1
Porscha
Anreisetag – Costa de la Luz
„Was für ein Anblick! Hast du schon mal so wunderschöne Palmen gesehen?“, fragt mich Thomas und schaut andächtig zur grünen Pracht hinauf. „Nicht mal die, die wir letztes Jahr in der Karibik bewundern durften, waren so imposant“, schwärmt er weiter, ohne auf mich oder sein Umfeld zu achten. „Allein dieses satte und tiefe Erbsengrün …“
Echt jetzt?
Genervt werfe ich einen Blick auf unsere Koffer, die der Busfahrer wenig hilfreich auf die Straße vor das Hotel gestellt hat, bevor er ohne ein Wort davongebraust ist. Nicht mal auf ein Trinkgeld hat der leicht nach Schweiß müffelnde und unter Zeitdruck stehende Touristikangestellte gewartet.
Da Thomas unser Gepäck offensichtlich gleichgültig ist, tue ich ihm den Gefallen und sehe mir, je eine Hand am Koffergriff, das nicht essbare Gemüse neben dem Hoteleingang an.
„Ja, äh … spitze. Umwerfend. Fantastisch. Tolles Erbsengrün“, versuche ich Begeisterung zu signalisieren. Mein Verlobter gehört zu den Menschen, die von jetzt auf gleich in den Urlaubsmodus schalten können. Noch im Flugzeug hat er jeden Gedanken an Computer, Zahlen und Anträge beiseitegeschoben. Leider bin ich da weniger geschickt. Es wird sicher ein paar Tage dauern, bis ich mich auf die Ruhe und den Frieden, die Costa de la Luz ausstrahlt, einlassen kann. Spätestens übermorgen bin ich bereit, mich der, mir bekannten aber längst vergessenen, spanischen Flora zu widmen. Heute allerdings nicht.
Durch die Nase lange einatmen und durch den Mund wieder aus, Porscha. Es ist ganz einfach. Gib dir ein bisschen Mühe. Dein Urlaub fängt in diesem Moment an. Genieße ihn …
„Könntest du dich bitte für einen Moment konzentrieren und unser Gepäck von der Straße holen, Thomas?“ Einatmen – ausatmen. Mühe geben. „Zwei Koffer gleichzeitig bekomme ich nicht über die Bordsteinkante.“ Einige Schweißtropfen bilden sich bereits über meiner Oberlippe. Die Straße ist abschüssig und sobald ich einen der beiden Koffer loslasse, rollt er Richtung Meer. „Was hast du alles eingepackt?“, frage ich, stelle einen Fuß hinter die Kofferrolle und wische mir mit dem Handrücken über die feuchte und erhitzte Stirn. Wo ist die nächste Klimaanlage? Warum ist es um diese frühe Uhrzeit bereits so heiß?
„Nur das Nötigste.“
Natürlich. „Wer fünf Kilo Übergepäck hat, hat mehr als nur das Nötigste eingepackt“, sagte ich, meinen Schatz aufziehend. Den verschmitzten, leicht tadelnden Gesichtsausdruck kann ich mir nicht verkneifen. Thomas ist manchmal mehr Tussi als ich.
Der Mann, den ich noch in diesem Jahr heiraten möchte, kommt auf mich zu, schlingt die Arme um meinen Körper und küsst mich. Sofort werden mir die Knie weich und ich vergesse die Hitze um mich herum. Jetzt ist da nur noch eine innere Hitze, für die Thomas verantwortlich ist. Da ich unser Gepäck fixiere, kann ich die Umarmung nicht mit der Hingabe erwidern, wie ich es gerne möchte.
„Wir bleiben drei Wochen in diesem Urlaubsparadies, da brauche ich schon ein paar Dinge“, klärt Thomas mich auf, ohne mich loszulassen. Bevor ich etwas entgegnen kann, bekomme ich noch einen Kuss, was mir überaus recht ist. Thomas beherrscht die kleinen gehauchten Küsse, die nur so eben die Lippen berühren, in Perfektion. „Außerdem hat mein Koffer nur Übergepäck, weil die Wanderschuhe, die ich laut meiner Verlobten unbedingt einpacken musste, so schwer sind“, lässt er nicht locker.
Selbstverständlich. Natürlich bin ich schuld an seinem Übergepäck.
Da ich ihn und seine charmanten Marotten liebe, verkneife ich mir den Kommentar, dass auch ich Wanderschuhe eingepackt habe und mein Koffer beim Wiegen am Flughafen sogar zwei Kilo unter dem erlaubten Höchstgewicht gelegen hat. Stattdessen schmiege ich mich an seine starke Brust und lasse mich einen Moment von ihm halten. Ich bin im Urlaub und sollte schnellstens anfangen eine gewisse Gelassenheit an den Tag zu legen.
„Wenn du beide Koffer in die Lobby bringst, ist mir dein Übergepäck herzlich egal.“ Mein Fuß, der die Rolle blockiert, beginnt zu schmerzen. „Hier.“ Ungelenk befreie ich mich aus der Umklammerung und schiebe die Koffer Thomas in die Arme. „Ich kümmere mich um unser Zimmer, du um die Koffer. Hoffentlich bekommen wir eine Suite mit Blick aufs Meer.“
***
Ein Pärchen steht vor mir an der Anmeldung und macht gerade Platz, als ich mich dem Tresen nähere. Die beiden sehen verliebt aus und halten sogar Händchen. Wann sind Thomas und ich zum letzten Mal Hand in Hand gegangen? Egal. Vielleicht fangen wir diesen Urlaub wieder damit an. Es könnte nett sein, so am Strand entlang zu spazieren.
Voller Vorfreude auf den Urlaub, wende ich mich dem Mann an der Anmeldung zu. „Äh …“
„Einen Moment, bitte“, werde ich ausgebremst. Enttäuscht klappe ich den Mund wieder zu und beobachte stattdessen, wie der Angestellte des Hotels etwas in den Computer eingibt. Er benutzt dazu das allseits bekannte Zwei-Finger-Suchsystem. Die Entertaste scheint es ihm besonders angetan zu haben. Wild hämmert er auf sie ein, während er leise auf Spanisch vor sich hin flucht. Mich hat er offenbar bereits vollständig ausgeblendet.
