Leseprobe Im Glanz der Hoffnung

1. Kapitel

Ein Fauxpas

Ein grauenhaftes Geräusch durchdrang ihr Bewusstsein. Es dauerte einen Augenblick, bis Emily realisierte, dass es das Schrillen eines Weckers war, was sie derart erschreckt hatte.

Trauer überkam sie, die sie zu überfluten drohte, als sie vollständig wach wurde. Denn das Abstellen des Weckers assoziierte Emily mit dem täglichen Neubeginn ihres unwillkommenen Daseins. Warum musste er sie morgens aus einer Traumwelt reißen, die für gnädige Unterbrechungen ihrer unerbittlichen Realität sorgte? Wenn es ihr doch nur möglich wäre, ihren Gedanken und ihren Erinnerungen genauso leicht Einhalt zu gebieten wie dem Klingeln des Weckers.

„Hört das denn nie auf?“, flüsterte Emily fast tonlos. Sie zog sich die Bettdecke über den Kopf, in der Hoffnung, durch diese Geste den alltäglichen Grausamkeiten zu entgehen, die das Leben bot. Die gewohnte Antriebslosigkeit überfiel sie. Jeden Morgen derselbe zermürbende Kampf! Emily wollte das Bett nicht verlassen. Es war ihr ein schier unlösbares Rätsel, wie sie ihren Körper dazu bewegen sollte aufzustehen.

Ergeben schloss sie die Augen und versuchte ihre Gedanken zu unterdrücken, die sich wild im Kreis drehten. Sie wollte sich nicht immer wieder mit ihren schmerzhaften Erinnerungen auseinandersetzen. Starr lag sie im Bett und versuchte sich zu entspannen.

„Du darfst nicht daran denken. Denk an gar nichts. Mach deine Gedanken frei.“ Immer wieder wiederholte Emily monoton wie in Trance dieselben Sätze …

Plötzlich riss Emily die Augen auf und ihr Herz raste viel zu schnell, scheinbar war sie nochmals kurz eingenickt. Sie warf einen hastigen Blick auf den Wecker und sprang erschrocken aus dem Bett. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie, die ständig unter Schlaflosigkeit litt, war tatsächlich noch einmal eingeschlafen. Nun war es kurz nach elf Uhr. Ihr Arbeitsbeginn wäre vor fast zwei Stunden gewesen. Hektisch rannte sie in ihrem Zimmer umher, um die Arbeitskleidung zu suchen. Wo hatte der verdammte Rock sich nur versteckt? Endlich fand sie ihn, laut fluchend, verborgen unter einem Berg Klamotten lag er zerknittert auf einem Stuhl.

„Das hat mir gerade noch gefehlt“, schimpfte Emily vor sich hin. Es half nichts, zum Bügeln hatte sie nun wirklich keine Zeit mehr. Nun musste es eben der getragene Rock tun. Ihr war natürlich vollkommen bewusst, dass sie sich bei ihrer Hausdame mit diesem achtlosen Erscheinungsbild noch unbeliebter machen würde. Frau Lilie war der Inbegriff von Perfektion, Pünktlichkeit und tadellosem Benehmen. Attribute, die auf Emily wahrlich nicht im Entferntesten zutrafen. Ihre braunen langen Haare versuchte sie mit den Fingern ein wenig zu richten und band sie kurzerhand zu einem Pferdeschwanz.

Eilig verließ sie den Angestelltentrakt des Hotels. Noch im Laufen knöpfte sie sich hastig die Bluse zu und betete, dass sie weder einem Gast noch einem Angestellten auf den Hotelfluren begegnen würde.

Emily holte rasch den Wagen mit den Putzutensilien und begab sich direkt in die oberste Etage, wo sie diese Woche für das Reinigen der Suiten eingeteilt war. Fahrig schob sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ignorierte ihre zittrigen Knie.

Momentan waren nur zwei der geräumigen Zimmer belegt. Baronin von Hohenstetten verfügte allerdings über ein persönliches Zimmermädchen. Blieb noch die Suite von Frau Greifenwald …

Daher war Emily vormittags lediglich für das Wohlbefinden von Frau Greifenwald zuständig. Auf den normalen Etagen ging es deutlich stressiger zu.

