Kapitel 1
Hätte Mom auf dem Foto so gelächelt, wenn sie gewusst hätte, dass ihr Leben Stunden später enden würde?
Das Blitzlicht spiegelte sich in ihren Brillengläsern. Auch wenn es auf dem Polaroidfoto nicht zu erkennen war, wusste ich, dass wir die gleiche Augenfarbe besaßen. Dad hatte nie wirklich davon gesprochen. Nie von ihr gesprochen. Aber Worte waren nicht nötig gewesen, um seine Gedanken zu offenbaren. Es war ihm anzumerken gewesen, dass es nicht leicht war, mich anzusehen, wenn dabei Moms Augen zurückschauten. Sein Zusammenzucken hatte ihn nicht nur einmal verraten.
Ich wusste, dass es nie mit böser Absicht geschehen war. Dad hatte sich immer Mühe gegeben, mir eine schöne Kindheit zu bescheren und irgendwie die Tatsache auszugleichen, dass ich nur mit einem Elternteil aufwuchs. Angefangen mit den geflochtenen Zöpfen, die am Anfang nicht als solche zu erkennen waren, bis zu dem Einkauf von Hygieneprodukten, als ich in die Pubertät kam.
Wahrscheinlich hatte Dad das Polaroid damals geschossen. Eine Vermutung von vielen, die ich aufgestellt hatte, besonders nachdem ich die Habseligkeiten aus unserem Haus hatte ausräumen müssen.
Ein Wasserfleck auf dem Foto hatte das Logo auf dem orange-braunen Pullover unkenntlich gemacht, den Mom trug. In einer Hand hielt sie einen schmalen Ordner, von dem ich nur annehmen konnte, dass es sich hierbei um das Drehbuch der Aufführung handelte, die an jenem Abend Premiere gefeiert hatte.
Im Hintergrund, teilweise verdeckt durch ihre blonden Locken, leuchtete ein roter Samtvorhang. Mom war als Schauspiellehrerin der größte Fan ihrer Schützlinge gewesen. Obwohl ich zum Zeitpunkt ihres Todes noch sehr jung war, erinnerte ich mich an ihre Begeisterung, wenn sie über ihre Arbeit sprach. Die Leute sagten, dass es seltsam war, dass ich mich an jenen Abend erinnerte. Dass ich es mir zusammengesponnen haben musste. Ich sah es jedoch deutlich vor mir: Mom war so aufgeregt. So stolz. Ihre Euphorie war ansteckend gewesen. Sie hatte mit mir zur Musik der Aufführung getanzt. Soweit man das hatte Tanzen nennen können – sie hatte mich auf ihren Füßen abgestellt und uns schunkelnd im Kreis bewegt, während Dad den DJ dazu gemacht hatte.
Es war einer der Momente, der gut konserviert in meinen Erinnerungen überlebt hatte. Wenn ich nachts im Bett lag und die Augen schloss, konnte ich ihr Lachen beinahe wieder hören. Ihr sommerlich-fruchtiges Parfum riechen. Den sanften Druck auf meinem Haar spüren, wenn sie mit ihrer Hand über meinen Scheitel fuhr.
Irgendwann nehme ich dich mit und dann siehst du es mit deinen eigenen Augen, Flo. Es ist ein wenig magisch und ganz faszinierend.
Wie sie es versprochen hatte, war nun der Zeitpunkt gekommen. Es hatte nur vierzehn Jahre und eine weitere Beerdigung gedauert, bis ich mir selbst ein Bild von der Schule machen konnte, an der sie unterrichtet hatte. Viel später, als sie es sich wahrscheinlich vorgestellt hatte. Ich blinzelte und spürte die Tränen an meinem Wimpernkranz. Es tat weh, hier zu sein. An dem Ort, an dem meine Mom so gern ihre Zeit verbracht hatte. Gleichzeitig fühlte es sich wie ein Verrat an Dad an, wie ein gebrochenes Versprechen ihm gegenüber, das ich nie gegeben hatte.
Er hatte nie hierher zurückkehren wollen. Ich hingegen wollte es unbedingt. Ich wollte herausfinden, was ihre Faszination für diese Schule ausgemacht hatte – und wenn ich Glück hatte, ein wenig von ihr hier wiederfinden. Schließlich würde ich nun durch dieselben Flure wie sie wandeln, in denselben Klassenzimmern sitzen, dieselbe Aussicht genießen und Mom damit hoffentlich ein wenig näher sein.
Ich sah vom Foto auf. Jemand hatte vergessen, das Oberlicht auszuschalten. Der Grund, wieso ich überhaupt hierauf aufmerksam geworden war. Nach meiner Ankunft war ich verloren durch das Hauptgebäude gewandert. Der angekündigte Empfang war ausgeblieben, also hatte ich mich allein auf den Weg gemacht, bis mir durch ein Seitenfenster das Theater aufgefallen war. Ich hatte nicht vorbeigehen können. Nicht mit dem Foto in meiner Jackentasche, das sich in dem Moment glühend heiß angefühlt hatte.
