Leseprobe Himmel über Charleston

Prolog

In gleichmütigem Trott bahnten sich die zwei Pferde mit ihrer jeweils doppelten Last ihren Weg auf dem schmalen Pfad, der mit vielen Windungen entlang morastiger Sümpfe nach Lakewood führte.

Auf dem ersten Pferd saß Vivian Darcy hinter Samuel Munroe, einem der beiden Brüder, die zwar glühende Anhänger der Rebellion, aber zu gebrechlich waren, um selbst an den Kämpfen teilzunehmen. Auf dem zweiten Pferd hatte der Ältere der Brüder Georgia zu sich auf den Sattel gesetzt.

Hin und wieder, wenn Vivian nicht in Gedanken ihrem eigenen Kummer nachhing, warf sie besorgte Blicke auf die verstörte, dunkelhaarige junge Frau, die fast so etwas wie eine Schwägerin für sie war. Denn Georgia war verheiratet mit Simon Welsey, einem von drei Brüdern, mit denen zusammen Vivian aufgewachsen war.

Vivian seufzte unterdrückt, von der Sorge geplagt, was aus ihren Freunden geworden sein mochte. Simon war im Kampf um Charleston am Bein verwundet worden, das wusste sie. Trotzdem hatte er sich auf den Weg nach Bellarbres gemacht. Von dort war er wie ein Besessener weiter nach Lakewood geritten, wie Cole ihr erzählt hatte. Vivian malte sich lieber nicht aus, was Simon dabei gefühlt haben musste.

Von Tom und Paul, seinen Brüdern, nahm sie an, dass sie ebenfalls auf Lakewood waren. Tom war schon zu Beginn der Kämpfe um Charleston verwundet worden und zur Plantage seiner Eltern Ann und Herbert gebracht worden, um seine Verletzung dort auszukurieren. Paul hatte sich nach dem Fall Charlestons auf den Weg dorthin gemacht. Sie konnte nur hoffen, dass es beiden Brüdern gut ging und betete, dass ihnen sowie Ann und Herbert auf der Plantage nichts zugestoßen war.

Sie schüttelte den Kopf und versuchte, ihre trüben Gedanken zu verscheuchen, doch es gelang ihr nicht. Zu schlimm waren die Eindrücke der letzten Tage und Wochen. Erneut betete sie, dass auf Lakewood alles in Ordnung war. Sie konnte es kaum erwarten, endlich dort zu sein. Vor allem sehnte sie sich nach Ann. Ann war die Einzige, der sie ihren Kummer wegen Cole anvertrauen konnte. Ann würde sie nicht verurteilen, und wenn sie sich Cole gegenüber noch so kindisch benommen hatte. Sicherlich lag ihr Vertrauen in Ann auch daran, dass Vivians eigene Mutter schon gestorben war, als Vivian noch ein Kleinkind gewesen war. Ann war als Ersatzmutter eingesprungen, obgleich Vivian weiter im Haushalt ihres Vaters und ihrer englischen Tante Sophie, die zu ihrem Schwager und ihrer Nichte nach Charleston gezogen war, gelebt hatte. Aber vor allem dank Ann hatte Vivian eine unbeschwerte und wohlbehütete Kindheit und Jugend verbracht.