Leider war die berühmte Drehbuchautorin für ihre Extravaganzen bekannt und bestand darauf, dass das Zimmer zwischen 9.30 Uhr und 11.30 Uhr gereinigt wurde, während sie frühstückte und einen Spaziergang unternahm. Emily war vorige Woche in den zweifelhaften Genuss ihres Unmuts gekommen, als sie noch das Bad putzte, während Frau Greifenwald von ihrem Ausflug zurückkehrte. Sie hatte Emily deutlich zu verstehen gegeben, dass sie sich ein unsichtbares Zimmermädchen wünschte, damit sie in Ruhe ihrem strikten Tagesablauf nachgehen konnte.

Wie würde sie reagieren, wenn sie realisierte, dass Emily in ihrer Abwesenheit nicht einmal erschienen war? Diese Dreistigkeit lag wahrscheinlich jenseits ihrer Vorstellungskraft.

Hoffentlich hatte sie sich nicht schon bei Frau Lilie beschwert, schoss es Emily durch den Kopf. Sie wusste, irgendwann wäre eine Grenze erreicht. Eine Abmahnung hatte sie schon vor zwei Monaten erhalten, weil sie ein paarmal unpünktlich zum Dienst erschienen war. Sie konnte es sich nicht leisten, ihren Job als Zimmermädchen zu verlieren. Frau Lilie drückte sowieso schon öfters ein Auge zu. Jede andere Hausdame, die für den reibungslosen Ablauf eines Fünfsternehotels verantwortlich wäre, hätte sie schon längst als untragbar eingestuft. Und jetzt vermasselte sie den erneuten Vertrauensbeweis.

Nicht, dass dieser ihr besonders viel Freude bereitete oder sie vor große Herausforderungen stellen würde. Nein, es gab einen zwingenden Grund, warum sie genau diesen Job behalten wollte. Dieser kraftraubende Beruf, in dem sie oftmals sechs Tag die Woche, zehn Stunden am Tag arbeiten musste, hielt sie davon ab, zum Nachdenken zu kommen. Sie wünschte sich einen Zustand des Vergessens. Dabei half ihr dieser Job, bei dem sie abends zumeist vor Müdigkeit wie betäubt ins Bett fiel.

Im Hotel war es ruhig, lediglich einer Kollegin nickte sie im Vorbeigehen zu. Vor der Tür der Baroness Suite warf sie einen ängstlichen Blick auf ihre Uhr. Die Zeiger standen mittlerweile auf nach halb zwölf.

Vergeblich versuchte sie nochmals ihren Rock mit fahrigen Bewegungen glatt zu streichen. Anschließend hob sie zögerlich ihre Hand und klopfte nervös an die Zimmertür. Zunächst hörte sie nichts. War Frau Greifenwald noch nicht von ihrem Spaziergang zurückgekehrt? Oder beschwerte sie sich just in diesem Augenblick bei Frau Lilie oder schlimmer direkt bei der Geschäftsleitung?, durchfuhr Emily ein noch erschreckenderer Gedanke. Mit all ihrem Mut klopfte sie noch einmal, diesmal etwas weniger zaghaft.

„Ja!“, ertönte es. Alleine durch dieses eine Wort wurde der Unwillen des Gastes perfekt zum Ausdruck gebracht.

„Zimmerservice“, meldete Emily sich mit ungewohnt schriller Stimme zu Wort, während sie vorsichtig die Tür öffnete und eintrat. Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie Sorge hatte, es könnte heraushüpfen.

Frau Greifenwald saß an ihrem Sekretär und hatte Unmengen von Unterlagen, Blättern und Stiften vor sich liegen. Das Notebook lag ungeöffnet auf dem Boden. Als sie Emily erblickte, zog die Drehbuchautorin ihre Augenbrauen nach oben und betrachtete sie mit strengem Blick über den Brillenrand. Ein Moment peinlichen Schweigens entstand, nachdem Frau Greifenwald sich allem Anschein nach nicht bemüßigt fühlte, das Gespräch zu beginnen.

Emily fühlte, wie Hitze ihren Körper in Beschlag nahm. Den Drang, ihre schweißnassen Hände am Rock abzuwischen, musste sie krampfhaft unterdrücken. Ihr war klar, dass sie den Hotelgast nicht ewig ohne ein Wort der Verteidigung anstarren konnte. Hilflos begann sie ihre Schultern hochzuziehen, als ob sie sich dazwischen verstecken könnte.

