Eins
New York City, Dezember 1902
Meine Füße waren eiskalt. Wir Iren sind dafür bekannt, die Wahrheit auszuschmücken, aber in diesem Fall meine ich es wörtlich. Die Stiefel waren schrecklich undicht, ließen Schnee und Schneematsch hinein und ich konnte meine Zehen nicht mehr spüren. Wenn ich vernünftig gewesen wäre, wäre ich augenblicklich nach Hause gegangen, aber ich war noch nie dafür bekannt gewesen, vernünftig zu sein. Außerdem hatte ich einen Fall. Eine gute Detektivin verließ ihren Posten nicht wegen einiger Erfrierungen.
Der Winter hatte New York einen Tag nach Thanksgiving mit plötzlicher Heftigkeit erreicht, die Stadt mit Schnee bedeckt und den Verkehr praktisch zum Erliegen gebracht. Seitdem waren die Straßen und Bürgersteige freigeschaufelt und gefegt worden, um ein Durchkommen zu ermöglichen, aber in den Rinnsteinen lagen riesige Haufen aus Schnee und Eis, und der Wind, der vom Hudson hereinfegte, drang selbst durch die wärmsten Wintermäntel. Und an diesem Abend trug ich keinen Mantel. Ich trug eine abgenutzte Jacke, Kniebundhose und Nagelschuhe. Mein Haar hatte ich unter einer Mütze zusammengenommen und mein Gesicht war dreckig. Ich gab mich genau genommen als Straßenjunge aus.
Es war mir wie eine gute Idee vorgekommen, als ich die Kleider in der Wärme meines kleinen Hauses am Patchin Place angezogen hatte. Mein Auftrag war es, einem gewissen Mr. Leon Ruth zu folgen, und ich hatte bereits auf die harte Tour gelernt, dass Frauen, die sich nachts alleine auf Stadtstraßen herumdrücken, Gefahr laufen, wegen Prostitution verhaftet zu werden. Straßenjungen hingegen gibt es reichlich, und sie sind unsichtbar. Obendrein hatte ich einen Besen mitgenommen und unternahm halbherzige Versuche, als Bettelkehrer für Passanten die Straße zu fegen, während ich beobachtete und wartete.
Ich hatte als Dank für meine Mühen tatsächlich ganze zwanzig Cent Trinkgeld bekommen. Aber ich hatte nicht erwartet, dass Mr. Roth so lange brauchen würde. Und ich kam schnell zu dem Schluss, dass kein Auftrag es wert war, eine Lungenentzündung zu riskieren.
Diese Sache hatte ein unkompliziertes Unterfangen werden sollen. Ein wohlhabendes, jüdisches Paar, die Mendelbaums, hatte mich angeheuert, um die Referenzen des jungen Mannes zu überprüfen, der ihre Tochter heiraten sollte. Er war von einem Heiratsvermittler herbeigeschafft worden, was in ihrer Tradition wohl normal war, und schien alle Qualitäten zu besitzen, die ihn zu einem idealen Ehemann machten. Diese Qualitäten beinhalteten eine Ausbildung in Yale und ein beträchtliches privates Einkommen. Aber New York war nicht das Schtetl ihrer Vorfahren, wo jeder die Gewohnheiten aller anderen kannte. Diese Eltern sorgten sich um ihre Tochter und wollten sicherstellen, dass ihr Auserkorener keine heimlichen Laster hatte – und dass er so reich war, wie er behauptete.
Ich hatte den Auftrag voller Enthusiasmus angenommen. Ich hatte gedacht, dass ich ihn ohne Gefahr ausführen könnte und ich nicht wie bei einem Scheidungsfall schäbig ausspähen und herumschleichen müsste. Außerdem war das Honorar großzügig, und wenn ich meine Pflichten zur Zufriedenheit meiner Kunden erfüllte, empfahlen sie mich vielleicht ihren Freunden. Es war leicht gewesen, seinen Arbeitsplatz bei einem großen Unternehmen für Transport und Import zu überprüfen und herauszufinden, dass man von ihm erwartete, es weit zu bringen. Ich hatte noch nicht vermocht, Einzelheiten zu seinem Bankkonto in die Hände zu bekommen, da ich selbst nicht viel Gelegenheit gehabt hatte, das Innenleben von Banken kennenzulernen.
Und jetzt untersuchte ich, wie tugendhaft sein Charakter war, was sich als interessant herausstellte. Ich hatte mich vor Mr. Roths Adresse positioniert, beobachtete und wartete. Er lebte nicht weit von mir entfernt, in einem Apartment-Hotel in der 5th Avenue. Es war nicht der protzige Teil der 5th Avenue, oben bei den Vanderbilts und Astors am Central Park, sondern der untere Teil der Straße, südlich des Union Square. Es war einst die schickste Adresse der Stadt gewesen, doch jetzt nicht mehr. Die großen Stadthäuser waren größtenteils in Apartments aufgeteilt worden. Die Kutschen und die livrierten Lakaien waren fort. Es war immer noch anständig, aber eindeutig nicht mehr glanzvoll.
