1 Hinfallen
»Ehrlich, Saskia, so geht das nicht weiter!«
Meike schüttelte missbilligend den Kopf, nachdem sie den Zustand meiner Wohnung mit einem erschrockenen Blick erfasst hatte. Auch meine ausgeleierte Jogginghose und der Pulli, auf dem zugegebenermaßen der eine oder andere Fleck zu sehen war, entging ihr natürlich nicht.
»Du musst dich jetzt um deine Sachen kümmern, du kannst doch hier nicht den ganzen Tag auf der Couch herumlungern«, fügte sie vorwurfsvoll hinzu. Sie seufzte demonstrativ und begann, die herumliegenden Pizzakartons und die leeren Gläser einzusammeln, die sich innerhalb von nur wenigen Tagen auf dem Couchtisch und überall auf dem Boden um die Couch herum angesammelt hatten. Ich sah hilflos zu, wie sie mit angewidertem Blick noch einige Pizzareste aus den Kartons entfernte, bevor sie sie für den Altpapiercontainer unten vor dem Haus aufstapelte. Sie rümpfte die Nase, trug den Stapel zur Haustür und lud ihn dort ab, um ihn später mitzunehmen. Als nächstes riss sie die Fenster auf und wischte den Couchtisch ab. Ich blieb in sicherer Entfernung auf der Couch, die Hände in den Schoß gelegt, und sah zu. Es war erst eine Woche her und mir ging es miserabel.
»Saskia, ich kann dich gut verstehen. Natürlich geht es einem nicht gut nach so einem Vorfall«, setzte Meike an. ›Vorfall‹ nennt man das also, dachte ich bitter.
»Aber du musst unbedingt darüber reden. Am besten mit Olli. Ihr müsst das klären, ich meine, in drei Monaten steht eure Hochzeit an!« Ich sah sie an.
»Ja, und? Was kann ich dafür? Habe ich mich mit einem Kollegen auf meinem Schreibtisch vergnügt? Nein, habe ich nicht!«, rief ich trotzig. »Ich meine, was denkt der sich dabei? Ich probiere mich durch dutzende Brautkleider und telefoniere etliche Locations ab, um für uns die perfekte Hochzeit zu planen und was macht er? Legt meine Freundin flach!« Bei diesen Worten bahnten sich ein paar Tränen ihren Weg über meine Wangen, wie schon so oft in den letzten Tagen. Ich versuchte gar nicht erst, sie aufzuhalten. Meike bemerkte es und ihr Blick wurde sofort milder. Sie ließ den Wischlappen, mit dem sie gerade die Staubschichten von meinen Möbeln entfernte, auf dem Sideboard liegen und kam zu mir herüber. Sie setzte sich neben mich auf die Couch und legte ihren Arm um mich.
»Du hast ja recht, Saskia. So etwas macht man nicht. Das geht einfach gar nicht.«
Eine Weile saßen wir so da, bis ich schließlich die Frage laut stellte, die mir die ganze Zeit schon durch den Kopf ging: »Und warum zum Teufel macht er es dann?«
»Ich weiß es nicht, ich verstehe es auch nicht«, antwortete sie leise.
Meike war hier in Hamburg eine meiner besten Freundinnen geworden, sie wohnte im gleichen Hauseingang wie ich und hatte die Wohnung direkt über mir. Sehr schnell hatten wir uns angefreundet und verbrachten immer mehr Zeit miteinander. Mit ihr und Sandy war ich oft abends unterwegs und wir drei verstanden uns prächtig. Bis Sandy das Schlimmste tat, das man einer Freundin antun konnte.
Meike blieb den ganzen Tag bei mir, richtete meine Wohnung einigermaßen wieder her und nebenbei tat sie ihr Bestes, das Gleiche auch mit meiner Seele zu tun. Aber das würde wohl mehr Zeit brauchen, da war es nicht getan mit Müll rausbringen oder Lüften.
3 Aufstehen
Am nächsten Morgen schrillte unbarmherzig der Wecker. Kurz war ich in Versuchung, mich einfach weiter krankzumelden, aber das ließ sich leider nicht ewig durchziehen.
Ich konnte genauso gut auch gleich wieder ins Büro gehen, denn der Tag, an dem ich Olli, Sandy und den anderen Kollegen wieder unter die Augen treten musste, würde sowieso kommen. Und wie sah das denn aus, die Betrogene macht ausgiebig krank - die Kollegen würden sowieso schon tuscheln. Außerdem wusste ich, je länger ich wartete, desto schlimmer würde es werden. Es würde mich immer mehr Überwindung kosten. Ich wollte es also lieber gleich hinter mich bringen. Unglücklich sein konnte ich auch in meinem Büro. Ich würde einfach die Tür schließen und vor mich hinarbeiten. Natürlich wusste ich, dass ich mich auch irgendwann in näherer Zukunft mit meiner Beziehung und mit der anstehenden Hochzeit befassen musste, das war mir klar. Aber noch war ich nicht bereit dazu.
Ich musste jetzt erst mal die nächsten Tage überstehen. Das würde schwer genug werden. Mein Verlobter und eine meiner besten Freundinnen. Das war einfach hart, so etwas steckte niemand so einfach weg. Und beide würde ich mit Sicherheit gleich im Büro antreffen. Sandy konnte ich einigermaßen ignorieren, ich würde ihre Arbeit einfach selbst machen, wie sonst auch meistens. Aber Olli konnte ich nicht so leicht aus dem Weg gehen. Er war immerhin mein Abteilungsleiter und ich arbeitete ihm zu. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie das gleich ablaufen würde. Sandy würde sicher versuchen, mit mir zu reden. Unter den Argusaugen der Kollegen, die hier erstklassigen Bürotratsch wittern würden, wollte ich das auf keinen Fall. Und Lust dazu hatte ich sowieso nicht, was änderte es noch? Das alles war bereits passiert und mein Vertrauen mehr als erschüttert. Das ließ sich nicht einfach durch Reden wieder reparieren. Und Olli? Wie würde Olli sich verhalten? Wir mussten früher oder später reden, wir waren doch trotz allem noch ein Paar. Und bald ein Ehepaar. Oder?