Während sie jetzt auf dem Pferderücken hinter dem Älteren der Munroe-Brüder vor Erschöpfung halb am Einschlafen war, fragte Vivian sich unwillkürlich, ob sie wohl je wieder so fröhlich und glücklich wie in den Tagen ihrer Kindheit sein würde. Vielleicht hätte sie in England bleiben sollen, wohin ihre Tante sie nach dem Tod ihres Vaters vor drei Jahren gebracht hatte. Dort, in der friedlichen Abgeschiedenheit des alten Landsitzes ihres Onkels Sir Frederic hatte es weder Krieg noch Verwundete noch niedergebrannte Plantagen gegeben! Aber schon während sie dies dachte, wusste Vivian, dass sie sich immer wieder für die Rückkehr nach Charleston entscheiden würde. Zwei Jahre hatte sie bei ihren adligen Verwandten in England gelebt und sich immer nur nach Charleston zurückgesehnt. Aber ihr Onkel, Sir William, und ihre Tante Sophie waren gegen ihre Rückkehr in die amerikanischen Kolonien gewesen. Doch unterstützt von ihrer Tante Elise, der Frau ihres jüngeren Onkels, hatte Vivian ihren Kopf durchsetzen können, wofür sie heute noch, allem augenblicklichen Elend zum Trotz, immer noch dankbar war. Im letzten Herbst endlich hatte sie England verlassen dürfen. Auf dem Schiff von Elises sehr viel jüngerem Bruder, dem Reeder John Chapman, war sie voller Freude in See gestochen.

Unwillkürlich fragte Vivian sich, wie es John jetzt wohl gehen mochte. Er hatte sie auf seinem Schiff bis Jamaika gebracht und war ihr ein guter Freund geworden. Sie hoffte, dass er sicher nach England zurückgekehrt war. Sie selbst war auf einem amerikanischen Blockadebrecher weiter nach Charleston gereist. Zu ihrer Überraschung war Robert Maine, ein Neffe von Ann und einer ihrer Jugendfreunde, dort als Offizier an Bord gewesen. Von Robert hatte Vivian immerhin in den letzten Tagen etwas gehört. Obwohl Lieutenant zur See, hatte er an den Kämpfen um Charleston teilgenommen und schlug sich jetzt irgendwo in den Sümpfen herum. Aber zumindest war er am Leben und unversehrt, anders als die vielen Verwundeten, die Vivian während ihrer Arbeit im Lazarett gepflegt hatte.

Bedrückt dachte Vivian an diese schrecklichen Wochen während Charlestons Belagerung durch die Engländer zurück. Obwohl Ann und Herbert vorsorglich die Stadt verließen, war Vivian geblieben und hatte als Krankenschwester verwundete Amerikaner gepflegt, als das Stadthaus der Welseys zum Lazarett umfunktioniert worden war. So viel Leid hatte sie dort gesehen, dass sie manchmal am Sinn des Krieges zu zweifeln begonnen hatte. Doch nicht einmal während dieser schrecklichen Tage war sie so erschüttert gewesen wie beim Anblick von Bellarbres.

Vivian warf einen weiteren bekümmerten Blick auf Georgia und seufzte leise. Genau wie die Welseys hatte auch Georgia Charleston verlassen und Zuflucht auf Bellarbres, der Plantage ihrer Eltern, gesucht, um dort in Ruhe das Kind, das sie erwartete, zur Welt zu bringen. Alle hatten geglaubt, dort, weit weg von den Kämpfen um Charleston, wäre es sicher. Aber Tories, englandfreundliche Amerikaner, hatten die Plantage niedergebrannt, Georgias Eltern und ihren Bruder Brad getötet und Georgia völlig verstört zurückgelassen.

Vivian konnte es immer noch nicht fassen, welcher Anblick sich ihren Augen geboten hatte, als sie und ihr treuer Diener Sam auf Bellarbres angekommen waren. Sam und sie waren tagelang durch den Sumpf marschiert, nachdem Vivian Charleston überstürzt hatte verlassen müssen. Einer der englischen Offiziere, die man nach der Niederlage Charlestons im Haus der Welseys einquartiert hatte, war zudringlich geworden, und nur Sams Eingreifen hatte Schlimmeres verhindert. Doch ein Angriff auf einen britischen Besatzungsoffizier, und sei er noch so berechtigt, konnte böse Folgen haben, sodass Vivian und Sam, mit Unterstützung eines anderen englischen Offiziers, vorsorglich aus der Stadt geflohen waren.

