Endlich Einsamkeit!
Lena hielt an und studierte erneut die E-Mail. Vor knapp zehn Kilometern hatte sie das beschriebene Gehöft hinter sich gelassen. Nun sollte sie die nächste Straße rechts nehmen. Als Straße hätte sie das hier allerdings nicht bezeichnet, doch weit und breit gab es keine andere Einmündung. Das musste es sein. Sie bog also in das ein, was man mit Wohlwollen noch als Wirtschaftsweg bezeichnen konnte, eine Schotterpiste mit Grasstreifen und Schlaglöchern, die tiefer in den Wald hineinführte.
Im Schritttempo rumpelte Lena zwischen sattgrünen Birken, Blaubeerbüschen und dicken Moospolstern hindurch.
»Ein Wunder, wenn ich mir hier nicht die Ölwanne aufreiße!«, fluchte sie, während sie dicht hinter der Windschutzscheibe klebte, um die Schlaglöcher rechtzeitig erkennen zu können.
Sie wollte gerade aufgeben und umkehren, als sie entdeckte, dass der Weg in einigen hundert Metern Entfernung eine Biegung machte, hinter der sich der Wald zu lichten schien.
Als sie um die Kurve kam, trat sie unwillkürlich aufs Bremspedal. Der Anblick, der sich ihr bot, war unglaublich.
»Wow!«
Vor ihr lag, von Birken und Kiefern gesäumt, der See, so ruhig und unbewegt, dass sich die am Himmel hinwegsegelnden Schönwetterwölkchen auf seiner Oberfläche spiegelten. Einige Meter weiter, nah am Seeufer sah sie das Ferienhaus. Es sah genauso aus wie im Katalog: Der blassgelbe Anstrich leuchtete in der Sonne, und es wirkte mit seinen hübschen weißen Fensterrahmen und dem schiefergedeckten Dach wie aus einer Spielzeuglandschaft herauskopiert.
Bei dem Anblick besserte sich ihre Laune schlagartig, und guter Stimmung lenkte sie das Auto die letzten Meter zur Auffahrt. Den Schlüssel hatte sie zuvor im Vermietungsbüro abgeholt und danach einen Supermarkt angesteuert, um sich zu bevorraten.
Sie beschloss, den Koffer und die Kiste mit den Lebensmitteln zunächst im Wagen zu lassen und sich das Haus anzusehen.
Fröhlich lief sie die Stufen zur Haustür hinauf und schloss auf. Das Haus war altmodisch, aber gemütlich eingerichtet. Die Ausstattung wirkte, als sei sie seit geraumer Zeit nicht verändert worden. Man hatte lediglich irgendwann moderne Küchengeräte nachgerüstet. Mit Wohlwollen registrierte Lena, dass es einen Geschirrspüler gab. Wunderbar! Schließlich sollte sie hier rein gar nichts vom Schreiben ablenken. Unten gab es zwei Schlafräume, einen mit einem Queensize-Bett, einen mit einem Etagenbett und einem Einzelbett.
Die braunen Ledersessel im Wohnzimmer waren zwar eine Beleidigung für das Auge, aber – wie Lena beim Testsitzen feststellte – irre bequem. Der ideale Platz, um es sich abends mit dem Laptop gemütlich zu machen. Da störten dann auch die hübschhässlich gemusterte Tischdecke und das angestaubte Stoffblumengesteck nur noch marginal.
Tagsüber allerdings, das stand bereits fest, würde sie unter freiem Himmel schreiben. Auf dem kleinen Balkon oder auf der schattigen Terrasse – oder vielleicht direkt am Seeufer auf dem Steg. Es war herrlich hier! Genau so hatte sie es sich gewünscht: ruhig, abgeschieden, mitten in der Natur. Keiner, der ihr auf die Nerven ging, kein Partylärm, kein Kindergeschrei, keine dröhnenden Lkw. Vor allem keine komplizierten Beziehungskisten und emotionalen Dramen, einfach Abgeschiedenheit und Ruhe. Hier würde sie kreativ sein können wie nie. Schließlich saß ihr die Deadline für ihren neuen Erotikroman im Nacken, und zwei andere Projekte mussten überarbeitet werden. Ihr turbulentes Privatleben der letzten Monate hatte definitiv nicht dazu beigetragen, die Arbeitsmoral zu heben, und ihr Zeitmanagement erheblich durcheinandergebracht.