Aber wieso war das mit Sandy überhaupt passiert? War es einfach ein spontaner Fehltritt gewesen oder war ich ihm zu langweilig geworden? Vor nicht einmal ganz einem Jahr hatte er mir doch gerade erst den Heiratsantrag gemacht, das konnte ich mir also nicht vorstellen. Oder hatte Sandy es etwa darauf angelegt? Sie sah extrem gut aus, das musste ich zugeben. Wenn sie einen Mann um den Finger wickeln wollte, konnte sie das bestimmt schaffen. Aber eigentlich war sie überhaupt nicht so, zumindest dachte ich das bisher. Wie falsch man doch liegen konnte. Ich kochte inzwischen vor Wut, wenn ich an Sandy dachte. Diese blöde Kuh. Von wegen beste Freundin! Das konnte sie sich in Zukunft getrost an den Hut stecken.
Im Bad wusch ich mir das Gesicht mit eiskaltem Wasser, duschte ausgiebig und legte schließlich ein sorgfältiges Make-up auf. Dabei war ich sehr großzügig mit dem Concealer, der meine Augenringe und die geröteten Wangen mehr schlecht als recht kaschierte. Dann suchte ich einen Hosenanzug aus meinem Schrank aus, von dem ich wusste, dass ich gut darin aussah. Die Haare ließ ich offen, weil Olli das mochte. Gleichzeitig fragte ich mich, warum ich mich so aufbrezelte, der Zug war doch sowieso abgefahren, oder etwa nicht? Aber Olli sollte doch wenigstens sehen, was er verpasste! Ich zog mir vor dem großen Spiegel in meinem kleinen Flur noch einmal die Lippen nach, griff nach meiner Tasche und machte mich auf den Weg ins Büro. Im Auto dachte ich darüber nach, wie ich mich verhalten wollte. Ich war mir unsicher, was Olli betraf. Wollte ich die Beziehung retten und ihm noch eine Chance geben, oder war ich zu verletzt? Herz und Kopf stimmten momentan leider in ihrer Antwort nicht überein. Hier war ich gerade etwas ratlos.
Ich war nicht sicher, was ich erwartet hatte. Jedenfalls nicht das, was mich in der Firma erwartete. Schon beim Pförtner unten in der Lobby hatte ich das Gefühl, dass mich alle anstarrten. Tuschelten die beiden Kolleginnen da hinten etwa hinter vorgehaltener Hand? Oder ging meine Fantasie mit mir durch? Schnell eilte ich zum Fahrstuhl und drückte auf den Knopf für den 3. Stock. Er war glücklicherweise leer und als die Türen sich oben wieder öffneten, huschte ich verstohlen über den Flur und rettete mich in mein Büro. Ich schloss die Tür schnell wieder hinter mir und lehnte mich von innen dagegen und versuchte mich zu beruhigen.
Als ich die Augen wieder öffnete, blickte ich direkt in das Gesicht von Olli, der hinter meinem Schreibtisch auf meinem Stuhl saß und mich ruhig anblickte. Ich lief rot an, das war echt peinlich. Dieses Fettnäpfchen hatte ich nicht kommen sehen und war spontan hineingestolpert. Außerdem war ich noch gar nicht bereit, mit ihm zu reden. Aber natürlich musste die Sache geklärt werden. Wie sah das denn aus, ein Abteilungsleiter und seine Angestellte, die sich keines Blickes mehr würdigten. Das wäre sehr unprofessionell. Aber sollten wir hier und jetzt reden? Dieses Gespräch hatte ich mir in einer ungestörten, privaten Atmosphäre vorgestellt, wo man in Ruhe weinen oder ich Olli in Ruhe anschreien konnte, oder was auch immer dazugehörte. Hier war jedenfalls definitiv kein guter Ort dafür, dies war absolut keine Option, zumindest nicht für mich. Aber wie sich herausstellte, war es durchaus eine Option für ihn.
»Hallo Saskia«, begrüßte er mich ungewohnt förmlich. Es klang irgendwie merkwürdig. Emotionslos. Ich fügte mich also, was den Ort anging und wartete auf seine Entschuldigung. Das war das Mindeste. Und dann würde ich ihn bitten, den Rest in Ruhe heute Abend zu bereden, bei ihm oder bei mir zu Hause. Nach der Arbeit konnten wir vielleicht alles wieder ins Reine bringen. Aber ging das überhaupt? Ich war mir da nicht so sicher.
»Saskia, es tut mir leid, dass du das mitansehen musstest«, leitete er seine kleine Rede ein, die er offensichtlich vorbereitet hatte.
Hä? Klar wollte ich nichts lieber, als eine Entschuldigung von ihm hören, aber hätte es nicht eigentlich heißen müssen: »Es tut mir leid, was du gesehen hast« und nicht: »Es tut mir leid, dass du das gesehen hast?« War es nur eine Feinheit in der Grammatik ohne weitere Bedeutung oder hatte er mit Absicht seine Worte so gewählt? Mir wurde ein bisschen übel. Sicher hatte er es nur so dahingesagt, beruhigte ich mich, er hatte es bestimmt anders gemeint. Allerdings war Olli der am wenigsten spontane Mensch, der mir jemals begegnet war, er sagte nie etwas einfach so. Und warum blieb er die ganze Zeit dort hinter meinem Schreibtisch sitzen? Wäre es nicht angebracht, zu mir zu kommen und mich in die Arme zu nehmen, wenn er mich um Verzeihung bat? Aber er blieb weiter dort sitzen, als ob er an meinem Stuhl festgewachsen war.
»Hör zu, das war so nicht geplant. Wir hätten es dir schon längst sagen sollen, dann wären wir jetzt alle nicht in so einer blöden Situation.«
Wie bitte? Was zur Hölle meinte er? Von welchem ›Wir‹ sprach er da gerade? Meine Hände ballten sich unbewusst zu Fäusten, meine Fingernägel krallten sich dabei unangenehm in meine Handflächen. Ich konzentrierte mich auf diesen Schmerz, denn ich fühlte, dass gleich ein weiterer folgen würde. Und der würde mich wesentlich härter treffen. Denn trotz allem hatte ich diesen Schlag nicht kommen sehen und es war keine Zeit mehr, die Deckung hochzunehmen.
»Was meinst du damit?«, presste ich hervor.
»Also, Saskia, da du uns ja nun gesehen hast, sage ich es dir frei heraus, wie es ist. Es ist das Beste, wenn wir uns trennen.« Einfach so sagte er das, und er traf mich damit mitten ins Herz. Ich war mir nicht sicher, was ich erwartet hatte. Aber wie selbstverständlich war ich die ganze Zeit davon ausgegangen, dass sein Abenteuer mit Sandy eine einmalige Sache gewesen war. Und jetzt wurde mir außerdem gerade bewusst, dass ich darauf gehofft hatte, dass wir die Sache wieder hinbekommen würden. Dass ich bereit war, zu verzeihen. Nicht hier und nicht sofort, aber dass ich grundsätzlich dazu bereit war. Er hätte nur den ersten Schritt dazu machen müssen. Niemals hatte ich damit gerechnet, dass er das gar nicht vorhatte. Dass er stattdessen einfach stehen bleiben und dann die Richtung ändern würde. Und dass er sich in Sandy verliebt hatte.