Die ersten paar Tage dieses Falls hatten mich davon überzeugt, dass auch Mr. Roth anständig, aber nicht glanzvoll war. Ich hatte es geschafft, ihm zum Knickerbocker Grill zu folgen, wo er sich mit anderen jungen Männern traf und nichts Stärkeres als Wasser trank, zum Manhattan Theater, wo er eine Inszenierung von A Doll’s House gesehen hatte, von einem schwedischen Stückeschreiber namens Mr. Ibsen – dem Vernehmen nach ein eher düsteres Stück, wenn man das anhand der nüchternen Bilder außerhalb des Theaters beurteilen konnte. Ich war ihm sogar in Macy’s neues Kaufhaus gefolgt, wo er sich eine seidene Ascot-Krawatte gekauft hatte.
Ich war beinahe bereit, den Mendelbaums zu berichten, dass ihre Tochter Mr. Roth mit Zuversicht heiraten konnte, als er eines Abends sehr eilig aus dem Haus kam und auf die Broadway-Straßenbahn aufsprang. Ich raffte auf wenig damenhafte Weise meine Röcke, sprintete los und schaffte es, mich im letzten Moment an Bord der Straßenbahn zu ziehen, dann stieg ich hinter ihm an der 42nd Street aus.
Sobald seine Füße die Pflastersteine berührten, entfernte er sich mit so hoher Geschwindigkeit, dass er bereits von der Menge verschluckt worden war, bis ich endlich aussteigen konnte – Röcke und Unterröcke machten es mir unmöglich, so wie er von einem Verkehrsmittel zu springen. Es war etwas spät fürs Theater, aber die Straße war noch immer vollgestopft mit Gästen, die Restaurants verließen, Werbern, die neue Stücke anpriesen, Zeitungsjungen, die die neuesten Schlagzeilen ausriefen, Straßenhändlern, Blumenverkäufern, Bettlern und Bettelkehrern. Da die Gehwege noch immer voller Schnee und Eis waren, liefen die Menschen auf der Straße und brachte Kutschen und Droschken zum Stillstand.
Mr. Roth ging Richtung Westen. Ich kämpfte mich am Victoria Theater und dem Republic vorbei, das elektrische Licht ihrer Anzeigetafeln erleuchtete das Straßenbild und ließ es recht heiter wirken. Dann glaubte ich, auf der anderen Seite der 7th Avenue einen weiteren Blick auf seinen Homburg-Hut erhascht zu haben, er war jetzt weit vor mir und bewegte sich noch immer Richtung Hudson. In diesem Moment war mein Argwohn geweckt. Natürlich hätte ich meine Zweifel hintanstellen und glauben können, dass er für eine Theateraufführung spät dran war, aber ich konnte ab hier keine weiteren Theater-Anzeigetafeln mehr sehen. Tatsächlich hatte sich die Menge ausgedünnt und die Straße sah entschieden dunkler und weniger angenehm aus.
Ich lief vorsichtiger weiter. Es gab Gerüchte, dass die 42nd Street mehr und mehr zu einer Lasterhöhle wurde. Die gehobene Klasse der Prostituierten verließ die Lower East Side, und Bordelle fanden sich jetzt Seite an Seite mit Theatern und Restaurants, besonders auf der westlichen Seite des Broadway. Ich wanderte eine Weile auf und ab und hoffte, dass er vielleicht aus einem Gebäude treten oder ich ihn in einem Restaurant erspähen würde, bis mir bewusst wurde, dass ich ebenfalls observiert wurde. Der Constable, der sein Revier patrouillierte, beäugte mich argwöhnisch, als er das erste Mal an mir vorüberging. Als er etwa eine halbe Stunde später zurückkehrte und ich noch immer dort war, überquerte er die Straße und kam auf mich zu.
„Warten Sie auf jemanden, Miss?“, fragte er, und seine Hand fingerte träge an seinem Schlagstock herum.
„Äh, ja. Meine Cousine“, sagte ich.