Als sie auf Bellarbres nur noch Trümmer vorgefunden hatten, waren sie geschockt. Groß war Vivians Erleichterung gewesen, dass zumindest Georgia noch lebte, und sie hatten sie mitgenommen auf ihrem Weg nach Lakewood, der Plantage der Welseys, ihrem endgültigen Ziel. Doch wenn Vivian geglaubt hatte, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte, so hatte sie sich geirrt. Denn nur einen Tag, nachdem sie und Sam zusammen mit Georgia aufgebrochen waren, war Sam durch einen dummen Zufall in die Hände der Engländer gefallen. Vivian hoffte inständig, dass er als Kriegsgefangener gut behandelt wurde! Jedoch hatte derselbe Zufall Cole zu ihnen geführt, der sich ihrer angenommen und sie zu einer im Sumpf versteckten Hütte geführt hatte, wo sie die Nacht verbracht hatten.

Vivian atmete tief durch und blinzelte ein paar Tränen fort, die sich bei dem Gedanken an Cole unwillkürlich in ihre Augen schlichen. Sie war so glücklich gewesen, als Cole wie aus dem Nichts aufgetaucht war und sie sich in seine Arme geworfen hatte! Nach der Niederlage Charlestons hatte sie wochenlang um sein Leben gebangt, da nicht klar war, wer von ihren Freunden die Schlacht überlebt hatte. Und Cole war nicht etwa nur irgendein Freund! Und dennoch hatte sie ihn vor ein paar Stunden erst beschimpft und getobt und ohne ein liebendes Wort zurück in den Kampf geschickt. Und das nur, weil sie es nicht ertragen konnte, dass er sie erst küsste und dann von einer Minute auf die andere wieder verließ. Sie bereute zutiefst, ihn mit ihren bösen Worten verletzt zu haben! Aber der Abschied war so abrupt gekommen, nachdem sie unvermittelt auf die Munroe-Brüder gestoßen waren! Cole hatte versucht, ihr zu erklären, dass er ein Kommando übernommen hatte und dringend bei seiner Truppe zurückerwartet wurde. Aber sie hatte sich im Stich gelassen gefühlt, obwohl seine Gründe, dass er gehen musste, vollkommen berechtigt waren! Und nun war er fort, und sie sehnte sich so entsetzlich nach ihm. Wenn sie doch nur ihre garstigen Worte zurücknehmen könnte! Aber dafür war es zu spät. Wie es schien, lernte sie einfach nicht aus ihren Fehlern. Schon damals, als Cole sich, noch unter seinem falschen Namen Gérard Dupont, geweigert hatte, ihr schützender Begleiter auf der Reise von England nach Jamaika zu sein, hatte sie ihn wild beschimpft, statt einmal darüber nachzudenken, ob er womöglich berechtigte Gründe für sein Verhalten hatte. Später auf John Chapmans Schiff, wo sie sich dann wiederbegegnet waren, hatte sie ihn erneut attackiert, als er ihr tiefe Gefühle gestand. Gewiss, sie war auch heute noch nicht sicher, ob Cole es damals ernst gemeint hatte. Aber hätte sie damals nicht die Chance vertan, mehr über ihn zu erfahren, wäre sie nicht so verzweifelt gewesen, als er kurz nach seiner Liebeserklärung spurlos vom Schiff verschwand. Erst viel später in Charleston, wo sie ihm dann wiederbegegnet war, hatte sie erfahren, dass Cole als Spion in England gewesen war. Sie war so schockiert gewesen, dass er in Wahrheit ein amerikanischer Rebellenoffizier war und kein Franzose, wie sie bis dahin geglaubt hatte, dass sie erneut sein ganzes Verhalten in Frage gestellt hatte.

