Was bisher geschah:
Emily steht vor einem Wendepunkt in ihrem Leben und kann die Enttäuschung darüber nicht verkraften, dass sie sich in Valerie derart getäuscht hat. Ihr fehlt die Kraft, weiter für ein erfülltes Leben zu kämpfen.
Zwischen Simon und Helena herrscht Funkstille, seit Helena sich in seine Erziehungsmethoden eingemischt hat. Simon verwirren seine Gefühle und er geht ihr seitdem aus dem Weg. Yannick versucht die Wogen zu glätten.
Valerie hat das Hotel fluchtartig verlassen, nachdem Justine Zweifel in ihr an Timurcin gesät hat. Timurcin setzt alles daran, um sich endlich gegen Justine zur Wehr zu setzen.
Henriette geht es zunehmend schlechter. Die Sorgen um Timurcin, Valerie und Justine sind ihrem Gesundheitszustand nicht zuträglich.
Viel Spaß beim Weiterlesen.
Kapitel 34
Ein ernstes Gespräch
Diese furchtbare Schwäche, die sie zunehmend überfiel, bereitete Henriette immer größere Schwierigkeiten.
Sie stützte sich müde und kraftlos auf ihren Gehstock, zu dessen Nutzung sie in den letzten Wochen gezwungen worden war. Mittlerweile überkam sie schon bei leichter Anstrengung Schwindel. Zuletzt hatte sie ihre Suite gar nicht mehr verlassen. Besucher bat sie zu sich, aber es gab ohnehin nicht mehr viele Personen, die sich an sie erinnerten. Neben Timurcin war lediglich Valerie in regelmäßigen Abständen zu Besuch gekommen. Seitdem sie abgereist war, war es wieder sehr einsam geworden. Lediglich ihren Hausarzt empfing sie mittlerweile fast jeden zweiten Tag. Viel konnte er ohnehin nicht mehr für sie tun, aber er konnte zumindest ihre Schmerzen weitgehend lindern. Leider führte die hohe Dosis Morphium zu schwerwiegenden Nebenwirkungen. Es war ihr zuwider hinzunehmen, dass ihr reger Verstand regelmäßig im dichten Nebel versank. Erinnerungslücken häuften sich, und es fiel ihr immer schwerer, sich auf ihren Gesprächspartner zu konzentrieren.
Deshalb hatte sie heute auf die tägliche Ration verzichtet, um sich einem ernsten Gespräch mit ihrer Tochter zu stellen.
Da sich Justine nicht gerade durch Rücksichtnahme auszeichnete, war Henriette gezwungen sie aufzusuchen. Ihre Bitte bei ihr vorbeizukommen, hatte Justine rigoros abgelehnt und ihre Mutter kühl darauf hingewiesen, falls diese sie zu sehen wünschte, müsste sie zu ihr kommen.
Henriette legte den kurzen Weg durchs Hotel in den anderen Trakt, in dem ihre Tochter lebte, mühselig zurück. Völlig erschöpft musste sie sich für einen Augenblick im Flur an die Wand lehnen und ein paar Mal tief Luft holen, um wieder zu Atem zu kommen. Danach zwang sie sich zu klingeln.
Justine wusste über den bevorstehenden Besuch Bescheid. Immerhin hatte Henriette sich der Höflichkeit halber rechtzeitig bei ihr angemeldet, um ihre wertvolle Zeit nicht über Gebühr zu beanspruchen.
Trotzdem ließ sich Justine unverschämt viel Zeit, bevor sie ihre Mutter hereinbat.
Henriette zwang sich, die einzelnen Schritte zu zählen, bis sie sich endlich erleichtert und zutiefst ausgelaugt auf der Couch niederlassen konnte.
„Mach es dir ruhig gemütlich, fühle dich ganz wie zu Hause, Mutter“, klang Justines spöttische Stimme wie durch Watte an ihr Ohr. Das Rauschen in ihren Ohren war derart penetrant, dass es ihr unglaublich viel Mühe bereitete, ihre Tochter überhaupt zu verstehen. Vor ihren Augen verschwamm der Raum und sie überfiel ein panisches Gefühl, wie sie sich in diesem unbekannten Terrain zurechtfinden sollte. Justine stand plötzlich in zweifacher Ausgabe vor ihr und diese Sehstörungen beunruhigten Henriette zutiefst.