Im Obergeschoss fand Lena das dritte Schlafzimmer. Gleich als sie es im Katalog gesehen hatte, war ihr klar gewesen, dass sie hier schlafen wollte, denn das Zimmer hatte einen Balkon. Das große Doppelbett sah bequem aus und es gab einen Schaukelstuhl. Sie wollte gleich ausprobieren, ob der Balkon groß genug war, um den Stuhl rauszustellen, dann würde sie gemütlich, mit dem Laptoptablett auf dem Schoß dort sitzen, sanft schaukeln und auf den See hinausblicken. Sie lächelte bei dem Gedanken. Zufrieden bemerkte sie, dass es Fliegengitter vor den Fenstern und der Balkontür gab. So würde sie bei geöffnetem Fenster schlafen können, ohne von Mücken, Motten und sonstigem Getier heimgesucht zu werden. Ach, es würden herrliche zwei Wochen werden! Sie würde es sich richtig schön machen und gewiss überaus produktiv sein.
Als sie nach draußen trat, um das Gepäck aus dem Auto zu holen, beglückwünschte sich Lena noch einmal zu dem Entschluss, dem Berliner Großstadttrubel den Rücken zu kehren und sich in die schwedische Waldeinsamkeit zu flüchten. Sicherlich könnte man ihr vorwerfen, dass sie sich vor Entscheidungen drückte. Sie war sich bewusst, dass sie mit ihrem Leben, so wie es im Augenblick war, nicht vollkommen zufrieden war und dass sie früher oder später etwas würde ändern müssen, doch zunächst musste sie sich klar werden, was sie überhaupt von ihrem Leben erwartete. Hier hatte sie Zeit und Ruhe, um darüber nachzudenken, ganz ohne Ablenkungen.
Schließlich waren die Lebensmittel eingeräumt, ihr Koffer nach oben ins Schlafzimmer geschafft und die Kleider im Schrank verstaut. Sie hatte die Balkontüren geöffnet, da sich unter dem Dach die Hitze staute. Trotz der Klimaanlage im Auto fühlte Lena sich nach der langen Fahrt verschwitzt und klebrig. Eine ausgiebige Dusche würde jetzt guttun. Sie nahm Handtuch und Kulturbeutel und stieg die schmale Holzstiege hinunter ins Erdgeschoss, wo sich das Badezimmer befand. In Erwartung der Erfrischung zog sie eilig Shorts, Top und Unterwäsche aus und ließ die Sachen einfach im Flur liegen. Was für eine Wohltat, diesen vermaledeiten Bügel-BH loszuwerden! Auf der Reise hatte sie mehrfach bereut, kein bequemeres Modell angezogen zu haben.
Sie drehte die Dusche auf, ließ das warme Wasser über ihren verschwitzten Körper laufen und wusch sich die Haare. Ihre Hände massierten vorsichtig die Druckstellen unter ihren Brüsten, die der unbequeme Büstenhalter hinterlassen hatte. Herrlich! Das tat gut! Sie drehte das Wasser ab, quetschte eine großzügige Portion Duschgel in ihre Handfläche und rieb es genüsslich zu einem satten Schaum, den sie mit kreisenden Bewegungen auf ihrem Körper verteilte. Wehmütig wurde sie sich dabei bewusst, dass zwei Wochen schwedische Waldeinsamkeit auch zwei Wochen ohne Holger bedeuteten. Auch wenn ihr Beziehungsstatus ungeklärt war, der Sex war phänomenal und sie vermisste ihn jetzt schon. Vergangene Woche hatten sie es sogar am helllichten Tag auf seinem Balkon getrieben und dabei war es ihr vollkommen gleichgültig gewesen, ob die Arbeiter auf dem Dach gegenüber sie sehen konnten. Im Gegenteil, irgendwie hatte es die Sache noch heißer gemacht. Sie hatte sich später über sich selbst gewundert. So kannte sie sich gar nicht. Eigentlich war sie in solchen Dingen eher zurückhaltend, aber Holger hatte einfach etwas an sich. Etwas, das Lenas inneres Feuer herauskitzelte. Sie schloss die Augen und sah Holger im Geiste vor sich. Er war so sexy in seiner dunkelblauen Uniform, allerdings noch heißer ohne. Sie dachte an seinen gebräunten, definierten Körper, den flachen Bauch mit dem leichten Sixpack, die trainierten Oberarme, den knackigen, festen Po. Er war einfach nur lecker. Lena tat sich für gewöhnlich schwer, dem besten Stück eines Mannes so etwas wie