Da das Problem kein Kleines zu sein scheint, nutze ich den Moment und betrachte mein Gegenüber. Der Kerl sieht etwas seltsam aus. Zumindest für einen Angestellten, der die Hotelgäste in Empfang nehmen soll.
Warum trägt er keine formelle Kleidung oder zumindest ein Hemd? Warum sind seine Haare so verstrubbelt? Und warum zum Teufel kann er nicht Tippen? Obwohl ihm der Fünf-Tage-Bart ausgezeichnet steht, wirkt er damit doch etwas raubeinig und ungepflegt. Das Erscheinungsbild verwirrt mich zunehmend, je länger ich den Mann, der keinem Dresscode folgt, anschaue. Er passt nicht in ein Fünf-Sterne-Hotel. Himmel … sogar der Busfahrer hat Hemd und Krawatte getragen, wenn es auch mit den gelben Schweißflecken unter den Armen wenig vorteilhaft ausgesehen hat.
Erste Zweifel kommen in mir auf.
Hoffentlich ist das Hotel kein Reinfall. Thomas hat es ausgewählt und die Buchung bestätigt. Unter Umständen hat er sich von der Anzeige des Hotels beeinflussen lassen. Ich erinnere mich daran, dass er mir Fotos von einer Poollandschaft unter Palmen gezeigt hat und von der grünen Idylle vollkommen hin und weg war.
Da es auch nach Minuten des Wartens nicht voran geht, räuspere ich mich, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Vielleicht ist der Holzfällertyp nicht die hellste Kerze auf der Torte. Besser ich stupse ihn verbal an.
Keine Reaktion.
Ich versuche es noch mal, mit einem etwas auffordernden Räuspern. Dieses Mal lauter. Wie aufdringlich soll ich denn noch stupsen? Hat er einen Hörschaden?
Endlich … die Finger des Mannes erstarren über der Tastatur.
„Es dauert noch.“ Er atmet lange aus und wendet sich mir zu. „Haben Sie bitte Geduld.“ Den Worten folgt ein strenger Blick. Wieder bekommt die Entertaste einiges zu spüren.
Interessant. Er spricht deutsch mit mir, dabei habe ich außer ein Äh noch gar nichts gesagt. Sehe ich aus wie der typische deutsche Touri?
„Lassen Sie sich Zeit.“ Den Sarkasmus kann ich nicht zurückhalten. Er bringt mir umgehend einen weiteren, dieses Mal mörderischen Blick ein.
Meine Antwort ist ein winziges Lächeln … und Schweigen.
Das Lächeln verbreitert sich, als ich das Radfahrende Alpaka mit dem Regenbogenstirnband auf seinem T-Shirt entdecke. Das Alpaka ist, anders als sein Träger, bester Laune. Es scheint sogar vor sich hin zu pfeifen, während es fröhlich in die Pedale tritt. Wenn das rosa verwaschene T-Shirt nicht das kleine Loch gleich neben dem Ausschnitt hätte, könnte es sogar hübsch aussehen. Na, zumindest interessant – und auffällig. Auffällig ist das spezielle und durchlöcherte Kleidungsstück allemal.
„Gleich habe ich es.“
Sein Deutsch ist nahezu akzentfrei.
Einen Kommentar verkneife ich mir. Dafür hole ich unsere Pässe aus der Tasche und lege sie vor mir auf den Tresen.
„Auf welchen Namen haben Sie gebucht?“, werde ich plötzlich und ohne einen Willkommensgruß gefragt. Auch angesehen werde ich nicht. Gutes Benehmen und Höflichkeit scheinen beim Personal dieses Hotels offenbar nicht von Bedeutung zu sein.
„Thomas Kaster. Eine Suite mit Blick aufs Meer, bitte.“ Das Bitte betone ich.
Eine Antwort bekomme ich nicht, dafür ein entnervtes Seufzen. Sonderwünsche sind wohl nicht gerne gesehen.
Das kann ja heiter werden. Offensichtlich sieht das Hotel nur hübsch aus. Die Angestellten sind hingegen weniger auf zack. Hätte Thomas die Auswahl unseres Hotels doch nicht allein treffen sollen?
„Der Ausblick zur Meerseite ist mir wichtig“, fühle ich mich genötigt zu erklären und meinen Wunsch zu unterstreichen.
„Verstanden.“ Wieder wird die Tastatur bearbeitet und sogar ein paar Mal mit der Maus geklickt. Leider habe ich von meiner Position aus keine Einsicht auf den Monitor.
Wie schwer kann die Bedienung eines Buchungsprogramms denn sein? Ungeduldig tippe ich mit den Pässen in der Hand auf den Tresen. Langsam verliere ich die Geduld.
Es ist verrückt, dass mir der Meerblick so wichtig ist. Aber es gibt für mich nichts Schöneres als ein Sonnenaufgang über dem Wasser. Früher, bevor ich in die Großstadt gezogen bin, war mir der Morgen die liebste Zeit des Tages.
Ich habe meine Kindheit und Jugend in Costa de la Luz verbracht und schon früh ein besonderes Verhältnis zur Natur entwickelt. Wandern in der atemberaubenden Landschaft und Schwimmen im Meer standen eigentlich täglich auf meinem Programm. Zumindest bis die Hormone die Führung meines Körpers übernommen haben und Jungs um ein Vielfaches interessanter wurden als Sonnenaufgänge.
Einen Moment hänge ich den schönen Erinnerungen nach. Meine Kindheit habe ich in vollen Zügen genossen. Im Kleinkindalter sind meine Eltern mit mir ausgewandert. Spanien wurde unsere neue Heimat. Alles war wunderbar, bis die Ehe meiner Eltern zerbrach und mein Vater zurück nach Frankfurt ging.
