatz ist, versucht dann, mehr Zeit zu Hause anwesend zu sein.
Als ich zu den Mädels zurückkehre, verabschiedet sich hinter den Baumwipfeln vor der Dachterrasse gerade eine spektakuläre Abendsonne, die alles in orangerotes Licht taucht. Der süße Duft der Robinienblüten unten im Garten weht durch eine Brise zu uns herauf, während zwei Amseln ihre Abendlieder trällern.
»Hast du mittlerweile eine Idee, welches Kleid du zum Geburtstagsball deiner Großeltern tragen möchtest?« Viktorias Bein schiebt sich aus der Hängematte und mit ruhigen Bewegungen stößt sie sich vom Boden ab.
Unvorsichtig plumpse ich in meine Hängematte und rudere kurz mit den Armen, um das Gleichgewicht wiederzufinden. »Das habe ich euch noch gar nicht erzählt! Gestern habe ich einen neuen Stoffladen in Mitte entdeckt und es ist unglaublich, was die dort für Stoffe haben! Es ist ein winziger Laden und das Angebot dementsprechend übersichtlich, aber mit einer Qualität – am liebsten hätte ich mich zusammen mit meinen Lieblingsnähnadeln dort niedergelassen und angefangen, mein Kleid zu nähen.«
Rosanna hebt wie zum Anstoßen ihr Teeglas empor. »Das heißt, du hast für den Ball endlich den richtigen Stoff gefunden?«
Ich nicke feierlich. »Ja, das habe ich.«
»Na, Halleluja! Das wird aber auch Zeit. Nach deiner Textilverzweiflung der letzten Wochen dachten wir bereits, wir müssten dir ein Kleid zaubern.« Auch Viktoria prostet mir zu.
»Oder vielleicht hätte es dir ja geholfen, dich unter die Robinie zu stellen, und das Bäumchen um Gold und Silber anzuflehen«, kichert Rosanna.
»Dürfen wir denn deinen Wunderstoff sehen?« Viktoria setzt sich auf, doch ich winke träge ab.
»Ihr seid nicht mit dem nötigen Ernst bei der Sache. Der Stoff ist etwas ganz Besonderes! Für einen ganz besonderen Ball.«
Rosanna sieht mich nachdenklich an und ich höre ihre Gedanken überdeutlich.
»Fang jetzt bloß nicht mit meinen Stiefschwestern an«, ermahne ich sie.
»Genau, lass dir nicht von diesen Biestern den Abend verderben. Den heutigen nicht und den Ballabend schon gar nicht!« Viktoria wackelt mit dem Zeigefinger wie eine Gouvernante vor einem Teller mit Süßigkeiten.
»Es wird bestimmt ein schönes Wochenende.« Rosannas Lächeln überdeckt das Rumoren in meinem Bauch, welches mich immer zwickt, wenn ich an meine Stiefschwestern und meine Mutter denke, die zusammen mit meinen geliebten Großeltern auf einem Weingut an der Mosel leben.
Für eine Weile hängen wir still unseren Gedanken nach und beobachten den wolkenlosen Himmel über uns, dessen Farbe von Lilablau zu samtigem Dunkelblau fließt. Die ersten Sterne beginnen zu funkeln und wie immer beim Anblick dieser fernen Wunder fühle ich mich ruhig und aufgehoben, da wo ich bin.
»Eine Sternschnuppe!« Mit beiden Händen zeige ich zu einem entlegenen Lichtpunkt am Nachthimmel, als würde ich ihn auffangen. Mein Herz schlägt schneller und meine Haut prickelt.
»Du darfst dir etwas wünschen«, flüstert Rosanna.
Und ich wünsche mir etwas. Etwas ganz Besonderes, Einzigartiges. Etwas so Schönes und Altes wie die funkelnden Sterne über mir.
2 A
A wie Ankunft
Abendkleid
Darf es ein wenig mehr sein?
Brokat, Spitze oder Seide – oder alles auf einmal?
Bei einem Abendkleid darf alles da sein, wo es hingehört, angefangen beim atemberaubenden Herzdekolleté bis hin zum koketten Schlitz an der Seite, für Beine ohne Enden.
***
Ganz ruhig, ich habe keinen Grund, nervös zu sein. Es ist ja nicht so, dass ich zitternd in meinem Mini vor einem Gefängnis sitze, in das ich gleich eingesperrt werde.
Nein, es handelt sich nur um ein Haus. Und ich liebe dieses Haus, den Kontrast zwischen seinen himbeerroten Holzbalken und der sandfarbenen Fassade. Vor den Fenstern hängen Großpapas handgeschmiedete Blumengefäße, aus denen sich Großmamas bunte Zauberglöckchen ergießen. Wie jeden Sommer tanzen Zitronenfalter auf den Blüten in der Morgensonne.
