Leseprobe Herzklopfen auf Mallorca

1

Verachtung!

Aus seinem Blick sprang sie sie an, um sich unter ihre Haut zu graben, wo sie sich brennend ausbreitete. Ein Parasit, der Tatjana von nun an begleiten würde, dessen war sie sicher. Etwas hatte sich in diesem Augenblick verändert.

Verändert oder vielmehr geklärt?

Die Frage formulierte die Erkenntnis. War das Klicken, das ertönte, wenn zwei Zahnräder endlich ineinandergriffen, um den Prozess in Gang zu bringen, der bereits seit langem auf den Start gewartet hatte.

Du musst ihn verlassen!

Kein neuer Befehl, an sie selbst formuliert. Heute jedoch trug ihn die Welle der Einsicht und riss dadurch den Damm aus Vorbehalten, Nostalgie und ebenso Bequemlichkeit fort. Denn endlich erschien die Aussicht darauf, in diesem Zustand zu verharren, dieser Beziehung, die nicht nur mangels Liebe zu einer blutleeren Hülle ihrer ursprünglichen Existenz geworden war, unerträglicher, als daraus zu fliehen.

Dass Tatjana diese gedankliche Formulierung wählte und nicht einfach daran dachte, die Ehe mit ihrem Mann Peter zu beenden, offenbarte das Problem. Den Grund, warum sie so lange dafür benötigt hatte, den Schritt auch nur im Geiste zu vollziehen.

Wenn es doch nur Bequemlichkeit wäre, sie verzog den Mund zu einem bitteren Grinsen. Es war richtig, sich selbst in diesem Punkt in Schutz zu nehmen, denn Peter und dessen Reaktionen waren unberechenbar. Sogar nach zehn Jahren Ehe.

Das Geräusch der ins Schloss fallenden Haustür ließ sie zusammenfahren und war dennoch tröstlich. Bedeutete es doch, dass er fort war.

Augenblicklich löste sich die Anspannung, die ihr die Brust eingeschnürt und das Atmen erschwert hatte.

Er ist weg!

Unheimlich, dass dieses Wissen sie beruhigte. Sie sich sogar wünschte, er kehrte nicht zurück.

Doch das wird er.

Wie der Knall der zufallenden Tür wenige Minuten zuvor, ließ die Eingebung Tatjana zusammenzucken und löste die Starre.

Los jetzt!

Kaum hatte sie begonnen, Kleidung aus dem Schrank zu nehmen und zum Einpacken auf das Bett zu legen, hielt sie bereits wieder inne. Der Eindruck, überzureagieren, wollte sich nicht zurückziehen. Mit leisen Schritten hatte er sich angepirscht, um über sie herzufallen. Sie niederzudrücken, um ihr die Zwangsjacke des Verbleibens im gewohnten Alltag überzuziehen. Die an sich selbst ausgesprochenen Ratschläge reichten nicht, und Tatjana wusste, wer nur darauf wartete, diese Rolle einzunehmen.

„Alles gut bei dir?“ Maren verfügte über einen sechsten Sinn, der ihr sicherlich bereits die Frage auf ihre Antwort geliefert hatte.

„Leider nein.“ Da die Zeit drängte, hatte Tatjana beschlossen, nicht lange um den heißen Brei herumzureden. Außerdem konnte sie sich auf die Loyalität ihrer Freundin und die Tatsache, dass Maren stets das Wohlbefinden Tatjanas im Blick hatte, verlassen.

„Wieder Streit mit Peter gehabt?“

Tatjana nickte stumm, und obwohl ihre Freundin das nicht sehen konnte, bedurfte auch diese Frage keiner Entgegnung. „Ich kann das nicht mehr. Es ist vorbei.“ Es tat gut, die Worte auszusprechen.

Marens Aufatmen war zu vernehmen. „Endlich.“ Sie räusperte sich. „Sorry. Du bist bestimmt fertig, aber ich bin einfach froh, dass du dich jetzt entschieden hast.“

„Ich auch. Aber …“ Tatjana schluckte geräuschvoll.

„Ich kann in zehn Minuten bei dir sein.“

„Okay.“ Der Strom der Tränen setzte unvermittelt ein und versiegte auch nicht, als sie das Gespräch beendet hatte und neben ihrer auf dem Bett verteilten Kleidung sitzen blieb.

Fassungslosigkeit und Dankbarkeit waren die vordringlichsten Gefühle, wurden aber von einem weiteren begleitet, von dem sie wusste, dass es das Licht am Ende des Tunnels war, in dem sie sich noch befand: Erleichterung.

Erst die Türklingel riss sie aus dem Gedankenstrom und machte ihr bewusst, dass sie seit Beendigung des Telefonates mit Maren dagesessen und gegrübelt hatte. Mittlerweile hatte sich die Befreiung, die sie anfangs verspürt hatte, verflüchtigt. Dafür schloss die Anspannung tentakelgleich ihre Arme um sie und drückte unbarmherzig zu.