»Das ist doch jetzt nicht dein Ernst!«, ich musste mich beherrschen, um ihn nicht anzuschreien. Immerhin waren wir hier im Büro, so viel nahm ich doch noch wahr.
»Doch, ist es. Hör zu, Sandy und ich, wir wollten es natürlich beide nicht, naja, das kannst du dir ja vorstellen. Und Sandy ist es sehr unangenehm, dass ausgerechnet sie als deine Trauzeugin sich in deinen Verlobten verliebt hat.« Hatte er etwa gerade Mitleid mit Sandy, weil die Arme mir den Bräutigam ausgespannt hatte?
»Und mir ist bewusst, wie ungünstig der Zeitpunkt ist, wegen der Hochzeit und so. Aber das bekommen wir schon hin. Sowas lässt sich stornieren.« Stornieren. Er stornierte mich also aus seinem Leben. Und das zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Merkte er eigentlich, was er da redete? Ich sah ihn an. Wo war der liebevolle Olli, der voller Vorfreude mit mir unsere gemeinsame Zukunft plante? Er war weg, das spürte ich. Und er würde wohl auch nicht wiederkommen. »Saskia?«, fragte er nach, er wollte anscheinend, dass ich dazu auch etwas sagte.
»Ja?«, fragte ich leise zurück, in der letzten Hoffnung, er könne sich doch noch umentschieden haben oder das Ganze könnte sich noch als ein misslungener Scherz entpuppen.
»Also, es ist mir etwas unangenehm, aber die Verträge, die ich dir vorgestern auf den Schreibtisch gelegt hatte, müssen diese Woche fertig werden. Die müssen unbedingt am Freitag noch raus. Das schaffst du doch bestimmt, oder? Ich verlasse mich da ganz auf dich, wie immer.« Ich sah ihn entgeistert an. Wie unsensibel konnte man noch sein. Ich fühlte Wut in mir aufsteigen, und diesmal war es nicht nur Wut auf Sandy, sondern vor allem Wut auf Olli. Ich musste hier raus, bevor ich auf ihn losgehen würde.
Wortlos ließ ich ihn stehen, flüchtete aus meinem Büro und eilte ins Bad, wo ich mich in der spärlichen Privatsphäre einer Toilettenkabine verschanzte und die Tür hinter mir abschloss. Dort weinte ich so lautlos wie möglich vor mich hin.
Mist, ich habe keine Sachen dabei, dachte ich in Anbetracht dessen, wie mein Gesicht gleich aussehen würde. Aber es war sowieso egal. Es war nicht wichtig.
Ich beschloss, mich jetzt hier richtig auszuweinen und dann Zuflucht in meinem Büro zu suchen. Olli würde hoffentlich daraus verschwunden sein, wenn ich zurückkam. Es war alles gesagt und so viel Anstand sollte sogar er besitzen. Nach einer Viertelstunde hatte ich endlich das Gefühl, mich vorerst ausgeweint zu haben und traute mich in den Vorraum, um mir das Gesicht mit kaltem Wasser zu kühlen und vor dem Spiegel zumindest die Spuren zu beseitigen, die die Wimperntusche unter meinen Augen hinterlassen hatte. Gerötete Augen waren eine Sache, aber ich konnte ja schlecht wie ein Waschbär durch die Flure laufen.
Dabei wischte ich leider auch das sorgfältig aufgetragene Make-up herunter und legte mein mitgenommenes Gesicht mit den Rötungen und Augenringen frei. Ich betrachtete mich im Spiegel über dem Waschbecken. Das grelle Licht der Neonröhren ließ wahrscheinlich alles noch schlimmer erscheinen, als es in Wirklichkeit aussah, tröstete ich mich.
Schließlich raffte ich mich auf, verließ das Bad und machte einen schnellen Zwischenstopp in der Küche, um mir eine Cola zu holen. In meinem Büro angekommen stellte ich fest, dass Olli tatsächlich inzwischen gegangen war. Erleichtert ließ ich mich in meinen geliebten Schreibtischstuhl fallen, der aus weichem Leder gearbeitet war und allerlei Schnickschnack wie zum Beispiel verstellbare Armlehnen hatte. Olli hatte ihn mir genehmigt, das war eines meiner Privilegien in seinem Dunstkreis. Jeder hier wusste, wer den Großteil der Arbeit in dieser Abteilung stemmte und keiner sagte etwas, wenn ich mir hin und wieder eine Designerlampe oder einen Sitzsack oder sonstiges ausgefallenes Equipment für mein Büro bestellte. Während ich in Gedanken versunken den Schaumstoff aus der teuren Armlehne puhlte, überlegte ich, meine beste Freundin Svenja anzurufen.
Die letzten beiden Tage war ich dazu noch nicht in der Lage gewesen, aber jetzt sehnte ich mich danach, ihr alles zu erzählen. Und ihren Rat zu hören. Svenja war, neben Sandy und Meike, eine meiner besten Freundinnen und natürlich auch meine Trauzeugin. Da sie wie ich aus meinem Heimatort Westerstrande kam und wir zusammen aufgewachsen waren, war sie auch meine älteste Freundin. Und seit gestern hatte ich sowieso nur noch zwei beste Freundinnen und zwei Trauzeuginnen, stellte ich nüchtern fest. Sandy war definitiv aus beidem raus. Und Trauzeuginnen hatte ich eigentlich gar keine mehr, korrigierte ich mich. Denn ohne eine Hochzeit gab es auch keine Trauzeuginnen.
Svenja wohnte immer noch in Westerstrande, direkt an der Waterkant. Dort in dem kleinen, beschaulichen Ort an der Ostsee hatten wir gemeinsam unsere Kindheit verbracht. Eine sehr glückliche Kindheit in einer wunderschönen Umgebung. Und dort hatten wir gemeinsam geträumt, uns verliebt und alle Geheimnisse miteinander geteilt. Und schließlich hatte ich dort auch meine erste große Liebe gefunden, mit der ich dann auch meine erste große Enttäuschung erlebt hatte.