Ästhetik zu bescheinigen, aber Holger – das konnte sie wirklich nicht anders sagen – Holger hatte wirklich einen schönen Penis. Er war perfekt. Glatt, gerade, nicht zu groß und nicht zu klein, die Eichel hell und schön geformt, und dieser Mann wusste auch, damit umzugehen. Holgers Penis hätte wunderbar als Modell für Dildos getaugt. Womöglich gab es ihn schon, den Holger-Dildo. Wenn sie so darüber nachdachte, traute sie es ihm durchaus zu, dass er sich für so etwas hergeben könnte. Denn er liebte Sex und verfügte über ein unerschütterliches Selbstbewusstsein. Kein Wunder. Er war von oben bis unten ein Prachtkerl, und sie würde ihn und sein modellwürdiges Liebeswerkzeug zwei ganze Wochen missen müssen. Unwillkürlich hatte sie die Hand zwischen die Schenkel geschoben, während sie an ihn dachte. Ein sehnsüchtiges Ziehen in ihrem Unterleib ließ sie aufstöhnen. Kein Wunder, dass sie in der letzten Zeit mit ihren Romanen in Verzug geraten war. Wer sollte sich denn konzentrieren, wenn er von einem solchen Mann abgelenkt wurde? Es war definitiv die richtige Entscheidung gewesen, für eine Weile zu verreisen. Sie musste sich klar werden, ob ihr reichte, was Holger zu bieten bereit war, aber dafür brauchte sie Abstand, um mit klarem Kopf darüber nachdenken zu können. Sie war sich nicht sicher, ob sie mit einer – ja, konnte man es überhaupt mit Fug und Recht Beziehung nennen? – wie dieser auf Dauer würde leben können. Immer wenn sie glaubte, endlich zu wissen, was sie wollte, funkten ihr die Hormone dazwischen. Vielleicht war es naiv, von einer idealen Beziehung zu träumen, von Treue, Verbindlichkeit und großen Gefühlen. Womöglich war das, was sie mit Holger hatte, eben bloß ehrlicher. Eigentlich gab es doch überhaupt keinen Grund zur Klage. Im Gegenteil. Lena drehte das warme Wasser wieder auf und begann, den duftenden Schaum von ihrem Körper zu spülen. Ihre Hände glitten über ihre Brüste. Sie spürte ihre Brustwarzen, die sich beim Gedanken an Holger und ihren Sex aufgerichtet hatten. Es kribbelte, als ihre Handflächen darüberstrichen, und sie reizte sie sanft mit den Fingernägeln. Dabei dachte sie an Holger, an seine warme Zunge und weichen Lippen, die ihre Brustwarzen neckten und mit ihnen spielten, seine kräftigen Hände, die über ihre Haut glitten, ihre Hüften packten und sie an seinen festen, muskulösen Körper zogen. Lena schob die Hand wieder zwischen ihre Schenkel und spürte mit den Fingern dem Kribbeln nach, das die sehnsüchtigen Gedanken und die zarten Berührungen dort hinterlassen hatten. Sie reizte ihre empfindliche Knospe und rieb sie sanft, während sie sich vorstellte, wie Holger sie küsste. Heiß fordernd eroberte seine Zunge ihren Mund, ihre Unterkörper drängten sich hungrig aneinander. Seine harte Männlichkeit presste sich verlangend gegen ihren Unterleib. Lenas Finger teilten die weiche Haut zwischen ihren Beinen, glitten in die warme Feuchte und streichelten über ihre empfindlichsten Stellen. Dabei stellte sie sich vor, wie Holger sie gegen die Wand drückte, ihren Po fest mit den Händen packte, sie hochhob und in sie eindrang. Wie sie die Beine um seine Hüfte schlang und er zunächst langsam und gefühlvoll, dann immer schneller und heftiger in sie stieß. Sie glaubte, seine Finger fühlen zu können, die sich in ihre Pobacken krallten, während er stöhnend in ihr kam. Ihr entfuhr ein lustvolles Seufzen, als sie ihren Höhepunkt erreichte. Ein bisschen laut vielleicht? Egal! Hier draußen in der Einsamkeit hörte es ja keiner. Noch einmal seufzte sie wohlig, während sie die Hand zwischen die Schenkel presste. Ein befriedigtes Zucken durchlief ihren Unterleib. Offenbar war es durchaus möglich, zwei Wochen ohne Holger zu überleben, wenn man zwei gesunde Hände hatte. Bei dem Gedanken musste sie lachen.