„Janalein, sei mir nicht böse, aber du siehst furchtbar aus“, brach es aus Maren heraus, kaum dass sie ihr die Tür geöffnet hatte. Sie war die Einzige, die Tatjana diesen Spitznamen gegeben hatte und ihn nutzte. „Tatie“, die Koseform, die sich eher aus dem Namen ergab, und die andere Freunde, sogar teilweise Tatjanas Familie benutzten, hörte sich nach Marens Meinung dämlich an. Und Tatjana selbst mochte „Janalein“ ebenfalls lieber, doch es war schwer, eingeschliffene Bezeichnungen zu ändern. Und irgendwie war es auch schön, dass sie und Maren dadurch über etwas Exklusives verfügten.

Das Lachen kroch von der Magengegend herauf und entlud sich in einer Salve, die zumindest für den Augenblick alles fortspülte.

Maren starrte sie derweil konsterniert an, was dazu führte, dass Tatjana noch mehr giggeln musste. Dies wiederum ließ Maren einstimmen, und nachdem sie sich einen Augenblick Zeit genommen hatten, die unbelastete Heiterkeit zu genießen, bat Tatjana ihre Freundin herein.

„Im Grunde ist das nicht zum Lachen.“ Tatjana wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, während sie das Schlafzimmer betrat.

„Aber zum Weinen ist es noch viel weniger. Du weißt ja, wie ich darüber denke.“ Maren fasste Tatjana bei den Schultern und sah ihr tief in die Augen. „Vor allem solltest du stolz auf dich sein. Dass du endlich so weit bist.“

„Das brauche ich tatsächlich. Jemanden, der mir sagt, dass ich das Richtige tue.“

„Kannst du haben.“ Maren drückte sie kurz an sich. „Im Ernst. Das ist deine beste Entscheidung der letzten Jahre. Deine Chance, neu anzufangen. Dir dein Leben zurückzuholen.“

„Es ist nur …“ Tatjana schluckte. „Die Dimension des Ganzen. Ich kann das nicht umreißen. Und das lähmt mich.“

„Auch dafür bin ich jetzt da.“ Maren sah sich im Zimmer um. „Du willst wahrscheinlich fort sein, bevor Peter zurückkehrt. Das heißt, wir packen ein paar Sachen zusammen, und ich nehme dich mit zu mir.“

So kannte Tatjana ihre Freundin. Pragmatisch und stets mit dem Gespür für die richtige Verhaltensweise in einer Situation. „Ich habe ein schlechtes Gewissen.“

Maren sah sie fragend an.

„Wegen Peter. Das hört sich so an, als wäre er gewalttätig oder irgendso etwas.“

Maren seufzte. „Janalein, ich weiß, dass das nicht so ist. Aber du weißt auch, dass körperliche Gewalt nicht die einzige Form von Misshandlung ist. Selbst, wenn er niemals die Hand gegen dich erhoben hat, können Worte, Gesten oder Handlungen genauso verletzend sein. Und was du mir über die Jahre berichtet hast, fällt definitiv da rein.“

„Hmm.“ Das hörte sich zwar zutreffend an, doch Tatjanas Gewissen wollte nicht schweigen.

„Pass auf.“ Maren hatte bereits den Koffer vom Kleiderschrank geholt und begonnen, die Klamotten darin zu verstauen. „Einigen wir uns darauf, dass wir das Gespräch vertagen. Wir sollten hier vorankommen, sonst laufen wir Peter doch noch in die Arme, und du wirst womöglich wieder schwach. Bei einem Gläschen Champagner lässt es sich ohnehin besser quatschen.“

„Einverstanden.“ Tatjana rang sich ein Lächeln ab, musste aber zugeben, dass die Aussicht, sich schon bald mit ihrer Freundin bei Champagner alles von der Seele reden zu können, die Erleichterung zurückbrachte.

Und sie nahm mit jedem Kleidungsstück zu, das seinen Platz im Koffer fand, und damit einen Schritt aus ihrem bisherigen Leben hinein in ein neues bedeutete. Nachdem sie Peter noch einen kurzen Zettel hingelegt hatte, der den über ihr Bleiben bei Maren informierte, konnte sie endlich die Tür hinter sich ins Schloss ziehen.

2

„Eine Kleinigkeit. Nichts Großes.“ Tatjana stieß seufzend die Luft aus und betrachtete die feinen Bläschen, die vom geschwungenen Glasboden aus an die Oberfläche strebten. „Aber das war es eigentlich nie.“

„Worum ging es denn?“

„Um das Malen.“ Sie nahm einen Schluck und genoss den fein-säuerlichen Geschmack des Champagners, der sich auf ihrer Zunge ausbreitete. „Zuletzt ging es immer um das Malen. Und außerdem habe ich mit dem Gedanken gespielt, beruflich etwas kürzer zu treten, um mich wieder mehr darauf konzentrieren zu können. Vor allem, nachdem es mit Peters Baufirma inzwischen wieder besser läuft.“

„Ich kann mich noch an deine Bilder erinnern. Du warst richtig gut.“ Maren sah sie an. „Bist richtig gut. So etwas verlernt man doch nicht, oder?“

„Keine Ahnung – um ehrlich zu sein, ist genau das eine meiner Ängste. Dass mein Talent, falls ich das so nennen darf, verkümmert ist.“

„Erst einmal, das darfst du nicht nur, das musst du. Denn du hast Talent, egal, was Peter dir eingeredet hat. Und das verschwindet nicht einfach so.“

Tatjana schlug die Beine übereinander und nestelte am Bund ihrer Jeans herum. „Das Gemeinste war das ständige Hin und Her, weißt du? In einem Augenblick hat Peter mich noch in den höchsten Tönen gelobt. Auch für meine Bilder hatte er ursprünglich nur Positives übrig.“

„Und kaum hast du das angenommen, hat er dich kleingemacht.“

Ihre Finger gruben sich in den Jeansstoff, während Tatjana nickte.