Und nachdem ich auf diesem Gebiet Schiffbruch erlitten hatte, wollte ich einfach nur noch weg. Ich hatte plötzlich keine Augen mehr für die Schönheit der Umgebung und ich sah plötzlich keinen Sinn mehr darin, in der Nähe meiner Eltern und meiner Freunde zu bleiben. Denn wenn ich dortgeblieben wäre, wäre er mir unweigerlich immer wieder über den Weg gelaufen. Das konnte ich damals nicht ertragen. Und genauso wenig konnte ich den Gedanken ertragen, ihn dort irgendwann mit einer anderen Frau zu sehen. Ihn irgendwann eine Familie gründen zu sehen, zu der ich nicht gehörte. Das alles tat mehr weh als eine räumliche Distanz zu den anderen Menschen, die mir wichtig waren. Ich redete mir gern ein, dass ich jederzeit zurückkehren könnte, wenn ich es wollte. Und dass ich das auch bald tun würde. Sobald mich irgendwann nicht mehr interessierte, was er tat. Aber in dem Moment damals war Westerstrande einfach zu eng für uns beide. Wir waren zu der Zeit gerade im letzten Schuljahr vor dem Abitur und ich meldete mich kurzerhand in Hamburg zum Studium an.
Zuerst hatte ich niemandem davon erzählt, weil ich warten wollte, ob ich überhaupt einen Platz bekommen würde. Bis dahin ignorierte ich einfach den Mann meines Lebens und erzählte nicht einmal Svenja von meinen Plänen.
Als ich dann tatsächlich eine Zusage der Universität in den Händen hielt, hatte ich viel zu lange gewartet. Zu lange gewartet, den Menschen, die mir wichtig waren, rechtzeitig von meinen Plänen zu erzählen. Ich wusste, dass ich sie mit meinem plötzlichen Aufbruch vor den Kopf stieß. Unter anderem meine Eltern und meine beste Freundin Svenja. Aber ich wusste auch, dass sie mich im Grunde verstehen konnten und sie nahmen es mir dann auch nicht übel. Trotzdem konnte ich ihre Enttäuschung spüren. Enttäuschung vor allem darüber, dass ich sie nicht ins Vertrauen gezogen hatte. Und von da an kehrte ich nur noch als Besucherin nach Westerstrande zurück.
Zuerst tat mir der Abstand gut, in erster Linie der Abstand zu Lars, so hieß er. Meine große Liebe. Aber ich ließ auch so viel dort zurück. Meine beste Freundin, meine Eltern und meinen ganzen Freundeskreis. Ich merkte bei jedem meiner Besuche, wie das Leben dort ohne mich weiterging. Nach und nach schliefen Freundschaften ein und ich ließ immer mehr los, stürzte mich in mein Studium und später in meine Arbeit. Und während ich in einem großen Steuerkonzern an meiner Karriere bastelte, lernte ich dort Olli kennen. Olli war in meinen Augen damals die einzig richtige Entscheidung. Ein neuer Mann in meinem Leben, ein neuer Abschnitt. Ich hoffte, endlich mit der Vergangenheit abschließen zu können.
Es war keine Liebe auf den ersten Blick und es war ganz anders als mit Lars. Aber Olli war auch ein ganz anderer Typ als Lars. Er gab immer dem Verstand den Vortritt vor den Emotionen und überlegte sich seine Schritte sorgfältig. Aber genau das strahlte für mich die Sicherheit aus, die ich damals zu brauchen glaubte. Und ich hätte es nicht für möglich gehalten, mich überhaupt noch einmal verlieben zu können, denn nach Lars lag mein Herz im wahrsten Sinne des Wortes in Scherben. Aber mit der Zeit heilte es. Die Risse waren immer noch zu spüren, sie schmerzten ab und zu, wie ein alte Narbe. Aber es heilte und es wurde besser. Ich warf mich Hals über Kopf in die Beziehung mit Olli. Und vergaß alles andere. Verdrängte alles andere.
Ich ließ es lange klingeln, aber Svenja nahm nicht ab. Meine Freundschaft mit ihr hatte alles überdauert, obwohl ich sie wahrscheinlich am meisten von allen verletzt hatte.
Schließlich legte ich enttäuscht auf. Ich zwang mich, einen Blick auf die Unterlagen zu werfen, die vor mir auf dem Schreibtisch lagen. Ich stellte schnell fest, dass es immer noch die gleichen Stapel waren, die schon vorgestern dort gelegen hatten, weder Olli noch Sandy hatten hier irgendetwas angefasst. Wut stieg erneut in mir auf. Sie hatten einfach darauf gehofft, dass ich schnell zurückkommen und die Arbeit doch noch selbst erledigen würde. Das war so abgebrüht! Und es waren eine ganze Menge Unterlagen, die auf ihre Bearbeitung warteten. Vor zwei Tagen war das Zeitfenster dem Stapel noch durchaus angemessen gewesen, jetzt aber drängte die Zeit und es wurde eng. Die Sachen einfach liegen zu lassen war keine Option, grundsätzlich waren sie schließlich meine Arbeit. Ganz unabhängig davon, ob ich gerade mit meinem Vorgesetzten gut konnte oder nicht. Das würde aber ganz sicher einige Überstunden erfordern.
Ich seufzte und startete meinen Computer. Als ich gerade mit der Arbeit anfangen wollte, klingelte mein Handy. Ich warf einen kurzen Blick auf das Display und nahm den Anruf erleichtert entgegen.
»Hey Saskia, was gibts denn?«, kam Svenjas fröhliche Stimme aus dem Telefon. Svenja war fast immer fröhlich, es musste schon etwas wirklich Schlimmes passieren, um ihre Laune zu dämpfen. Sie war eine absolute Optimistin.
»Da bist du ja endlich, gehst du eigentlich gar nicht mehr ans Telefon?«, warf ich meiner besten Freundin vorwurfsvoll meinen Frust an den Kopf.
»Also ehrlich, ich arbeite tagsüber, schon vergessen?« Man hörte ein Lachen.
»Ich arbeite auch«, gab ich eingeschnappt zurück. Kurze Stille.
»Du meinst, du hast gearbeitet, nach allem, was man so hört?«, legte sie, wie es ihre Art war, den Finger direkt in die Wunde. Ich stöhnte innerlich auf. Die Buschtrommeln hatten also schon Westerstrande erreicht! »Du kündigst doch wohl, oder?«, fragte sie und wartete auf eine Antwort. Das war ein ganz neuer Gedanke für mich. Trotz der Ereignisse war mir eine der offensichtlichsten Möglichkeiten noch gar nicht in den Sinn gekommen.