„Dies ist bei Nacht kein Ort für eine junge Frau“, sagte er. „Wenn ich Sie wäre, würde ich verduften, solange Sie noch in Sicherheit sind. Sie sehen anständig aus, aber meine Meinung von Ihnen könnte sich ändern, falls ich Sie wieder hier antreffe, wenn ich das nächste Mal vorbeikomme.“
Ich verstand den Wink und ging nach Hause. Ich war schon einmal für Prostitution verhaftet worden, als ich ein Haus in einem respektableren Teil der Stadt observiert hatte. Eine unbegleitete Frau nach Einbruch der Dunkelheit war in den Augen des Gesetzes stets verdächtig, und ich hatte nicht den Wunsch, eine weitere Nacht im Gefängnis zu verbringen. Ich hatte dieser Tage nicht mal mehr Daniel, um mir aus der Patsche zu helfen, da er immer noch von seinem Dienst bei der New Yorker Polizei suspendiert war, auf einen Prozess wartete und sich gegenwärtig außerhalb der Stadt aufhielt.
Auf dem Heimweg fegte ein Junge den Schneematsch und Dreck beiseite, sodass ich die Straße überqueren konnte, und sagte dann: „Haben Sie einen Nickel, Miss?“
Das brachte mich auf eine Idee. Ich war dabei, Kisten voller Kleider zu packen, um sie meinem früheren Untermieter Seamus O’Connor und seinen beiden Kindern Shamey und Bridie zu schicken. Sie lebten jetzt auf dem Land, wo Seamus bei einem Bauern angestellt war und der junge Shamey ihm bereits bei der Feldarbeit half. Es war eine ideale Situation für sie, gesünder und sicherer als das Leben in der Stadt, aber ich vermisste sie noch immer schrecklich. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass der junge Shamey die Treppe herunterpolterte und rief: „Ich bin fast am Verhungern. Könnte ich etwas Brot und Marmelade haben?“ Und an Bridie, die sich dicht an mich kuschelte und meine Hand nahm.
Unter den Kleidern, die man mir überlassen hatte, weil der Sohn einer Freundin herausgewachsen war, gab es eine Kniehose und eine Jacke, die für Shamey zu groß waren. Mir kam in den Sinn, dass ich sie gut verwenden konnte, bis er hineingewachsen war. Also kaufte ich am nächsten Tag von einem Handwagen in der Hester Street eine Ballonmütze und ein Paar alte Stiefel und die Verwandlung war komplett. Als ich an diesem Abend losging, um Mr. Roth zu observieren, war ich nicht länger die anständig gekleidete, junge Dame namens Molly Murphy, sondern einer von Tausenden Straßenjungen, die darauf hofften, einen Penny zu verdienen, indem sie die Kreuzungen von Dreck befreiten.
Es war zu schade, dass mein Auftrag mit dem frühen Wintereinbruch zusammenfiel. Es dauerte nur wenige Minuten, bis mir die Kinder zutiefst leidtaten, die sich diesem Wetter in solchen Lumpen stellen mussten. Ich tat mir auch selbst zutiefst leid, um Ihnen die Wahrheit zu sagen. Ich wäre auf der Stelle nach Hause gegangen, aber ich war eindeutig etwas Interessantem auf der Spur.
Die zweite Nacht in Folge war Mr. Roth auf die West Side der 42nd Street geeilt. Und außerdem hatte ich ihn dieses Mal nicht aus den Augen verloren. Ich hatte bis zum Block zwischen der 8th und 9th Avenue mit ihm Schritt gehalten, wo er in einem gesichtslosen Gebäude verschwunden war. Eine Stunde später war er immer noch nicht wieder herausgekommen. Die 42nd war nicht wie die Elizabeth Street, wo sich Mädchen in provokativen Posen auf den Treppen vor Hauseingängen räkelten oder vorübergehenden Männern obszöne Bemerkungen nachriefen. Diese verrufenen, gehobenen Häuser hatten diskrete Namensschilder: Fifi oder Madame Bettina. Es hätten normale Gebäude mit Apartments oder Büros sein können. Dieses spezielle Haus hatte kein Schild und keine Karte an der Tür, nur ein dunkles, schmales Treppenhaus, das zu Gott weiß was hinaufführte. Ich wollte ihm nicht gerne dort hinauf folgen. Ich hatte eine Aversion gegen Bordelle, seit ich einmal beinahe dazu gezwungen worden war, in einem zu arbeiten. Außerdem würde ich, so wie ich aussah, wieder vor die Tür gesetzt werden.
Ich war gerade zu dem Schluss gekommen, dass dies ein närrisches Unterfangen und die Taubheit in meinen Füßen ein Zeichen dafür war, dass Erfrierungen die Macht übernahmen, als er wieder die Treppe heruntergerannt kam. Er trug jetzt ein großes, in braunes Papier eingewickeltes Paket. Er ging schnell zur Ecke der 8th Avenue und hielt eine Droschke an. Jetzt war ich wirklich fasziniert. Ich hatte noch nie von Bordellen gehört, die ihren Kunden Geschenke machten. Ich konnte schlichtweg nicht erraten, was in dem Paket sein mochte, und ich musste es wissen. Ich ignorierte die Warnungen in meinem Kopf, ging zu dem Eingang zurück und stieg die Treppe hinauf.