Während ich den Blick wandern ließ, verstaute ich das Polaroid sorgsam. Seit 2009 hatte sich nicht viel verändert. Inzwischen bestückte ein waldgrüner Samtvorhang die Bühne, doch abgesehen davon schienen alle Details der Fotos gleich geblieben zu sein.
Nun verstand ich auch, weshalb sich Granma geweigert hatte, aus dem Auto auszusteigen, um sich von mir zu verabschieden. Es war beinahe, als wäre keine Zeit vergangen. Stattdessen hatten wir auf der Rücksitzbank des Mercedes eine etwas ungelenke Umarmung hinter uns gebracht, ehe ich aus dem Auto ausgestiegen war, und der Taxifahrer das Fahrzeug vom Parkplatz gelenkt hatte. Die Erinnerungen an vergangene Zeiten mussten erdrückend für Granma gewesen sein, auch wenn sie es sich bis zum Schluss nicht hatte anmerken lassen. Ich war dankbar dafür, dass sie es mir ermöglichte, hier zur Schule zu gehen, auch wenn ich bedauerte, dass sie nun allein in dem großen Haus mit den zugigen Fenstern sein würde.
»He!« Die Stimme ließ mich herumwirbeln. Sie gehörte zu einer Schülerin, deren Blick versprach, mich unter ihren Doc Martens zerquetschten zu wollen. Ihr schwarzes Haar war zu einem kurzen Bob frisiert worden, mit einem Pony zu beiden Seiten, der ihr Gesicht schmaler erscheinen ließ. Unter ihrem dunkelgrünen Tweed-Blazer lugte ein schwarzer Rollkragenpullover hervor, der Ton in Ton mit ihren engen Leggings ging. Alles an ihr schrie elitäre Internatsschülerin. »Du hast hier nichts zu suchen.«
»Ich dachte, hier wäre jemand. Anscheinend hat jemand vergessen, das Licht auszuschalten.« Überflüssigerweise deutete ich zur Decke.
»Hier hat niemand irgendwas vergessen«, erwiderte sie. Mir entging der Blick nicht, mit dem sie mich von oben bis unten musterte. Kurz blieb er an meinem Rucksack hängen, den ich über einer Schulter trug. Ich konnte ihr förmlich ansehen, dass sie sich eine Meinung bildete, die nicht gerade schmeichelhaft war. »Es findet gleich eine Probe statt. Aber wie ich eingangs sagte: Streuner haben hier nichts verloren.«
Granma wäre nicht beeindruckt, wenn ich an meinem ersten Tag ein Handgemenge anzetteln würde. Daher atmete ich einmal tief durch und sagte: »Sorry, ich hatte noch keine Zeit, mich umzuziehen. Heute ist mein erster Tag. Ich war eigentlich auf dem Weg zu Direktorin Drew.«
»Hier ist sie auf jeden Fall nicht.« Das Mädchen hob herausfordernd das Kinn an und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Das sehe ich, Miss Marple.« Ich konnte nicht verhindern, dass sich Frustration in meine Worte mischte. »Was ist dir widerfahren?«
»Wie bitte?«
»Was ist dir widerfahren«, wiederholte ich, »dass du zu Fremden so gemein sein musst?«
Etwas veränderte sich in ihrem Blick. Ich kannte diesen Ausdruck. Ich hatte es selbst gefühlt. Diese Leere. Diesen Schmerz, von dem man dachte, dass man ihn mit niemandem teilen konnte. Bei dem die Verzweiflung einen dazu trieb, jede helfende Hand wegzuschlagen, aus Angst, noch weiter verletzt zu werden.
Sie war auch nur eine arme Seele, die ihren Schmerz auf andere übertrug, um sich selbst besser zu fühlen.
»Fremde Leute schleichen in Teilen der Schule herum, in denen sie nichts verloren haben. Das ist passiert«, gab sie kühl zurück. »Soll ich dich jetzt zu Mrs Drew begleiten oder willst du mich weiter beleidigen?«
Ich fragte mich, wann ich sie beleidigt hatte. Aber ich war tatsächlich auf dem Campus der Whitehall Manor verloren gegangen, daher wäre ein wenig Hilfe gar nicht verkehrt. »Das wäre großartig.«
»Dann los, ich habe nicht viel Zeit.« Das Mädchen machte auf dem Absatz kehrt und führte mich den spärlich beleuchteten Flur entlang.
Über unseren Köpfen knackten die Leuchtstoffröhren. Diese hatten der einsetzenden Dämmerung nicht viel entgegenzusetzen, die sich bedrohlich durch die Fensterfront zu meiner Linken presste. Es musste einige Zeit seit meiner Ankunft vergangen sein. Vorhin war der Innenhof, auf den wir zusteuerten, noch deutlich zu erkennen gewesen.
»Ich bin Rei Saitoh, so nebenbei bemerkt«, sagte sie und hielt mir die Tür auf, damit ich hindurchgehen konnte. Der Herbstwind trieb die verfärbten Blätter vor meinen Schuhen zusammen. Meine Schritte knisterten, während ich mich zu Rei umwandte. Der Luftzug bauschte ihren Bob auf, was ihr einen wilden Ausdruck verlieh. »Den Namen solltest du dir merken.«
Ihr Hinweis brachte mich so aus dem Konzept, dass ich vergaß, mich ebenfalls vorzustellen. »Wieso das?«
»Halte deine Freunde nahe bei dir, aber deine Feinde noch näher«, sagte sie mit einem Lächeln, das Glas zerschneiden konnte. Ohne meine Antwort abzuwarten, zog Rei die Flügeltür zu. Das Schloss rastete mit einem lauten Klicken ein.