Wunderbar erfrischt stieg sie aus der Dusche und hüllte sich in das flauschige Handtuch, das frisch nach irgendeinem Weichspüler duftete. Sie machte sich nicht die Mühe, sich gründlich abzutrocknen. Die restliche Feuchtigkeit würde in der Sommerhitze ganz von allein trocknen und ihr noch ein wenig Abkühlung bringen.
Fröhlich pfiff sie eine Melodie vor sich hin und öffnete die Badezimmertür.
Als sie auf den Flur hinaustrat, entfuhr ihr ein Schrei und sie blieb wie angewurzelt stehen. Instinktiv zog sie das Handtuch fester um ihren Körper. Vor ihr stand ein hochgewachsener, blonder Mann, und in seiner Hand baumelte ihr BH.
Eine unliebsame Überraschung
»Was zum Teufel machen Sie hier?!«, schrie Lena – auf Deutsch, weil ihr gerade nichts Besseres einfiel. Der Blonde sah mindestens ebenso erschrocken und verwirrt aus wie sie, was Lena ein wenig beruhigte. Er starrte sie mit überraschtem Ausdruck an und ließ den Arm sinken. In diesem Moment schien er sich wieder bewusst zu werden, was er in der Hand hielt, und er grinste sie verlegen an. Eine deutliche Röte überzog sein Gesicht. Er zuckte entschuldigend mit den Schultern, antwortete etwas auf Schwedisch, das Lena nicht verstand, und legte den BH zurück auf den Klamottenhaufen am Boden. Dann glitt sein Blick wieder zurück zu ihr und musterte sie neugierig. Lena hielt krampfhaft das Handtuch fest, so dass bereits ihre Finger schmerzten.
O mein Gott! Das kleine Liebessolo unter der Dusche fiel ihr wieder ein. Sie war nicht gerade leise gewesen.
»Wie lange stehen Sie schon hier draußen?«, zischte sie. »How long have you been standing here?«, schickte sie auf Englisch hinterher. Die paar Brocken Schwedisch, die sie gelernt hatte, würden ihr in dieser Lage nicht weiterhelfen. Auf solche Situationen bereitete einen auch der beste Selbstlernkurs nicht vor.
Die Miene des Mannes hellte sich etwas auf.
»Ah, you speak English.« Lena konnte seine Begeisterung für die Beseitigung dieser Kommunikationshürde nicht teilen. Sie wollte lieber wissen, was dieser wildfremde Mann hier in ihrem Flur zu suchen hatte. Er wirkte verlegen, so dass sie nicht glaubte, einen Einbrecher oder gar Schlimmeres vor sich zu haben. Sicher konnte man sich da allerdings keinesfalls sein, egal, wie jung und attraktiv er sein mochte. Sie beäugte ihn weiterhin misstrauisch und wiederholte ihre Frage.
»Ich wollte nicht … es tut mir leid, ich wusste nicht, dass jemand hier ist«, stammelte er Mann und deutete auf die Klamotten am Boden. »Ich habe mich nur gewundert, warum die Dusche läuft, und wem diese Sachen hier gehören.«
Oh verdammt! Hatte er etwa gelauscht? Er schien sich definitiv ertappt zu fühlen und betrachtete sie mit unverhohlener Neugier. Sie hätte im Boden versinken mögen. Gleichzeitig war sie wütend bis in die Haarspitzen. Was hatte dieser unverschämte Kerl hier zu suchen? Offenbar war er sich ja überhaupt keiner Schuld bewusst.
»Ich wüsste nur zu gern, wer Sie sind und was Sie hier zu suchen haben! Ich habe dieses Haus für die nächsten zwei Wochen gemietet!«
Ein Ausdruck des Verstehens war in seinem Gesicht abzulesen.
»Ah! Okay! Jetzt begreife ich. Bitte entschuldigen Sie. Da muss etwas schiefgelaufen sein. Wahrscheinlich hat das Vermietungsbüro vergessen, das Haus für diese Woche zu blocken.«
Anscheinend amüsierte ihn die Situation, jedenfalls schmunzelte er nun und dachte offenbar nicht im Entferntesten daran, den Blick von ihrer spärlich bedeckten Blöße abzuwenden. Lena konnte das alles überhaupt nicht lustig finden, und sie wusste noch immer nicht, was er hier zu suchen hatte.