„Señor Ximénez, Señor Ximénez“, werden meine Gedanken an die Vergangenheit von lauten Rufen unterbrochen. „Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe.“ Der Mann wirft mir einen schnellen Blick zu. „Warum haben Sie nicht Marisol aus dem Büro geholt? Sie kennt sich mit dem neuen Programm aus.“ Es folgen ein paar Sätze in schnellem Spanisch, bei denen es um Marisols außerordentliche Qualifikationen geht. Anscheinend wurde die Gute erst kürzlich für solche Fälle wie gerade eben eingestellt.
„Ich dachte, ich bekomme es allein hin.“ Der nun erleichtert aussehende Señor Ximénez versucht sich an einem Lächeln. „Meine Annahme war womöglich ein Trugschluss. Das Programm hat sich aufgehängt.“
Der Nachname lässt mich verspätet innehalten. Ximénez? In Spanien heißt gefühlt jeder Dritte Ximénez. Das vertraute Gefühl, das in mir aufsteigt, sollte mich also nicht überraschen. Es ist ein sehr geläufiger Nachname …
Ich kannte ebenfalls mal einen Ximénez. Bin sogar mit ihm zur Schule gegangen.
Bevor ich die Möglichkeit bekomme die Gesichtszüge hinter dem Fünf-Tage-Bart mit meinen Erinnerungen abzugleichen, wendet sich der Mann ab und macht dem Angestellten im Anzug Platz, der deutsch und spanisch gesprochen hat.
„Herzlich willkommen im Hermosas Palmeras“, werde ich begrüßt, wie ich eben schon hätte begrüßt werden sollen.
Immer noch von dem mir so vertrauten Namen verwirrt, sehe ich Señor Ximénez nach, der schnellen Schrittes, fast schon fluchtartig und ohne sich von mir zu verabschieden, das Weite sucht. Zu dem rosa Alpaka-T-Shirt trägt er beigefarbene Cargo-Shorts und Flipflops. Könnte dieser breitgebaute Holzfällertyp Romeo Ximénez sein, mein Jugendfreund aus längst vergessenen Zeiten? Würde mein Rom ein unterhaltsames T-Shirt wie dieses tragen?
Ja, auf alle Fälle.
Im nächsten Augenblick spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. „Meine liebe Porscha, was soll ich davon halten? Kaum bin ich fünf Minuten nicht an deiner Seite, starrst du anderen Männern auf den Hintern“, zieht mich Thomas auf. Gut gelaunt und eindeutig in Urlaubsstimmung drückt er mir einen Schmatz auf die Wange. „Ist alles geregelt? Haben wir eine Suite mit Meerblick bekommen?“
2
Romeo
„Verdammt! Heute ist nicht mein Tag“, fluche ich, auf dem Rücken liegend mit dem Kopf unter dem Waschbecken von Zimmer 122. Manche Hotelgäste benutzen den Abfluss des Waschbeckens hemmungslos als Mülleimer.
Zahnseide!
Ein Knäuel müffelnder Zahnseide, mit dem man die Welt umwickeln könnte, liegt neben mir auf den Fliesen. Wie viel von dem Zeug kann ein Mensch am Tag verbrauchen, und wieso landet der strapazierfähige Zwirn nach der Benutzung im Abfluss? Manche Menschen denken nicht nach oder die Folgen sind ihnen schlichtweg egal.
Wassertropfen treffen mein Gesicht, als ich ein weiteres Stück Zahnseide aus den Windungen der Rohre fische. Unbewusst halte ich die Luft an und versuche, nicht über die Keime nachzudenken, die sich in dem Abwasser tummeln.
Dass ich hier liege und Klempnerarbeit verrichte, ist nicht ungewöhnlich. Ich arbeite sogar öfter unter einem verstopften Waschbecken oder an einer defekten Toilette, als dass ich an der Anmeldung stehe. Verständlich, dass meine Angestellten mich nicht gerne an dem Buchungssystem herumfummeln sehen. In der Vergangenheit habe ich auf diese Weise schon für zu viel Chaos und zusätzliche Arbeit gesorgt.
Handwerklich bin ich geschickt, am Computer eher weniger. Wen wundert es. Ich bin ein Naturmensch, der es liebt, sich körperlich zu betätigen und der nicht für Zahlen und Tabellen gemacht ist.
Als Eigentümer eines Fünf-Sterne-Hotels sollte ich nicht unter dem Waschbecken liegen müssen, aber unser Haustechniker hat Urlaub und da ich in diesen seltenen Fällen seine Vertretung bin, muss ich eben ran. Das Zimmer muss spätestens in zwei Stunden fertig sein. Und da der Gast bei uns König ist …
Noch bevor ich das nächste weiße Fitzelchen greifen kann, fliegt die schwere Hotelzimmertür auf. Die Klinke kracht gegen die Wand dahinter und lässt hörbar den Putz rieseln. Wenig später wird mein Name gerufen. Laut!
„ROM!“ Tippelnde Schritte auf Fliesen lassen mich ahnen, wer da im Anmarsch ist.
Verdammt! Beinahe hätte ich mir bei dem Versuch die Ohren zuzuhalten den Kopf gestoßen. Meine Schwester hat ein Organ, das die Wände wackeln lässt. Wie viele Löcher unser Wandputz in Höhe der Türklinken hat, weil sie die Tür stets mit zu viel Schwung aufstößt, lässt sich nicht mehr zählen.
„Badezimmer“, antworte ich in normaler Lautstärke, bevor sie mich erneut rufen kann. Endlich habe ich den letzten Rest Zahnseide erwischt. Jetzt noch das Gewinde ein wenig säubern und dann kann ich den Siphon wieder anschrauben. Wenn nur alle Probleme so leicht zu lösen wären, wie ein verstopfter Abfluss.
„In meinem Atelier ist eingebrochen worden“, klärt mein Schwesterherz mich auf. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass sie mit verschränkten Armen an den Türrahmen gelehnt steht.