Verdattert starrte ich sie durch die Scheibe an. »Wirklich? Ist das nicht ein wenig dramatisch?«
Rei ließ sich nicht anmerken, ob sie meine Worte vernommen hatte, und wandte sich ab. Ihre Silhouette verschmolz schnell in dem dämmrigen Flur. Frustriert rüttelte ich an der Tür. Ohne Erfolg. Rei hatte mich erfolgreich aus dem Gebäude ausgeschlossen. Ich aktivierte zur Orientierung die Taschenlampe auf meinem Handy. Der Kartenleser an der Fassade erweckte bei mir den Eindruck, dass ich auch nicht wieder ins Gebäude reinkommen würde. Vorhin hatte diese Tür noch offen gestanden, das war wohl mein Glück gewesen. Oder Pech. Je nachdem.
Hilfesuchend sah ich mich um. Nebel hing in der Luft und zeichnete das gelbstichige Licht der Laternen weich. Ich fand mich in einem quadratisch angelegten Innenhof der Whitehall Manor wieder. An drei Seiten grenzten Wohnheime aneinander, die mit dem Hauptgebäude verbunden waren. Das Theater ragte zwischen zwei Wohngebäuden in den Himmel.
Auch wenn es nicht so spät sein konnte, war das Gelände erstaunlich verlassen. Aber ich wusste ja schon durch meine Begegnung mit Rei, dass sich hier irgendwo noch die anderen herumtreiben mussten.
Ich war von vornherein etwas voreingenommen gewesen, doch die Begegnung mit Rei ließ mich dem nächsten Schuljahr mit Bauchschmerzen entgegenblicken. Frustriert trat ich gegen den Blätterhaufen, der sich vor meinen Füßen angesammelt hatte.
»So eine –«
»Haben Sie sich verlaufen, Ms …?« Die Stimme ließ mich herumwirbeln. Ein Mann stand vor mir und seiner Aktentasche aus braunem Leder und der Art, wie er seine Brille richtete nach zu urteilen, musste er hier Lehrer sein.
»Florence Clay. Ich bin heute angekommen.«
»Es ist mitten im Schuljahr«, informierte mich der Mann mit einem Gesichtsausdruck, in dem sich die Verwirrung darüber spiegelte, dass ich mich um drei Monate zum Unterricht verspätete.
No shit, Sherlock. »Mrs Drew weiß Bescheid.«
»Hat Sie niemand am Schultor abgeholt?«
Ich dachte an Granma und ihr schwaches Herz und setzte ein Lächeln auf. »Es muss leider etwas schiefgegangen sein.«
»Offensichtlich«, stellte der Mann fest. »Mein Name ist Francis Ashton. Folgen Sie mir bitte.«
Die gegenüberliegende Flügeltür entsperrte er mithilfe einer Karte und hielt sie mir auf. Die Feststellung, dass ich in diesem Innenhof festgesessen hätte, gefiel mir nicht. Bei der altertümlichen Bauweise wäre meine festgefrorene Gestalt neben den Wasserspeiern gar nicht aufgefallen.
Wir kehrten in das Haupthaus zurück. Die Eingangshalle imponierte mir auch beim zweiten Mal. Stuck verzierte die Wände und ein gigantischer Kronleuchter hing von der Decke, der alles in warmes Licht tauchte.
Mein Koffer stand noch immer dort, wo ich ihn zurückgelassen hatte, zwischen der Eingangstür und einem steinernen Sockel, auf dem eine Büste ruhte.
Meine Schritte hallten von dem glatten Steinboden wider. Wir durchquerten die Halle und erreichten die Treppe in das erste Obergeschoss. Eine einzelne gesprungene Fliese am Fuße der Treppe wollte nicht so recht in das Bild dieser vornehmen Einrichtung passen.
Im ersten Stock angekommen, brach Mr Ashton sein Schweigen. »Hier ist der Speisesaal«, informierte er mich, ohne an Tempo zu verlieren. Wir schritten an einem hohen Torbogen vorbei. Bedauerlicherweise erhaschte ich nur einen Blick auf dunkle Vorhänge, ehe er um die Ecke bog und ich hinterher hastete, um nicht den Anschluss zu verlieren.
Hier wurden die Steinfliesen von dunklem Parkettboden in Fischgrätenmuster abgelöst. Schwere Vorhänge säumten die Rundbogenfenster, die zu beiden Seiten von Tasseln zurückgehalten wurden. In der Luft lag der schwere Geruch nach jahrzehntealtem Staub, da wahrscheinlich niemand in den vergangenen fünfzig Jahren auf die Idee gekommen war, die Stoffe professionell reinigen zu lassen. Aber da lag noch etwas anderes in der Luft. Wie viele Träume waren bereits in diesen Gängen zerschellt? Zerbrochen an den überdrehten Erwartungen einer elitären Gesellschaft, in der normal gleichzusetzen war mit schlecht?