Das Pferd, auf dem Vivian ritt, machte einen holpernden Schritt, und Vivian merkte, dass ihr die Augen zugefallen waren. Sie riss sie hastig wieder auf und sah sich um. Von feindlichen Engländern oder Tories war weit und breit nichts zu sehen, und doch blieb sie seltsam angespannt. Als Cole sie noch begleitet hatte, dachte sie niedergeschmettert, hatte sie sich nicht so verängstigt gefühlt. Aber Cole war fort, und Vivian empfand erneut die gleiche Leere wie schon bei seinem Abschied. Und während sie diesmal nicht gegen die Tränen ankämpfte, die ihr in die Augen stiegen, wollten ihr nicht die Gedanken aus dem Kopf gehen, die sie gehabt hatte, als Cole fortgegangen war: Cole zog wieder in den Kampf! An der Spitze der Männer, zu denen er stoßen wollte, würde er sich erneut tödlichen Gefahren aussetzen, bereit, für die Ideale, für die sie kämpften, notfalls sein Leben zu geben! Und sie hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als ihn zu beschimpfen!

1

Todmüde und mit schmerzenden Gliedern trafen sie am frühen Abend endlich auf Lakewood ein.

Es war lange her, dass Vivian den Besitz zuletzt gesehen hatte. Er lag abseits der Hauptstraße, nur ein kleiner Seitenweg führte dahin, der aber doch breit genug für Wagen und Pferdefuhrwerke war. Inmitten eines Eichenhains erhob sich auf einem kleinen Hügel das Herrenhaus, ein rotes Backsteingebäude, an dessen Vorderfront eine weißgestrichene Galerie entlanglief. Eine Freitreppe führte zur Galerie hinauf, in deren Mitte sich der Haupteingang befand. Am Geländer der Galerie hingen Blumentöpfe herab, aus denen gelbe Blütenköpfe wie Sterne hervorleuchteten. Auch die Blumen in den Beeten vor dem Haus blühten in den verschiedensten Farben. Zusätzlich zum Haupteingang auf der Galerie gab es auch unten zwei Eingänge, jeweils rechts und links der Treppe. Eine vierte Tür war hinter dem Haus, die von den Bediensteten benutzt wurde und direkt in die Küche führte.

Rund um die Besitzung erstreckten sich weite Waldflächen, die nur hier und da durch vereinzelte Felder unterbrochen wurden, wo die Nahrungsmittel für den täglichen Bedarf angebaut wurden. Hinter dem Haus waren drei Koppeln, auf denen Herbert seine Zuchtpferde hielt. Links vom Haus ging es hinunter zum Fluss, einem Nebenarm des Cooper River. Dort befand sich auch ein kleines Bootshaus, wo die Welseys einen Schoner und mehrere Ruderboote liegen hatten.

Als Vivian und ihre Begleiter sich jetzt dem Anwesen näherten, erblickte Vivian drei Gestalten auf der Terrasse. Noch konnte sie nicht erkennen, wer es war, aber sie wusste instinktiv, dass eine von ihnen Ann sein musste. Sie kamen näher, und sie sah, dass sie recht gehabt hatte. Und neben Ann saßen Simon und Herbert.

Die Munroes zügelten ihre Pferde und schlugen vor, dass Georgia und Vivian abstiegen, damit die Bewohner von Lakewood sie auf die Entfernung besser erkannten. Und tatsächlich erblickten die drei auf der Terrasse in diesem Moment die Ankömmlinge. Vivian beobachtete seltsam teilnahmslos, wie Ann sich rasch erhob und etwas sagte. Dann stand auch Simon schwerfällig auf. Er schwankte leicht und musste sich am Treppengeländer festhalten. Sekundenlang schien er wie festgewurzelt, dann humpelte er, so schnell sein verletztes Bein es zuließ, die Treppe hinunter und lief ihnen mühevoll quer über die Wiese entgegen.