„Frau Greifenwald, es tut mir schrecklich leid, dass ich Ihr Zimmer noch nicht gereinigt habe. Mir ist bewusst, dass Sie eine viel beschäftigte Frau sind. Ich weiß, dass es für meinen Fauxpas keine Entschuldigung gibt.“ Emily konnte sich nur unter Zwang dazu überwinden die Drehbuchautorin anzusehen. Sie wollte wenigstens nicht als feige gelten.

„Ich war der Meinung, ich hätte meine Bedürfnisse klar und deutlich zum Ausdruck gebracht“, erwiderte Frau Greifenwald mit strenger Stimme.

„Darüber bin ich mir vollkommen im Klaren, aber ich …“ Emily wusste nicht weiter. Sie konnte schließlich kaum zugeben, dass sie verschlafen hatte.

„Von einem Fünfsternehotel darf ich eigentlich schon einen gewissen Standard und Service erwarten. Es ist doch wirklich nicht zu viel verlangt, innerhalb von zwei Stunden eine Zimmerreinigung durchzuführen.“ Langsam redete sich die temperamentvolle Frau in Rage.

„Ich kann Ihnen nur zustimmen.“ Emily stand mitten im Raum, trat hinter ihrem Putzwagen hervor, als wollte sie damit ihren Mut demonstrieren. „Unser Hotel legt großen Wert auf einen umfangreichen, erstklassigen, individuell auf die Bedürfnisse der Gäste abgestimmten Service. Es tut mir leid, diesem Ansehen mit meiner Unzuverlässigkeit zu schaden“, schloss Emily ihre Erklärung.

Bildete sie sich ein, dass Frau Greifenwald ein Schmunzeln auf den Lippen lag? Das konnte sie sich nun wirklich nicht vorstellen.

„Nun mal langsam mit den jungen Pferden. Ihre kleine Ansprache könnte direkt aus einem meiner Drehbücher stammen. Sehr theatralisch und stilistisch einwandfrei. Gratulation.“

Ungläubig sah Emily sie an. Wollte sie sich nun auch noch auf ihre Kosten lustig machen?

Tatsächlich schmunzelte Frau Greifenwald wahrscheinlich über Emilys dümmlichen Gesichtsausdruck, aufgrund ihrer unerwarteten Reaktion.

„Für ein gewöhnliches Zimmermädchen können Sie sich ziemlich versiert ausdrücken. Erledigen Sie einen Ferienjob hier im Hotel?“, fragte sie scheinbar aufrichtig interessiert.

Emilys kurzzeitige Entspannung verflog schlagartig, als habe sie nur in ihrer Fantasie existiert. Ihr Privatleben ging nun wirklich niemanden etwas an. Anscheinend bemerkte Frau Greifenwald ebenfalls, dass Emily sich von ihr distanzierte, denn ihre gute Laune verflüchtigte sich zusehends und sie bemerkte kurz angebunden: „Ich kann unmöglich arbeiten, während Sie mein Zimmer säubern. Wie soll ich mich so konzentrieren?“

„Es klingt vermutlich anmaßend, aber könnten Sie nicht zwischenzeitlich in der Hotellobby arbeiten?“, versuchte Emily die Stimmung zu retten.

„Man merkt, dass Sie keinerlei Vorstellung von meiner Arbeit haben. Ich benötige Ruhe! Vollkommene Ruhe, um mich auf die Welt der Fantasie und Kreativität einzulassen. Während ich schreibe, lebe ich in meinen Geschichten.“ Sie hob einen Stapel ihres Manuskripts in die Höhe. „Wie in Gottes Namen soll ich das in einer Hotellobby bewerkstelligen, die von Unmengen von Menschen bevölkert wird? Menschen, die mich in meinem Schaffensprozess ständig zu unterbrechen wissen“, entgegnete die Autorin von oben herab.

„Sie können sich doch von den verschiedenen Charakteren und Beobachtungen inspirieren lassen.“ Als sie die umwölkte Stirn ihrer Gesprächspartnerin bemerkte, ergänzte sie schnell: „Oder Sie setzen sich auf Ihre wunderschöne Dachterrasse und genießen die warmen, unglaublich belebenden Sonnenstrahlen und das liebliche Zwitschern der Vögel.“

Als sie den missbilligenden Blick von Frau Greifenwald auffing, hatte sie Bedenken, etwas zu dick aufgetragen zu haben.