Dabei konnte ich mir vorstellen, dass man hier, umgeben von poliertem Marmor, leicht vergessen konnte, woher man stammte. Wichtiger war noch, wie viel würde ich von mir verlieren?
»Auf dieser Etage befinden sich noch einige Klassenräume, vorwiegend für die jüngeren Jahrgänge«, informierte mich der Lehrer. »Für die höheren Klassen findet der Unterricht im zweiten und dritten Obergeschoss statt.«
Das bläuliche Abendlicht, das durch die Fenster fiel, verlieh der Tour etwas Surreales. Die spärliche Beleuchtung erschwerte es, viele Details durch die Glaseinsätze der Türen zu den Klassenzimmern zu erkennen.
Vor dem Büro der Direktorin wurde Mr Ashton langsamer und ließ mich vorgehen. Ich warf einen Blick zu ihm zurück, woraufhin er mir beinahe ermutigend zunickte. Damit trat er den Rückweg an und ließ mich allein. Also klopfte ich an. Nach einem dumpfen »Herein« betrat ich ein Vorzimmer. Die Wände waren mit dunklem Holz ausgekleidet, was den Raum kleiner wirken ließ. Zu meiner Linken befand sich eine Gruppe von gepolsterten Sesseln, die unter einem Fenster stand. Auf der rechten Seite stand ein Schreibtisch. Ein Mann saß dahinter und sah bei meinem Eintreten auf. Das Namensschild wies ihn als Mr Nolan aus.
»Du musst Florence sein«, sagte er. »Willkommen an der Whitehall Manor. Du kannst direkt zur Direktorin durchgehen, wenn du möchtest.«
»Vielen Dank«, sagte ich unschlüssig. Mr Nolan lächelte und deutete freundlicherweise zu einer Tür, die ich bisher nicht bemerkt hatte.
Kapitel 2
Aus dem Büro der Direktorin konnte das gesamte Gelände überblickt werden. Die drei Wohnheime, das Theater und ein gläserner Vorbau, der sich dem Haupthaus anschloss. Aufgrund meiner Recherche wusste ich, dass auf der Anlage dahinter, nun verborgen durch die einsetzende Nacht, die Sportfelder lagen. Das war also die Whitehall Manor. Ich hatte über das Internat einiges nachgelesen und dennoch reichten meine Erwartungen nicht annähernd an die Erfahrung heran, hier zu sein.
Bevor die Whitehall Manor zu einer Schule umgewidmet wurde, war sie das Anwesen einer reichen Familie gewesen. Die Whitehalls hatten das Haupthaus vor beinahe einhundert Jahren erbauen lassen. Der gläserne Anbau war erst eine Dekade alt und vom alten Direktor in Auftrag gegeben worden.
Das Internat war 1951 von der Tochter der ursprünglichen Erbauer gegründet worden. Jackson Whitehall hatte es in einigen Angelegenheiten zu ihrem Vorteil genutzt, dass die Behörden bei ihrem Namen davon ausgingen, dass sie ein Mann war. Es begann als elitäres Internat, in dem Jungen und Mädchen getrennt voneinander unterrichtet wurden. Heutzutage war das glücklicherweise nicht mehr so. Inzwischen konnten sich auch Familien aus der Mittelschicht leisten, ihre Kinder auf diese Schule zu schicken, dank verschiedener Fördermöglichkeiten. Nichtsdestotrotz waren die Schulgebühren auf jeden Fall gut in marmornen Statuen angelegt worden. Kein Wunder, dass einem das alles hier irgendwann zu Kopf steigen konnte.
Direktorin Drew platzierte mich nach dem Empfang vor ihrem massiven Schreibtisch aus Eichenholz. Hinter ihr bedeckte ein gigantisches Ölgemälde die holzvertäfelte Wand, das eine stürmische Szene auf hoher See zeigte. Der Raum an sich war minimalistisch eingerichtet: Neben dem Schreibtisch befanden sich ein Aktenschrank an der Wand rechts von mir sowie eine Standuhr, die mich um einiges überragte.
»Mein Beileid noch einmal zu Ihrem Verlust«, sagte die Direktorin mitfühlend. »Ich kann mir nur vorstellen, wie schwierig das in Ihrem Alter sein muss.« Der Blick aus ihren eisgrauen Augen ging an meinem Gesicht vorbei, fokussierte die vertäfelte Wand hinter mir.
Ich war mögliche Alternativen dieses Gesprächs bereits mehrmals in Gedanken durchgegangen. Zu wissen, was ich sagen konnte, gab mir ein Gefühl von Sicherheit. Ein wenig Kontrolle in ungewissen Momenten. Das war schon immer so gewesen. Bei jeder mündlichen Prüfung, jedem schwierigen Gespräch. Trotz dessen nahm mich der Verlauf des Gesprächs mehr mit als erwartet. In meiner Kehle bildete sich ein Kloß, der mir das Schlucken erschwerte.