Das Treppenhaus war schlecht beleuchtet und das Wachstuch auf den Stufen blätterte ab. Ich stolperte hinauf, bis ich unter einer Tür einen Lichtstreifen ausmachte. Ich trat heran und lauschte. Kein mädchenhaftes Gelächter. Keine Frauenstimmen. Tatsächlich war es still. Dann fiel ich die Treppe beinahe wieder hinunter, als ich ein Geräusch hörte, das ich nicht erwartet hatte. Ein lautes, mechanisches Klappern. Vorsichtig stieß ich die Tür auf und sah einen alten Mann, der an einer Tretnähmaschine arbeitete. Auf einem Tisch neben ihm lagen Schnittmusterteile auf Stoff ausgebreitet. Ein Anzug war an eine Ankleidepuppe geheftet. In diesem Moment erkannte ich, dass Mr. Roth lediglich seinen Schneider aufgesucht hatte.
Ich versuchte, die Tür geräuschlos wieder zu schließen, als der Schneider aufsah und mich erblickte. „Scher dich raus, du nichtsnutziges Kind“, rief er und tat so, als würde er sein Bügeleisen in Richtung Tür werfen.
Ich floh. Als ich zur 6th-Avenue-Hochbahn zurückging, hatte ich einen roten Kopf und kam mir dumm vor. Nur ich hätte hinter einem einfachen Besuch bei einem Schneider ein Drama vermuten können. Das ist Teil meines irischen Temperaments, fürchte ich. Wir haben Spaß daran, aus den banalsten Ereignissen große Dramen zu machen. Meine einzige Erleichterung war, dass ich niemandem von meinen Plänen erzählt hatte und abgesehen von mir niemand von meiner Dummheit wusste.
Ich war in der vergangenen Woche mehr oder weniger auf mich allein gestellt gewesen. Daniel hatte Thanksgiving bei seinen Eltern in Westchester County verbracht und war noch nicht zurückgekehrt, und meine Nachbarinnen und gute Freundinnen Elena Goldfarb und Augusta Mary Walcott, für gewöhnlich bekannt unter ihren weniger respektablen Spitznamen Sid und Gus, waren für ein Klassentreffen mit anderen Mädchen ihrer Abschlussklasse nach Vassar eingeladen worden. Dementsprechend war mir dieser Auftrag sehr willkommen gewesen. Ich war nicht gut darin, nichts zu tun und allein zu sein. Sid und Gus waren in der vergangenen Nacht zurückgekehrt, aber soviel ich wusste, hatten sie Besuch mitgebracht, der bei ihnen übernachtete, und ich hatte nicht stören wollen. Ich hatte keine Ahnung, wann Daniel zurückkommen würde. Vielleicht noch eine ganze Weile nicht. Wenn er seinen Eltern endlich von seiner gegenwärtigen, misslichen Lage erzählt hatte, hatten sie ihn vielleicht gedrängt, der Stadt fern und bei ihnen zu bleiben, bis die ganze Sache in Ordnung gebracht werden konnte. Ich dachte daran, dass er mir wenigstens hätte schreiben können, um mich von seinen Plänen zu unterrichten. Männer sind in diesen Dingen nie besonders gut.
Ich näherte mich gerade der Ecke der 6th Avenue, als ich ein Handgemenge sah. Ein paar Straßenjungen standen sich gegenüber. Einer von ihnen war ein großer, spindeldürrer Kerl, ungefähr so groß wie ich, der einem kleinen Zwerg gegenüberstand, nur halb so groß wie er. Aber der Angreifer war offensichtlich der Zwerg.
„Komm schon, verschwinde. Das ist mein Platz“, schrie er mit seiner hohen, kindlichen Stimme. „Und wenn du nicht vorsichtig bist, kämpfe ich mit dir darum.“ Er hob die Hände und hielt sie vor sich wie ein Profiboxer.
Ich blieb stehen, um zuzusehen, und glaubte nicht, dass der Kleine große Chancen hätte. Stattdessen zuckte der ältere Junge mit den Schultern. „Behalt ihn. Ist sowieso nicht gut“, sagte er, schulterte seinen Besen und schlenderte davon. Seine Art, sich zu bewegen, hatte etwas an sich, das mich dazu bewegte, ihm zu folgen. Ich brauchte einen guten halben Block, ehe ich erkannte, was mich so argwöhnisch gemacht hatte. Er ging wie ein Mädchen. Jungen schlendern. Sie setzen ihre Füße sorglos auf die Erde. Sie treten nach Dingen. Dieser hier trat vorsichtig auf, machte kleine Schritte. Ich lächelte wissend vor mich hin. Es war kein Straßenjunge, sondern noch eine Frau in Verkleidung, wie ich.