„Soll ich mir dort draußen den Tod holen? Nein, ich verzichte dankend!“

Nicht nur sie, sondern auch Frau Greifenwald neigte zu theatralischen Übertreibungen, stellte Emily verwundert fest. Denn obwohl es schon Anfang September war, handelte es sich um einen warmen Herbsttag, dessen tanzende Sonnenstrahlen dazu einluden, Zeit im Freien zu verbringen. Es war ein letzter, sehnsüchtiger Sommergruß, der einen aufforderte, die schönen Erinnerungen an laue Sommerabende nicht zu vergessen.

Emily zuckte zusammen, als ihr bewusst wurde, dass Frau Greifenwald weitersprach und sie überhaupt nicht zugehört hatte. Sie nahm sich zusammen und versuchte ihr gedanklich wieder zu folgen.

„Aber ich muss anerkennen, dass Sie sich wirklich Mühe geben und versuchen kreative Ideen zu entwickeln. Das gefällt mir. Deshalb werde ich Ihnen noch eine Chance geben.“ Die Autorin legte ihre Manuskriptseiten auf dem Sekretär ab und erhob sich. „Sie können das Zimmer reinigen und ich genehmige mir einen weiteren Cappuccino an der Bar. Aber sehen Sie zu, dass Sie mit Ihrer Arbeit fertig sind, wenn ich in einer halben Stunde zurückkehre.“

Mit diesen Worten verließ sie die verdutzte Emily.

 

 

Während Emily unter Hochdruck zuerst das Bad und später die Suite saugte und putzte, dachte sie darüber nach, ob Frau Greifenwalds positive Reaktion wohl bedeutete, dass sie sich nicht über sie beschweren würde. Sie konnte die Drehbuchautorin in ihrer Unberechenbarkeit nicht einschätzen. Einmal wirkte sie völlig unnahbar und überheblich, dann wiederum nahm sie menschliche Züge an und wirkte fast freundlich und verständnisvoll.

Emily achtete darauf, trotz des Zeitdruckes ordentlich zu arbeiten. Frau Greifenwald würde ihr keine weiteren Fehler durchgehen lassen.

Sie trat an den Schreibtisch heran und war unschlüssig, ob sie das Durcheinander auf dem Sekretär aufräumen sollte. Spontan entschied sie sich dagegen, da sie das unbestimmte Gefühl in sich trug, dass es Frau Greifenwald nicht gutheißen würde, sollte sie ihre Arbeitsunterlagen durcheinanderbringen.

Emily ließ ihren Blick routiniert durch den großzügigen Raum gleiten. Sie sah die gemütliche Sitzecke mit der exquisiten weißen Ledercouch und den bequemen Sesseln, die zum Wohlfühlen einluden. Die großen Fensterfronten schufen einen hellen, freundlichen Raum mit sensationellem Ausblick auf die Allgäuer Alpen. Außerdem gab es zwei Schreibmöglichkeiten für Frau Greifenwald. Zum einen stand ihr der antike Sekretär zur Verfügung, welcher sich linker Hand der Lounge befand. Ein weiterer Tisch war direkt vor einem der bodentiefen Fenster platziert. Anscheinend fühlte sich die Drehbuchautorin an diesem Platz durch die spektakuläre Bergkulisse abgelenkt, sodass sie ihren Arbeitsplatz am Sekretär bezogen hatte. Das Schlafzimmer befand sich in einem angrenzenden, separaten Raum und war ebenfalls liebevoll mit teuren und sehr stilvollen Möbelstücken eingerichtet.

Kurzzeitig verlor Emily sich in alten Träumen. Träume, die sie schon vor Jahren begraben hatte, von denen sie wusste, dass diese unwiderruflich verloren waren. Wie musste man sich fühlen, wenn man in der glücklichen Lage war, sich solch ein Zimmer über Monate hinweg leisten zu können?

Emily wachte aus ihrer Versunkenheit auf und wandte den träumerischen Blick von der Bergkulisse ab. Energisch versuchte sie ihre Gedanken abzuschütteln. Schließlich wusste sie am allerbesten, dass Geld und Reichtum ihr niemals das verlorene Glück zurückgeben konnten. Rasch versteckte sie ihre Gefühle wieder hinter einer Maske der Gleichgültigkeit, um den Schmerz, der sie unvermittelt überfiel, zu vertuschen.

Just in dem Augenblick, als sie abschließend die Minibar auffüllte, betrat Frau Greifenwald, pünktlich auf die Minute, die Suite.