»Äh, darüber habe ich ehrlich gesagt noch gar nicht nachgedacht«, sagte ich und drehte und wendete diese Möglichkeit in meinem Kopf, betrachtete sie von allen Seiten, während ich Svenja weiter zuhörte.
»Hör mal, Saskia, ich mochte den Kerl nicht, das weißt du, aber es tut mir trotzdem sehr leid für dich, ehrlich«, sagte sie gerade. Nicht mögen war noch freundlich ausgedrückt. Svenja hegte von Anfang an eine Abneigung gegen Olli, sie konnte allerdings nicht so genau sagen, warum. Jetzt hatte sie wenigstens einen anständigen Grund. Auch wenn das gerade nicht weiterhalf.
»Ich möchte natürlich, dass du glücklich bist. Wenn du allerdings meinen ehrlichen Rat haben möchtest, dann schlag ihn dir aus dem Kopf. Und kündige so bald wie möglich. Es wird dir nicht guttun, ihn jeden Tag zu sehen und dann auch noch freundlich zu ihm sein zu müssen. Leider ist er ja nun mal dein Boss.«
»So einfach ist das leider nicht«, erklärte ich ihr, »denn wie du weißt, liebe ich ihn immerhin so sehr, dass ich ihn heiraten wollte.« Es trat erneut Stille ein. Dann hörte man Svenja leise, aber sehr deutlich sagen:
»Du hast Lars so sehr geliebt, dass ihr gemeinsam alt werden wolltet. Ich erinnere dich daran, dass dich das damals trotzdem nicht davon abgehalten hat, hier in Westerstrande Hals über Kopf alle Zelte abzubrechen. Und du hast hier wesentlich mehr zurückgelassen als nur einen Verflossenen und eine beste Freundin. Und jetzt willst du allen Ernstes dort im Büro bleiben und mit dem Kerl weiter zusammenarbeiten? Das ist kein Vorwurf, aber ich finde, du solltest noch einmal ernsthaft darüber nachdenken. Lass die Sache sacken und betrachte sie in Ruhe noch einmal neu.« Sie hatte natürlich recht. Und wie. Ich begann zu schluchzen. Und zwischen den Schluchzern erzählte ich Svenja genau, was passiert war. Die Tränen, die ich mühsam in der letzten halben Stunde zurückgehalten hatte, waren wieder da. Unaufhaltsam liefen sie ihren Weg an meinem Gesicht hinunter und tropften von dort auf die Unterlagen auf meinem Schreibtisch. Sie wurden von zahlreichen Schluchzern und hemmungslosem Schniefen begleitet.
»Ach du meine Güte, tickt der noch ganz richtig?«, hörte ich Svenja zwischen den Schluchzern bestürzt fragen. »Den Typen willst du doch wohl nicht mehr heiraten, oder? Saskia, ich kenne dich. Lass es sein, auch wenn er einen auf Versöhnung macht!«
Ich versuchte, mich zusammenzureißen und sagte mit einigermaßen fester Stimme: »Nein, es wird keine Hochzeit geben. Olli hat Schluss gemacht.« Ein Schweigen entstand. Dann hörte man wieder Svenjas leise Stimme: »Sassi, das tut mir ehrlich leid. Das ist unglaublich, was der sich rausnimmt.« Als ich jetzt wieder so genau daran erinnert wurde, was passiert war, meldete sich auch die Wut wieder zurück.
»Wie kommt Sandy überhaupt dazu…«, begann Svenja, die Sandy nur von einigen wenigen Treffen persönlich kannte.
»Das mit Sandy ist Vergangenheit. Ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben. Das viel größere Problem ist Olli. Ich liebe ihn. Und auch, wenn ich gerade echt wütend auf ihn bin, ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen!«, unterbrach ich meine Freundin.
Ein anderer Gedanke kam mir. »Du wusstest doch nichts davon, oder? Ich meine, von der Sache mit ihm und Sandy.«
»Nein«, beruhigte Svenja mich. »Ich bin genauso geschockt wie du!«
Ich war erleichtert. Ich wartete, was sie als nächstes sagen würde. Im Moment tröstete mich nichts wirklich, aber es tat gut, dass Svenja mir zuhörte und ich mich hundertprozentig auf ihre Loyalität verlassen konnte.
»Hör zu, Saskia. Ich wollte sowieso über etwas mit dir reden. Kannst du dir nicht ein paar Tage freinehmen und herkommen? Bitte, es ist wichtig. Und ich bin mir sicher, dass dir ein paar freie Tage guttun werden. Hier kannst du doch auch in Ruhe nachdenken, wahrscheinlich sogar viel besser als in deiner Wohnung.« Ich zögerte, ich wollte mich am liebsten einfach weiter bei mir zu Hause verkriechen.
»Bitte, Saskia, komm doch am Wochenende her, ja?« Ihr schien es sehr wichtig zu sein. Und wer konnte mich besser wieder aufbauen als Svenja, die immer das halb gefüllte Glas sah? Einen Versuch war es wert.
»Na gut, ich komme über das Wochenende. Aber mach dir nicht allzu große Hoffnungen, mit mir ist nicht viel anzufangen. Und man kann mit mir auch nirgendwo hingehen, ich muss dauernd heulen.« Dann fiel mir noch etwas ein. »Kann ich bei euch wohnen? Ich möchte es meinen Eltern erst später erzählen, wenn ich mich etwas gefasst habe.«
»Klar, für dich ist bei uns immer Platz, das weißt du doch!« Dass sie das so sah, wusste ich. Aber ich wollte Dirk, ihrem Freund, nicht auf den Wecker fallen. Ich wusste, dass er hart arbeitete und wollte nicht stören.
»Für Dirk ist es auch okay, er wird sich freuen, dich mal wieder zu sehen«, erriet Svenja meine Gedanken. Und dann fügte sie hinzu: »Und mir ist es wirklich wichtig, Saskia.«
4 Nicht ins Straucheln geraten!
Am nächsten Morgen stand ich früh auf. Ich hatte eine weitere Nacht voller Verzweiflung und Schlaflosigkeit hinter mir.
Wie lange würde das so weitergehen? Ich konnte mich jetzt schon kaum noch konzentrieren und fiel fast um vor Müdigkeit. Aber ich konnte die Gedanken nicht einfach so abschütteln. Der Schock, dass es sich bei Sandy und Olli nicht nur um eine einmalige Sache handelte, saß tief. Wie konnte Olli sich so sicher sein, dass er in Sandy verliebt war? Aber auch wenn nicht, kam es für mich überhaupt in Frage, um ihn zu kämpfen? Einen Seitensprung hätte ich wohl noch verzeihen können, oder? Allerdings schon vor der Hochzeit? Und mit Sandy?