„Hättest du die Güte, mich nun endlich über den Grund deines Besuches aufzuklären? Ich bin nicht gewillt, mich ewig hinhalten zu lassen. Es handelt sich wohl kaum um einen reinen Freundschaftsbesuch.“ Justines ungeduldiger Tonfall drang in Henriettes Bewusstsein. Sie hatte keine Ahnung, ob Justine ihr eine weitere Frage gestellt hatte, es fiel ihr schwer, ihre Gedanken in Worte zu fassen.
„Wärst du so freundlich, mir ein Glas Wasser zu reichen?“, brachte sie schließlich ein wenig undeutlich, fast lallend hervor.
Justine betrachtete sie eingehend. Dann kniff sie die Augen zusammen und antwortete abfällig: „Mutter, kann es sein, dass du heute Morgen schon das eine oder andere Glas Cognac zu dir genommen hast? Schaffst du es nicht, deiner Tochter nüchtern gegenüberzutreten?“
Sie schien ehrlich beleidigt zu sein, als würde sie ernsthaft glauben, dass ihre Mutter sich erst einmal Mut antrinken müsste, um die Anwesenheit ihrer Tochter zu ertragen.
Henriette unterließ es, ihre Tochter über deren Irrtum aufzuklären, da sie unter keinen Umständen Justines Misstrauen wecken wollte. Ihre Tochter hatte bemerkt, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war. Wenn nicht Alkohol der Grund für ihre mangelnde Wahrnehmung und Artikulation war, dann müsste es einen anderen gewichtigen Umstand geben, der dazu geführt hatte. Und Henriette wollte auf jeden Fall vermeiden, dass ihre Tochter das herausfand.
Justine hatte ihr zeitlebens keine wohlwollenden und liebevollen Gefühle entgegengebracht, nun würde sie Mitleid und vielleicht auch einen Hauch von Bevormundung und Schadenfreude nicht ertragen. So weit war es schon gekommen, dass sie ihrer Tochter solch niedere Reaktionen auf ihren herannahenden Tod unterstellte, dachte sie traurig.
Nachdem sie einen Schluck Wasser getrunken hatte, fühlte sie sich etwas wohler und sie antwortete: „Justine, du wirst dir denken können, welche Ursache meinem Besuch zugrunde liegt.“
Justine setzte sich endlich in einen Sessel ihr gegenüber, betrachtete sie kühl. „Wenn du meinst, ich werde mich auf dein Ratespiel einlassen, dann lass dir gesagt sein, du irrst dich. Entweder kommst du zum Punkt oder du musst mich entschuldigen. Denn ich habe noch wichtige Telefonate zu führen.“ Ablehnend verschränkte sie die Arme vor der Brust.
„Warum hast du das getan?“, hauchte Henriette nach einem Moment der unheilvollen Stille fast tonlos.
Justine sprang wütend auf und lief rastlos durch das Zimmer. Henriette schrak über diesen Gefühlsausbruch zusammen, denn das war völlig untypisch für ihre Tochter. Unvermittelt blieb sie vor Henriette stehen und rief aufgebracht: „Mutter, bitte sag mir endlich, wovon du sprichst! Meine Geduld ist erschöpft. Ich gebe dir noch fünf Minuten.“
„Ich rede von deiner Dreistigkeit, deiner Arroganz und zuletzt deiner Skrupellosigkeit, mit der du dir anmaßt mit deinen Mitmenschen umzugehen. Wie konntest du es wagen, Valerie in der Öffentlichkeit dermaßen bloßzustellen? Was bringt es dir, die Menschen um dich herum ins Unglück zu stürzen? Ich kann einfach nicht nachvollziehen, warum du zu solch hinterhältigen Maßnahmen greifst.“ Henriette erhob ihre Stimme und hoffte, sie würde durchhalten, während sie sich bemühte, ihre gerade Position aufrechtzuerhalten.
Die Macht über ihre Gesichtszüge hatte Justine komplett verloren. Sie war blass, fast schon fahl geworden und ihre Augen hatten sich unnatürlich geweitet. Sie schluckte krampfhaft und Henriette wappnete sich innerlich vor Justines wütender Hasstirade, die unweigerlich folgen würde.
Plötzlich sprach Justine mit sachlicher und leiser Stimme, deren unnatürliche Ruhe Henriette mehr ängstigte, als es eine lautstarke Auseinandersetzung vermögen würde.
