Leseprobe Highland Stars

Kapitel 1

Amy hatte die Scones mit Erdbeermarmelade und Clotted Cream bestrichen und säuberlich auf dem Teller platziert. Der Duft des gebackenen Teiges hing in der Luft, aber Colin schien nichts davon wahrzunehmen. Er knetete seine Hände und starrte die meiste Zeit auf die Bücher über Didaktik und englische Literatur, die auf dem Küchentresen lagen.

Schweigend stellte Amy die beiden Porzellantassen auf den Tisch. Sie war viel zu glücklich, um sich über sein Verhalten Gedanken zu machen. Immerhin hatte sie die letzten Prüfungen für dieses Semester bestanden und freute sich auf einen gemeinsamen Sommer mit Colin. »Ich habe da eine nette Finca in Spanien gesehen, direkt am Meer. Was hältst du davon?« Während sie sprach, nahm sie den Teebeutel aus der Kanne und legte ihn auf einem kleinen Teller ab.

Colin schreckte auf und lächelte verkrampft. »Hm?«

»Spanien? Diesen Sommer?« Ihre Stimme klang zu hoch, so sehr versuchte sie, Fröhlichkeit zu demonstrieren.

Colin richtete sich auf. Er zupfte am Kragen seines karierten Hemdes, das Amy ihm letztes Jahr geschenkt hatte. »Ich weiß nicht, ob das die beste Idee ist.«

Amy griff nach der Kanne und goss Tee in seine Tasse. »Was würdest du denn vorschlagen?«, fragte sie in beiläufigem Ton.

»Nun, also …« Er rieb sich den Nacken.

Etwas an seinem Tonfall gefiel ihr nicht. Ihre Hände zitterten. Ein, zwei Tropfen Tee landeten auf dem Untersetzer. Amy hob die Kanne rasch an.

»Vielleicht wäre es besser, wenn …«

Sie brachte es nicht über sich, Colin anzusehen. Stattdessen goss sie Tee in ihre Tasse und hob eine Augenbraue. »Ja?«

»Ich glaube, das mit uns beiden funktioniert nicht länger.«

Das Zittern ihrer Hände übertrug sich mit einem Schlag auf ihren Körper. »Bitte was?«

Colin trommelte mit seinen Fingern auf dem Tisch herum und rückte ein Stück mit dem Stuhl weg. »Wir können nicht länger zusammen sein. Ich habe mich … verliebt. In eine andere Frau«, fügte er unnötigerweise hinzu.

Obwohl die Sonne durch die schrägen Dachfenster hereinschien, wurde Amy plötzlich kalt. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder.

»Der Tee!« Colin streckte ruckartig die Hand vor.

»Was zur Hölle willst du mit dem …« Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie nach wie vor Tee in ihre Tasse goss, die längst überging. Die Flüssigkeit lief über die Tischkante auf den Teppich, wo sie dunkle Flecken hinterließ. »Verdammt.« Amy stellte die Kanne mit einem Scheppern ab.

Binnen Sekunden kniete sie am Boden und betupfte hektisch die Teeflecken mit Küchenpapier. In ihrem Hinterkopf hallten Colins Worte nach. Sie analysierte verzweifelt jede Silbe, fand allerdings keinen Hinweis darauf, dass sie etwas falsch verstanden hatte.

»Könntest du das bitte lassen und mit mir reden?« Colins Stimme drang zäh zu ihr durch.

Auf einmal wurde Amy schwindlig. »Das ist echte Schafwolle«, fauchte sie, ohne ihn anzusehen. »Der Teppich hat mehr gekostet, als du im Monat verdienst!« Es war unfair, ihn darauf hinzuweisen, das wusste sie. Trotzdem rutschten ihr die Worte heraus.

Colin ließ sich davon nicht beeindrucken. Er hockte sich neben sie und griff nach ihren Händen, die sie ihm sofort wieder entzog. »Ich wollte dir nicht wehtun, Amy. Deswegen habe ich bisher nichts gesagt.«

Nun hielt sie doch inne, presste die Lippen fest aufeinander. Was sollte sie darauf erwidern? Sie suchte nach einer Formulierung, die nicht gespickt war mit Schimpfwörtern und Verwünschungen und die trotzdem ihre Gefühle zum Ausdruck brachte.