Zwei
Plötzlich neugierig geworden, kämpfte ich mich durch die Menge, um sie einzuholen. Ich hatte keine Ahnung, warum sich eine andere Frau als Straßenjunge verkleiden sollte. Die einzige andere weibliche Detektivin, die ich in New York City getroffen hatte, war Mrs. Goodwin, aber sie war bei der Polizei angestellt und trug eine Uniform. Ich war entschlossen, diese Frau im Auge zu behalten, bis ich eine passende Gelegenheit fand, sie zur Rede zu stellen. Wenigstens musste ich mir keine Sorgen um ihr kämpferisches Temperament machen.
Dann hörte ich das Rumpeln einer sich nähernden Hochbahn über unseren Köpfen. Die junge Frau rannte plötzlich die Stufen zum Bahnsteig hinauf. Ich folgte ihr, aber ich hatte keine Fahrkarte. Sie schob sich durch die Schranke und in den Zug, während ich zornig und wartend am Fahrkartenschalter zurückblieb. Zum zweiten Mal an diesem Abend, war ich wütend auf mich selbst. Wenn sie wirklich eine andere weibliche Detektivin gewesen war, hätten wir vielleicht gelegentlich zusammenarbeiten und einander helfen können. Es ist weiß Gott schwer, als Frau in der Männerwelt zu arbeiten und eine solche Beschäftigung kann einsam sein.
Meine kleine Seitengasse namens Patchin Place lag in winterlicher Dunkelheit, als ich mich näherte und mir einen Weg über den schmalen Streifen suchte, der von Schnee befreit worden war. Als ich in meiner Tasche nach dem Haustürschlüssel fischte, wurde mir bewusst, dass ich die Aussicht eines leeren Hauses an einem kalten, düsteren Abend fürchtete. Ich bin selbst zu meinen besten Zeiten kein Geschöpf, das für ein Leben in Einsamkeit geschaffen ist, und in diesem Moment sehnte ich mich nach nichts anderem als einem prasselnden Feuer, einem heißen Getränk und guter Gesellschaft. Ich wusste, wo ich all das finden konnte, aber ich zögerte, so spät am Abend noch bei meinen Nachbarinnen hereinzuplatzen, besonders wenn sie Besuch hatten, den kennenzulernen ich noch nicht eingeladen worden war.
Einen langen Augenblick kämpfte Anstand mit Sehnsucht. Da ich einen keltischen Charakter habe, gewann natürlich die Sehnsucht. Ich bahnte mir einen Weg über die Straße und klopfte an ihre Tür. Sie wurde von Sid geöffnet, die ihren üblichen, samtenen Smoking trug, eine türkische Zigarette ruhte anmutig in der langen Elfenbeinspitze zwischen ihren Fingern. Sie war das Ebenbild künstlerischer Eleganz, aber sie beäugte mich mit entsetztem Argwohn.
„Was willst du?“, wollte sie wissen. „Los. Verschwinde.“
„Sid, ich bin’s. Molly“, sagte ich.
Ein überraschtes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Du meine Güte, tatsächlich. Was um alles in der Welt tust du so spät draußen, und so außergewöhnlich gekleidet? Nein, erzähl es mir nicht. Gus wird es auch hören wollen, und ich weiß, dass unser Gast vollkommen verblüfft sein wird.“ Sie kicherte bereits, als sie mich ins Haus führte und dann mit dramatischer Geste die Tür zum Salon aufwarf.
„Mach dich bereit, in Staunen versetzt zu werden, Gus“, sagte sie. „Und was dich betrifft, Elizabeth, hier ist ein Straßenjunge, der dir auf den Fersen ist.“
Ich trat in die behagliche Wärme ihres Salons. Ein großes Feuer brannte im Kamin. Die schweren, burgunderroten Samtvorhänge schlossen die kühle Nacht aus. Auf einem niedrigen Tisch standen ein Brandy-Dekanter, dampfende Becher sowie eine Kupferschale voller Feigen, Datteln und Nüsse. Meine Freundin Gus saß auf der einen Seite des Feuers in ihrem Queen-Anne-Sessel mit der hohen Lehne und hatte sich ein perlenbesetztes Tuch um die schlanken Schultern gelegt, während die Person auf der anderen Seite des Feuers der andere Straßenjunge war, der mir an der Bahnstation entkommen war. Ihre Mütze hatte sie abgelegt, was einen schönen Schopf dunkler Haare entblößte. Sie hatte sich halb von ihrem Sessel erhoben und beäugte mich ängstlich.