„Sie sind ja immer noch hier!“

„Ich bin soeben fertig geworden.“ Emily stellte die letzte leere Flasche auf ihren Wagen. „Hoffentlich ist alles zu Ihrer Zufriedenheit. Nun werde ich Ihre wertvolle Zeit nicht über Gebühr beanspruchen und Sie endlich arbeiten lassen.“ Emily wollte den Wagen aus dem Zimmer schieben, aber Frau Greifenwald hielt sie nochmals zurück. „Sie wollten mir anscheinend vorhin meine Frage nicht beantworten. Aber ich glaube die Antwort zu kennen. Sie arbeiten fest angestellt als Zimmermädchen, oder?“ Frau Greifenwald ließ die Frage einen Moment in der Luft hängen. Als Emily wegsah, fuhr sie fort: „Das ist mir unbegreiflich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Anforderungen dieses Berufes Sie ausfüllen. Da Sie augenscheinlich weder ungebildet noch dumm sind, verstehe ich nicht, warum Sie nicht mehr aus Ihrem Leben machen.“

Emily schoss die Röte ins Gesicht, als sie diese unverblümten Worte hörte. Sie empfand sie als anmaßend und dreist. Was war schlimm daran, einen Beruf auszuüben, für den man keine besonderen Qualifikationen vorweisen musste?

„Ich glaube nicht, dass es zu meinen Aufgaben gehört, Ihnen über die Beweggründe meiner Berufswahl Auskunft zu erteilen.“

Frau Greifenwald schien ihre Reaktion nicht persönlich zu nehmen und erwiderte trocken: „Genau das meinte ich. Sie sind um keine treffende Antwort verlegen. Sie können sich ausdrücken, rechtfertigen und argumentieren. Ich kann nicht verstehen, dass jemand, in dem offensichtlich Potenzial steckt, dieses nicht ausschöpft.“

„Vielleicht fällt nicht jedem Menschen alles in den Schoß und ein anderer Weg scheint zu umständlich und aufwendig.“ Emily wusste nicht, warum sie sich auf diese Diskussion überhaupt einließ.

Frau Greifenwalds Gesichtsausdruck spiegelte Enttäuschung und scheinbar sogar Verachtung wieder.

„Ich hätte Sie aufgrund unseres Gespräches nicht für eine Person gehalten, die bei kleinsten Problemen aufgibt und immer den einfachsten Weg wählt, weil es ihr zu unbequem ist, etwas für ihre Karriere zu tun. Ich habe noch nie verstanden, warum Menschen meinen, für ihren eigenen Erfolg und ihr eigenes Glück nichts tun zu müssen. Nur durch harte Arbeit bringt man es im Leben zu etwas.“ Frau Greifenwald musterte Emily. „Sie sind eine junge Frau, Anfang zwanzig, ohne bedeutende Zukunftsperspektive, ohne Aufstiegschancen. Wollen Sie wirklich bis an Ihr Lebensende als einfaches Zimmermädchen arbeiten? Die ganze Welt steht Ihnen noch offen. Warum bemühen Sie sich nicht wenigstens darum, einen Ausbildungsberuf zu erlernen?“

Emily rang um Fassung, als sie diese harschen Worte vernahm. Sie bekam keine Luft mehr und hatte Angst zu hyperventilieren. Für einige Sekunden, die ihr unendlich lang vorkamen, drehte das Zimmer sich um sie und Emily schaffte es nicht mehr, sich auf ihre Gesprächspartnerin zu konzentrieren. Sie bemühte sich um eine ruhige, konstante Atmung, genauso wie sie es gelernt hatte. Langsam ging es ihr wieder etwas besser und ihr Puls schien sich ebenfalls zu normalisieren.

Sie sah Frau Greifenwald geradewegs in die Augen, blinzelte nicht einmal und erwiderte gequält: „Sie wollen wissen, warum ich mich nicht bemühe, mich weiterzubilden?“ Emily wartete keine Antwort ab. „Die enttäuschende Antwort lautet: Ich verspüre keine Motivation, in mir ist nur Leere. Ich bin froh, wenn ich es morgens schaffe, mein Bett zu verlassen, um überhaupt einer Tätigkeit nachgehen zu können. Egal welcher! Ich habe nicht die Kraft, mich einer Ausbildung oder einem Studium zu widmen. Und vor allem steht die große Frage im Raum, für was ich diesen Aufwand überhaupt betreiben soll. Ich sehe für mich weder eine Zukunft noch Freude und erst recht keine Lebensqualität.“

Die Worte brachen wie ein Orkan aus ihr heraus, als ob sie diesem belastenden Druck, unter dem sie permanent stand, endlich einmal ein wenig Ventil zur Entfaltung geben wollte. Unvermittelt schossen ihr die Tränen in die Augen, als ihr die Tragweite ihres Vorgehens bewusst wurde, und sie hastete ohne ein weiteres Wort aus dem Raum.