Während sie überlegte, ertönte die Melodie von Elton Johns I’m Still Standing auf ihrem Handy. Amy reagierte nicht darauf, sondern starrte die Flecken an. Deswegen habe ich bisher nichts gesagt. Ihr wurde bewusst, was sie an dieser Aussage störte. »Mit ›bisher‹ meinst du was genau?« Sie musste es aus seinem Mund hören.

Erneut tastete Colin zögerlich nach ihren Händen. Seine Finger waren nun kälter als die ihren. »Mir ist schon länger klar, dass wir nicht für immer zusammen sein werden.«

»Ach ja?« Amys Unterlippe zitterte, aber sie schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. »Das hättest du ruhig früher erwähnen können.«

Ihr Handy verstummte. Als wäre dies ein Zeichen für Colin aufzubrechen, ließ er ihre Hand los. Die Geste besaß etwas Endgültiges. Colin würde sie nie wieder berühren. Vereinzelt liefen Tränen über ihre Wangen, die sie hastig wegwischte.

»Ich wollte dir wirklich nicht wehtun«, flüsterte er kaum hörbar. »Aber ich will dir auch nichts mehr vormachen.«

Amy biss sich auf die Innenseite ihrer Wange. Sie sah zu den gerahmten Fotos, die auf der Kommode standen: Schnappschüsse von ihrem Wochenendausflug nach Kopenhagen, Weihnachten vor zwei Jahren, ihre strahlenden Gesichter. Wohin war diese Zeit auf einmal verschwunden?

»Bitte sag etwas.«

Erst als sie seine Stimme hörte, wurde ihr bewusst, dass sie viel zu lange geschwiegen hatte. Die nächsten Worte lagen ihr auf der Zunge, dennoch zögerte sie den Augenblick hinaus, sie tatsächlich auszusprechen. Stattdessen stand sie schwerfällig auf und legte eine Schicht Küchenpapier auf den Tisch, die sich sofort mit Tee vollsaugte.

»Amy?«

»Pack deine Sachen.« Sie war überrascht von der Härte in ihrer Stimme. Gleichzeitig wusste sie, wenn sie mehr Emotionen zuließ, würden sich diese durch ihre Gedanken fressen und sie unter ihre Kontrolle bringen. Bloß keine Gefühle zeigen. Keinesfalls durfte sie länger Amy Fitzgerald sein. Sie musste zu jemandem werden, der stärker war als Amy. »Ich will dich nie wieder sehen.« Sie krallte die Finger in das nasse Küchenpapier.

Kurz darauf hörte sie, wie Colin einen Koffer vom Schlafzimmerschrank hievte. Das Geräusch der Kofferrollen auf dem Parkettboden ließ ihren Magen zusammenkrampfen.

Amy sah auf die unberührten Teetassen. Sollte sie sie stehen lassen oder in den Geschirrspüler stellen? Diese Entscheidung erschien so viel schwieriger als jene vor einigen Jahren, ob sie lieber bei ihrem Vater oder ihrer Mutter wohnen wollte. Dann kam das Klappern der Kleiderbügel, gefolgt vom Öffnen und Schließen der Schranktüren und Schubladen, was ihre Gedanken weiter ausbremste.

Ihr Handy klingelte erneut. Erleichtert darüber, sich nicht länger mit den Tassen beschäftigen zu müssen, sah sie auf das Display.

Es war Samantha. Amys Schultern sanken kaum merklich herab. Auf ein Gespräch mit ihrer Halbschwester konnte sie schon unter normalen Umständen verzichten.

Sie lehnte den Anruf ab.

Kapitel 2

Der laute Bass vibrierte in ihrem Körper. Bunte Lichter flogen über die Tanzfläche. Es roch nach Alkohol, Schweiß und teurem Parfüm.

Amy sprang im Takt der Musik auf und ab und streckte dabei die Arme in die Höhe. Einmal wäre sie fast mit ihren High Heels ausgerutscht, hatte aber im letzten Moment das Gleichgewicht wiedergefunden.

Aus den Augenwinkeln sah sie Chloe auf sich zukommen, die in ihrem Glitzertop wie eine Discokugel schillerte. Dicht hinter ihr drängte sich Eliza durch die Menge, deren Auftritt in den weiten Jeans und Turnschuhen nicht halb so auffällig ausfiel.