»Vielen Dank, das war … ist es immer noch.«
Mrs Drew nickte der Wand zu und zog aus einer Schreibtischschublade eine braune Akte hervor. Kurz blätterte sie durch die Unterlagen, die ich ihr zugesandt hatte. Ihr Blick blieb an den Kopien meiner Zeugnisse haften. »Der Wechsel mitten im Schuljahr ist höchst ungewöhnlich.«
»Eine andere Wahl hatte ich nicht«, gab ich zurück. Ein schweigsamer Moment verstrich, in dem wir uns gegenseitig musterten. Mir fiel es schwer, die Frau vor mir einzuordnen. Sie kannte meine Vorgeschichte, schließlich waren etliche Briefe zwischen meiner Grams und ihr hin und her gegangen. Sie wusste nicht, dass die Kommunikation von mir betrieben worden war und ich ihr bereits alles geschildert hatte, was es zu erzählen gab. Dass Dad vor zwei Monaten unerwartet verstorben war und ich gezwungen gewesen war, meine Schule und Freunde zurückzulassen – und das kurz vor meinem Abschluss. Dass meine Grams eigentlich viel zu alt und zu krank war, um sich richtig um mich zu kümmern. Sie aber trotzdem bereit war, die Vormundschaft zu übernehmen, zumindest auf Papier, damit ich nicht in einem Pflegeheim landete.
»Wir möchten Ihnen natürlich den bestmöglichen Start an der Whitehall Manor ermöglichen. So wie ich das sehe, liegen uns bereits alle Dokumente vor. Das macht uns den Einstieg für Sie natürlich viel einfacher. Ihr Stundenplan sowie alle weiteren Informationen zu Ihrem Aufenthalt an unserem Internat werden Sie in der Willkommensmappe finden, die ich Ihnen gleich aushändigen werde. Dort ist auch die Hausordnung zu finden. Ich würde Ihnen empfehlen, sich diese zu Herzen zu nehmen. Verwarnungen werden von uns nur schweren Herzens ausgesprochen, doch haben sie immer Konsequenzen.«
»Natürlich«, erwiderte ich und nickte, um meinen Worten Ausdruck zu verleihen.
Mrs Drew lächelte und widmete sich erneut den Unterlagen. Ihre Augenbrauen rutschten nach oben. »Ungewöhnlich«, murmelte sie.
»Wie bitte?«, hakte ich nach, als sie keine Anstalten machte weiterzusprechen.
»Sie sind eine Anwärterin für das Jackson-Whitehall-Stipendium. Ihre Noten sind herausragend, trotz dessen, dass Sie … auf einer staatlichen Schule waren.«
»Vielleicht ist das Niveau Ihrer Schule ähnlich zu dem meiner alten Schule.« Es war definitiv eine Gabe, ein Kompliment als Beleidigung zu verpacken – die ich ebenfalls beherrschte.
Eine Sekunde verstrich, in der nur das Ticken der Standuhr zu hören war. Kurz überlegte ich, ob ich es mit meinem Kommentar zu weit getrieben hatte. Doch ich würde die Pause nicht vor ihr unterbrechen.
Tick.
Tick.
Tick.
Der Stuhl, auf dem sie saß, knarzte, als sie ihr Gewicht verlagerte. »Möglich«, gab Mrs Drew kühl zurück. »Jedenfalls stünde Ihnen die Welt mit diesem Stipendium offen. Es ist sehr schwer, dieses zu gewinnen, daher können Sie bereits sehr stolz darauf sein, dass Sie dafür in Betracht gezogen werden.«
»Wovon hängt das nun ab, ob ich es bekomme oder eben nicht?«
»Es sind mehrere Schülerinnen und Schüler im Rennen um das Stipendium. Sie können sich aber nicht darauf verlassen, dass Ihre hervorragenden Noten diesen einen verfügbaren Platz dafür sichern können. Vielmehr geht es hier um das Gesamtpaket. Sie müssen brillieren – in allen Bereichen.«
Ich behielt mein Pokerface bei, damit sie nicht merkte, dass mich ihre Aussage verunsicherte. Was sie zu einem Teil tat. Ich wusste, dass ich gut war – nicht umsonst hatte ich bei Wettbewerben schon einige Preise gewonnen. Doch hier schienen die Maßstäbe anders angelegt zu werden. Noten waren gute Werkzeuge dafür, um Leistung messbar zu machen. Aber Softskills unterlagen häufig der subjektiven Meinung des Bewertenden, was ein Problem für mich werden könnte. Schließlich war ich ein Neuzugang und die anderen hatten einen Vertrauensvorsprung bei den Lehrkräften. Ich musste mich erst noch beweisen.
»Was beinhaltet das Stipendium?«
»Der Name ist eigentlich eine Untertreibung«, sagte Mrs Drew. »Es ist so viel mehr. Jemandem wie Ihnen, die von einer staatlichen Schule kommt, wird es wahrscheinlich wie ein Wunder vorkommen.«
Entweder war es also vollkommener Müll, den ich Normalo nicht als solchen erkennen würde, oder es war richtig, richtig gut.