»Was soll das heißen, sie haben vergessen, das Haus zu blocken?«
»Das heißt, das Haus steht in dieser Woche nicht zur Vermietung frei.«
»Aber ich habe es regulär gemietet! Ich kann Ihnen die Buchungsbestätigung zeigen.«
»Das glaube ich Ihnen. Da muss der Verwaltung ein Fehler unterlaufen sein. In dieser Woche ist das Haus jedenfalls bereits belegt.«
»Ach ja?! Von wem? Von Ihnen?«, spie Lena. Die Selbstverständlichkeit und Gelassenheit, mit der er auf diese Lage reagierte, machte sie wütend. »Wer sind Sie überhaupt?«
»Ivar Nyberg. Meiner Familie gehört dieses Haus.« Der Blonde lächelte und streckte Lena die Hand entgegen.
Sie zögerte, ergriff sie aber schließlich, während sie mit der freien Linken weiter krampfhaft das Badetuch festhielt.
»Lena Martini.«
»Martini. Wie der Drink«, kommentierte ihr Gegenüber grinsend.
Na prima. Und das von einem Mann, der hieß wie ein Kellerregal.
»Tja, ich fürchte, das Vermietungsbüro hat Mist gebaut. Ich komme jedes Jahr über Mittsommer her, um Urlaub zu machen. Wir sollten den Verwalter anrufen und die Sache klären. Bestimmt findet sich eine Lösung. Bitte seien Sie nicht böse, dass ich hier so hereingeplatzt bin. Ich habe wirklich nicht damit gerechnet, dass jemand hier ist.«
»Ich ziehe mir nur rasch etwas an.« Eilig klaubte Lena ihre Sachen vom Boden, lief die Treppe hinauf und schloss die Schlafzimmertür. Sie holte frische Unterwäsche und ein luftiges Sommerkleid aus dem Schrank und zog sich an. Dabei grübelte sie darüber nach, was jetzt geschehen sollte. Würde sie etwa umziehen müssen? Das war überaus ärgerlich. Es gefiel ihr hier, und es war schließlich nicht ihre Schuld, wenn das Vermietungsbüro etwas verbockt hatte. Je länger sie darüber nachdachte, desto wütender wurde sie und desto fester stand ihr Entschluss, sich nicht so ohne Weiteres vertreiben zu lassen. Sollte dieser Ivar doch in zwei Wochen wiederkommen, wenn sie weg war und das Ganze mit der Vermietungsfirma regeln. Er hatte gewiss nicht so einen langen Anfahrtsweg. Sie würde sich doch nicht von irgendeinem dahergelaufenen Schweden ihren Urlaub verderben lassen!
Lena stapfte die Treppe hinunter und hörte Ivar Nyberg im Wohnzimmer auf Schwedisch telefonieren.
Abwartend lehnte sie im Türrahmen, bis er aufgelegt hatte.
»Und? Was ist nun?«, fragte sie, nicht ohne eine gewisse Angriffslust in der Stimme.
»Reino kommt in einer Stunde vorbei. Er wird sich um eine Alternative für Sie kümmern.«
»Ich will aber keine Alternative!« Lena verschränkte die Arme vor der Brust. »Genau dieses Haus habe ich gebucht. Ich habe es gezielt ausgesucht, und ich gedenke, hier auch die nächsten zwei Wochen zu bleiben!«
Ivar schien ihr trotziges Auftreten wenig zu bekümmern. Er lächelte einfach und betrachtete sie amüsiert. Lena fand, dass er etwas Verschlagenes hatte, wenn er sie so ansah mit seinen grünen Augen. Wie ein frecher Teenager, der etwas im Schilde führte.
»Wir regeln das, wenn Reino hier ist.«
»Wer soll das überhaupt sein, dieser Reino?«, zischte Lena.
»Reino Carlund. Von der Vermietung. Er sagt, er hat tatsächlich vergessen, das Haus für diese Woche aus der Vermietung herauszunehmen. Ich bin sicher, er findet eine annehmbare Alternative für Sie. In einer Stunde wissen wir mehr.«
»Und … und was mache ich jetzt solange?«
»Also, ich für meinen Teil werde jetzt erst einmal etwas essen. Haben Sie Hunger?«
»Nein!«, knurrte Lena, obwohl ihr Magen sich bei dem Gedanken zusammenzog und sie daran erinnerte, dass sie seit dem pappigen Sandwich an der Raststätte heute Morgen nichts mehr gegessen hatte.