Gus erkannte mich augenblicklich und kam mit offenen Armen auf mich zu. „Molly, meine Liebste, erzähl schon, was los ist. Ist das irgendein Festival, von dem wir nichts mitbekommen haben? Die Nacht der Straßenjungen? Sicher nicht der Tag der unschuldigen Kinder, oder?“ Sie zog mich in Richtung Feuer. „Meine Güte, deine Hände sind eiskalt. Sid hat grad Toddy für Elizabeth gemacht. Setz dich hierhin, während ich dir welchen hole.“
Ich wurde mit Nachdruck in Gus’ Sessel am Feuer geschoben und spürte, wie meine Hände und Finger kribbelnd wieder zum Leben erwachten. Mein Straßenjunge beäugte mich interessiert, als Gus mit einem dampfenden Becher des Grogs zurückkehrte, den sie mir in die Hände drückte. „Trink einen Schluck und erzähl uns alles“, sagte sie.
Ich schlürfte und spürte, wie sich ein wohliges Glühen abwärts durch meinen Körper bewegte. „Heilige Mutter, das fühlt sich gut an“, sagte ich. „Ich dachte, ich stände kurz davor, durch Erfrierungen meine Hände und Füße zu verlieren. Was für ein lächerlicher Einfall, sich in einer Nacht wie dieser als Straßenjunge zu verkleiden.“
„Ich bin selbst zum gleichen Schluss gekommen“, sagte die Besucherin, die sie als Elizabeth angesprochen hatten, mit einer kräftigen, kultivierten Stimme. „Sie müssen einen guten Grund gehabt haben.“
„Ich bin einem Mann in eine widerliche Gegend gefolgt“, sagte ich. „Frauen, die auf dem Gehweg herumlungern, laufen Gefahr, wegen Prostitution verhaftet zu werden. Straßenjungen sind unsichtbar und im Überfluss vorhanden, besonders seit sich an jeder Kreuzung einer oder zwei herumtreiben, wie Sie gerade selbst erlebt haben.“ Ich lächelte die Frau an, die ihren Kopf zurückwarf und lachte.
„Sie haben mich gesehen, nicht wahr? Weggeschickt von einem winzigen Rüpel. Was für eine Demütigung. Aber er sah wie ein zäher, kleiner Teufel aus und ich hatte nicht den Wunsch, es mit ihm aufzunehmen und für meine Mühen mit einer aufgeplatzten Lippe nach Hause zu kommen.“
„Du bist also einem Mann gefolgt, Molly“, lenkte Sid mich zum Thema zurück.
„Ja. Mir wurde aufgetragen, den Charakter und die potenziellen Laster eines jungen Mannes zu untersuchen. Ich soll herausfinden, ob er einen passenden Ehemann abgibt.“
„Und er hat sich in einen verrufenen Teil der Stadt gewagt? Na, na.“ Sid kicherte.
„Nur um seinen Schneider aufzusuchen, wie sich herausstellte“, gab ich zu. „Bisher war sein Verhalten vorbildlich.“
Ihr Gast sah mich interessiert an. „Darf ich annehmen, dass Sie eine Art Detektivin sind?“
„Das bin ich“, sagte ich.
„Und eine sehr gute“, fügte Gus stolz hinzu. „Ich habe euch einander noch gar nicht vorgestellt, nicht wahr? Molly Murphy, das ist Elizabeth Cochran Seaman. Molly hat alle möglichen gefährlichen Fälle aufgeklärt. Du wirst feststellen, dass sie ebenfalls eine Abenteurerin ist, die Geschichten zu erzählen hat, die beinahe so gut sind wie deine eigenen.“
„Faszinierend“, sagte die Frau. „Ein weiblicher Detektiv. Ich glaube nicht, dass ich bisher einen kennengelernt habe.“
„Sind Sie nicht selbst Detektivin?“, fragte ich. „Welchen anderen Grund könnte es geben, in einer solch kalten, ungemütlichen Nacht als Junge verkleidet herumzuschleichen?“
„Ich führe eine eigene kleine Ermittlung durch“, sagte die Frau und lächelte geheimnisvoll. „Über die Notlage der Zeitungsjungen.“
Sid kam herüber, um sich auf der Armlehne des Sessels der Frau niederzulassen. „Dies, meine liebe Molly, ist niemand Geringeres als die berühmte Nelly Bly.“
„Aber ich dachte, du hättest sie gerade als Elizabeth vorgestellt“, sagte ich und errötete ob ihres Gelächters.
„Meine Liebe, Nelly Bly ist ihr Pseudonym“, sagte Sid. „Sicher hast du von ihr gehört. Sie ist sehr berühmt.“
„Eher berüchtigt, meinst du nicht auch?“ Nelly, oder war es Elizabeth, kicherte.
„Es tut mir leid. Der Name ist mir geläufig, aber ich weiß wirklich nicht ...“, murmelte ich.