„Hast du dir jemals die Mühe gemacht, dich mit der Frage zu beschäftigen, warum ich so geworden bin?“ Sie hob fragend die Arme und sah ihre Mutter verächtlich an. „Wer hat mich zu dem gemacht, was ich nun bin? Du bist daran nicht ganz unschuldig und das kannst du nicht einmal in deinem Altersstarrsinn komplett abstreiten.“
Justine funkelte ihre Mutter mit kalten Augen boshaft an und ihre unverhohlene Verbitterung durchdrang die aufgesetzte Fassade. Der Hass, den sie in sich trug, war für Henriette sichtbar. Obwohl es sie schmerzte, versuchte sie, es sich nicht anmerken zu lassen.
Als Henriette nicht antwortete, fuhr Justine fort: „Mutter, du hast mich schon als kleines Mädchen niemals so akzeptiert, wie ich war. Du hast mich niemals um meiner selbst willen geliebt. Vielleicht war ich ein willkommenes Druckmittel in Bezug auf meinen Vater. Aber wenn du ehrlich bist, du wolltest doch niemals Kinder.“ Der Satz hing einen Moment im Raum und raubte Henriette beinah den letzten Atem. Wieder einmal verstand es Justine vortrefflich, die Tatsachen zu ihren Gunsten zu verdrehen. „Die bedingungslose Liebe deines Mannes hat dir vollkommen ausgereicht. Er war dein Lebensmittelpunkt, auf den deine vollkommene Aufmerksamkeit fokussiert war. Ich war für dich doch nur störendes Beiwerk in eurer Ehe. Du warst maßlos eifersüchtig auf mich, weil ich dir die Liebe deines Mannes abspenstig gemacht habe. Was bist du nur für eine Mutter, die mit ihrem Kind um die Liebe und Gunst ihres Mannes kämpft?“ Henriette schnappte nach Luft und wollte sich gern erheben, da Justine mittlerweile direkt vor ihr stand und sie von oben herab erbarmungslos traktierte. Aber dafür fehlte ihr die Kraft.
„Und wenn du dich für ein Kind hättest entscheiden können, dann wäre dein Entschluss zugunsten eines Jungen, eines Stammhalters gefallen. Ich war doch mein gesamtes Leben lang eine unglaubliche Enttäuschung für dich. Ich habe so lange vergeblich versucht, es dir recht zu machen. Aber egal was ich tat, es war nie richtig. Als junges Mädchen war ich dir zu dick und zu unsportlich. Als ich dir einen Gefallen tun wollte und mich dir zuliebe geändert habe, war ich mit einem Mal zu dünn und unnatürlich süchtig nach sportlicher Betätigung. Ich war zu wenig liebenswert, zu wenig herzlich, zu wenig mitfühlend. Andererseits war ich zu dominant, zu ehrgeizig, zu karrieresüchtig. Du konntest nie Gutes in meinen Charaktereigenschaften sehen.“ Justines Verzweiflung war beinah greifbar. „Was hätte ich tun sollen?“, rief sie hysterisch.
Henriette schlug grenzenloser Hass entgegen, der seit Ewigkeiten unter dem Deckmantel von Justines reservierter Fassade gefährlich vor sich hin geschwelt hatte. Henriette musste all ihre Willenskraft aufbringen, um weder Ekel noch Entsetzen oder gar Mitleid in ihren Gesichtszügen aufkommen zu lassen.
„Jetzt weißt du, warum ich keine Kinder wollte. Nicht in dieser vergifteten Atmosphäre. Du hast in mir etwas unwiderruflich zerstört, was es mir unmöglich macht, ein eigenes Kind zu lieben. Ich war von der Angst beherrscht, genauso wie du meinem Kind jegliches Selbstwertgefühl zu nehmen, indem es meinen Ansprüchen nie gerecht werden würde. Ich wollte es keinem Kind antun, in den Augen seiner Mutter dieselbe Enttäuschung und Desillusion sehen zu müssen, die du für mich empfindest, sobald du mich erblickst.“ Justines Brustkorb hob und senkte sich heftig, als ob sie einen Dauerlauf hinter sich hätte. Sie hatte sich so vollständig in der Rolle des hilflosen, gekränkten Kindes verloren, dass es ihr unmöglich war, einen realistischen Bezug zu ihrer tatsächlichen Vergangenheit zu finden.
Henriette schüttelte bedauernd und zugleich fassungslos den Kopf. Justine hatte es schon als Kind verstanden, die Schuld immer bei anderen zu suchen. Sie schaffte es durch ihre perfide und verdrehte Darstellung der Situation perfekt bei ihrem Gegenüber, unvermittelt Schuldgefühle zu wecken.