„Hallo, liebe Alejandra. Dir auch einen schönen guten Morgen.“
„Rom! Hast du mir überhaupt zugehört?“ Ihr Kopfschütteln sehe ich von meiner Position aus nicht, aber ich weiß, dass es da ist. „In meinem Atelier ist jemand eingebrochen. Dein Guten Morgen ist mir herzlich egal.“
Ein verzogenes Nesthäkchen mit wenig Manieren, das ist meine dreizehn Jahre jüngere Schwester. Das Alejandra mit ihren zweiundzwanzig Jahren so ist wie sie ist, ist auch zum Großteil mein Fehler. Da unsere Eltern früh gestorben sind, habe ich sie mehr oder weniger allein aufgezogen. Im Kleinkindalter habe ich sie, wo es geht, verwöhnt. Außerdem konnte ich ihr nie einen Wunsch abschlagen. Keine gute Kombination.
„Für eine kurze Begrüßung sollte immer Zeit sein“, belehre ich sie, verändere meine Position und greife nach der Wasserpumpenzange, die rechts neben mir liegt.
„Auch wenn es ultrawichtig ist und wir womöglich einen Dieb im Hotel haben?“ Eine Herausforderung liegt in dem Satz.
Meine Schwester ist für ihr Überreagieren und ihre Theatralik bekannt. Wir haben ganz sicher keinen Dieb im Hotel. Etwas derartig Verrücktes wüsste ich. So etwas würde mir auffallen, denn ich habe meine Augen und Ohren schließlich überall. In meinem Hotel entgeht mir nichts.
„Auch in dem Fall, ist eine freundliche Begrüßung nicht zu viel verlangt.“ Wieder landet etwas Schmutzwasser in meinem Gesicht. „Kannst du das kurz halten?“ Die Hand ausstreckend winke ich mit der Wasserpumpenzange. Ich könnte sie auch auf den Boden legen, aber ich unterhalte mich nicht gerne durch den Raum sprechend.
Wie von mir erwartet kommt Alejandra zum Waschbecken und hockt sich nieder, bevor sie mir das Werkzeug abnimmt und mir die Gelegenheit gibt, mein Gesicht abzutrocknen. Hoffentlich kleben keine Reste Zahnseide in meinem Bart.
„Guten Morgen, geliebtes Bruderherz.“
„Geht doch.“ Obwohl meine Erziehungsversuche reichlich spät kommen, scheinen sie doch zu fruchten. Zumindest hin und wieder. An dem überflüssigen Sarkasmus können wir allerdings noch arbeiten.
„Kann ich dir jetzt von dem Einbruch erzählen?“
„Selbstverständlich.“ Ich nehme ihr die Zange ab und fange an, den Siphon wieder festzuschrauben. „Ist etwas gestohlen worden?“ Meine Schwester ist eine begnadete Künstlerin, die für ihre künstlichen Pflanzen schon mehrfach von verschiedenen Kunstverbänden ausgezeichnet wurde. Doch bei aller Liebe für ihre geschätzte Arbeit, in ihrem Atelier befindet sich nichts, womit ein Einbrecher etwas anfangen könnte. Es sei denn, er hat eine Vorliebe für Plastik.
„Ob etwas gestohlen worden ist?“, wiederholt sie meine Frage und scheint nachzudenken.
„Jep. Für gewöhnlich sind Einbrecher darauf spezialisiert Besitztümer, meist von beträchtlichem Wert, zu entwenden.“ Mein Mundwinkel zuckt und ich bin froh, dass Alejandra mir von ihrer Position aus nicht ins Gesicht sehen kann. Sie mag es gar nicht, wenn ich mich auf ihre Kosten amüsiere.
„Nein! Ja? Vielleicht. Ich kann es nicht genau sagen. Das muss ich noch im Einzelnen überprüfen.“
Die Antwort ist typisch für meine Schwester. Ein Seufzen liegt mir auf den Lippen. „Wieso glaubst du dann, dass in deinem Atelier eingebrochen wurde? Ist etwas kaputtgemacht worden?“ Auch wenn das Kunststoffgranulat, das meine Schwester verarbeitet, nur ungeformtes Plastik ist, besitzt sie doch einige wertvolle Maschinen und Werkzeuge, deren Beschädigung teure Reparaturen nach sich ziehen könnten.
„Das Fenster war nach meiner Mittagspause zur Hälfte geöffnet.“
Mit geringem Kraftaufwand ziehe ich das Anschlussstück fest und lege die Zange auf die Fliesen. Danach krieche ich unter dem Waschbecken hervor und greife nach meinem Arbeitslappen, um mir die Hände abzuwischen.
„Mehr nicht? Das Fenster stand offen? Deshalb glaubst du, dass wir einen Einbrecher im Hotel haben?“ Was ist das für ein jämmerlicher Beweis? Heute gibt unser Nesthäkchen wieder alles. Das volle Ich-möchte-Aufmerksamkeit-Drama-Programm.
„Rom, ich lasse nie das Fenster offenstehen!“, empört sie sich. „Es würde den Trocknungsvorgang meiner Kunstwerke beschleunigen und das wäre fatal. Es könnte die Arbeit von Stunden oder Tagen ruinieren.“
„Leuchtet mir ein. Die Tatsache habe ich kurzzeitig vergessen. Entschuldige.“ Organisches Polymer ist äußerst empfindlich. „Vielleicht haben die Angestellten …“, setze ich an, während wir uns gleichzeitig erheben.
Alejandra wirft mir einen Blick zu, der mich jedes weitere Wort verschlucken lässt. Mein Fehler. „Tut mir leid“, sage ich die Hände hebend. „Ich habe wieder nicht nachgedacht. Du hast recht. Keiner unserer Hotelangestellten würde dein Atelier betreten, geschweige denn eines der Fenster öffnen. Dafür ist ihnen ihr Leben viel zu lieb.“ Ein Grinsen erscheint unwillkürlich auf meinen Lippen. Meine Schwester hat nicht nur mich im Griff, auch unser Personal spurt, ohne nachzufragen, sobald sie etwas verlangt.