„So macht das ein Narzisst. Zuckerbrot und Peitsche. Er will dich vor allem klein halten, von ihm abhängig.“

„Macht mich das nicht zu einem schlechten Menschen, indem ich ihn als Übeltäter abstempele?“

„Janalein, ich lehne mich sicherlich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass du zu gut bist für diese Welt.“

„Aber es gibt doch immer zwei Seiten. Besonders bei einer Beziehung“, protestierte Tatjana.

„Habe ich es nicht gesagt?“ Maren grinste, wurde dann aber wieder ernst. „Du hast natürlich recht. Immerhin hast du deinem Mann die Bühne bereitet, wenn man es so ausdrücken will, auf der er agieren konnte. Und ein Narzisst sucht sich auch stets jemanden, mit dem er seine Masche durchziehen kann. Und außerdem hast du ihm zuliebe doch immer wieder zurückgesteckt. Damit er Zeit hatte, sich zu finden, hast du dich in einem Job verloren, den du eigentlich nicht magst. Schließlich erzählst du mir schon seit Jahren, dass du nicht mehr in der Bank arbeiten und dich wieder der Kunst widmen möchtest, aber dass das nicht geht, weil du Peter unterstützen musst, der zwar große Reden schwingt, aber nichts wirklich zustande bringt.“

„Wahrscheinlich ist das mein Muster. Dass ich immer an Kerle gerate, die meine Gutmütigkeit ausnutzen?“

„Das wird so sein. Wenn ich an Philipp denke – korrigier mich, aber das war auch nicht viel besser, oder?“

„Außer, dass er mich betrogen und damit zur Beendigung der Beziehung gezwungen hat.“ Tatjana stieß ein gehässiges Lachen aus. „Vielleicht sollte ich es auch mal mit Frauen versuchen.“

Maren vollführte eine wegwerfende Handbewegung. „Wenn du glaubst, dass es diese Art Probleme mit einer Frau nicht gibt, muss ich dich leider enttäuschen.“

„Entschuldige. Das war auch mehr als dämlich.“

„Ich weiß ja, von wem es kommt.“ Maren zog sie an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. „Und daher habe ich auch keine Zweifel, dass du wieder an einen Kerl geraten wirst. Ich hoffe nur, dass es beim nächsten Mal jemand ist, der dich um deiner selbst willen liebt. Und nicht wegen des Bildes, das er von dir hat.“

„Uff!“, machte Tatjana und benötigte einen Augenblick, um sich bewusst zu werden, dass sie diesen Laut von sich gegeben hatte.

„Uh, Janalein. Das war too much, oder? Ich unsensible Kuh.“

„Nein, nein. Das war zwar ein Schlag direkt in die Magengrube, aber notwendig.“ Sie ergriff Marens Hand. „Das schätze ich so an dir, dass du nicht lange herumredest, sondern die Dinge auf den Punkt bringst.“

„Und die Aussage muss noch ergänzt werden. Damit, dass du absolut liebenswert bist.“ Maren führte ihre Hand zum Mund und küsste die sanft. „So, wie du bist. Nicht nur, weil jemand dich zu etwas machen will, das ihm gefällt.“

Einen Augenblick saßen sie schweigend da, dann ließ Tatjana die Hand ihrer Freundin los. „Es fühlt sich so irreal an. Als hätte ich das nur geträumt.“

„Umgekehrt wird ein Schuh draus, fürchte ich. Du bist endlich aufgewacht.“

„Wieder hast du recht.“

Maren legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Und jetzt kannst du aufstehen, um auf eigenen Füßen zu stehen. Mit deinen Beinen laufen.“

„Es war ja nicht alles schlecht, weißt du?“ Tatjana schluckte, und Tränen verschleierten die Sicht. „Ich möchte nicht alles mit Füßen treten. Das Gute, das wir hatten.“

„Hey! Das tust und musst du auch nicht.“ Maren griff nach einer Pappschachtel mit Papiertaschentüchern, die sie Tatjana reichte. „Und niemand sagt, dass du die Erinnerungen nicht so behalten kannst, wie du sie empfindest. Aber wir leben in der Gegenwart und brauchen eine Zukunft, die wir gestalten können. Und du hast viel zu lange auf ihn und seine Bedürfnisse Rücksicht genommen. Jetzt musst du an dich denken.“

„Du solltest einen YouTube-Kanal betreiben.“ Tatjana grinste.

„Lesbische Frau hilft Heten in Beziehungsfragen, das wäre doch mal was.“

Das brachte beide zum Lachen. „Tut gut nach all den schweren Themen.“ Tatjana schnäuzte sich.

„Genau das brauchst du jetzt.“

„Was meinst du?“

„Eine Ablenkung. Etwas, das dir guttut.“ Maren stand auf, verließ kurz das Zimmer, um mit ihrem Laptop unter dem Arm zurückzukehren. „Du weißt doch, dass ich nicht an Zufälle glaube?“

Tatjana betrachtete sie zweifelnd. „Was kommt jetzt?“

„Das wirst du gleich sehen.“ Maren ließ sich wieder neben ihr auf das Sofa fallen, klappte den Bildschirm hoch und gab das Passwort ein. „Bin ich gestern drauf gestoßen und habe direkt an dich gedacht.“ Mit dem Mauszeiger wählte sie den Internetbrowser, um anschließend eine Adresse aus dem Verlauf aufzurufen.