Leider wohnt meine Mutter mit ihren beiden Töchtern darin, meinen Schwestern also. Stiefschwestern, um genau zu sein.
Ein Fluchtinstinkt zwingt meine Vernunft in die Knie und meine Füße streiten sich darum, welcher zuerst auf das Gaspedal treten darf. Sie wollen hier schnellstmöglich wieder verschwinden. Auch meine Hände mischen mit. Hektisch stecke ich den Autoschlüssel zurück in die Zündung.
Ich bin so was von feige.
»Kann ich Ihnen helfen?« Ein fremdes Männergesicht mit schokobraunen Wuschelhaaren taucht im geöffneten Fenster der Fahrertür auf.
Vor Schreck drehe ich am Schlüssel, was der Motor mit Geheul beantwortet. Mein rechter Fuß malträtiert nervös das Gaspedal und erhöht den Lärm nicht unbeträchtlich.
Mein Auto springt nach vorn und der Mann zur Seite.
Für einen Moment überlege ich, unerkannt zu türmen. Ich könnte lügen, ich hätte mich verfahren. Doch noch ehe ich mit diesem Gedanken fertig bin, wird ein Fenster in der zweiten Etage der alten Gutsvilla aufgerissen.
»Lucinda Lynette! Wer auch sonst!« Die Stimme meiner Mutter nimmt es locker mit dem Röhren des Minis auf. Ihr Drillton passt so gar nicht zu ihrer aparten Erscheinung.
Okay, unerkannt zu türmen, erledigt sich gerade, jetzt bleibt mir nur noch, zu türmen.
Ich würge den Motor ab. Bleiben wäre vernünftiger. Und bin ich nicht die Vernunft in Person? Ich schnalle mich stets an, bevor ich mein Auto starte, und ich trage einen Helm, wenn ich Fahrrad fahre. Zumindest mit meinem Rennrad, mein altes Damenrad für zwischendurch zählt nicht so richtig. Schließlich passt meine meist hochgesteckte Lockenflut nicht unter den Helm. Aber wenn es eine Helmpflicht gäbe, würde ich mich natürlich daran halten.
Der Fremde öffnet die Fahrertür und wartet, dass ich aussteige. Nun gut, ich bin erwachsen, ich bin selbstständig und ich weiß, was ich kann.
Hilfe, ich will nicht! Denn ich weiß genauso gut, was ich nicht kann. Ich kann mich nicht mit meiner Mutter und meinen Stiefschwestern innerhalb eines Bundeslandes aufhalten.
»Komm endlich!«, fordert meine Mutter. »Es gibt genug für dich zu erledigen!«
Ungelenk wie eine Marionette kraxele ich aus dem Auto und versuche es bei dem Fremden mit einem Lächeln. Meine Gesichtsfarbe toppt mit Sicherheit das Chilirot des Minis.
»Sie sind also Lucinda.« Sein Grübchenlächeln heizt meinem Teint noch mehr ein.
Das sind nur die Nerven, beruhige ich mich selbst. Und diese moosgrünen Augen! »Cinda«, murmele ich.
»Und Herr Priens«, fährt die Stimme meiner Mutter auf uns herab, »wenn Sie sich bitte in das Arbeitszimmer meines Schwiegervaters begeben würden? Sie haben dort einen Termin. Jetzt!«
Rumms. Das Fenster knallt zu und ein paar rote Zauberglöckchenblüten aus dem Blumenkasten davor rieseln herab.
Der Gerügte schiebt den Ärmel seines weißen Hemdes ein wenig nach oben, blickt auf die Armbanduhr und verzieht den Mund. »Ich fürchte, Ihre Mutter hat recht.« Er reicht mir die Hand und sieht zu mir herunter. Normalerweise bin ich die Große, aber bei ihm könnte ich sogar meine höchsten High Heels tragen, ohne wie eine Giraffe zu wirken, die mit dem Zoowärter kuschelt. »Sie bleiben hoffentlich, nachdem ich schon so wagemutig Ihren Fluchtversuch vereitelt habe.« Seine Augen unter den dunklen Wimpern glitzern und verhindern, dass sich mein hüpfendes Herz beruhigt.
»Wenn ich schon mal hier bin …«, stammele ich.
Zögernd lässt er meine Hand los. »Wir sehen uns später?«
»Sicher.« Oh toll, sicher, mehr fällt mir nicht ein? Innerlich klatsche ich mir mit der Hand gegen die Stirn. »Ich meine, natürlich gern.« Klasse, ich werde immer eloquenter.
Sein Lächeln verstärkt sich und zaubert ihm ein weiteres Grübchen ins Gesicht. Er nickt mir zum Abschied zu und läuft ein paar Schritte rückwärts, dabei streicht er sich eine Schokohaarsträhne aus der Stirn, wendet sich um und verschwindet durch den Haupteingang ins Haus.