„Du nimmst mich nicht ernst.“
Stimmt.
„Alejandra“, versuche ich es in einem versöhnlichen Tonfall, ohne das Grinsen. „Überprüfe, ob Werkzeuge fehlen oder Maschinen beschädigt sind. Vielleicht war ein Hotelgast neugierig und hat sich verbotenerweise umgesehen. Dabei ist ihm der Gestank aufgefallen und er hat ein Fenster geöffnet. Ganz ohne Hintergedanken.“
„Niemals. Ich schließe immer ab und hänge zusätzlich ein Bitte-nicht-stören-Schild an die Tür. Egal ob ich drin bin oder nicht.“ Alejandra verschränkt die Arme vor der Brust und sieht zu Boden. Fehlt nur noch, dass sie die Unterlippe vorschiebt, und anfängt, auf den Fußsohlen zu wippen. In Momenten wie diesen erinnert sie mich stark an das kleine Mädchen von früher, das ohne Eltern aufwachsen musste.
„Was soll ich deiner Meinung nach machen? Was verlangst du von mir?“ Erschöpft, von dem Tag und dem Gespräch, lasse ich die Schultern sacken und werfe den Lappen in meine Werkzeugkiste.
„Nichts. Bemühe dich nicht. Entschuldige die Störung.“ Ein mörderischer Blick trifft mich mitten ins Herz. „In Zukunft kläre ich solche Dinge allein auf, oder ich frage unseren gastronomischen Assistenten aus der Küche. Juan versteht mich und ist sich nicht zu schade mir zu helfen.“
Das war’s! Jetzt ist sie eingeschnappt.
Bevor ich zurückrudern oder beschwichtigen kann, ist der Wirbelwind verschwunden. Lautstark und aufgebracht, wie Alejandra gekommen ist, rauscht sie davon und lässt die Tür hinter sich zufallen.
„Das lief ja super“, rede ich mit mir selbst und blicke auf das Knäuel verknoteter Zahnseide zu meinen Füßen. Besser ich hole sofort die Tube mit dem Schnellzement, um den Putz in der Wand auszubessern, bevor ich an der Anmeldung Bescheid gebe, dass Zimmer 122 bereit für die Endreinigung ist.
Danach werde ich mit einem Vanille-Macchiato mit Pistazienstücken meine Schwester aufsuchen und mich für mein mangelndes Verständnis bei diesem Gespräch entschuldigen.
Vergangenheit
„Porscha hat gesagt, ich darf.“ Alejandra zieht die Augenbrauen zusammen und sieht für ein Kind von sechs Jahren viel zu altklug drein.
„Wieso behauptet Porscha das? Ich bin dein Bruder und ich sage, ein Eis pro Tag ist genug.“ Dass ich oft nicht weiß, wie ich mich verhalten soll, macht es nicht leichter bei Diskussionen wie diesen standhaft zu bleiben. Wie erziehe ich meine Schwester richtig? Keiner hat mir nach dem Tod unserer Eltern eine Anleitung überreicht.
Bevor Alejandra ein wütendes Pfft von sich gibt, überkreuzt sie die Arme und schiebt die Unterlippe vor. „Es ist heiß. Ich brauche eine Abkühlung.“ Die Rebellin in ihr hat die Oberhand übernommen.
„Lutsch einen Eiswürfel.“
„Igitt. Aber ich habe schlimme Halsschmerzen und mir ist heiß. Porscha hat gesagt, als sie die Mandeln rausbekommen hat, musste sie Unmengen Eis essen. Vanille und Schoko, kein Erdbeere.“
„Du hast deine Mandeln noch.“
„Aber ich habe Halsschmerzen und vielleicht müssen sie raus, wenn ich sie nicht bald kühle.“ Eine kleine Kinderhand schiebt sich in meine große. „Sie könnten sich entzünden, Rom. Das hat Porscha gesagt. Ich schwöre. Ehrlich.“
Höchstwahrscheinlich hat meine Freundin gar nichts von irgendetwas gesagt. Sicher weiß sie nicht mal, dass es gerade Alejandra nach einem Eis gelüstet. Meine kleine Schwester hat sehr feine Ohren und lauscht, wo sie kann. Bestimmt gibt es ein Kind in Alejandras Schule, das heute über seinen Eiskonsum nach einer Mandeloperation gesprochen hat.
Auf mein Bauchgefühl ist in der Regel verlass. Ich vertraue ihm.
Lange ausatmend gehe ich in die Hocke, um mit meiner Schwester auf Augenhöhe zu sein. Dass sie ein Eis will, kann ich nachvollziehen, ich könnte selbst eines vertragen. Heute wird das Thermometer die vierzig Grad Marke knacken, ohne dass ein Wölkchen in Sicht ist. Trotzdem ist das kein Grund, mich anzulügen.
„Erinnerst du dich an den Deal, den wir ausgemacht haben?“
Sie nickt und sieht auf ihre nackten Füße hinab, deren Zehennägel heute grün lackiert sind.
„Wie lautet unser Deal?“, fordere ich sie auf, ehrlich zu sein.
„Keine Lügen.“
„Und? Hältst du dich an unsere Abmachung?“
Alejandra schüttelt den Kopf, ihre Miene ist zerknirscht.
Wenigstens etwas. Vielleicht habe ich doch noch eine Chance sie erfolgreich und ohne Schaden zu nehmen großzuziehen.
„Warum lügst du mich dann an?“
Ihr Blick schnellt hoch und ist nun nicht mehr reumütig, sondern trotzig. Sogar ihre Unterlippe steht vor. „Du liebst Porscha mehr als mich. Wenn sie etwas von dir will, bekommt sie es … immer.“
Bitte Gott, hilf. Wie erkläre ich einer Sechsjährigen, dass ich hoffnungslos und ohne eine Chance auf Rettung in eine Frau verliebt bin?