Noch bevor Tatjana eine weitere Frage stellen konnte, erschien ein Bild, das nicht nur die Antwort lieferte, sondern ihr Herz auf eine Weise berührte, die ihr nahezu unbekannt war. Als würde dieser Ort auf sie warten.

„Genau das habe ich auch gedacht“, sagte Maren, die ihre Freundin von der Seite ansah. „Du solltest da hin und so ein Seminar belegen. Wer weiß, vielleicht kommst du groß raus und wanderst aus.“

Das erschien nur vordergründig verrückt. Auf eine Art, die ihr ebenso fremd vorkam, erschien sogar das möglich. „Künstlerhotel“, flüsterte Tatjana.

„Und dann auch noch auf Mallorca. Ich weiß doch, wie sehr du die Insel liebst.“ Mit dem Finger lenkte Maren den Mauszeiger auf einen Button, den sie betätigte. „Schau dir das mal an.“

„Wow!“ Mehr brachte Tatjana nicht heraus. Das Bild, das sich geöffnet hatte, verzauberte sie. Es zeigte den Strand vor einer malerischen Bucht, rechts von schroffen Felsen eingefasst, an dessen orange-rotem Himmel der gleichfarbige Feuerball der Sonne im Begriff war, in die Fluten des Meeres einzutauchen.

„Tatsächlich hat mein Chef mir erst gestern gesagt, dass ich unbedingt meinen Urlaub nehmen muss, damit am Jahresende kein Resturlaub übrig bleibt“, sagte Tatjana.

„Na siehst du. Wenn das kein Zeichen ist.“ Maren legte den Arm um sie. „Das ist genau das, was du jetzt brauchst.“

„Und Peter?“

„Was soll schon mit dem sein? Du willst doch keinen Rückzieher machen?“

„Nein“, entgegnete Tatjana, doch es klang kleinlaut.

„Janalein. Vertrau mir. Das wird dir helfen, den Kopf klar zu bekommen. Und falls dir das momentan lieber ist, kannst du die Trennung überdenken. Aber auch das wird dir deutlich besser gelingen, wenn du das Rauschen des Meeres hörst und die Nase in die Sonne halten kannst.“

Das ist total verrückt!, dachte Tatjana, doch ihre innere Stimme klang halbherzig. Erneut betrachtete sie das Bild, sah sich vor einer Staffelei stehen, den Pinsel in der rechten Hand, das Panorama betrachtend, um es auf die Leinwand zu bannen.

Sie hatte eine Entscheidung getroffen.

3

„Da machen Sie sich mal keine Gedanken. Felipe wird ihr Talent schon herauskitzeln, ganz bestimmt. Unsere Teilnehmer sind durch die Bank begeistert.“ Lächelnd betrachtete Caro das Gemälde der Villa, das Angel, einer der Seminarteilnehmer Felipes, gemalt und ihr geschenkt hatte, als Dank für ihre Begeisterung für seine künstlerischen Fähigkeiten.

Ein Gefühl, das sich jedes Mal beim Betrachten aufs Neue in ihr Herz stahl. Denn die Art, wie die Villa im Zentrum des Bildes zu strahlen schien, als habe die Sonne ihre Strahlen auf ihr gebündelt, reproduzierte die Weise, in der Caro ihr Hotel sah. Sie hatte nur zuvor nicht glauben können, dass jemand diese Sichtweise teilte und sogar in ein Gemälde transportieren konnte.

Seitdem brandete das Glück gleich zweimal durch ihren Körper. Beim Eintreffen und Blick auf das Hotel, dann beim Eintreten in die Lobby und Betrachten des Kunstwerkes zum zweiten Mal. Und nicht nur einmal hatte sie im Gesichtsausdruck der Gäste lesen können, dass es denen nicht anders ging.

„Ich habe schon ewig nicht mehr gemalt, wissen Sie? Mein Mann … ach, das ist nicht wichtig“, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung.

„Man sollte sich von niemanden einreden lassen, dass man etwas nicht kann.“ Caro schlug einen verschwörerischen Tonfall an, als sie fortfuhr: „Schon gar nicht von einem Mann.“ Sie war froh, dass die Anruferin aus Deutschland lachte. Ein gelöster Laut, der in Kontrast zu der angespannten Art stand, mit der sie sprach. „Also, wann dürfen wir Sie bei uns willkommen heißen?“

„Geht es schon morgen?“

„Tatsächlich haben Sie Glück. Ein Zimmer wurde kurzfristig storniert, und das könnte ich Ihnen ab morgen für zwei Wochen anbieten.“

„Das ist ja großartig!“

„Ich muss wohl mit unserem Künstler Felipe sprechen. Derzeit läuft bereits ein Seminar, aber, wie ich ihn kenne, wird eine Quereinsteigerin kein Problem sein.“