Aber es war auch egal, denn es war ganz offensichtlich mehr zwischen den beiden. So kreisten meine Gedanken immer wieder um dasselbe Thema. Olli. Ich konnte in dieser Sache für mich selbst einfach keinen Entschluss fassen. Meine Gefühle für ihn waren immer noch so stark wie vorher, mein Verstand war allerdings mit Svenja einer Meinung, dass ich die Finger von ihm lassen sollte. Aber wie das so ist, hatten meine Gefühle im Moment die Oberhand. Ich beschloss, noch ein wenig abzuwarten. Abwarten und keine Szene machen, so wollte ich vorgehen. Er wird schon merken, dass er einen Fehler gemacht hat und wieder angekrochen kommen, dachte ich wütend. Und wenn es soweit war, konnte ich es mir immer noch überlegen.
Ich verschwand in meinem kleinen Badezimmer und holte mit Hilfe von Wasser, Seife und dem Inhalt meiner Kosmetiktasche das Beste aus mir heraus, was unter den momentanen Umständen möglich war.
In meinem weinroten Hosenanzug und meinen schwarzen Lederpumps stand ich schließlich zufrieden im Flur vor dem Spiegel und zog mir mit einem passenden Lippenstift wie immer noch einmal die Lippen nach. Und dann fuhr ich mutig ins Büro, fest entschlossen, diesen Tag einfach hinter mich zu bringen. Dort angekommen, stolzierte ich mit erhobenem Kopf am Pförtner vorbei und ignorierte diesmal die anderen Leute in der Lobby einfach. Zielstrebig ging ich auf den Fahrstuhl zu und als die Türen sich öffneten, glitt ich hinein. Heute lasse ich mich nicht unterkriegen, dachte ich trotzig.
Zehn Sekunden später staunte ich darüber, wie schnell sich die Dinge ändern konnten. Der Fahrstuhl legte im 1. Stock einen weiteren Stopp ein und die sich öffnenden Fahrstuhltüren brachten Sandy zum Vorschein. Mir blieb bei ihrem Anblick fast die Luft weg. Sandy sah einfach fantastisch aus. Sie hatte ein figurbetontes Kostüm in knalligem Blau an, das perfekt mit dem Farbton ihrer Augen harmonierte. Ihre schwarzen Haare fielen in lockeren Wellen glänzend über ihre Schultern. Mir war gar nicht aufgefallen, wie lang ihre Haare geworden waren. Ihre Augen leuchteten blau und glücklich und dieses Glück verlieh ihrem Gesicht einen zusätzlichen Schimmer. Was gar nicht nötig war, denn sie hatte einen porzellanähnlichen Teint und ihre Wangen waren rosig. Gekonnt hatte sie ein Rouge aufgetragen, das sie noch frischer wirken ließ. Plötzlich kam mir mein Kostüm schäbig und abgetragen vor und meine Pumps altmodisch. Mein komplettes Selbstbewusstsein verabschiedete sich innerhalb von Sekunden. Sandy zögerte kurz, stieg aber schließlich ein.
»Hallo, Saskia«, sagte sie nur knapp.
Was war das denn? Am Telefon hatte sie sich aber noch ganz anders angehört! Im Laufe des Vormittags stellte sich heraus, dass Sandy sich auf eine neue Taktik verlegt hatte. Sie unternahm keinen Versuch mehr, mit mir zu reden. Und sie ignorierte mich weitestgehend. Unverschämterweise fragte sie auch nicht, ob sie mir die Arbeit, die eigentlich sie zu erledigen hatte, abnehmen sollte.
Was die kann, kann ich schon lange, dachte ich. Ich würde ab sofort nur noch das Nötigste machen und Sandy dann die Sachen einfach auf den Schreibtisch legen. Ich freute mich schon auf die Vorstellung, wie sie mich erschrocken anstarrte. Denn bisher hatte ich ihr immer alles abgenommen und ich war mir sicher, dass sie keine Routine mehr in diesen Dingen hatte. Sie würde lange brauchen, um alles fertigzustellen. Und ansonsten würde ich sie einfach ebenfalls ignorieren. In der Mittagspause blieb ich in meinem Büro sitzen, ich hatte keine Lust, mich in der Kantine ausfragen oder verstohlen anstarren zu lassen. Gerade wollte ich in das Brötchen beißen, das ich mir heute Morgen unten beim Bäcker mitgenommen hatte, als es kurz an meine Bürotür klopfte und Ollis Sekretärin den Kopf reinsteckte.
»Hallo Saskia! Ich soll mal nachfragen, wie weit du mit den Verträgen bist.« Dabei lächelte sie mich freundlich an.
»Sag ihm, ich bin mit meiner Arbeit fast fertig, den Rest findet er dann später bei Sandy. Da fragt er sicher gern persönlich nach«, sagte ich sarkastisch. Kristina war genau im Bilde, da war ich mir sicher.
Ich wollte gerade weiteressen, als sie zum Schreibtisch kam und sich ungefragt auf meinen Besucherstuhl fallen ließ.
»Stimmt es, dass du es nicht wusstest?« Ich ließ das Brötchen sinken.
»Wie meinst du das?« Noch während ich das fragte, war ich mir ziemlich sicher, dass ich die Antwort gar nicht hören wollte.
»Na, dass die beiden schon länger etwas miteinander haben. Es heißt, sie haben es sogar schon auf dem Kopierer gemacht. Hat Sandy wohl selbst erzählt.« Ich starrte sie fassungslos an. So freundlich Kristina auch sonst war, so schonungslos trug sie jeglichen Bürotratsch weiter und legte beim Filtern ihrer Zielpersonen für diese Informationen auch keinerlei Fingerspitzengefühl an den Tag.
Ich wusste, ich würde mich damit als ahnungslos zu erkennen geben und das auch noch vor der größten Tratschtante des Unternehmens, aber ich musste es einfach fragen.
»Bist du sicher? Ich meine, dass die Affäre zwischen den beiden schon so lange geht?«
»Naja, eine Affäre würde ich das nicht gerade nennen, wenn zwei heiraten wollen«, sagte sie und im selben Moment bemerkte sogar die unsensible Kristina, was sie da gerade ausgepackt hatte. Sie schlug schuldbewusst die Hand vor den Mund, fixierte mich aber gespannt. Ich schluckte schwer. Nur nichts anmerken lassen, dachte ich.