Ivar verschwand in der Küche, aus der es kurz darauf köstlich zu duften begann. Lenas Bauch gab ein wütendes Knurren von sich, woraufhin sie beschloss, sich eins der Kaneelbullar zu gönnen, die sie gekauft hatte. Kommentarlos öffnete sie den Küchenschrank und holte die Packung heraus.
»Sicher, dass Sie keinen Hunger haben?« Ivar lehnte am Herd und grinste breit.
»Nein!«
»Na, kommen Sie! Geben Sie sich einen Ruck. Meine Mutter hat mir einen Topf ihrer Sommersuppe mitgegeben. Das ist die beste Sommersuppe, die Sie jemals gegessen haben. Die beste in ganz Schweden, das verspreche ich Ihnen. Mit frischem Dill, Kartoffeln und Lauch aus dem eigenen Garten und Lachs, der Ihnen auf der Zunge zergeht, so zart und saftig ist der.«
Lena schnupperte sehnsüchtig. Es duftete herrlich, ganz so, wie sie sich Schweden vorgestellt hatte. In ihrem Mund sammelte sich Speichel, und ihr Magen gab erneut ein lautes Rumoren von sich. Ivar lachte.
»Hören Sie auf Ihren Bauch. Der weiß, was gut ist.«
»Na gut. Sie haben mich überredet«, grummelte Lena und legte die Packung mit dem Gebäck zurück in den Schrank.
»Wir sollten draußen auf der Terrasse essen, finden Sie nicht?«, schlug Ivar vor.
»Dann kümmern Sie sich um die Suppe und ich decke den Tisch.«
Der köstliche Duft und die Aussicht auf authentische schwedische Küche im Sonnenschein hatte sie wieder etwas versöhnlicher gestimmt. Was sagte ihre Freundin Milla noch immer? Man muss Krisen und Hindernisse als Chancen begreifen. Vielleicht kam Herr Carlund mit einer überzeugenden Alternativunterkunft für die erste Woche um die Ecke. Es war vielleicht nicht ideal, noch einmal umziehen zu müssen und es gefiel ihr hier, aber im Katalog war ihr die Wahl schwergefallen. Dort hatte es einige schöne Häuser in der Umgebung gegeben.
Sie trug Geschirr, Besteck und Getränke hinaus und deckte den Tisch. Schließlich kam Ivar mit der Suppe und füllte ihnen auf.
»Dann mal Smaklig måltid. Hauen Sie rein!«
»Danke. Es riecht auf jeden Fall köstlich.«
»Sie sind also aus Deutschland?«
»M-hm. Berlin«, antwortete Lena zwischen zwei Löffeln Suppe. Erst jetzt stellte sie fest, dass sie wirklich vollkommen ausgehungert war.
»Und Sie machen ganz allein hier Urlaub?«
»Ist das etwa verboten?« Bei dieser Frage schaltete Lena gleich auf Verteidigung. Sie war eine alleinstehende Frau über fünfundzwanzig, kein Alien. Warum war es so verwunderlich, dass sie alleine Urlaub machte?
»Außerdem mache ich keinen Urlaub, ich bin zum Arbeiten gekommen.«
»Oh, entschuldigen Sie. Ich wollte mit der Frage überhaupt nichts andeuten oder so. Es ist eben nur ungewöhnlich. Die meisten Mieter sind Pärchen oder Familien. Darf ich fragen, was Sie arbeiten?«
»Ich bin Autorin.«
»Wirklich? Das ist ja spannend! Ich habe, glaube ich, noch nie eine Schriftstellerin getroffen. Was schreiben Sie denn?«
»Romane«, antwortete Lena knapp. Über die Details schwieg sie lieber. Wenn sie das Sujet ihrer Romane preisgab, endete das meistens in peinlichem Schweigen oder grenzüberschreitend privaten Nachfragen.