„Ich möchte wirklich keine Probleme machen.“

„Machen Sie nicht.“ Caro rief die Buchungsmaske auf. „Können Sie mir nochmal Ihren Namen sagen? Entschuldigung. Aber wir haben so munter geplaudert, dass er mir entfallen ist.“

„Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass ich ihn noch gar nicht genannt habe. Ich war so aufgeregt.“ Ein Kichern ertönte. „Tatjana. Tatjana Eichner.“

„Also, Frau Eichner. Dann sehen wir uns morgen. Vorausgesetzt, Sie haben auch einen Flug?“

Ein Kieksen ertönte. „Man könnte meinen, ich verreise zum ersten Mal.“

„Keine Sorge. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wir haben Sondertarife mit einigen Airlines, die die Insel aus Deutschland anfliegen. Was halten Sie davon, wenn ich mich darum kümmere?“ Eine Pause trat auf, und im ersten Augenblick glaubte Caro bereits, Tatjana Eichner hätte aufgelegt, dann vernahm sie ein Geräusch, das ihr ins Herz stach. „Weinen Sie etwa?“

„Entschuldigung“, schluchzte Tatjana Eichner. „Sie müssen mich für völlig verrückt halten. Es ist nur. Sie sind so nett. Und nach allem, was ich durchgemacht habe …“

„Zunächst mal halte ich Sie nicht für verrückt, sondern für jemand, der sich von Herzen freut und dankbar ist. Ein Menschenschlag, den ich mit größter Freude hier willkommen heiße. Ich heiße übrigens Caro, und falls es Ihnen nichts ausmacht, mit den meisten Gästen duze ich mich. Zwar meist erst, wenn wir uns persönlich kennenlernen, aber das hier fühlt sich fast schon so an.“

„Finde ich auch.“ Das klang, als lächelte Tatjana. „Danke, Caro. Das ist unglaublich lieb, und ich kann es kaum erwarten, dich und dein schönes Hotel schon bald in Augenschein nehmen zu dürfen.“

„Ich freue mich ebenfalls.“ Caro machte eine Eingabe auf der Tastatur. „Ich benötige jetzt nur noch einige Angaben von dir, dann kann ich mich auch um die Flüge kümmern und sende dir alles zusammen per Mail. In Ordnung?“

„Mehr als das. Super!“

Nachdem Caro die restlichen Angaben Tatjanas in den PC getippt hatte, beendete sie das Telefonat.

Als sie aufsah, stand Cynthia in der Tür. „Ich wollte nicht lauschen. Aber das war so süß. Hört sich an, als hätten wir ab morgen einen Gast, der den Aufenthalt dringend braucht.“

„Im Grunde müssten die meisten Gäste ihren Aufenthalt als Therapie absetzen können.“ Caro lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Hinterkopf. „Aber diese Tatjana hörte sich wirklich …“, sie benötigte einen Augenblick, um nach dem richtigen Wort zu suchen, „hoffnungslos an.“ Ihr Blick ging in die Ferne, und sie nickte zögerlich. „Ja, das ist das richtige Wort.“

Cynthia, die ins Büro getreten und die Tür hinter sich geschlossen hatte, kaute auf ihrer Unterlippe. „An dieses Gefühl kann ich mich nur zu gut erinnern. Und auch, wem ich dessen Ende zu verdanken habe.“ Sie sah Caro an.

„Du bist süß. Vielen Dank. Aber es war und ist definitiv eine Win-Win-Situation. Was würde ich nur ohne dich machen?“

„Gibt es etwa Schnaps, und ich bin nicht eingeladen?“, ertönte es von der Tür.

Der Blick der beiden Frauen folgte der Stimme, und sie sahen Gertrud, die den Kopf hereinstreckte.

„Klopft hier keiner mehr an!“, rief Caro gespielt streng aus. „Meine Damen tanzen mir mal wieder auf der Nase herum.“

„Ich habe sogar angeklopft. Aber ihr wart ja derart ins Gespräch vertieft.“ Theatralisch rollte Gertrud mit den Augen.

„Nun komm schon rein und mach die Tür zu.“ Caro kicherte und Cynthia grinste ebenfalls.

Die Einstellung Gertruds hatte sich als weiterer Glücksgriff offenbart, denn durch ihr reiferes Alter und das subtile Kokettieren damit, entstanden Situationen wie diese hier, in denen Caro und Cynthia das Gefühl hatten, von ihrer Mutter oder Lehrerin beim Schabernack Treiben ertappt zu werden. Das war besonders erheiternd, da Gertrud eine Ulknudel war, und nur zu gerne mit jemandem ihren Spaß trieb. Da sie nie respektlos war oder gewisse Grenzen überschritt, war sie mittlerweile bei den Gästen zum Alleinunterhalter avanciert.

„Und? Wo ist er nun?“ Gertrud sah sich um.

„Wer?“, fragte Cynthia.

„Na, der Schnappes.“ Sie betrachtete erst Cynthia, dann Caro. „Schon gut. Schon gut. Ich weiß ja, dass ihr zarte Seelchen seid. Prosecco geht ebenfalls.“

„Es ist gerade mal elf. Und solltest du nicht beim Frühstück helfen?“ Caro hob eine Braue, doch erneut war ihr empörter Tonfall gespielt. Es war klar, dass Gertrud weder ernsthaft einen trinken wollte, noch ihre Aufgaben vergessen hatte.