Wer ist er nur?
Ein neuer Angestellter? Ein neuer Sommelier? Der Sohn des Bürgermeisters? Ein Prinz?
Der rüde Ton meiner Mutter scheint ihn nicht zu stören oder er hat sich schon daran gewöhnt. Obwohl – ich habe mich in siebenundzwanzig Jahren noch nicht daran gewöhnt. Aber möglicherweise bin ich ja nur zu empfindlich und ein klitzekleines bisschen voreingenommen.
Vielleicht wird es ja gar nicht sooo schlimm. Immerhin feiern wir die siebzigsten Geburtstage meiner Großeltern. Zu dem großen Galaessen und dem anschließenden Ball am Sonntag werden viele Gäste auf dem Weingut von Grafenberg erwartet. Darunter Politiker und Weingourmets, deren Geldbeutel mindestens den Umfang des Weihnachtsmannsackes haben, und nicht zu vergessen die A-, B- und C-Promis. Die zu umgarnen – ob sie wollen oder nicht – zählt zu den Hobbys meiner Mutter und meiner Stiefschwestern. Das sollte die drei genug von mir ablenken.
Schwungvoll öffne ich den Kofferraum, um mein Gepäck auszuladen.
Da kommt es bereits schlimmer.
In ungebührendem Abstand zu mir bremst ein Auto und die aufgewirbelten Kieselsteine spritzen gegen meine nackten Beine.
Aus der fahrenden Flunder, in die laut Fahrzeugschein sicher nur ein Fahrer, ein halber Beifahrer und eine XXS-Luxushandtasche passen, entfalten sich meine beiden Stiefschwestern.
Wie immer, wenn wir uns eine Weile nicht gesehen haben, kann ich kaum glauben, dass die beiden Schwestern sind. Zumindest äußerlich lässt nichts auf ihren gemeinsamen Genpool schließen. Mozartkugel versus Zuckerstange – mit angeklebten Macadamianüssen.
»Da bist du ja endlich!« Asta, die älteste von uns, zuppelt an dem Riesenausschnitt ihres Oberteiles, das kaum bis zu ihrem solariumbraunen Bauchnabel reicht. Dann streicht sie sich ihre blondgefärbten Spaghettihaare glatt. »Die Schneiderin hat totalen Mist gebaut. Sieh zu, dass du mein Kleid bis heute Abend wieder in Ordnung bringst.« Sie stapft auf dreizehn Zentimeter hohen Designerabsätzen in Richtung Haus. Wie kann sie solch schönen Schuhen nur so viel Gewalt antun!
»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, rufe ich ihr nach. »Und natürlich kümmere ich mich gern um deine Robe.«
Ricarda zieht aus ihrer Umhängetasche in der Größe eines Kinderzeltes einen Strohhut und setzt ihn sich auf den erdbraunen Schopf. Das ist wahrscheinlich die beste Lösung, denn ihr neuer Bob betont exakt die Konturen ihres vollmondrunden Gesichtes.
Sie nickt mir huldvoll zu. »An meinem Kleid sind bei der Anprobe ein paar Nähte aufgeplatzt. Wehe, das passiert mir wieder!« Ein zweites Nicken, dann watschelt Ricarda an mir vorbei zum Haus. Der Hosenstoff rund um ihren Kugelpo dehnt sich dabei bis zum Äußersten.
»Dann solltest du anstatt Kakaobohnen lieber grüne Bohnen mampfen«, murmele ich für Ricarda unhörbar.
Warum tue ich mir das an? Nach all den Jahren attackieren sie mich noch genauso wie früher.
Ich trete von einem Bein auf das andere und starre in den geöffneten Kofferraum. Klappe zuschmeißen und nach Hause fahren oder Koffer rausholen und bleiben?
Für einen Moment schließe ich die Augen. Der Wind raschelt neben mir durch die Blätter des Kastanienbaumes, der die Gutsvilla überragt. Die Sonne wärmt meinen Nacken und ich rieche den erdigen Duft der Weinberge um mich herum. Unzählige Male habe ich als Kind mit meinem Großpapa die langen Gänge zwischen den Spalieren durchstreift. Noch heute kann er die Geschichte jedes einzelnen Rebstockes erzählen.
An diesem Wochenende geht es um den Ehrentag meiner Großeltern – eigentlich Stiefgroßeltern, aber das spielt keine Rolle. Die beiden wurden am selben Tag geboren und sind nicht nur in dieser Hinsicht ein außergewöhnliches Paar.
Ich werde es mir nicht nehmen lassen, mit ihnen zu feiern. Mein Großpapa und meine Großmama sind meine wahre Familie, die anderen sind mir egal, sind mir egal, sind mir egal.
Ach, wem erzähle ich das. Sie sind mir nicht egal.
Aber, ich könnte so tun als ob.