Amy umarmte ihre beiden Freundinnen überschwänglich und drückte ihnen Küsschen auf die Wangen. »Ich dachte schon, ich würde euch nie wieder sehen.« Ihre Zunge fühlte sich schwer an, weshalb es nicht so einfach war, die Worte deutlich zu formulieren.

»Es ist spät!«, schrie Eliza über die Musik hinweg. »Wir sollten langsam gehen. Morgen ist Uni.«

Amy schüttelte entschieden den Kopf, wodurch ihr schwindlig wurde. Sie schwankte gefährlich in den hohen Schuhen. Chloe und Eliza hielten sie an den Armen fest. Die beiden tauschten einen Blick aus, der Amy nicht verborgen blieb und der sie ärgerte.

Sie fand ihren Halt wieder und strich sich einzelne Haarsträhnen aus dem Gesicht. Mittlerweile trug sie ihr Haar kürzer als vor einem Jahr, als sich Colin von ihr getrennt hatte. Für einen Moment sah sie die beiden Teetassen vor sich, ohne zu wissen, was sie damit anstellen sollte. Rasch verdrängte sie die Erinnerung genauso schnell, wie sie gekommen war. Darin hatte sie inzwischen Übung.

»Alles in Ordnung mit dir?« Chloe tätschelte ihr die Wange und sah sie besorgt an. »Ich glaube, du hattest genug für heute. Lass uns gehen.«

Amy machte einen Schritt zurück und schüttelte vehement den Kopf. »Ich hab’s euch schon gesagt: Ich geh nicht mehr auf die Uni.« Sie hatte sich die letzten beiden Semester durchgekämpft und lediglich knapp die Hälfte ihrer Kurse bestanden. Nachdem Colin die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, war ihr Leben aus der Bahn geraten.

Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, rempelte sie jemand an. Amy verzog das Gesicht. »Hey, pass auf, wo du hintrittst.«

Ihr Gegenüber setzte zu einer Bemerkung an, schloss den Mund aber gleich darauf. Er musterte Amy und wackelte dabei mit dem Kopf hin und her. Dann riss er die Augen auf. »Du bist ja …« Er fuhr herum und winkte mit fahrigen Bewegungen einen Freund heran. »Alter, komm schnell! Das ist Amy Fitzgerald.« Er sah wieder zu ihr und schwankte ein, zwei Schritte näher auf sie zu. Diese Reaktion rief Amy öfter hervor. Vor allem, wenn sie sich in jenen Londoner Clubs aufhielt, die bevorzugt von der hiesigen Theater- und Opernwelt aufgesucht wurden. »Du bist Amy Fitzgerald.«

Chloe schob ihn zurück. »Hau ab.«

Währenddessen hakte sich Eliza bei Amy unter, um sie von der Tanzfläche zu führen. Amy entzog sich ihr und stellte sich direkt vor den Typen. »Ich war Amy Fitzgerald. Bis vor einem Jahr.« Sie fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Jetzt bin ich’s nicht mehr. Klar?«

Der Fremde sah sie verwirrt an.

Sein Freund stand inzwischen neben ihm. Er zückte sein Handy und filmte Amy, die sich in unzusammenhängenden Erläuterungen darüber verlor, dass sie ihre Zeit nun genieße und keine so furchtbare Spießerin mehr sei. Dieser neue Lebensstil äußerte sich insbesondere dadurch, dass sie in den vergangenen Monaten vermehrt von der Presse in Clubs gesichtet worden war. Ein einziges Mal hatte sie ihr Shirt auf der Tanzfläche ausgezogen. Das hatte allerdings genügt, um von da an regelmäßig in die Schlagzeilen der Yellow Press zu gelangen. Immerhin standen Amys ausgelassene Partys im krassen Gegensatz zu dem, was ihre Eltern repräsentierten: nämlich Seriosität, hervorragende Leistungen und Diskretion. Die Sun hatte Amy einmal als »weiblichen Prinz Harry des Theaters« bezeichnet. Der Artikel hing nun eingerahmt in ihrem Wohnzimmer.