„Alejandra … Porscha ist erwachsen, sie muss mich nicht um Erlaubnis fragen. Wenn du erwachsen bist, darfst du ebenfalls entscheiden, wie viel Eis du essen möchtest. Aber bis dahin, beschließe ich, was gut für dich ist.“ So in der Art hätte meine Mutter es sicher auch formuliert.
„Okay.“ Ihr Blick geht wieder zu Boden und ihre winzigen Schultern sacken nach unten. Ihr kleiner Körper fällt regelrecht in sich zusammen, und alles nur wegen ein bisschen Eis, das sie nicht umbringen würde.
Umgehend setzt in meiner Brust ein Schmerz ein, der mir wohlbekannt ist. Gerade tut es mir schrecklich leid, dass ich ihr das Eis verwehrt habe. Meine kleine Schwester sieht aus, als würde heute die Welt untergehen.
Verdammt! Ich bin ein Weichei.
Und nun?
„Ich mache dir ein Angebot, Floh“, versuche ich den Tag für uns beide zu retten. „Du hast dir eine Belohnung verdient, weil du deine Lüge zugegeben hast.“ Die Begründung ist ein Schlupfloch, welches ich nicht zu häufig nutzen sollte. „Was hältst du davon, wenn wir Porscha suchen und zu dritt ein Eis am Strand essen gehen?“
Rom, du bist die schlechteste Erziehungsperson aller Zeiten. Deine Gutherzigkeit wird dich irgendwann einholen und dir zum Verhängnis werden.
Die kleine Kinderhand wird ruckartig aus meiner gezogen. Alejandra hüpft, klatscht und dreht sich im Kreis. „Jaaaaaaaaa, ich möchte Erdbeere. Kann ich ein Erdbeereis haben? Porscha nimmt sicher auch Erdbeereis.“
3
Porscha
„Der Ausblick ist grandios“, sage ich und lehne mich mit dem Rücken gegen Thomas. Wir stehen gemeinsam auf dem Balkon und genießen, was vor uns liegt. „Da vorn in der Bucht habe ich schwimmen gelernt.“ Mit ausgestrecktem Finger deute ich in Richtung Strand und lasse ein Gefühl von zu Hause in mir aufsteigen. Gott, was habe ich meine alte Heimat vermisst. Wie sehr, wird mir erst jetzt klar, wo ich zurück bin. Am liebsten würde ich sofort ins Meer springen und mich abkühlen.
„Ich kann nicht schwimmen“, höre ich eine leise Stimme dicht an meinem Ohr.
Wie bitte? Ist das sein Ernst? Gehört mein Verlobter tatsächlich zu den Unzähligen armen Menschen, die sich nicht über Wasser halten können?
„Du kannst nicht schwimmen?“ Überrascht von dem Geständnis, drehe ich mich in seinen Armen um. Er weicht meinem Blick aus, bevor er nach oben schaut und mit den Schultern zuckt.
„Nein, und tauchen auch nicht. Meine Eltern haben keinen Wert darauf gelegt, es mir frühzeitig beizubringen. Sie haben … egal, jedenfalls habe ich es bis heute nicht vermisst. Ich bin eine Landratte und dazu stehe ich.“ Seine Hand streichelt mir über die Seite.
Heftig ziehe ich die Luft ein und schüttele den Kopf. Das kann er nicht wirklich meinen. „Du redest nur so daher, weil du nicht weißt wie unglaublich schön das Wasser, das Meer, ist. Wie großartig es sich anfühlt, schwerelos auf der Oberfläche zu treiben und in den Himmel zu schauen.“
„Schwerelos?“ Thomas lacht, legt sogar den Kopf in den Nacken. „Bei den wenigen Malen, wo ich mich in seichtem Wasser an ein paar Schwimmzügen versucht habe, habe ich mich wie ein Stein mit Armen und Beinen gefühlt.“
Mitgefühl überkommt mich. Seine Eltern sind schuld an dem Dilemma. Jedes Kind sollte schwimmen lernen.
„Ich bringe es dir bei. Du wirst sehen, im Salzwasser ist es ganz leicht. Am Ende des Urlaubes kannst du ein paar Züge Brustschwimmen, ohne unterzugehen. Versprochen.“ Zufrieden mit der Entscheidung drehe ich mich dem Meer zu und kuschele mich an die Männerbrust hinter mir. „Einen Nichtschwimmer kann ich unmöglich heiraten“, witzele ich.
Der Körper, an dem ich lehne, erstarrt. Es fühlt sich an, als würde mein Kopf gegen eine Betonwand lehnen.
Du meine Güte! Warum erwidert Thomas nichts? Hält er die Luft an? Haben meine unbedacht ausgesprochenen Worte ihn etwa verletzt? Was habe ich angerichtet?
„Das war ein Scherz.“ Seine Reaktion verängstigt mich. „Ich hoffe, das weißt du. Ich liebe dich und ich werde dich heiraten, ob du schwimmen kannst oder nicht. Verdammt, sogar dann, wenn du nicht laufen könntest, würde ich dich zum Mann meiner Träume erwählen.“ Langsam drehe ich mich um und suche seinen Blick. „Ich liebe dich“, wiederhole ich sicherheitshalber und versinke in seinen himmelblauen Augen, die wie Sonnenstrahlen auf dem Meer funkeln.
Thomas atmet aus und nickt. Er wirkt erleichtert. „Ich liebe dich auch.“ Seine Lippen berühren meine, bevor ich mehr sagen kann.
Gut, dann küssen wir uns eben und ich zeige ihm auf diese Weise wie sehr ich ihn an meiner Seite brauche. Thomas Kaster ist mein absoluter Traummann.
***
Händchenhalten ist gar nicht so schlecht. Vor allem, wenn man gesättigt und barfuß am Strand entlang spaziert und das Rauschen der Wellen genießen kann. Obwohl unsere Ankunft im Hotel etwas chaotisch abgelaufen ist, muss ich zugeben, dass Thomas unsere Unterkunft ausgesprochen gut ausgewählt hat. Meine Zweifel haben sich nicht bestätigt. Die Suite ist ein Traum und das Essen ist so wie ich es von früher in Erinnerung habe. Hausgemachte spanische Küche, nicht dieser warmgehaltene Fraß, der häufig den Touristen angeboten wird.