»Ach so, äh, ja, das hatte ich mir schon gedacht«, sagte ich schnell, als ob ich es schon längst wüsste. »Ich wollte nur mal wissen, seit wann es hier schon bekannt ist.«
»Du weißt es? Und wir dachten schon, du hast keine Ahnung, was die beiden hier treiben«, sagte sie erleichtert. »Also, im wahrsten Sinne des Wortes«, lachte sie, als ob sie einen guten Witz gemacht hätte. Schnell fing sie sich wieder und fügte hinzu: »Also, ich könnte nicht einfach so weiterarbeiten mit meinem Ex in der Abteilung, wenn er so etwas bringen würde. Du bist echt hart im Nehmen.«
Nein, das kann ich auch nicht, dachte ich und innerlich kochte ich vor Wut. Wollte Sandy einfach meinen Platz einnehmen bei der Hochzeit? Waren die beiden dermaßen stillos, dass sie schon ihre Hochzeit planten, während meine noch nicht einmal abgesagt war? Wer machte denn bitte so etwas? Ich konnte es kaum glauben, versuchte aber, Haltung zu bewahren. Ich durfte mir nichts anmerken lassen vor Kristina. Denn alles, was ich sagte, würde unweigerlich die große Runde machen, das war mir klar. Diesen Flurfunk konnte man zwar auch manchmal gezielt nutzen, aber dieses Thema war dafür definitiv nicht geeignet.
»Es scheint Sandy echt gut zu tun, sie strahlt richtig in letzter Zeit. Und sie hat, glaube ich, mindestens eine Kleidergröße abgenommen. Naja, wenn man nur von Luft und Liebe lebt…«, plapperte Kristina unsensibel weiter.
»Also, ich muss noch ein bisschen was erledigen«, fuhr ich ihr schroff in den Satz und machte eine Geste mit der Hand in Richtung Stapel auf meinem Schreibtisch.
»Oh, ja, klar, deswegen war ich ja hergekommen«, kicherte sie, als ob nichts gewesen wäre. »Ich mache mich dann wohl auch mal wieder an die Arbeit, Ollis Reisepläne machen sich schließlich auch nicht von allein.«
Sie erhob sich, nickte mir noch einmal zu und stöckelte auf ihren hohen Schuhen aus meinem Büro. Sie war sehr groß und schlank und sah auf ihre eigene Art ziemlich gut aus. Nicht schön, aber apart mit ihren feinen Gesichtszügen und ihrem ultrakurzen Haarschnitt. Jeder hier im Büro vermutete, dass sie auf Olli stand. Aber wie das mit Gerüchten so war, verselbstständigten sie sich auch manchmal und niemand wusste Genaueres. Ich hatte sie jedenfalls nie als Bedrohung empfunden. Und die eigentliche Bedrohung dabei auch gleich übersehen.
Als Kristina endlich wieder gegangen war, atmete ich tief durch. Ich holte mir einen Kaffee aus der Küche, schaute unterwegs in mein Postfach und stellte fest, dass Olli jetzt offensichtlich dazu übergegangen war, die Unterlagen für mich in mein Postfach zu legen, anstatt sie mir direkt auf den Schreibtisch zu bringen. Das gab mir einen Stich, aber es war letztlich die logische Konsequenz. Und unter diesen Umständen war es doch auch irgendwie besser. Ich hatte inzwischen sowieso meine Entscheidung gefällt.
Als erstes setzte ich mich zurück an meinen Schreibtisch und zwang mich, mich zu konzentrieren. Dann arbeitete ich stoisch die restlichen Verträge ab, übernahm dabei doch auch Sandys Aufgaben und verteilte die fertigen Unterlagen schließlich auf mehrere Unterschriftenmappen.
Als ich fertig war, stapelte ich die Mappen zu einem ordentlichen Haufen, rief ein leeres Word-Dokument auf und begann zu tippen. Den Ausdruck unterschrieb ich und legte ihn ganz oben auf den Stapel. Dann balancierte ich alles über den Flur. Kristinas Tür stand offen und ich rauschte kommentarlos an ihr vorbei. Sie sah mich mit einer Mischung aus Erstaunen und Neugier an, hielt mich in ihrer Überraschung aber nicht auf. Mit einem Ellenbogen drückte ich die Türklinke zu Ollis Büro herunter und stieß dann ohne Vorwarnung die Tür mit der Schulter auf. Das brachte mir einen sehr erstaunten Blick des Geschäftsführers ein, der Olli an seinem Besprechungstisch gegenübersaß.
»Entschuldigen Sie, Herr Lobmann«, sagte ich für mich selbst überraschend cool, »Herr Hellstein braucht diese Verträge hier ganz dringend.« Ich schenkte Herrn Lobmann ein freundliches Lächeln, drehte mich schwungvoll zu Ollis Schreibtisch um und ließ den Stapel geräuschvoll auf seinen Tisch knallen.
»Herr Hellstein, übersehen Sie bitte nicht das Schreiben ganz oben, ich betrachte es hiermit als zugestellt«, sagte ich förmlich und verließ den Raum. Ich konnte spüren, wie die beiden Männer mir erstaunt nachsahen. Und ich spürte Kristinas neugierigen Blick. Aber mir kamen gerade wieder die Tränen und bevor Kristina auch nur irgendetwas fragen konnte, war ich auch schon wieder auf den Flur entwischt.
Zurück in meinem eigenen Büro beeilte ich mich, meine Sachen zusammenzuräumen. Ich wühlte einen alten Weinkarton vom letzten Geburtstagsumtrunk aus dem Garderobenschrank und verstaute meine persönlichen Sachen darin, ich hatte nicht vor, noch einmal wiederzukommen.
Auf dem Weg zum Fahrstuhl kam ich an Sandys Büro vorbei, ihre Tür stand offen und sie blickte auf. Unsere Blicke trafen sich.
»Viel Spaß mit meinem Mann und ein schönes Leben noch!«, knallte ich ihr aufgebracht an den Kopf und lief wütend weiter zum Fahrstuhl. Ihre Reaktion wartete ich nicht mehr ab, sondern stieg ein und fuhr nach unten.
In der Lobby sah ich mich noch einmal um. Das würde wahrscheinlich das letzte Mal sein, dass ich in diesem Gebäude war. Denn ich hatte Olli gerade meine fristlose Kündigung auf den Tisch geknallt.