„Bedenke, dass Molly erst seit weniger als zwei Jahren in Amerika ist“, sagte Gus und kam herüber, um mir tröstend eine Hand auf die Schulter zu legen. „Deine berüchtigtsten Heldentaten waren da bereits Vergangenheit, und vielleicht haben es die Berichte darüber nicht bis nach Irland geschafft.“
„Sie mögen es bis nach Dublin geschafft haben“, sagte ich und lachte jetzt ebenfalls, „aber nicht bis in das Kaff, in dem ich lebte. Wir haben die Nachricht von Queen Victorias Tod zwei Tage später erhalten.“
„Nun, dann lass mich dich ins Bild setzen“, sagte Sid. „Elizabeth ist eine Zeitungsreporterin. Sie ist spezialisiert darauf, Korruption und Ungerechtigkeit aufzudecken, diese dunkle Schattenseite der Gesellschaft, von der wir alle wissen sollten. Sie ist schlimmer als du, wenn es darum geht, sich in Gefahr zu bringen, um ihr Ziel zu erreichen.“
„Sie hat sich verhaften lassen, damit sie über die Zustände in einem Frauengefängnis berichten konnte“, sagte Gus, „und sie hat verdeckt in einer Irrenanstalt ermittelt.“
„Aus der man mich beinahe nicht herauslassen wollte“, fügte Elizabeth hinzu.
„Und hast du nicht in Mexiko für Unruhe gesorgt?“
Elizabeth lachte erneut laut. Sie hatte wirklich ein überaus ansteckendes Lachen. „Das habe ich in der Tat. Ich habe über Korruption berichtet, im Zusammenhang mit den Wahlen dort. Ich hatte Glück, dass ich lebend aus der Sache herauskam.“
„Welche Abenteuer haben Sie in jüngster Zeit unternommen?“, fragte ich. „Ich habe eifrig Zeitung gelesen, seit ich hier bin, und ich glaube nicht, dass mir Ihr Name aufgefallen ist.“
„Meine Liebe, ich habe vorgegeben, eine respektable, verheiratete Frau zu sein“, sagte sie. „Erst vor Kurzem hat es angefangen, mich zu langweilen. Und als ich hörte, dass die Zeitungsjungen der Stadt darüber sprachen, eine Gewerkschaft zu gründen, dachte ich, was das für eine gute Geschichte abgäbe, und beschloss, mir ihre missliche Lage selbst anzusehen. Daher die Verkleidung.“
Gus sah zu Sid hinüber. „Freust du dich nicht auch, dass all unsere Freundinnen so viel Mumm haben?“
„Sie blieben nicht lange unsere Freundinnen, wenn dem nicht so wäre“, sagte Sid. „Das Leben ist zu kurz, um langweilige Freundinnen zu haben. Ich muss sagen, dass es entzückend war, festzustellen, dass sich nicht alle unsere Klassenkameradinnen aus Vassar der Ehe und häuslicher Schinderei ergeben haben.“
„Was ist mit dem Mädchen, das den Amazonas hinaufgefahren ist?“, rief Gus. „Ihre Beschreibung von Anakondas weckte in mir den Wunsch, sie mit eigenen Augen zu sehen. Sollten wir eine Reise zum Amazonas unternehmen, was meinst du, Sid, Liebste?“
Das Feuer und der heiße Toddy hatten Leben in meine Hände und Füße zurückgebracht, und ich fühlte mich behaglich und schläfrig. Mir fiel auf, dass Unterhaltungen wie diese nicht in vielen Salons stattfanden. Junge Frauen sollten beim Gedanken an eine riesige Schlange in Ohnmacht fallen, und sich nicht wünschen, den Amazonas hinaufzueilen, um selbst eine zu sehen. Ich blickte sie liebevoll an. Gus begegnete meinem Blick.
„Molly, wo sind unsere Manieren? Du siehst ziemlich mitgenommen aus. Hast du dich überarbeitet, während wir weg waren? Hast du heute Abend schon gegessen?“
„Ja, danke“, sagte ich, weil ich ihnen nicht zur Last fallen wollte.
„Und hat Sullivan der Schwindler dich in unserer Abwesenheit gut behandelt?“, fragte Sid.