Im Hermosas Palmeras gibt es eine Paella, wie ich sie nur von meiner Mutter her kenne. Köstlich. So nah am Meer zu wohnen hat eben auch seine Vorteile. Der Fisch und die Meeresfrüchte sind immer fangfrisch und schmecken vorzüglich.
Erneut werde ich sentimental. Was habe ich dieses Land und sein Essen vermisst.
„Sollten wir jeden Abend ein Drei-Gänge-Menü verspeisen, müssen wir die Stewardess auf dem Rückflug um eine Gurtverlängerung bitten“, sagt Thomas mit einem Feixen und kneift mich in die Seite, wo sich eine kleine, aber äußerst charmante Speckfalte rundet. Meine Taille ist schmal und sexy, aber alles darunter ist dafür verantwortlich, dass ich außerhalb der Arbeit ausschließlich zu Hosen aus Stretchstoff greife. Mein Hintern ist leider etwas zu breit, daran kann auch seine männeranziehende Herzform nichts ändern. Wie gut das Thomas auf gerundete Frauen mit viel Oberweite steht. Über fehlendes Holz vor der Hütte kann ich mich nämlich auch nicht beklagen.
„Frauen mögen es nicht, wenn Männer sie auf Speckfalten aufmerksam machen“, belehre ich die Liebe meines Lebens und lehne den Kopf an seine Schulter. „Sogar dann, wenn diese Speckfalten winzig und kaum vorhanden sind.“
Thomas lacht und gibt mir einen Kuss auf den Kopf. „Dein Körper ist ne Wucht, eine anbetungswürdige Attraktion. Ich vergöttere ihn und das weißt du.“
„Ja, das ist mir bekannt.“ Über fehlende Bestätigung kann ich mich wahrlich nicht beklagen. Glücklich hebe ich meinen Kopf, sehe zum Meer und lasse unsere Hände schwingen. Wir sind allein am Strand. Die anderen Gäste scheinen sich nicht vom wunderbaren Essen oder dem Klavierspieler, der in der Lobby für eine gefühlvolle und musikalische Stimmung sorgt, losreißen zu können.
„Bist du glücklich?“
Thomas hatte immer schon ein Radar für meine Gefühlswelt. „Ja – sehr.“
„Gut.“ Er hebt unsere Hände zum Mund und küsst meine Finger. „Dein Vater hat in den letzten Wochen zu viel von dir verlangt. Ein paar Überstunden machen wir alle, aber Meinolf Kanz übertreibt es. Er lässt dich, seine heilige und über alles geliebte Tochter, für zwei arbeiten.“
„In der Planung und Umsetzung von strategischen Maßnahmen bin ich unschlagbar. Diese zentralen Aufgabenfelder vertraut er eben nur mir an.“
„Du bist aber nicht die einzige Risikocontrollerin in der Firma.“ Er lässt unserer Hände sinken und geht langsamer.
„Nein, das bin ich nicht.“ Meine Mundwinkel wandern nach oben. „Aber ich bin die Beste.“ An Selbstvertrauen hat es mir noch nie gemangelt. Ich bin gut in dem, was ich tue, und ich weiß das.
Thomas lässt sich Zeit mit der Antwort.
Was ist los mit ihm?
„Müsstest du mir nicht zustimmen?“, frage ich und drücke seine Hand. Hoffentlich hat er nicht vor uns die Stimmung zu vermiesen. Thomas ist nicht nur mein Verlobter, er ist auch von mir angestellt worden und arbeitet im Rechnungswesen, ebenfalls in der Finanzberatung meines Vaters. Die Aufgabenverteilung sowie die klare Hackordnung, sorgen nicht selten für Spannungen, in der Firma und in unserer Beziehung. Mein kontinuierlich steigendes Gehalt, obwohl ich noch Junior-Risikocontrollerin bin, ist ihm ein Dorn im Auge. Unter anderem, weil Thomas nur einen Bruchteil von meinem Verdienst zur Verfügung steht. Wenn mein Vater wenigstens eine höhere Meinung von ihm hätte, wäre vieles leichter, aber für Meinolf Kanz ist mein Verlobter nur ein einfacher Zahlen- und Datenerfasser. Und daher bei Weitem nicht gut genug für eine Tochter, die nur das Beste vom Besten verdient. Alles unter einem CFO (Chief Financial Officer) ist nicht gut genug für sein einziges Kind.
„Fischen wir nach Komplimenten, Frau Kanz?“ Das Grinsen ist wieder da, der nachdenkliche Blick verschwunden.
„Immer, Herr Kaster.“ Sanft ziehe ich ihn Richtung Wasser, um ins Meer zu waten. An die Arbeit zu denken, ist das Letzte, was ich gerade möchte.
„Lass uns in den nächsten drei Wochen nicht über Finanzdienstleister und Beratung reden. Wir sind im Urlaub und wollen ausspannen“, weist Thomas mich an, als hätte er meine Gedanken gelesen.
Weise Worte.
„Du hast verdammt recht.“ Zustimmend lasse ich seine Hand los, hebe meinen Rock an und tauche den dicken Zeh ins Meer. „Das Wasser ist warm“, sage ich und jauchze, bevor ich weiter gehe. „Komm rein!“
Thomas steht mit hochgekrempelter Hose im sicheren Sand, die Arme vor der Brust verschränkt. „Nein. Ich kann nicht schwimmen“, erklärt er mit trockenem Humor und ohne eine Miene zu verziehen. „Schon vergessen?“ Er zwinkert auf eine Art und Weise, die mir die Knie weich werden lässt.
Lachend schüttele ich den Kopf. „Alles Ausreden. Du möchtest nur keine nassen Füße bekommen.“
„Stimmt.“ Er setzt sich in den Sand und erfreut sich an meinem Anblick. „Es reicht mir dir beim Wassertreten zuzusehen.“
Die Behauptung, dass er eine Landratte ist, ist tatsächlich nicht gelogen.