Chloe brummte frustriert. »Nicht schon wieder.« Sie näherte sich dem Kerl mit der Kamera. »Lösch das verdammte Video auf der Stelle, sonst …«

Er grinste sie breit an und hob das Handy etwas höher. »Sonst was?«

Einen Wimpernschlag später packte Chloe sein Handgelenk und verdrehte ihm den Arm so, dass ihm das Handy aus den Fingern glitt. Eliza bückte sich danach, tippte rasch darauf herum und gab es ihm mit einem freundlichen Lächeln zurück. »Hast du fallen lassen.«

Dann nahmen sie Amy in die Mitte und schoben sie Richtung Ausgang. Die beiden Männer schimpften etwas, das die jungen Frauen unter dem schneller werdenden Beat nicht verstanden.

»Ich hab’s echt satt, ständig dein Bodyguard sein zu müssen.« Chloes Griff verstärkte sich, als befürchtete sie, Amy könnte jeden Augenblick zurück auf die Tanzfläche stürmen.

»Dann lass es sein. Ich komm schon allein klar«, erwiderte Amy trotzig und stolperte keine Sekunde später über eine Stufe, die ins Foyer führte.

Chloe zog die Lippen zusammen. »Ja, natürlich.«

»Du hast dich in den letzten Monaten echt verändert.«

Amy grinste Eliza breit an. »Danke.«

Eliza schüttelte den Kopf und ging zur Garderobe, wo sie ihre Jacken abholte. Die Dame hinter dem Tresen sah neugierig zu Amy, dann wieder zu Eliza. »Soll ich Ihnen ein Taxi rufen, Ms. Williams?« Elizas Mutter war in der Theaterszene eine beliebte Maskenbildnerin und hatte bereits mit Amys Eltern zusammengearbeitet.

»Nicht nötig!«, rief Amy viel zu laut. »Ich bleibe hier. Es ist erst«, sie sah sich um, aber zwischen den Plakaten, die bevorstehende Veranstaltungen ankündigten, entdeckte sie keine Uhr. »Wie spät ist es?«

»Halb zwei, Ms. Fitzgerald«, antwortete die Garderobiere. Sie reichte Eliza die Jacken und räusperte sich dann. »Könnte ich vielleicht ein Autogramm bekommen?« Ihre Wangen liefen rot an.

»Klar!« Amy löste sich von Chloe.

»Wenn wir dich allein hierlassen, landest du morgen wieder in der Klatschpresse.«

Als Antwort zuckte Amy mit den Schultern und griff nach Kugelschreiber und Block, die ihr die Garderobiere hinlegte. »Wie heißen Sie?«, fragte Amy.

»Sheila, Ms. Fitzgerald.« Ihre Augen glänzten vor Freude. »Ich bin ein … großer Fan.«

»Für Sheila«, sagte Amy langsam. »Die beste Garderoben-Dame der Welt.« Darunter setzte sie eine schwungvolle Unterschrift.

Sheila nahm den Block und drückte ihn an die Brust. Sie strahlte, als hätte sie soeben den Jackpot im Lotto geknackt. »Stimmt es, dass Sie Schauspielerin werden?«, fragte sie außer Atem. »Ich weiß ja, dass man nicht alles glauben darf, was in der Presse steht, aber …«

Amy tätschelte ihren Unterarm. »Die Gerüchte sind wahr. Ich werde mich an der Royal Academy of Dramatic Art einschreiben.« Im Frühjahr hatte sie ein Bewerbungsvideo an die Academy geschickt. Darin hatte sie eine Stelle von Shakespeares ›Viel Lärm um nichts‹ und aus ›Hamlet‹ vorgetragen sowie einen Ausschnitt aus ›Peter Pan‹ von James Matthew Barrie. Die Aufgabe war ihr überraschend leichtgefallen. Ein weiterer Beweis dafür, dass sie für die Schauspielerei gemacht schien. Chloe hatte gemeint, es läge daran, dass ihre Eltern aus der Opern- und Theaterbranche kamen. Amy hatte deswegen ein Gespür für die richtige Betonung und Pausen an den passenden Stellen mitbekommen. Für Amy lief das auf dasselbe hinaus: Sie gehörte ins Rampenlicht.

Sheila nickte mit ernstem Gesicht, als hätte sie ihren Gedanken erraten. »Der Stern am Walk of Fame ist Ihnen sicher. Davon bin ich überzeugt.«

»Die einzigen Sterne, die sie jemals sehen wird, sind die, wenn sie morgens mit einem Kater aufwacht«, meinte Chloe spitz zu Eliza.

Amy fuhr herum und hätte dabei fast Sheilas Trinkgeld-Kasse vom Tresen gestoßen. Ihr war auf einmal unerträglich heiß.