„Georgia!“, rief er, mit einer Stimme, die zittrig klang vor fassungsloser Freude. „Georgia!“

Georgia, die bis zu diesem Moment wie in Trance neben Vivian und den Munroe-Brüdern hergegangen war, blieb ruckartig stehen und erstarrte. Vivian warf ihr einen besorgten Blick zu, doch da machte Georgia bereits einen ersten vorsichtigen Schritt auf Simon zu, dann noch einen und dann lief sie, so schnell ihre Füße sie trugen. Sekunden später lag sie in Simons Armen.

Einen Augenblick später fielen sich auch Vivian und Ann in die Arme. Während Vivian über Anns Schulter spähte, sah sie, wie Simon seine Frau fest an sich presste und Georgia an seiner Schulter hilflos schluchzte. Und auch Simon liefen Tränen über die Wangen.

Vivian selbst empfand in diesem Augenblick nur eine grenzenlose Erleichterung, endlich angekommen zu sein. Sie war froh, dass die Strapazen ein Ende hatten, und sie freute sich für Simon und Georgia. Die beiden hatten Schreckliches durchgemacht, aber die überwältigende Freude, die jetzt aus ihren Gesichtern leuchtete, war rührend. Unvermittelt überkam Vivian der Wunsch, sich auch in die Arme eines Mannes stürzen zu können und so gehalten zu werden wie jetzt Georgia, und eine widersinnige und dabei kaum erträgliche Sehnsucht nach Cole überkam sie. Aber Cole war fort, fort im Kampf. Und sie hatte ihm noch nicht einmal Glück gewünscht!

Später am Abend saßen alle zusammen auf der Galerie. Vivian und Georgia hatten gebadet und fühlten sich, wenn auch müde, so doch einigermaßen erfrischt. Georgia war sehr ruhig und wich nicht von Simons Seite. Es wurde Vivian schnell klar, dass Georgia inzwischen ganz genau wusste, was auf Bellarbres geschehen war. Doch nun, wo sie sich nicht mehr ins Vergessen flüchten konnte, war der Schmerz für sie umso schlimmer. Sie begann erst jetzt richtig zu begreifen, welchen Verlust sie erlitten hatte.

Simon bemühte sich rührend und liebevoll um seine unglückliche Frau, und das, obwohl seine Wunde immer noch nicht ganz ausgeheilt war. Er hatte noch immer starke Schmerzen beim Gehen und sollte Anns Meinung nach eigentlich im Bett liegen. Aber Simon fegte Anns Bedenken mit einem Lächeln beiseite. Und auch wenn er sich fröhlich gab, war nicht zu übersehen, dass er es ebenso wenig ertragen hätte wie Georgia, sich an diesem Abend auch nur einen winzigen Augenblick lang von seiner Frau zu trennen.

Vivian hatte dafür volles Verständnis. Der Schock, der Simon nach seiner Ankunft auf Lakewood an den Rand eines Zusammenbruchs gebracht hatte, wie sie von Ann erfuhr, zeigte sich noch immer in den tiefen Linien, die sich in den letzten Tagen in Simons schmale Wangen gegraben hatten. Sie waren noch nicht da gewesen, als Vivian Simon im Lazarett besucht hatte, waren also keine Folgen seiner Verwundung, sondern der letzten zwei Tage, die er sich, ohne zu essen, in seinem Zimmer eingeschlossen und niemanden an sich herangelassen hatte. Vorangegangen war ein wilder, verzweifelter Ritt von Bellarbres nach Lakewood, bei dem Simon nur von der Hoffnung aufrecht gehalten worden war, dass Georgia auf Lakewood Zuflucht gesucht hätte. Immer wieder hatten Ann und Herbert voller Sorge versucht, Simon aus seinem Zimmer zu locken. An diesem Nachmittag war es ihnen dann endlich gelungen. Mit hohlen Augen war Simon nach Anns flehentlichen Bitten auf der Terrasse erschienen und hatte sich wortlos neben sie gesetzt. Bis zu Georgias Ankunft hatte er still vor sich hingestarrt und auf jede Frage nur mit Ja oder Nein geantwortet. Die grenzenlose Dankbarkeit, dass Georgia noch lebte und er sie nun fest in den Armen halten konnte, leuchtete ihm daher jetzt umso deutlicher aus den Augen und zeigte sich in jeder kleinen Geste, mit der er seine Frau liebkoste.