***

Frau Greifenwald wollte sie zurückhalten, aber plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie noch nicht einmal den Namen der Person kannte, die täglich für ihr Wohlbefinden sorgte. So rauschte die Hotelangestellte von dannen und sie konnte ihr nur hilflos hinterhersehen. Unbewusst fuhr sie sich durch die kurzen roten Haare. Es war ihr ein wenig unangenehm, offensichtlich für den emotionalen Ausbruch des Zimmermädchens verantwortlich zu sein. Diese undurchsichtige, vielschichtige Persönlichkeit interessierte sie, seit sie sie das erste Mal in ihrer Suite angetroffen hatte. Die junge Frau musste schon einiges erlebt haben, um so müde und des Lebens überdrüssig zu sein. Während sie sich einen zweiten Cappuccino an der Hotelbar gegönnt hatte, glaubte sie, Emilys Beweggründe seien einfach zu durchschauen. Sie hatte ihr heimlich unterstellt, auf diesem Weg einen reichen Mann finden zu wollen. Abwegig war dieser Vorwurf nicht. Im Hotel Hohenstetten stiegen viele wohlhabende Geschäftsleute ab. Viele Firmen aus der Region hielten hier Konferenzen ab.

Hübsch genug war sie mit ihrem Modelaussehen. Nur ihre traurigen, ausgebrannten Augen passten nicht in das perfekte Gesamtbild.

Doch nach diesem Auftritt glaubte Frau Greifenwald nicht mehr an ihre ursprüngliche Theorie. Diese Unterstellung war zu profan und erklärte nicht den emotionalen Ausbruch.

Sie ließ sich am Schreibtisch nieder, erwischte sich dabei, nachdenklich aus dem Fenster zu sehen.

Eine halbe Stunde später musste sie sich eingestehen, dass sie sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren konnte. Seufzend stand sie auf, nahm den Telefonhörer in die Hand und ließ sich mit der Hausdame verbinden. Nachdem sie Frau Lilie am Apparat hatte, bat sie sie um einen umgehenden Besuch in ihrer Suite.

Die vorbildlichen Manieren der Hausdame verhinderten wohl, dass sie ihr Befremden über diesen ungewöhnlichen Wunsch zum Ausdruck brachte.

„Frau Lilie, ich bedanke mich, dass Sie meinem Wunsch unverzüglich nachgekommen sind.“ Frau Lilie nickte ihr zu, gab aber weiterhin keine Gefühlsregung preis. „Es mag Ihnen ungewöhnlich vorkommen, aber mich beschäftigen einige Fragen. Wie heißt eigentlich das Zimmermädchen, das momentan für meinen Service zuständig ist?“

Frau Lilie antwortete pikiert: „Hat Frau Schwarz nicht zu Ihrer Zufriedenheit gearbeitet? Ich kann umgehend für Ersatz sorgen, wenn sie Ihren Ansprüchen nicht genügt.“

„Sie haben mich falsch verstanden“, beschwichtigte Frau Greifenwald. „Mir fiel lediglich nach einem Gespräch mit ihr auf, dass ich nicht einmal weiß, wie sie heißt. Ich habe keinen Grund zur Beanstandung.“

Der skeptische Blick der Hausdame ließ Spekulationen freien Lauf, anscheinend war Frau Schwarz schon des Öfteren negativ aufgefallen. Etwas, das ihre Neugier noch entfachte.

„Können Sie mir Auskunft über die Vorgeschichte von Frau Schwarz geben?“

Es war ihr egal, was Frau Lilie für Gedanken über ihre Beweggründe durch den Kopf schwirrten.