„Heute lasse ich dich damit durchkommen, mein Lieber, aber morgen entkommst du mir nicht. Nach dem Frühstück haben Sie Ihre erste Schwimmstunde, Herr Kaster.“
„Wolltest du nicht deine Mutter besuchen?“, kommt es wie aus der Pistole geschossen aus seinem Mund.
„Netter Versuch, aber leicht zu durchschauen. Meine Mutter besuche ich ganz sicher – aber nicht morgen. Diese besondere Kraftanstrengung schiebe ich gern noch eine Weile vor mir her.“ Thomas ist darüber im Bilde, wie angespannt die Beziehung zwischen meiner Mutter und mir ist und hat das Thema nur angeschnitten, um von seiner Schwimmstunde abzulenken.
„Wird sie sich freuen dich zu sehen?“
„Das hoffe ich.“
„Hast du sie eigentlich informiert, dass du kommst? Wir haben gar nicht mehr darüber gesprochen.“
„Nein.“ Einen Moment lang halte ich inne. „Es ist eine Überraschung“, flüstere ich mit mehr Emotionen in der Stimme als mir lieb ist.
„Wie lange habt ihr euch nicht mehr gesehen?“ In den Worten liegt etwas Wachsames. Sein Blick fixiert mich.
„Vor zehn Jahren habe ich Costa de la Luz verlassen. Natürlich telefonieren wir regelmäßig, aber persönlich, von Angesicht zu Angesicht haben wir uns zuletzt gesehen, bevor ich Spanien den Rücken gekehrt habe.“ Die Unterhaltung fängt an, mich runterzuziehen. Am ersten Urlaubstag möchte ich nicht über meine Mutter und unsere Probleme nachdenken. Es ist Zeit für einen erneuten Themenwechsel. „Wir haben noch gar nicht darüber gesprochen, ob du meinen oder ich deinen Nachnamen annehme, sobald wir verheiratet sind.“ Wenig subtil, aber wirksam.
Thomas wirkt überrascht, das erkenne ich sogar aus den paar Metern Entfernung. Seine Stirn kräuselt sich und in seinen Blick liegt Verwunderung. „Müssen wir wirklich darüber sprechen? Ich dachte, es ist selbstverständlich, dass du nach unserer Eheschließung Porscha Kaster heißt.“
Ein merkwürdiges Gefühl überkommt mich.
„Warum sollte das selbstverständlich sein? Weil du der Mann bist? Thomas Kanz hört sich in meinen Ohren auch ganz gut an.“ Offensichtlich rutschen wir von einem schwierigen Gesprächsthema in das Nächste, und ganz offensichtlich hat mein Zukünftiger das Bedürfnis, den Macho raushängen zu lassen.
„No way! Nein danke.“ Thomas steht auf und schlägt sich den Sand von der Hose. „Solltest du meinen Namen nicht annehmen wollen, kannst du dich gern für einen Doppelnamen entscheiden“, sagt er in einem angefressenen Tonfall, der mir eine Gänsehaut beschert. „Meinen Nachnamen werde ich definitiv behalten.“ Sein Blick ruft klar und deutlich: Fall erledigt.
„Porscha Kanz-Kaster?“, spreche ich es laut aus, um den Klang nachzufühlen. Wie blöd hört sich das denn bitte an? Was für ein dämlicher Zungenbrecher. So möchte ich ganz bestimmt nicht heißen.
„Yep! Kanz-Kaster! Klingt doch gut.“
Schlagartig schießt mir ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf.
„Und unsere Kinder? Wie würden die heißen?“ Niemals hätte ich gedacht, dass wir darüber streiten würden.
„Zweifelsohne müssten sie Kaster mit Nachnamen heißen, egal, für welche Variante du dich entscheidest.“ Thomas wirkt beunruhigt. Sorge kombiniert mit Alarmbereitschaft lassen seine sonst so weichen Gesichtszüge hart und unnachgiebig erscheinen. „Das sollte von vorneherein klar und keine Frage sein.“
Ernüchtert und mit gesenktem Kopf trete ich aus dem Wasser in den Sand und lasse meinen Rock fallen. Dass der Saum komplett durchnässt ist, stört mich nicht im Geringsten.
Die Stimmung ist ruiniert, und ich bin daran nicht ganz unschuldig. Warum bin ich nicht anders? Für einen empfindsamen und oft verletzten Menschen wie Thomas, ist es eine Herausforderung unter einer herrischen Person wie mir zu arbeiten. Es fällt ihm unglaublich schwer. Da ist es nur verständlich, dass er wenigstens in der Ehe die Hosen anhaben will. Wenn ich nicht umgehend lerne, feinfühliger an bestimmte Themen heranzugehen, werden wir in unserer Beziehung nicht sehr weit kommen. Wo ist meine Kompromissbereitschaft, für die ich in der Firma bekannt bin?
„Lass uns zum Hotel zurück gehen und an der Bar etwas trinken. Es ist eindeutig zu früh, um über die Namen unserer Kinder nachzudenken. Wir sind schließlich nicht mal verheiratet.“
Die Luft um uns herum scheint sich aufzulockern. Sogar eine leichte Brise kommt auf und weht mir ins Gesicht.
„Kluge Frau. Du bist äußerst scharfsinnig.“ Thomas streckt die Hand aus und ich ergreife sie. „Was hältst du von einem Cocktail im Hotel, an der Bar? Einen Sex on the Beach?“
„Ausgezeichnete Idee.“ Die Vorfreude auf ein wenig Alkohol und Zerstreuung lässt die Gedanken an Nachnamen und Uneinigkeit verschwinden. Sobald ich vollends im Urlaubsmodus angekommen bin, werden die kleinen Streitereien Geschichte sein. Ich bin zuversichtlich. In zwei bis drei Tagen müsste es so weit sein.