Als Simon und Georgia sich schließlich Arm in Arm auf ihr Zimmer zurückzogen, sah Ann ihnen mit einem nachdenklichen Lächeln hinterher.

„Mein Gott, bin ich froh und dankbar, dass Georgia am Leben und halbwegs gesund ist!“, entfuhr es ihr mit einem tiefen Seufzer. „Vivian, du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Angst wir hatten, dass Simon verbittern würde! Er war beinahe wahnsinnig vor Kummer, als er feststellte, dass Georgia nicht auf Lakewood war. Aber jetzt wird alles gut! Um Simon brauchen wir uns jetzt nicht mehr zu ängstigen, da bin ich sicher. Und Georgia päppeln wir auch wieder auf. Ich hoffe nur, dass sie nicht zu lange braucht, bis sie über den Tod ihrer Familie hinwegkommt. Es wäre wirklich nicht gut, wenn sie bis zur Niederkunft nicht wieder etwas kräftiger wäre.“

„Ich weiß, du wirst deine ganze Energie darauf verwenden“, lächelte Herbert, der bisher nur wenig gesagt hatte. „Das wird schon. Tom hast du ja auch wieder auf die Beine bekommen.“

„Das ist überhaupt nicht zu vergleichen“, widersprach Ann energisch. „Tom hatte eine leichte Wunde, sonst nichts. Georgia ist verstört, das ist etwas ganz anderes.“

„Na, wie du meinst“, seufzte Herbert und erhob sich. „Nehmt es mir nicht übel, aber ich würde gern noch einmal kurz in den Stall gehen und nach der trächtigen Stute sehen. Der Stallbursche meinte, sie würde noch heute Nacht fohlen. Und wahrscheinlich geht ihr ja sowieso bald ins Bett, oder? Vivian sieht schrecklich müde aus.“

„Aber bevor ich schlafen gehe, möchte ich wissen, wie es Paul und Tom geht“, lächelte Vivian. „Ich hatte eigentlich gedacht, die beiden wären auf Lakewood.“

„Oh, Toms Wunde ist bestens verheilt“, lachte Ann, während Herbert sich grinsend entfernte. „Nun will er wieder kämpfen. Als vor drei Tagen Robert mit einigen Rebellen hier auftauchte, waren weder Paul noch Tom zu halten und haben sich ihm angeschlossen.“

„Ich dachte“, warf Vivian verwundert ein, „Paul und Robert hätten bei der Kapitulation Charlestons ihre Entlassung aus der Armee erhalten und sich verpflichtet, nicht mehr zu kämpfen?“

Ann lächelte schief. „Liebe Vivian, diese Entlassung war eine entsetzliche Schweinerei!“

Vivian blieb vor Erstaunen beinahe der Mund offen stehen. Solche Worte aus Anns Munde! „Schweinerei? Wie, um Himmels willen, meinst du das, Ann?“

„Dieser Clinton, oder Sir Clinton, wie er gerne genannt werden möchte, hat bei der Entlassung leider nicht die Wahrheit gesagt“, versetzte Ann mit einem verächtlichen Schnauben. „Damals hieß es, jeder Mann, der die Waffen niederlege, könne nach Hause gehen und in seinem alten Beruf arbeiten. Das stimmt nur leider nicht!“

Verwirrt runzelte Vivian die Stirn. „Aber wieso denn nicht? Ich dachte –“

„Weil Clinton anschließend verlangte, dass jeder Bürger Charlestons und aus der Umgebung den Treueid auf Georg III. leisten muss. Verstehst du, was das bedeutet?“

Vivian schüttelte verständnislos den Kopf. „Nein. Nicht im Geringsten.“

„Es bedeutet“, erklärte Ann grimmig, „dass jeder Mann, der den Eid leistet, verpflichtet werden kann, gegen die Rebellen zu kämpfen. Verstehst du nun? Paul und Simon, die entlassen worden sind, müssten zum Beispiel gegen Tom oder Cole und viele andere ihrer Freunde kämpfen.“

„Aber sie haben diesen Eid doch gar nicht geleistet!“, widersprach Vivian verwirrt.