»Vielleicht bauen Sie mich in Ihr nächstes Buch ein? Als den nervigen Schweden, der Ihrer Hauptfigur den Urlaub … Verzeihung, den Kreativaufenthalt versaut.«
»Wohl kaum«, murmelte Lena, obwohl Ivar mit dem rotblonden Wuschelschopf, den grünen Augen und der sportlichen Figur zugegebenermaßen als männliche Hauptfigur ihrer Erotikreihe bestens getaugt hätte. Er sah schon fast unverschämt gut aus. Aber vermutlich wusste er das auch. Zu gutaussehende Männer waren Lena suspekt. Holger bildete da kaum eine Ausnahme. Sie war sich sicher, dass er auch in anderen Fischgründen seine Netze auswarf. Seltsamerweise störte sie der Gedanke bei ihm nicht. Bei früheren Beziehungen hätte es sie rasend gemacht. Doch bei Holger interessierten sie einzig die aufregenden Stunden, die sie miteinander verbrachten. Das war neu – aber gar nicht so verkehrt, oder? Von dem üblichen Beziehungsmüll, dem Drama, den Enttäuschungen, gebrochenen Versprechen und Herzen hatte sie nämlich gründlich die Nase voll. Was sie mit Holger hatte, war schön, unkompliziert. Es war gut, ganz genau so, wie es war. Irgendwann muss eine Frau eben akzeptieren, dass es den Traummann nicht gibt und man einen Kerl nicht ändern kann. Wenn man keine Erwartungen hat, können sie auch nicht enttäuscht werden. Lena war vollkommen klar, dass aus Holger niemals ein treusorgender Ehemann oder Familienpapi werden würde. Früher hätte sie das abgeschreckt, inzwischen war sie sich allerdings nicht mehr sicher, ob sie so jemanden überhaupt wollte. Bei Holger wusste sie wenigstens, woran sie war. Er spielte mit offenen Karten, und sie musste keine unliebsamen Überraschungen befürchten. Dieses Arrangement ging schon erstaunlich lange gut. Warum auch nicht, solange der Sex fantastisch und sie zufrieden war?
Ivar holte sie aus ihren Gedanken.
»Nun kommen Sie. Ich wollte nur einen blöden Witz machen. Geben Sie mir doch eine Chance. Sie wollen mir auch wirklich alles negativ auslegen. Ich kann ehrlich rein gar nichts dafür, dass die Sache mit der Vermietung schiefgelaufen ist. Und am allerwenigsten habe ich geplant, hereinzuplatzen, während Sie gerade unter der Dusche stehen. Es ist mir sehr unangenehm, dass Sie mich vermutlich jetzt für einen perversen Spanner halten. Ich konnte nicht ahnen, dass jemand im Haus ist.« Er lächelte, doch Lena war sich nicht sicher, ob sie ihm die Entschuldigung abkaufen sollte und es ihm tatsächlich so unangenehm gewesen war, wie er behauptete. Mit Scham erinnerte sie sich daran, dass sie nicht wusste, wie lange er bereits im Flur gestanden hatte. Was, wenn er sie gehört hatte? Sie hatte sich schließlich nicht gerade zurückgehalten. Sie spürte, wie die Spitzen ihrer Ohren heiß wurden.
»Autorin. Das klingt spannend. Jedenfalls spannender als mein Job«, versuchte Ivar das Gespräch in Gang zu halten. »Ich bin Einkäufer bei einem großen Sportartikelhändler in Stockholm. Da wohne ich auch. Meine Familie lebt etwas außerhalb in Ekerö. Aber im Sommer, da sind wir immer hierher nach Kronoberg gefahren, ja? Schon, als ich noch ganz klein war. Und jetzt führe ich die Tradition fort und komme jedes Jahr an Mittsommer.«
»Wenn das Ihre Tradition ist, warum weiß der Vermieter davon nichts?«
»Wir haben den Verwalter gewechselt. Das lief früher privat über jemanden im Ort, aber der Bekannte meiner Eltern ist inzwischen zu alt und möchte sich darum nicht mehr kümmern müssen. Deswegen haben wir die Verwaltung an ein Vermietungsbüro abgegeben.«
»Tja, scheint, als hätten die es verbockt.«
Ivar lachte.
»Ja, das ist wohl so.
Wer die Wahl hat …
Zum Nachtisch opferte Lena ihre Kaneelbullar und Ivar bereitete schwedischen Kochkaffee zu. Er schüttelte verständnislos den Kopf, als Lena nach Milch fragte.
»Damit versauen Sie sich vollkommen den Kaffeegeschmack.«
»Ist aber bekömmlicher.«
Lena lief zurück in die Küche, um Milch zu holen, als schon der Geländewagen von Reino Carlund auf die Einfahrt rollte. Der Verwalter stieg aus und kam zu ihnen auf die Terrasse.
»Frau Martini, Herr Nyberg, vielen Dank für Ihre Geduld. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte«, sagte er auf Englisch und schüttelte ihnen beiden die Hände. »Es tut mir wirklich wahnsinnig leid, dass Sie wegen uns nun diese Unannehmlichkeiten haben.«
»Kein Problem, das kann doch passieren«, sagte Ivar und strahlte den Verwalter fröhlich an.