Wieder ließ sich die Hausdame ihr Befremden nicht anmerken. „Frau Schwarz arbeitet seit über einem Jahr in unserem Betrieb. Da sie ihre Ausbildung zur Hotelfachfrau nicht abgeschlossen hat, konnten wir sie nur als ungelerntes Zimmermädchen anstellen.“

Das waren interessante Neuigkeiten. Anscheinend gab es einmal bessere Zeiten im Leben der jungen Frau, in denen sie eine Ausbildung absolvierte.

„Wissen Sie, warum Frau Schwarz ihre Ausbildung abgebrochen hat?“

„Es tut mir leid, darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben. Frau Schwarz ist sehr verschlossen, was ihre Vergangenheit betrifft.“

„Vielen Dank für Ihre Bemühungen.“ Mit dieser Aussage entließ Frau Greifenwald die verdutzte Hausdame. Sie sah sich nicht genötigt, sie über ihr Interesse aufzuklären. Aber ihre Neugierde, Näheres über Frau Schwarz’ dunkles Geheimnis herauszufinden, war geweckt.

2. Kapitel

Neugierde oder Mitgefühl?

Wutentbrannt stürmte Emily über den Gang. Den Putzwagen hatte sie aufgeräumt, nun benötigte sie dringend frische Luft. Was für eine bodenlose Unverfrorenheit. Warum hielten sich diese reichen überheblichen Hotelgäste eigentlich immer für etwas Besseres und meinten, sie könnten nach Belieben mit dem Personal umspringen? Was gingen Frau Greifenwald ihre Beweggründe an? Warum interessierte sie sich überhaupt für ihr Leben? Da war es ihr allemal lieber, von den Hotelgästen wie Luft behandelt zu werden. Damit kam sie gut zurecht. Sie richtete den Blick eilig zu Boden, als zwei Kollegen ihr entgegenkamen, damit sie bloß nicht auf die Idee kämen, sie anzuquatschen.

Geschafft! Jetzt musste sie nur noch unbemerkt den Angestelltenausgang erreichen, dann wäre sie gerettet.

„Emily, ist alles in Ordnung mit dir? Kann ich dir helfen?“

Mist! Ausgerechnet Helena musste ihr über den Weg laufen. Die ließ sich nicht so leicht abschütteln. Langsam drehte sie sich um und bemühte sich um ein halbwegs freundliches Gesicht.

„Hey, ich habe dich gar nicht gesehen. Alles okay.“

Helena war seit einigen Monaten für die Kinderbetreuung der kleinen Hotelgäste zuständig und die Einzige, die es noch nicht aufgegeben hatte, Emily aus der Reserve zu locken. Und sie sah viel zu besorgt aus, als dass sie sie mit der lapidaren Aussage abspeisen konnte.

Emily pflegte keine Beziehungen zu anderen Mitarbeitern. Die meisten kannte sie nur flüchtig, denn sie hatte kein Bedürfnis nach Nähe. Ihre Kolleginnen tuschelten oftmals hinter ihrem Rücken über sie, dessen war sich Emily bewusst. Wahrscheinlich hielten sie Emily für arrogant und dachten, es wäre unter ihrer Würde, sich mit ihnen abzugeben. Dass es sich genau andersherum verhielt, konnten sie sich wahrscheinlich beim besten Willen nicht vorstellen. Emily hatte es nicht verdient, dass Menschen sich mit ihr beschäftigten oder sie gar mochten. Sie bestrafte sich bewusst selbst mit ihrem Verhalten. Aber dadurch fühlte sie sich ein klein wenig besser.

Helena hingegen war immer freundlich und beliebt bei sämtlichen Kollegen. Daher traten bei Emily in ihrer Gesellschaft regelmäßig gemischte Gefühle auf. Einerseits konnte sie sich Helenas positiver Ausstrahlung und Herzlichkeit nicht entziehen. Auch wenn sie es nicht zeigen konnte, da sie ihre wahren Emotionen schon zu lange versteckte. Anderseits nahm sie Helena ihre Leichtfertigkeit und Lebensfreude insgeheim übel und das tat ihr leid. Es fiel ihr allerdings schwer, ihre Anwesenheit zu ertragen, da sie ihr ständig vor Augen führte, was sie selbst verloren hatte. Emily würde niemals mehr in der Lage sein, dieselbe Lebensfreude und unglaubliche Vitalität, die Helena ausstrahlte, zu verspüren.

Helena riss Emily unversehens erneut aus den Gedanken, als diese sie am Arm berührte.