»Überraschen Sie mich.«
»Es ist nicht nur so, dass Ihre komplette Ausbildung finanziert wird. Sie haben ein Forschungsbudget von 250.000 Pfund, das Sie fast zur freien Verfügung haben. Lediglich Ihr Verwalter wird die Ausgaben regelmäßig überprüfen und sicherstellen, dass Sie keinen Unsinn damit anstellen.«
Ich erinnerte mich daran, meinen Mund zu schließen. Das war die Antwort auf all meine Sorgen, wie es nach dem Abschluss weitergehen sollte. Ich wollte meiner Grams nicht noch mehr Umstände bereiten als ohnehin schon. Wenn ich mich nach dem Abschluss nicht um die Kosten für das Studium sorgen müsste, könnte ich Grams etwas von meinem Ersparten abgeben, damit sie endlich die kaputten Fenster reparieren ließ.
»Ich bekomme einen eigenen Verwalter?«, fragte ich.
»Selbstverständlich«, sagte Mrs Drew. »Wie sollen Sie denn sonst Ihre Wertpapiere handhaben, wenn Sie sich doch auf das Studium konzentrieren sollen?«
Für zwei Herzschläge setzten meine Gedanken aus. »Was gehört noch alles zu diesem Stipendium?«
»Inkludiert sind noch Zusagen für zwei Praktika, davon eins im Ausland. Wenn Sie Ihren Abschluss geschafft haben, haben Sie die Auswahl aus einem Pool von nicht weniger als fünf Unternehmen, von denen eins Sie nehmen wird.«
Mir entging ihre Wortwahl nicht. Nehmen wird anstelle von nehmen könnte.
»Und das wissen Sie jetzt schon?«
»Wer das Stipendium gewinnt, kann sich nur hervortun. Es gibt jedoch eine Sache, die Sie wissen müssen, Ms Clay. Es wird ein harter Wettkampf werden. Die Schülerinnen und Schüler von Whitehall Manor sind willens und fähig, den Preis zu gewinnen.«
»Dann ist es ja nur von Vorteil, dass ich nun ebenfalls zur Schülerschaft dieser Einrichtung gehöre. Das wird sicher einiges vereinfachen.«
»Gut erkannt«, sagte Mrs Drew nun mit einem versöhnlicheren Tonfall. Das Zeichen dafür, dass das Gespräch ihrerseits beendet war. »Sie freuen sich wahrscheinlich darauf, Ihr Zimmer gleich beziehen zu können, nehme ich an. Haben Sie Ihr Gepäck schon auf das Zimmer bringen lassen?«
»Nicht direkt …«, erwiderte ich zögerlich. »Ich habe es in der Eingangshalle abgestellt. Ich wusste nicht genau, wohin ich gehen soll.«
»Hat man Sie nicht in Empfang genommen?«
Ich schüttelte den Kopf.
Mrs Drew hob daraufhin die Augenbrauen. »Eigentlich hätte jemand auf Sie warten sollen. Das ist sehr bedauerlich, nachdem Sie sich die Umstände gemacht haben, so spät am Nachmittag anzureisen. Ich wollte es mir jedoch nicht nehmen lassen, Sie persönlich an der Whitehall Manor zu begrüßen. Leider bin ich erst sehr spät von meiner Dienstreise zurückgekehrt. Ich informiere den Hausmeister, damit dieser Ihr Gepäck in Ihr Zimmer bringt.«
»Vielen Dank«, sagte ich, woraufhin mir Mrs Drew wohlwollend zunickte. Das Lächeln erreichte ihre Augen jedoch nicht, was in mir den Eindruck erweckte, dass sie die Tatsache mehr störte, als sie vor mir zugeben wollte.
Sie drückte einen Knopf auf der Telefonanlage und gab eine kurze Anweisung an das Vorzimmer durch. Die Antwort kam so schnell und verzerrt, dass ich kein Wort verstand. Die Direktorin schon, denn sie erhob sich und bedeutete mir, ihr zu folgen.
»Ich möchte Ihnen Ihre Patin vorstellen«, begann Mrs Drew. »Genevieve Hope wird Sie in Ihren ersten Wochen hier begleiten und mit Rat und Tat zur Seite stehen. Ms Hope ist seit diesem Semester die Vertrauensschülerin. Sie wird Sie in alles weitere einweisen. Sie werden schnell merken, dass an dieser Schule großer Wert auf Eigenverantwortung gelegt wird. Ich hege ein großes Vertrauen in die starke Intuition des Einzelnen.«
In der Sitzecke saß ein Mädchen, das vorhin noch nicht dagewesen war. Das Erste, was mir auffiel, war, dass sie nicht die Schuluniform trug. Stattdessen trug sie einen weiten fliederfarbenen Hoodie und eine gleichfarbige Hose. Auf ihrer Brust prangte das eingestickte Logo der Schule. Ein W und ein M, die ineinander verschlungen waren. Ihre braunen Haare fielen in weichen Locken auf ihre Schultern. Es sah gleichzeitig elegant und mühelos chic aus. Genevieve erwiderte meinen Blick und lächelte.