„Nein, aber sie könnten jederzeit dazu aufgefordert werden, es zu tun. Spätestens, wenn sie nach Charleston zurückkehren wollten, hätten sie keine andere Wahl, als diesen Eid abzulegen. Und dann könnten sie gezwungen werden, auf Seiten der Engländer zu kämpfen.“

„Aber das ist doch unglaublich!“, entfuhr es Vivian mit einem entrüsteten Blinzeln. „Das kann doch niemand verlangen!“

„Oh doch! Clinton schon!“, entgegnete Ann mit einem energischen Kopfnicken. Dann seufzte sie. „Es ist schlimm genug, dass Paul, Tom und Simon und auch alle anderen, die den Treueid nicht leisten wollen, nicht nach Charleston zurückkönnen. Aber noch fürchterlicher ist, dass alle amerikanischen Soldaten, die jetzt noch kämpfen, gehängt werden sollen. Selbst gegen Zivilisten, die sich widersetzen, soll Clinton abschreckende Maßnahmen eingeführt haben.“

„Was denn für Maßnahmen?“, fragte Vivian beunruhigt.

„Nun, Paul sagte, sie würden enteignet werden! Und davon, sagt Paul, war in den Kapitulationsbedingungen niemals die Rede. Dort hieß es lediglich, man dürfte nicht mehr gegen Georg III. kämpfen, aber nicht, dass man für ihn kämpfen muss.“

„Großer Gott!“, stieß Vivian kopfschüttelnd hervor. „Dieser Clinton muss verrückt sein!“

„Ja, verrückt und enorm ehrgeizig“, bekräftigte Ann. Dann atmete sie tief durch und lächelte Vivian aufmunternd an. „Aber nun lass uns besser das Thema wechseln, Kind. Ich werde jedes Mal wütend, wenn ich darüber nachdenke! Erzähl lieber mal, wie es dir während der Belagerung in Charleston ergangen ist. Bisher hat sich ja alles um Georgia und Simon gedreht, aber ich glaube, du hast auch einiges zu erzählen, oder? Bisher hast du uns ja nur ganz grob ins Bild gesetzt, wieso du Charleston verlassen musstest und was unterwegs passiert ist. Ich glaube, das würde ich jetzt gerne mal etwas genauer hören. Vor allem, warum du jedes Mal so ein betretenes Gesicht machst, wenn Coles Name fällt. Habt ihr euch etwa gestritten?“

„Ach, Ann!“, klagte Vivian und ließ niedergeschlagen den Kopf hängen. „Es ist alles so entsetzlich kompliziert!“

„Na, dann lass doch am besten mal hören“, lächelte Ann. „Ich könnte wetten, dass alles viel weniger schlimm ist, wenn du erst darüber gesprochen hast.“

Vivian nickte zögernd. Dann fing sie an, stockend zu erzählen. Sie begann mit der Belagerung von Charleston und endete mit ihrer Ankunft auf Lakewood, ohne dass Ann sie ein einziges Mal unterbrach.

„So, und jetzt hast du Cole also gesagt, er soll sich zum Teufel scheren“, lächelte Ann, als sie ihren Bericht schloss. „Und meinst du das ernst?“

„Natürlich nicht!“, jammerte Vivian. „Eigentlich tut es mir schrecklich leid, was ich gesagt habe, aber … aber siehst du, Ann, es ist einfach alles so verwirrend! Und ich werde nicht schlau aus Cole! Er spricht von Freundschaft, und dann küsst er mich, als ob … Oh, es ist schrecklich!“

„Aber du hast ihn gern.“

Vivian nickte verlegen. „Ja, schrecklich gern. Aber … ich weiß einfach nicht, ob ich ihm trauen kann!“

„Wieso solltest du Cole denn nicht trauen können?“, wunderte sich Ann mit einem erstickten Lachen.

„Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll“, seufzte Vivian und lehnte sich müde gegen ihre Stuhllehne. „Verstehst du, im Grunde vertraue ich Cole ja. Ich weiß, dass er jederzeit für mich da wäre, genau wie für jeden anderen von euch. Er ist rechtschaffen und anständig und ehrenhaft, und ich würde ihm jederzeit mein Leben anvertrauen. Aber …“

„Aber?“, hakte Ann nach, als Vivian unschlüssig verstummte.

„Nun, er … er hat mir doch schon einmal etwas vorgemacht! Er war so überzeugend als … als Gérard Dupont. Und dabei war alles nur eine Täuschung! Woher soll ich denn wissen, dass er jetzt ehrlich ist? Ich meine, nicht im Allgemeinen natürlich, aber … aber was seine Küsse angeht und so.“

„Und so?“, lachte Ann, doch dann streichelte sie verständnisvoll Vivians Hand. „Vivian, was sagt dir denn dein Gefühl?“ Und als Vivian sich errötend auf die Lippen biss, setzte sie lächelnd hinzu: „Weißt du, Vivian, ich denke, du solltest auf dein Gefühl hören. Du weißt doch ebenso gut wie ich, warum Cole dich damals ein wenig anschwindeln musste. Und wenn du mich fragst, hat er es bestimmt nicht gern getan. Davon abgesehen, steht ihm doch ins Gesicht geschrieben, was er für dich empfindet. Ich glaube nicht, dass er dir da etwas vormacht.“

„Ach, ich hoffe es so sehr“, gestand Vivian hoffnungsvoll, nur um gleich darauf stirnrunzelnd hinzuzusetzen: „Trotzdem, Ann, da ist noch etwas. Du kennst Cole doch schon länger. Hältst du ihn für … für einen Schürzenjäger?“

„Kind, was stellst du für Fragen!“, amüsierte sich Ann und schüttelte den Kopf.

„Ja, ich weiß, es ist albern, aber … oh, bitte Ann, ich muss es wissen! Glaubst du, dass Cole … dass Cole in der Lage wäre, sich nur für eine einzige Frau zu interessieren?“

Ann lachte laut auf. „Da habe ich nicht den geringsten Zweifel! Ich gebe zwar zu, Cole und Simon haben sich früher gern mal amüsiert. Irgendwie haben die beiden immer die hübschesten Mädchen am Arm gehabt! Aber Simon hat Georgia gefunden, und Cole … nun, seit du in Charleston bist, habe ich ihn mit keiner anderen Frau mehr gesehen. Wie Simon bei anderer Gelegenheit einmal so treffend festgestellt hat: Der arme Kerl hat doch nur noch Augen für dich!“

„Meinst du?“, seufzte Vivian. „Aber er sieht so gut aus! Und er versteht sich viel zu gut aufs –“

„Vivian“, lächelte Ann, „lass das Grübeln. Gib Cole doch wenigstens eine Chance!“

Vivian runzelte die Stirn. „Ach, Ann, du glaubst nicht, wie sehr ich das möchte, aber …“

„Lieber Himmel, Vivian!“, stöhnte Ann lachend. „Warum wartest du nicht einfach ab, wie sich die Dinge zwischen dir und Cole entwickeln? Dann wirst du schon feststellen, ob er es ernst meint. Wovon ich absolut überzeugt bin!“

„Wahrscheinlich hast du recht, Ann, aber –“

„Vivian“, lachte Ann, „lass es sein!“

Vivian blinzelte, lächelte verlegen und nickte.