„Frühstück? Welches Frühstück?“ Gertrud zwinkerte ihr zu. „Natürlich bereits erledigt, Chefin. Deshalb wollte ich fragen, ob ich Julia bei den Zimmern helfen soll?“

„Sehr gute Idee.“

Gertrud nickte und verließ das Zimmer.

„Sie macht sich wirklich gut, oder?“, fragte Cynthia.

„Definitiv. Ein weiterer Glücksgriff. Das Universum scheint sich zu revanchieren, nachdem es mich anfangs ziemlich gebeutelt hat.“ Caro legte die verschränkten Hände auf der Tischplatte vor sich ab. „Was kann ich denn für dich tun?“

„Jetzt, bei diesen Temperaturen – was hältst du von einem Strandausflug? Nur wir Mädels. Vielleicht hat Elena ja ebenfalls Lust?“

„Das ist eine großartige Idee.“ Caro betrachtete ihre Arme, die trotz der Tatsache, dass es bereits August und damit mitten in der Saison war, ziemlich blass wirkten. Denn meist kam sie erst nach draußen, wenn die Sonne bereits untergegangen war, hielt sie sich doch ansonsten die überwiegende Zeit hier im Hotel auf.

Ein Umstand, der auch Juan nicht glücklich machte, obwohl er sich bislang geduldig zeigte. Fragte sich nur, wie lange. Der Gedanke an ihn aktivierte sogleich ihr Gewissen. „Das einzige ist …“, sie brach ab und schüttelte den Kopf.

„Was ist?“

„Juan. Der muss, seit die Saison richtig begonnen hat, ziemliche Einschnitte in unserer Zeit hinnehmen. Und dann noch meine Oma –“

„Verstehe. Es müssen ja auch nicht nur wir Mädels sein.“

„Aber ich verstehe deinen Hintergedanken. Wir Frauen unter uns, da herrschen andere Gespräche.“

„Vor allem könnt ihr ungeniert mit mir die Kerle begutachten.“

Caro grinste. „Da mach dir keine Gedanken. Was ich an Juan schätze, ist dessen gesunde Eifersucht. Macht ihm nichts aus, wenn ich mich mal umschaue, so lange es nicht zu extrem wird. Und wenn es im Auftrag deines Liebeslebens ist, habe ich keine andere Wahl.“

„So ist es.“

„Und wenn Elena Jonas mitbringt, werden die beiden Männer ohnehin die ganze Zeit über Baukram sprechen und uns in Ruhe lassen.“

„Das hört sich doch gut an. Fragst du Elena?“

„Mach ich. Jetzt brauchen wir nur noch einen Termin.“

„Ich dachte an Mittwochnachmittag. Da ist Gertrud doch hier, und meine Babysitterin sollte auch Zeit haben.“

„Aber nicht hier, am Es Carregador, oder? Nenn mich spießig, aber den Hotelgästen will ich nicht im Bikini begegnen.“

„Nein. Ich dachte an Es Trenc. Der ist schön weitläufig.“

„Und FKK.“

„Nur teilweise. Und da brauchen wir ja nicht mitzumachen.“

„Einverstanden.“

„Zum Mitmachen oder nicht Mitmachen?“

„Mach’, dass du rauskommst!“ Caro hob drohend den Zeigefinger, bevor sie in Gelächter ausbrach.

Sie freute sich darauf, nach den arbeitsamen Wochen zumindest ein paar Stunden mit ihren Freundinnen zu verbringen, als die sie Cynthia und Elena mittlerweile bezeichnete. Auch Juan würde sich freuen, zumal Jonas und er einander mochten.

So schön die Arbeit ist, du darfst weder deine Freunde noch dich selbst vergessen, dachte sie.

4

„Großartig, dass du das machst! Ich hab ja irgendwie damit gerechnet, dass du noch einen Rückzieher machst.“

„Es fühlt sich einfach richtig an. Und außerdem hättest du doch eh nicht locker gelassen.“

„Da hast du vollkommen recht!“ Maren grinste breit.

Sie hatten die Check-in-Schalter erreicht, vor denen eine Schlange von Menschen darauf wartete, abgefertigt zu werden. Dass dazu mit Reiseziel Palma de Mallorca auch häufig die Fraktionen grölende Fußballer, schunkelnde Kegelclubs und proseccoschlürfende Junggesellinnen gehörten, konnte Tatjanas Laune nicht trüben. Sie glaubte kaum, dass diese Sorte Urlauber das gleiche Ziel auf der Insel anstrebten wie sie.

„Dann tippel mal los“, sagte Maren und fiel Tatjana um den Hals. „Und du schickst fleißig Fotos. Besonders von den knackigen Mallorquinern. Damit das klar ist.“

„Glaube kaum, dass ich in Stimmung bin für einen Urlaubsflirt.“

„Das kann Frau nie wissen. Und würde dir ebenfalls guttun. Das ein oder andere Schäferstündchen mit Juan oder Eduardo, und du kannst den ollen Peter noch schneller vergessen.“

„Schau’n wir mal.“ Tatjana beugte sich vor und drückte ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange. „Vielen Dank für alles. Auch den Anschubser.“

„Immer gerne. Jetzt aber los. Guten Flug, lass dich knusprig braten, und probier jeden Churro, den du kriegen kannst.“ Maren grinste erneut, und dieses Mal lag Anzüglichkeit ob ihrer Äußerung darin, denn es war klar, dass sie nicht von der spanischen Nachspeisenspezialität gesprochen hatte, auf deren wurstartige Form sie angespielt hatte.