„Emily? Du siehst nicht aus, als wäre alles okay.“

Emily zuckte zusammen und zog hastig ihren Arm zurück. Sie konnte es nicht leiden, wenn andere Menschen sie anfassten. Sie wollte keinen Körperkontakt – zu niemandem. Das würde bedeuten, ihr käme jemand zu nahe. Ein Umstand, den sie unbedingt verhindern wollte.

Helena bemerkte anscheinend ihren Unwillen und unterließ weitere vertrauliche Berührungen. Ihr besorgter Blick blieb jedoch bestehen.

„Mir geht es gut“, erwiderte Emily spröde.

„Du siehst aus, als wäre dir eine Laus über die Leber gelaufen.“ Helena ließ sich nicht von Emilys abweisender Reaktion aus dem Konzept bringen.

Gott, was ging Helena ihr mit ihrer Vorliebe für Sprichwörter auf die Nerven. Sie verdrehte die Augen und sagte unwirsch: „Um deine unersättliche Neugierde zu befriedigen, ich hatte Probleme mit einem Hotelgast. Aber nun ist alles geklärt und du kannst dein Gutmenschen-Syndrom wieder ad acta legen.“

Helena musterte sie weiterhin beunruhigt. Emilys Unverschämtheiten schienen einfach wie Regentropfen an ihr abzuperlen. In einer schwachen Stunde hatte ihr Emily von der erhaltenen Abmahnung erzählt, deshalb waren Helenas Sorgen durchaus gerechtfertigt.

„Hat Frau Lilie etwas von deinen Schwierigkeiten mitbekommen?“

Emily wartete ab, bis zwei lachende Kollegen vorbeiliefen, die gerade das Hotel betraten. Stumm beobachtete sie Helena, die sie freudig mit Namen begrüßte, während sie selbst von den Neuankömmlingen unbeachtet blieb.

Sie sollte sich ein wenig mehr Mühe geben. Immerhin war Helena die einzige Person, die aufrichtiges Interesse an ihr zeigte.

„Ich glaube nicht, dass Frau Greifenwald sich über mich beschwert hat. Ich habe verschlafen, deshalb war ihre Suite noch ungereinigt, als sie von ihrem Spaziergang zurückkam. Wie du dir denken kannst, war sie alles andere als amused.“ Sie rollte kurz mit den Augen. „Aber ich habe das Gefühl, dass wir das einvernehmlich geklärt haben“, schloss sie ihre Erklärung ein klein wenig erleichtert.

„Frau Greifenwald!“, erwiderte Helena fast ehrfürchtig. „Du bist für die Suite von Frau Greifenwald zuständig.“ Jetzt sprühte Helena vor Leben und packte Emily aufgeregt am Arm. Emily schüttelte erneut ihre Hand ab, doch Helena schien es nicht zu bemerken. „Warum sagst du das nicht gleich? Erzähl, wie ist sie so? Ich liebe ihre Filme. Hast du mit ihr über ihre Arbeit sprechen können? Weißt du, an welchem neuen Projekt sie arbeitet? Hast du „Gefühlsverwirrungen“ gesehen? Ein wunderschöner, aber gleichzeitig auch trauriger Film.“

Emily fühlte sich von Helenas Redeschwall vollkommen überrannt und spürte die gewohnte, altbekannte Gereiztheit in sich aufsteigen.

„Natürlich, Helena!“ Sie hob ironisch die Arme gen Himmel. „Frau Greifenwald lädt mich jeden Morgen nach getaner Arbeit zum gemütlichen Kaffeekränzchen ein und fragt mich bei schwierigen Szenen um Rat. Meine Meinung hat einen äußerst hohen Stellenwert für sie.“

Helena blickte sie verblüfft an und es dauerte einen Augenblick, ehe sie Emilys verächtliche Miene zu realisieren schien. Sie wurde ein wenig rot. Anstatt beleidigt zu sein, lächelte sie. Eine weitere positive Eigenschaft, die sie auszeichnete, musste Emily sich einmal mehr unwillig eingestehen.

„Entschuldige bitte, Emily. Ich wollte dich nicht ausfragen. Aber ich hoffe wirklich, dass Frau Greifenwald über deinen Fehler hinwegsieht. Es würde mir nämlich wirklich leidtun, wenn du deinen Job verlierst. Ich würde dich vermissen, auch wenn du mir das nicht glaubst.“

Mit dieser offenherzigen Aussage ließ Helena sie stehen, und sie starrte ihr verdattert hinterher.