Pah, der hatte gut reden. Er würde am Ende nicht umziehen müssen. Und eigentlich hatte sie gar keine Lust, das Feld zu räumen, denn das Haus und der See gefielen ihr ausgenommen gut. Das hatte sie sich verdient. Die Reise war schließlich nicht billig gewesen. Als freie Autorin konnte sie sich so einen Urlaub kaum leisten.
»Leider habe ich nicht so gute Neuigkeiten«, sagte Carlund zerknirscht und setzte sich. »Um Mittsommer herum ist alles ausgebucht. Das Einzige, das ich Ihnen zurzeit anbieten kann, ist eine Anglerhütte. Sie ist nicht so komfortabel ausgestattet wie dieses Objekt hier, aber dafür sehr schön am Exen gelegen. Das ist ein See hier in der Nähe, eine knappe Viertelstunde mit dem Auto. Hier, ich habe Ihnen den Prospekt mitgebracht.«
Er breitete den Katalog vor Lena aus und deutete auf den markierten Eintrag.
»Chemietoilette?« Lena riss die Augen auf. »Ohne mich! Das können Sie mal ganz schnell vergessen.«
»Ich weiß, es ist nicht das, was Sie sich vorgestellt haben, aber fahren Sie einfach mal raus und sehen sie es sich an. Wir würden Ihnen natürlich die Differenz ausbezahlen und noch einen großzügigen Rabatt zur Entschädigung drauflegen.«
»Kommt überhaupt nicht in die Tüte! Wenn ich ein Plumpsklo möchte, gehe ich auf ein Rockfestival. Ich möchte entspannt und in Ruhe arbeiten.«
»Es tut mir leid. Das ist wirklich alles, was wir im Augenblick anbieten können. Ansonsten könnte ich Ihnen nur noch ein Hotelzimmer in Ljungby besorgen. Natürlich würden wir auch dafür aufkommen.«
»Ich will kein Hotel, ich will ein Ferienhaus am See!«, schimpfte Lena. »Das habe ich gebucht und das will ich auch haben. Und damit basta!«
Carlund sah hilflos aus.
»Leider kann ich Ihnen aber wirklich nichts anderes anbieten. Ich habe alles versucht, ich könnte -«
»Wissen Sie was? Das ist doch albern. Ich möchte nicht der Bösewicht sein, der Sie aus dem Haus vertreibt. Hier ist genug Platz und ich verspreche, dass ich Sie nicht beim Arbeiten stören werde. Sie werden kaum bemerken, dass ich da bin. Ich werde ohnehin viel Zeit draußen verbringen, denn ich gedenke zu angeln, zu schwimmen und Boot zu fahren. Und wegen der Nutzung der Sauna können wir uns absprechen.«
Reino Carlund sah Lena mit zerknitterten Augenbrauen an und erinnerte sie damit an Millas verzogenen kleinen Spaniel, der beim Essen stets bettelte.
»Wir würden Ihnen natürlich einen großzügigen Betrag erstatten, wenn Sie sich bereit erklären würden …«
»Hm. Also, ich weiß nicht …« Lena fühlte sich hin- und hergerissen. Sie wollte natürlich nicht der Sand im Getriebe sein, aber so hatte sie sich ihren Urlaub absolut nicht vorgestellt.
»Kommen Sie. Probieren Sie es wenigstens aus. Wenn es mit uns beiden nicht klappt, bleibt Ihnen immer noch die Anglerhütte am Exen, ja? Wir können gleich nach dem Kaffee einmal rüberfahren und uns das Ganze anschauen. Vielleicht gefällt es Ihnen doch und Sie möchten lieber dort wohnen.«
Na toll. Nun hatte sie also die Wahl zwischen einer Woche Chemietoilette und einer Woche mit einem wildfremden Mann, einem zugegeben sehr attraktiven wildfremden Mann. Ivar wirkte nicht wie ein psychopathischer Axtmörder oder jemand, der sie belästigen würde, allerdings kannte sie ihn kaum. Und überhaupt, den wenigsten psychopathischen Axtmördern stand es auf die Stirn geschrieben, dass sie welche waren. Das waren doch immer diese Typen, von denen die Nachbarn später sagten, sie hätten so nett und zurückhaltend gewirkt. Allerdings blieb ihr im Augenblick wenig übrig, als sich für eine der Alternativen zu erwärmen. Den Urlaub abzubrechen, kam jedenfalls überhaupt nicht infrage.