„Du bist unmöglich“, gab Tatjana lachend zurück und winkte Maren zum Abschied zu, bevor sie sich zum Ende der Schlange begab.

Die Dame vor ihr drehte sich zu Tatjana um. „Na, fliegen Sie auch nach Malle?“

„Ich fliege nach Mallorca“, entgegnete Tatjana und registrierte mit Genugtuung die Verwirrung im Gesicht ihres Gegenübers. Sie hasste diese despektierliche Bezeichnung der Insel, die vor allem von Party-Urlaubern gebraucht wurde.

„Sag ich doch, Mallorca“, sagte die Frau.

„Eben.“

„Wie?“

„Mallorca und nicht Malle.“ Tatjana war über sich selbst überrascht. Normalerweise war sie eher still und ging auch nicht auf Konfrontation, aber die Aussicht, bald die Füße in den Sand ihrer Lieblingsinsel drücken zu können, gab ihr Aufwind. Zudem hatte sie das Gefühl, dafür einstehen zu müssen.

„Pfff!“, machte die Blonde vor ihr in der Schlange und vollführte dazu eine wedelnde Handbewegung, bevor sie sich umdrehte, um Tatjana keines weiteren Blickes zu würdigen, was der nur recht war.

Sollen die doch nach Malle fliegen, dachte Tatjana. Schließlich bot die Insel so viel mehr, was dem Feiervolk in der deutschen Enklave von El Arenal meist entging. Sie hingegen konnte es nicht erwarten, die mediterrane Leichtigkeit der Insel zu atmen. Und natürlich zu malen.

Beim Gedanken daran konnte sie den Pinsel in ihrer rechten Hand regelrecht spüren und ebenso, wie der über die Leinwand glitt. Stimmte es, was Maren gesagt hatte, dass Talent nicht einfach so verschwand, auch wenn man es nicht nährte?

Zu gerne hätte sie das geglaubt, aber die Unsicherheit nagte an ihr. Du hast viel zu selten gemalt, zuletzt kaum noch. Du wirst dich vollkommen lächerlich machen! Peters Stimme in ihrem Kopf, die die Worte ausspie, ließ sie zusammenzucken und einen Moment erwog sie allen Ernstes, die Reise nicht anzutreten.

Dann machte sie sich bewusst, dass das verrückter wäre als die Reise an sich. Sie dachte an das Telefonat mit Caro, der das Hotel gehörte, und die so freundlich und auf Anhieb vertraut geklungen hatte. Außerdem hatte auch sie gesagt, dass der Künstler, der den Kurs leitete, das Talent in jedem Teilnehmer erwecken oder wiedererwecken könnte.

Janalein, jetzt mach dir nicht so einen Kopf, und hab’ mal Vertrauen in dich und deine Fähigkeiten, hörte sie nun Marens Stimme in ihrem Kopf, was die Zuversicht in ihr befeuerte. Es ging um keinen Wettbewerb, sondern darum, sich auf sich selbst zurückzubesinnen und in Abstand zu ihrem bisherigen Leben zu treten.

Nach Check-in und Sicherheitskontrolle erreichte sie das Gate, wo sie einen freien Platz fand, von dem aus sie eine Gruppe junger Männer betrachtete, die ausgelassen miteinander scherzten. Ihr Blick schweifte weiter zu einer jungen Familie und schließlich einem reiferen Ehepaar, das einander liebevoll betrachtete. So unterschiedlich all diese Menschen erscheinen mögen, sie eint dasselbe Ziel, dachte sie.

Sie nahm das Handy aus der Tasche und rief den Chatverlauf mit Peter auf, las dessen letzte Antwort auf ihre Nachricht nochmal durch:

Mach, was du willst.
Von meiner Seite aus ist alles gesagt,
und wir haben genug geredet in den Jahren.
Wenn du zurückkommst, will ich, dass du ausziehst.

Obwohl es im Grunde genau das war, was sie wollte, ließ die Fassungslosigkeit sie schwindelig werden.

Die Nachricht hatte sie heute Morgen erreicht, nachdem sie Peter gestern mitgeteilt hatte, dass sie zwei Wochen fort wäre, um sich über alles Gedanken zu machen.

Maren hatte sie davon nichts erzählt, da sie ihr nicht die Bestürzung darüber offenbaren wollte. Denn die hätte mit Sicherheit darauf entgegnet, dass dies doch prima und die Angelegenheit damit geklärt sei. Sie liebte ihre Freundin und deren Pragmatismus, der häufig klärend wirkte, aber auch dazu führte, dass Tatjana manchmal den Eindruck hatte, ihre eigenen Emotionen seien falsch.

Wenn sie da sind, sind sie da, dachte sie und gleichzeitig, dass dies ein Ausspruch Marens sein könnte. Mit Sicherheit wäre ihre Freundin entsetzt über ihre Reaktion auf Peters Nachricht gewesen. Doch auch, wenn Maren es gut meinte, etwas gut Gemeintes konnte dennoch Gefühle auslösen, die nicht guttaten.