Als ich in meiner Wohnung ankam, stand ich immer noch unter Adrenalin, ich konnte förmlich spüren, wie es durch meine Adern strömte.
Mein Verstand hatte allerdings inzwischen längst die Oberhand gewonnen und ich wusste sehr genau, dass das, was ich gerade getan hatte, mehr als dumm gewesen war. Aber mein Bauch konnte nicht anders. Ich konnte es nicht ertragen, die beiden täglich zu sehen, mit Olli sachliche Gespräche über die Arbeit zu führen, während er mich doch eiskalt abserviert hatte. Nein, wie sollte das gehen. Wir konnten auch nicht ewig nur über das Postfach kommunizieren. Svenja hatte schon recht. Allerdings hatte sie wahrscheinlich nicht gemeint, dass ich sofort gehen sollte. Sie hatte vermutlich eher von der abgesicherten Variante gesprochen, mit einem neuen Job und so. Aber es hatte sich trotzdem gut angefühlt. Nur wovon sollte ich jetzt meine Miete bezahlen?
Man, Saskia, dachte ich und ärgerte mich über mich selbst. Erst denken, dann handeln! Natürlich hätte ich mir erst einen neuen Job suchen müssen. Ich wollte schließlich nicht arbeitslos im Dachzimmer meiner Eltern landen, oder? Ich seufzte.
Es ist jetzt, wie es ist, machte ich mir Mut und im Vorbeigehen fiel mein Blick auf den Anrufbeantworter. Das Licht blinkte, zeigte zwei Anrufe an. Die Nummer kam mir merkwürdig bekannt vor. Es war die Nummer meiner Firma. Olli? Nein, Olli war das nicht, stellte ich enttäuscht fest, als ich die Anrufliste näher betrachtete. Diese Durchwahl hier kannte ich nicht. Ich spürte, dass das nichts Gutes bedeutete und beschloss, es lieber gleich hinter mich zu bringen.
»Ariane Mansfeld, Guber & Lobmann, guten Tag«, meldete sich eine unserer Personalerinnen. Mir dämmerte auch bereits das Thema. Mutig gab ich mich zu erkennen.
»Guten Tag Frau Mansfeld, Saskia Körber hier. Sie hatten mir auf den Anrufbeantworter gesprochen.« Ich wartete.
»Äh, ja, Frau Körber. Herr Hellstein war vorhin hier bei uns. Er hat gesagt, Sie hätten ihm eine fristlose Kündigung auf den Tisch gelegt. Und dann sind Sie gegangen?« Da sie es wie eine Frage betonte, beschloss ich, die Flucht nach vorn zu ergreifen.
»Ja, richtig. Wir hatten persönliche Differenzen und ich möchte mich daher so schnell wie möglich neu orientieren.« Wow, das klang professionell, lobte ich mich selbst innerlich.
»Also, Frau Körber, so einfach ist das leider nicht. Sie sind einen Arbeitsvertrag mit uns eingegangen und Gründe für eine fristlose Kündigung liegen unseres Erachtens hier nicht vor. Das hat uns ihr Vorgesetzter auch bestätigt. Um die Sache nicht unnötig aufzubauschen, möchte ich Sie bitten, morgen einfach wieder wie gewohnt zur Arbeit zu erscheinen und eine fristgerechte Kündigung einzureichen. Der nächstmögliche Termin wäre in Ihrem Fall der 31. Juni, Sie haben eine Kündigungsfrist von drei Monaten zum Quartalsende. Aber das wissen Sie ja selbst.«
Mir rutschte das Herz eine Etage tiefer. Ich hatte so gar nicht nachgedacht! Ich war in meiner Wut einfach davon ausgegangen, dass ich sofort gehen könnte. Und ich hatte vor allem nicht damit gerechnet, dass Olli mich behalten wollte. Eher damit, dass wir uns im gegenseitigen Einvernehmen sofort trennen würden, wie im Privaten ja auch. Da war das für ihn doch auch kein Problem gewesen. Wie peinlich würde das wohl werden? Schlimmer ging es wohl kaum noch! Ich war so blöd. Es war jetzt gerade mal Mitte März, wie sollte ich das ganze Theater noch Monate aushalten? Und noch dazu die Tratscherei, die ich mit meinem Verhalten heute noch angefacht hatte und mir bereits lebhaft vorstellen konnte.
»Gibt es gar keine andere Möglichkeit?«, fragte ich zaghaft.
»Leider nein, aber das kriegen Sie schon hin«, sagte Frau Mansfeld beschwichtigend. »Herr Hellstein ist Ihnen nicht böse, er schafft es nur nicht, so schnell jemand neuen einzuarbeiten. Daher kommt ein früherer Ausstieg leider nicht in Frage«, belehrte sie mich.
Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte. Wegen Olli gab es keine Chance auf einen früheren Ausstieg, obwohl ich wegen Olli überhaupt nur gehen wollte? Mein ganzer Karriereweg in diesem Haus war wegen ihm blockiert und er hatte die Frechheit, mich hier auch noch bis zum letzten Tag für ihn schuften zu lassen? Ich war wütend auf ihn, aber im Moment musste ich mich wohl oder übel geschlagen geben.
»Alles klar, Frau Mansfeld, ich komme morgen wieder. Meine Kündigung bringe ich Ihnen dann bis Freitag vorbei«, sagte ich also matt und nachdem sie mir noch ein paar gute Ratschläge mit auf den Weg gegeben hatte, legte ich auf.
Okay, dachte ich. Ich muss die Woche irgendwie überstehen und Freitag nach der Arbeit fahre ich gleich nach Westerstrande zu Svenja. Ich muss unbedingt mit jemandem reden, bevor ich noch mehr unüberlegte Dummheiten mache. Aber wenigstens ist Herr Hellstein ja nicht böse auf mich, äffte ich Frau Mansfelds Worte in Gedanken sarkastisch nach. Das war doch wirklich ein schlechter Scherz.
Motiviert von der Aussicht auf eine baldige Auszeit von diesem ganzen Chaos holte ich meine Reisetasche aus dem Kleiderschrank und packte jetzt schon mal ein paar Klamotten ein. Der Anblick der Tasche im Flur würde mir dabei helfen, die Woche zu überstehen. Meinen Laptop wollte ich auch mitnehmen. Vielleicht würde ich an der Ostsee einen freien Kopf bekommen, um mich schon einmal um meine Bewerbungsunterlagen zu kümmern. Es konnte jedenfalls nicht schaden, ihn dabeizuhaben.