Chloe sah Amy herausfordernd an und wartete auf eine Erwiderung. Eliza starrte hingegen auf ein Plakat, das eine Modenschau im Club ankündigte. Sie mochte es nicht, wenn Amy und Chloe stritten. Ein Umstand, der in den vergangenen Monaten viel zu häufig vorgekommen war. Beides war Amy trotz ihres Schwipses allzu deutlich bewusst. Deshalb beschränkte sie sich auf ein Schnauben und ging dann entschlossen an ihren Freundinnen vorbei.

»Wir sehen uns morgen im Kurs, oder?«, rief Eliza ihr hinterher.

Amy erwiderte nichts darauf, sondern ließ sich erneut vom Bass und dem schummrigen Licht einhüllen.

 

Der Morgen graute, als Amy den Club verließ. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, ihre Füße schmerzten in den Schuhen und sie verspürte einen unglaublichen Heißhunger auf Burger mit Pommes. Es gab kaum einen Moment, in dem sie sich glücklicher fühlte.

Sie winkte den drei Studenten zu, deren Namen sie zwar nicht kannte, aber mit denen sie die letzten Stunden gefeiert hatte. Dann klopfte sie dem breitschultrigen Türsteher auf den Rücken, der mit einem Kaffeebecher vor dem Eingang stand. »Diesen Freitag? Selbe Uhrzeit?«, fragte sie.

Er grunzte amüsiert. »Ich bin da.«

Amy ging die Straße hinunter. Obwohl sie sich mitten in der Innenstadt befand, blieb es für Londoner Verhältnisse ruhig. So früh waren hauptsächlich Liefer- und Postwagen, Fahrradkuriere und Taxis unterwegs. Der fischige Geruch der Themse stieg ihr in die Nase und erinnerte sie an das Meer und die Freiheit, was ein freudiges Kribbeln in ihr auslöste.

Sie bog in eine Seitengasse, wo sie ihren Wagen geparkt hatte. Genaugenommen gehörte der Jaguar ihrer Mutter. Amy hatte ihn sich unwissentlich ausgeliehen. Beatrice Fitzgerald war über das Wochenende nach St. Andrews gefahren, um sich dort von ihren letzten Auftritten zu erholen. Was ihre Mutter an dem kalten und verregneten Schottland fand, blieb Amy jedoch ein Rätsel.

Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel und drückte auf dessen Knopf, woraufhin die Lichter des Jaguars kurz aufblinkten.

Im Wagen war es warm und stickig. Amy ließ die Seitenfenster herunter, sodass die kühle Morgenluft ins Innere strömte. Dann drehte sie den Schlüssel im Zündschloss herum. Sofort ertönte das Radio in einer Lautstärke, bei der Amys Kopf zu zerspringen drohte. Rasch schaltete sie es aus.

Sie rieb sich über die Stirn und atmete hörbar aus. »Mann.«

Einen Atemzug später entfuhr ihr ein leiser Schrei. Hatte sich da im Rückspiegel etwas bewegt? Hastig drehte sie sich zur Rückbank, wo sich nichts weiter befand als die Turnschuhe ihrer Mutter, die sie ausschließlich zum Autofahren benutzte.

Durch die Heckscheibe erkannte sie einen schwarzen Peugeot, der hinter ihr parkte. Sie entdeckte aber keinen Fahrer. Amy legte für einen Moment die Stirn auf das Lenkrad. »Du siehst schon Gespenster«, murmelte sie. »Vielleicht solltest du das nächste Mal wirklich auf Chloe …« Oh nein, sie würde diesen Gedanken nicht laut aussprechen.

Sie fuhr los.

Amy fädelte sich in den Verkehr Richtung Richmond ein. Vor der Scheidung hatte sie dort mit ihren Eltern gelebt. Und mit Samantha. Inzwischen wohnte ihre Mutter allein in dem Haus, das Amys Großeltern in den Siebzigerjahren gekauft hatten.

Als sie die Abzweigung nahm, fiel ihr erneut ein schwarzer Peugeot auf. Sie runzelte die Stirn und konzentrierte sich so sehr auf den Wagen, dass sie einmal zu weit nach links steuerte und beinahe auf dem Feldweg gelandet wäre.