Jemand, der dich um deiner selbst willen liebt, hörte sie Marens Stimme in ihrem Kopf, und unwillkürlich zuckte sie zusammen. Wieder einmal hatte ihre Freundin den Nagel auf den Kopf getroffen, und ihr war nun klar, warum sie Peters Nachricht so traf, genauso wie dessen letzter Blick voller Verachtung.

Nach all den Jahren, in denen sie vor allem das Bild nachgezeichnet hatte, das er von ihr haben wollte, ihr wahres Ich damit verleugnet hatte, war ihr nun klar, dass er sie jetzt ablehnte. Natürlich war dies nicht das erste Mal gewesen. In den zehn Jahren ihrer Ehe hatte sie sich immer wieder aus der Deckung der Harmoniesucht gewagt, die eigene Bedürfnisse unter sich begraben hatte. Erfuhr dann Zurückweisung, was sie ihr wirkliches Ich in dessen Schneckenhaus flüchten ließ. Und je öfter das geschah, desto diffuser wurde für sie zu erkennen, was sie wollte und wer sie wirklich war.

In den letzten Monaten aber hatte sich etwas verändert. Die Künstlerseele war wieder erwacht und drängte darauf, sich auszudrücken, wollte in ihrem Leben stattfinden. Und je öfter das Gespräch mit Peter darauf kam, dass Tatjana Zeit für sich wollte, desto angespannter wurde die Atmosphäre zwischen ihnen. So war sie über theoretische Erwägungen kaum hinausgekommen. Hatte nur geplant, wieder zu malen, womöglich ein Wochenende ein Ferienhaus im Schwarzwald zu buchen, um an einem anderen Ort Inspiration zu tanken, und das allein, doch Peter hatte dies mit Ablehnung beantwortet. Ihr gesagt, dass sie egoistisch sei, nicht an sie als Paar denke und dann auch noch Geld nur für sich verschwende, was ungerecht sei.

Vor dem Hintergrund, dass Peter sich ständig wechselnde und meist kostspielige Hobbys leistete, denen er meist nur für wenige Wochen nachging, um dann das Interesse daran zu verlieren, war das eine Frechheit. Zuletzt die Drohne mit Kamera für mehrere tausend Euro hatte das Fass zum Überlaufen gebracht und dazu geführt, dass sie ihren Unmut immer klarer zum Ausdruck gebracht hatte, was Diskussionen und Streitereien häufiger auftreten ließ.

Es traf zu, dass der Grund der letzten Auseinandersetzung nicht massiver gewesen war als die zuvor. Erneut hatte sie Zeit für sich eingefordert und war damit bei Peter auf Widerstand gestoßen, aber da das Thema nun so häufig hochkochte, war der Deckel der falschen Illusion einer Einigkeit in ihrer Beziehung scheppernd hinuntergefallen. Und Maren hatte vollkommen recht, dass er nicht wieder auf den Topf gestülpt werden sollte, zumal das darin brodelnde Gemisch sich nicht mehr beruhigen würde.

Um ehrlich zu sein, war diese Lösung besser als ein Zerbersten des ausgehöhlten Gefäßes, das ihre Beziehung mittlerweile war, vor allem, da Tatjana nicht wusste, was eine solche Explosion bedeuten würde. Besonders nach Peters letztem Blick, den er ihr zugeworfen hatte, und den zuletzt zunehmenden Gewaltausbrüchen.

Nie gegen sie, sondern Gegenstände, aber dennoch war sein Jähzorn erschreckend, und Tatjana hatte sich nicht nur einmal gefragt, wann sich der womöglich doch in körperlicher Gewalt entladen würde. Ein Gedanke, der, je öfter Peter wegen Nichtigkeiten ausflippte, an Unwirklichkeit einbüßte. Bei ihrem letzten Streit war sie sogar vor ihm zurückgezuckt, hatte vor ihrem geistigen Auge bereits sehen können, wie ihr Mann die Hand gegen sie erhob.

Nur ein Hirngespinst, fragte sie sich und wünschte, das darauffolgende „Ja“ der inneren Stimme wäre überzeugender ausgefallen. Doch es klang unsicher und traf ihr Empfinden: Sie hatte Angst vor ihm, insbesondere vor der Unberechenbarkeit seines Verhaltens.

So erschreckend dies war, es gedanklich erfasst zu haben, tat auf eine gewisse Art gut. „Du hättest es Maren erzählen sollen“, flüsterte sie und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass die Dame des reiferen Paares, das sie zuvor beobachtet hatte, sich zu ihr umgedreht hatte. Hat sie dich gehört, fragte sie sich, hielt dies jedoch für unwahrscheinlich. Am Gate herrschte eine nicht unerhebliche Geräuschkulisse und die Frau saß ein Stück von Tatjana entfernt.

Und selbst, falls sie es gehört hatte, niemand kannte Tatjana hier, und war ihre Übervorsicht und das Bedürfnis, auf gar keinen Fall aufzufallen, nicht ebenfalls etwas, an dem sie arbeiten sollte?

„Chacka, ich schaff das“, murmelte sie und musste grinsen, was die Dame von schräg gegenüber erwiderte. Tatjana stellte fest, dass ihr das gefiel, egal ob die sich einfach mit ihr oder über sie freute. Diese Positivität wollte sie mitnehmen. Mehr noch, es sollte die Grundstimmung sein, auf die sie ihren Aufenthalt bauen würde.