»Du musst Florence sein«, sagte sie und erhob sich. Sie umrundete die Sitzgruppe, um mir die Hand zu reichen. Als sie mir gegenüberstand, war ich von ihrer Augenfarbe fasziniert. Ihre Augen waren so tiefblau, wie ich sie noch nie gesehen hatte. »Ich freu mich sehr, dich kennenzulernen. Ich kann mir vorstellen, dass es besonders am Anfang hier sehr verwirrend sein kann.«
»Das ist es wirklich«, sagte ich, ein wenig überwältigt von der netten Geste. »Vielen Dank, dass du bereit bist, mir alles zu zeigen. Du kannst gern Flo zu mir sagen.«
»Reizend«, erwiderte Genevieve, ohne dass ihr Lächeln an Strahlkraft verlor. Anscheinend befanden sich an der Whitehall Manor doch noch normale Menschen, auch wenn Rei Saitoh, Mrs Drew und Mr Ashton nicht dazuzählten.
»Wenn es keine weiteren Fragen gibt, würde ich Sie in die vertrauensvollen Hände von Ms Hope geben. Ich wünsche Ihnen einen exzellenten Start an der Whitehall Manor, Ms Clay. Machen Sie das Beste daraus.«
»Vielen Dank, Mrs Drew«, brachte ich heraus, ehe die Direktorin mit einem Lächeln in ihr Büro zurückkehrte.
Als wir auf den Flur traten, hielt Genevieve einen schmalen Ordner in der Hand, den sie aufklappte. Auf der Vorderseite stand mein Name geschrieben.
»Das hier ist deine Willkommensmappe«, erklärte sie. »Komm, ich erkläre dir auf dem Weg, was es damit auf sich hat. Hattest du eine weite Anreise?«
»Ganz im Gegenteil. Meine Familie kommt aus Penrith«, erklärte ich.
»Das ist ja praktisch. Ich komme ursprünglich aus Norwich. Nach der Anreise bin ich immer fix und alle. Falls du nicht zu müde bist, können wir uns auch gern in die Bibliothek setzen. Heute findet die Lange Nacht statt. Man kann sich mit seinen Freunden treffen, ein wenig rumhängen, lernen oder dergleichen. Was hältst du davon?«
Ein wenig Anschluss würde mir hier sicherlich guttun. Zudem graute es mir davor, gleich allein zu sein. »Das klingt spannend. Sehr gern.«
»Super.« Genevieve lächelte mir aufmunternd zu. »Also, wir haben hier eine Checkliste für deine ersten Tage an der Whitehall Manor. Hier, zu Beginn kann ich dir deine Schlüsselkarte überreichen. Die ist wichtig, da du sie zum einen für die Türen brauchst, aber auch, um die Computer zu nutzen oder ein Buch in der Bibliothek auszuleihen. Verliere sie am besten nicht. Ich habe meine einmal verloren und das stellt einen wirklich vor nichtgeahnte Herausforderungen, wenn du nur mal eben schnell auf Toilette gehen möchtest.«
Mit den Worten reichte sie mir eine Karte in der Größe einer Visitenkarte, auf deren Vorderseite ein Foto von mir und mein Name prangten und das an einem dunkelgrünen Band befestigt war.
»Okay, ist notiert«, erwiderte ich. Unwillkürlich verfestigte sich mein Griff um das Band, an dem die Schlüsselkarte hing. Die Erfahrung von vorhin brauchte ich so schnell nicht wieder wiederholen.
»Über die Hausordnung können wir sprechen, sobald wir ein Plätzchen in der Bibliothek gefunden haben, was denkst du?«
»Das klingt nach einem guten Plan.«
»Finde ich auch!« Sie hakte die Liste ab, während wir die Treppe hinab zur Eingangshalle stiegen.
Als ich einen Blick zur Eingangstür warf, standen meine Koffer nicht mehr dort. Wahrscheinlich hatte sich der Hausmeister bereits darum gekümmert. Wir durchquerten die Halle und erreichten eine hohe Tür.
Bevor Genevieve sie aufdrücken konnte, hielt sie inne. »Wäre es für dich ein Problem vorzugehen? Ich würde noch eine Freundin abholen. Ich habe Hannah versprochen, dass wir uns zusammen hier hinsetzen. Vielleicht findest du schon einen freien Tisch?«
»Na klar, kein Problem. Ich schaue, was ich machen kann.«
Genevieve nickte dankbar und verschwand durch eine Tür nach draußen. Ich wandte mich wieder dem Eingang zur Bibliothek zu, nahm einen tiefen Atemzug und stieß ihn auf.
Ich hatte Vieles erwartet, aber nicht, dass die Bibliothek von Kerzenschein erhellt war. Lichterketten spannten sich zwischen den deckenhohen Regalen aus Walnussholz. Ich musste meinen Kopf in den Nacken legen, um die Bibliothek in ihrer Gänze betrachten zu können. Eine offene Galerie gab den Blick in das Obergeschoss frei.
Zu meiner Rechten befand sich die Treppe, die nach oben führte, und ein Tresen, hinter dem vermutlich tagsüber die Angestellten der Bibliothek saßen. Zu dieser Stunde war dieser verlassen.