„Daniel ist immer noch weg, soweit ich weiß“, sagte ich. „Ich habe seit Thanksgiving keinen Ton von ihm gehört.“
„Typisch Mann“, kicherte Elizabeth. „Es kommt ihnen nie in den Sinn, dass wir Frauen uns vielleicht sorgen und von ihnen hören wollen. Aber wieso sollten Sie von einem Schwindler hören wollen, wenn ich fragen darf?“
„Das liegt alles in der Vergangenheit“, sagte ich und spürte, wie meine Wangen beim Gedanken daran erröteten. „Er ist ein geläuterter Mann. Aber Sid und Gus bestehen weiterhin darauf, den Beinamen zu verwenden.“
„Weil er Molly immer noch nicht so behandelt, wie sie es verdient“, sagte Sid. „Viel zu egozentrisch.“
„Sind nicht alle Männer so?“, fragte Elizabeth. „Mein Ehemann ist besser als die meisten, aber wenn er ein Herzensprojekt hat, findet in seinem Kopf nichts anderes Platz. Ich habe einmal über eine Stunde am Bahnhof darauf gewartet, dass er mich abholt, weil er seine Briefmarkensammlung neu sortiert und die Zeit vergessen hatte.“
Ich beschloss, dass ich nach Hause gehen und diesen alten Freundinnen Gelegenheit geben sollte, die gegenseitige Gesellschaft zu genießen. Ich erhob mich. „Wenn ihr Ladies mich entschuldigt“, sagte ich. „Es war ein langer Tag und ich sollte aus diesem lächerlichen Aufzug rauskommen.“
Gus fasste mich am Arm. „Molly, bitte bleib und nimm mit uns ein spätes Abendessen ein“, sagte sie. „Sid hat herrlichen, reifen Käse gefunden, und wir haben eine Flasche Bordeaux, den wir unbedingt probieren wollen.“
„Das klingt verlockend“, sagte ich, „aber ich sollte nach Hause gehen und alte Freundinnen in Erinnerungen schwelgen lassen.“
Nelly Bly stand ebenfalls auf. „Und auch ich sollte gehen und mich umziehen, ehe die Rede von Abendessen ist. Ich war heute lange genug ein Straßenjunge.“ Sie streckte eine Hand aus. „Es war mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Murphy.“
„Molly, bitte“, sagte ich.
„Und ich bin Elizabeth. Ich ziehe es vor, nicht mein berüchtigtes Pseudonym zu benutzen, wenn ich nicht arbeite.“
Ihr Händedruck war kräftig, fast wie der eines Mannes.
Gus hielt mir die Tür auf. „Morgen musst du zum Abendessen kommen. Oder wirst du wieder zum Schnüffeln unterwegs sein?“
„Ich fürchte, das muss ich, wenn ich diesen Auftrag gründlich erledigen will“, sagte ich, „obwohl ich fast glaube, dass der junge Mann genau so ist, wie er sich darstellt.“
„Dann Mittagessen“, sagte Sid. „Ein Nein lassen wir nicht durchgehen.“
„Danke.“ Ich lächelte sie an. „Dann sage ich zu.“
„Es sei denn, Sullivan der Schwindler lässt sich blicken“, sagte Sid trocken, „dann werden wir wieder beiseitegeschoben, merk dir meine Worte.“
„Absolut nicht“, sagte ich. „Ich bin keine Marionette. Ich springe nicht, wenn Daniel es verlangt. Und wenn er wochenlang zu faul ist, mir eine Nachricht zu schicken, kann er warten, bis ich bereit bin, ihn zu sehen.“
„Gut gesagt, Molly“, lobte Elizabeth. „Gesprochen wie eine Vassar-Absolventin. Ich nehme an, Sie haben diese geachtete Einrichtung nicht besucht?“
„Ich habe gar keine Einrichtung besucht“, sagte ich. „Ich wurde bis zu einem gewissen Grad mit den Töchtern des örtlichen Gutsbesitzers ausgebildet, aber dann starb meine Mutter und ich musste zu Hause bleiben, um drei junge Brüder großzuziehen. Ich hätte meine Bildung gerne weitergeführt, aber es war einfach nicht möglich.“
„Es ist noch immer Zeit“, sagte Elizabeth. „Diese beiden Frauen besitzen eine beeindruckende Bibliothek und sind reich an interessanten und gebildeten Freunden.“
„Ich weiß“, sagte ich. „Ich habe beides bereits gründlich ausgekostet. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden? Ich freue mich darauf, diese Unterhaltung morgen fortzuführen. Jetzt höre ich, wie mich Seife und Waschlappen rufen, damit ich mir diesen Dreck aus dem Gesicht entfernen kann.“
Ich ließ sie fröhlich lachend zurück, schloss die Haustür und war viel besserer Stimmung. Ich überquerte den Patchin Place und war gerade dabei, meinen Schlüssel ins Schloss der Haustür zu stecken, als ich gewaltsam von hinten gepackt wurde. Mein Arm wurde nach hinten gerissen, während sich mir ein fremder Arm über die Kehle legte.
„Hab dich“, zischte mir eine Stimme ins Ohr. „Versuch nicht, dich zu wehren, sonst wird es dir schlecht ergehen. Ich könnte dir im Handumdrehen das Genick brechen, wenn ich wollte.“