»Schau nach vorne, wenn du diese Fahrt überleben willst«, ermahnte sie sich. Inzwischen quälten sie Kopfschmerzen und sie sehnte sich nach den weichen Kissen ihres Bettes. Das monotone Summen des Motors trug auch nicht dazu bei, dass sie sich wacher fühlte.

Amy schaltete das Radio ein und zuckte zusammen, als der Nachrichtensprecher in unerträglicher Lautstärke das heutige Wetter ankündigte. Sie drehte den Regler zurück und wählte die Playlist aus, die ihre Mutter zuletzt gehört hatte. Gleich darauf erklang Sempre Libera aus ›La Traviata‹, eine Arie am Ende des ersten Aktes. Es war das Lieblingslied ihrer Mutter. Insbesondere, weil Beatrice Fitzgerald vor Jahren die Hauptrolle in dieser Oper gespielt hatte und diese der Durchbruch ihrer Karriere gewesen war. Seitdem war Beatrice und alles, was sie tat, für die regionale Presse interessant.

›La Traviata‹ war auch das Stück, bei dem sich Amys Eltern kennengelernt hatten. Aleister Fitzgerald hatte damals Regie geführt. Amys Eltern galten als das Traumpaar des Theaters, und nach Amys Geburt schien das Glück der Familie komplett gewesen zu sein.

Amy drehte den Ton etwas leiser, als die Arie ihren Höhepunkt erreichte. Das gesangliche Talent ihrer Mutter hatte sie nicht geerbt. In ihrem Bewerbungsvideo für die RADA hatte sie neben den Theaterstücken auch einen Song vortragen müssen. Zur Vorbereitung hatte sie dafür extra Stunden bei einer pensionierten Gesangslehrerin genommen, die früher mit ihren Eltern zusammengearbeitet hatte. Mit ihrer Hilfe war es ihr immerhin gelungen, den Refrain von Ain’t No Sunshine von Bill Withers passabel hinzubekommen.

Amy lauschte den vertrauten Klängen und fragte sich nicht zum ersten Mal, was zwischen ihren Eltern schiefgelaufen war. Die Antwort darauf folgte sofort: Amy sah die junge Samantha, wie sie vor ihrer Haustür stand, die Hand ihrer Mutter fest umklammert. Noch so eine Erinnerung, die Amy bevorzugt verdrängte.

Sie passierte das Ortsschild und blickte erneut in den Rückspiegel. Der schwarze Peugeot folgte ihr nach wie vor. »Was willst du von mir?«, murmelte sie und bog abrupt in eine Seitenstraße ab. Mit klopfenden Herzen schaute sie zurück. Der Wagen tauchte wieder auf. Sie glaubte, das Blitzlicht einer Kamera zu erkennen.

Amy seufzte und strich sich mit einer Hand über die müden Augen. »Verdammt.«

Wenn ihre Mutter erfuhr, dass sie die Presse zu ihrem Haus geführt hatte, konnte sie sich erneut eine Predigt über ihr falsches Verhalten anhören. Sie musste den Typen abhängen. Sobald sie den Jaguar in der Garage geparkt hatte, würde er sie nicht mehr finden. In Richmond verlor man als Außenstehender schnell die Orientierung. Rote Backsteinhäuser reihten sich aneinander, in der Auffahrt schien stets derselbe Geländewagen zu stehen und die Gärten waren bis zur Perfektion gepflegt.

Amy drückte aufs Gas und bog willkürlich nach links und rechts ab. Ihr Blick huschte regelmäßig zum Rückspiegel. Der Peugeot fiel allmählich zurück, war aber weiterhin dicht an ihr dran.

Sie beschleunigte weiter. Eine Kurve nahm sie zu schnell. Der Wagen holperte über den Bordstein und warf eine Mülltonne um. Amy schrie auf, riss das Lenkrad herum und brachte den Jaguar knapp wieder unter Kontrolle. Sie war inzwischen fast beim Haus ihrer Mutter angekommen. Erneut sah sie in den Rückspiegel und bemerkte ihr kreidebleiches Gesicht. Der Peugeot war immerhin verschwunden. Amy jubelte und trommelte auf das Lenkrad.

Erst in diesem Moment sah sie nach vorne und sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. Eine Katze lief wenige Meter vor ihr über die Straße. Sie schrie wieder auf, bremste und lenkte den Wagen gleichzeitig zur Seite.

Dann krachte es und der Airbag knallte gegen Amys Brust.