Die ersten Tische nahe der Tür waren alle besetzt. Daher wanderte ich unschlüssig die Treppe hinauf, um mir einen Überblick verschaffen zu können. Überrascht musste ich feststellen, dass das Obergeschoss deutlich weniger Platz bot als von mir angenommen. Es bestand aus einem rechteckig angelegten Rundgang, der von Bücherregalen umgeben war. Die Wände waren gesäumt von Kerzen. Ihr Flackern war so regelmäßig, dass ich mich sofort fragte, ob dies echte Wachskerzen waren. Da ich nicht sofort wieder die Treppe nach unten nehmen wollte, schritt ich den Rundgang entlang und warf einen Blick hinab. Sitzgelegenheiten zwischen den hohen Regalen boten einem ausreichend Platz, um es sich gemütlich zu machen. In vielen Nischen saßen Gruppen, die eindeutig lernten. Gelegentlich schwappte ein Lachen durch den Raum oder es wehte ein Gesprächsfetzen zu mir hinauf, ohne dass es störend wirkte. Es herrschte eine angenehme, konzentrierte Atmosphäre. Die andächtige Ruhe in Bibliotheken hatte ich schon immer gemocht.
Da auch in der oberen Etage bereits alle Sitzecken belegt waren, entschied ich mich dafür, mein Glück im Erdgeschoss zu versuchen. Ein Aushang am Ende der Treppe erregte meine Aufmerksamkeit, den ich vorher übersehen hatte.
Das große Derby zwischen den Favoriten!!!
stand dort auf einem auffallend bunt gestalteten Plakat.
Noch wenige Karten an der Abendkasse verfügbar.
Darunter das heutige Datum:
23.10.2023.
Das erklärte, weshalb die Schule bei meiner Ankunft wie verlassen gewesen war. Wahrscheinlich war die Mehrheit der Jugendlichen auf dem Spielfeld gewesen, um die Schulmannschaft anzufeuern.
Ich wandte mich ab, um mich auf die Suche nach Genevieve zu begeben – und stieß prompt mit jemandem zusammen.
Durch die Wucht stolperte ich zwei Schritte zurück, ehe ich mich fangen konnte. Mir gegenüber stand ein Junge, der so groß war, dass ich hochsehen musste. Eine Drahtbrille nahm den Großteil seines Gesichtes ein und lenkte von seinen braunen Augen ab. Dunkelblondes Haar stand nach oben ab, als wäre der kühle Herbstwind gerade hindurchgefahren. Einen kurzen Moment konnte ich mich nicht zwischen ›Was für ein Idiot‹ und ›Wieso sieht der so gut aus‹ entscheiden.
In seinen Armen hielt er einen großen Bildband. Seine Hand verdeckte den Titel, doch eine große Schwarz-Weiß-Fotografie war auf dem Deckblatt abgebildet.
Wir waren beide zu überrascht, um die Stille zu brechen. Schließlich räusperte ich mich. Mir dämmerte, dass seit unserem Zusammenstoß inzwischen einige Sekunden vergangen sein mussten.
Als ich zu einer Entschuldigung ansetzen wollte, rief jemand: »Arden, kommst du?«
Der Angesprochene schüttelte mit dem Kopf, als würde er mit dieser Bewegung seine Gedanken wieder in die richtigen Bahnen lenken. Ohne einen weiteren Blick wandte er sich von mir ab und ging auf seinen Freund zu.
»Die Anmachversuche werden auch immer peinlicher«, sagte Arden, woraufhin mir sein Freund einen gehässigen Blick zuwarf.
Augenblicklich schoss mir die Hitze in die Wangen. Damit war meine Entscheidung gefallen. Was für ein Idiot. Was für ein selbstverliebter Idiot.
»Die Luft ist ein bisschen dünn da oben, meinst du nicht?«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Arden drehte sich um. »Wie bitte?«
Ich ignorierte seine Frage. »Anders kann ich mir nämlich nicht erklären, wieso aus deinem Mund so viel sinnloses Zeug kommt.«
»Das sind aber gewagte Worte für jemanden, der aufrecht unter einem Tisch durchgehen kann.«
Es folgte ein stummes Kräftemessen mit unseren Blicken. Ich legte meine ganze Enttäuschung der vergangenen Stunden hinein – über die Ablehnung von Rei, Direktorin Drews abschätzige Worte und Ardens unverschämte Sprüche. Dabei fielen mir unfreiwillig weitere Details an ihm auf. Auf seiner Wange befanden sich zwei Muttermale, davon eins nahe seines Mundwinkels. Die linke Hälfte seiner Oberlippe war minimal voller als die andere. In jeder anderen Situation hätte er mir gefallen, aber jetzt weigerte ich mich, ihn in einem anderen, positiveren Licht zu sehen.
Zu meiner Überraschung sah Arden zuerst weg, was mir nur ein Kopfschütteln entlockte. Mit einem Mal fühlte ich mich kraftlos. Wie ein Luftballon, aus dem stetig die Luft entwich. Die ständigen Wortduelle waren anstrengend, einzig die Gespräche mit Genevieve gaben mir Hoffnung, dass es besser werden würde, sobald ich hier erst einmal richtig angekommen war.
Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, stürmte ich in die entgegengesetzte Richtung davon.