„Ich habe niemals bestritten, dass ich keine Schuld an unserem schlechten Verhältnis trage“, sagte Henriette in die aufkommende Stille. „Aber du musst irgendwann aufhören, immer nur die Fehler bei anderen zu suchen. Du bist eine erwachsene, intelligente Frau, die für ihre Entscheidungen die Verantwortung übernehmen muss. Du bist dir über die Tragweite deiner Entschlüsse sehr wohl bewusst und trotzdem setzt du sie skrupellos und ohne schlechtes Gewissen in die Tat um. Irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem einen nicht einmal die bedingungslose Liebe zu seinem Kind für dessen Fehler und Schwächen blind machen kann.“ Henriette fing Justines Blick auf, den sie nicht deuten konnte. „Auch eine liebende Mutter kann sich irgendwann nicht mehr blenden lassen.“ Justines spöttisches Prusten erklang, aber Henriette ließ sich nicht beirren und legte so viel Bestimmtheit in ihren Ton, wie ihr möglich war. „Es tut mir aufrichtig leid, dir als Kind nicht die Mutter gewesen zu sein, die du dir gewünscht hast. Lass mich dir dennoch sagen, ich liebe dich und habe es immer, aber ich kam nicht gegen deinen über alles geliebten Vater an. Alles, was ich getan habe, alle Entscheidungen, die ich getroffen habe, waren doch nur zu deinem Besten, oder das, was ich für das Beste hielt. Wenn ich Fehler gemacht habe oder dir meine Liebe nicht zeigen konnte, dann bitte ich dich heute dafür um Verzeihung. Aber dennoch sprechen dich meine Verfehlungen nicht von deiner Schuld frei. Ich habe dich nicht gezwungen, dich zu einer derart hartherzigen Persönlichkeit zu entwickeln.“ Henriette hoffte und bangte, dass Justine sich in ihrer Unversöhnlichkeit ihr gegenüber zumindest den ehrlichen Worten ein wenig zugänglich zeigte.
Justine erhob sich und lief mit verschränkten Armen erneut auf und ab. „Es ist wirklich überaus großzügig von dir, dass du dir Fehler eingestehst. Aber du kannst dich doch nicht im Entferntesten in mich hineinversetzen, wie es mir als Kind ging. Ich musste mit dieser furchtbaren Erkenntnis zurechtkommen, dass meine eigene Mutter mich nicht mag.“ Justine sagte es im Brustton der Überzeugung eines Menschen, der sich immer falsch verstanden fühlte.
„Justine, nun beginnst du das Ganze zu dramatisieren.“ Henriette straffte die Schultern. „Es wirkt nicht sehr überzeugend, du übertreibst maßlos. Eigentlich bin ich nicht zu dir gekommen, um eine Grundsatzdiskussion über meine Erziehungsmethoden mit dir zu führen. Du hast es wieder einmal verstanden, vom eigentlichen Thema abzulenken, indem du mich ins Hintertreffen gebracht hast. Jetzt ist Schluss damit, du beantwortest mir jetzt meine Frage, warum du Valeries und Timurcins Liebe zerstören wolltest.“
Justine blieb steif stehen und nahm eine verletzte und gekränkte Haltung an.
„Ach, du wusstest ebenfalls von ihrer Affäre und hast es nicht für nötig befunden, mich, deine Tochter darüber in Kenntnis zu setzen? Nun weiß ich endgültig, was ich von deinem leeren Geschwätz halten kann. Mutter, du bist wirklich das Allerletzte.“ Justine spie den letzten Satz aus.
Henriette versuchte sich vor dem jäh erfolgten Schmerz zu verschließen.
„Du weißt genau, warum ich es dir nicht erzählt habe. Dir liegt überhaupt nichts an Timurcin, weder liebst noch schätzt du ihn. Dein einziger Beweggrund, diese irrsinnige Ehe aufrechtzuerhalten, ist dein hochgeschätztes Ansehen in der Presse, das in deinen Augen einen empfindlichen Knacks erhalten würde. Das ist lächerlich. Wie lange glaubst du, bist du für die Öffentlichkeit interessant? Ein paar Wochen? Wohl eher lediglich ein paar läppische Tage, du hast dich schon immer wichtiger genommen, als du wirklich bist. Und dafür würdest du dein eigenes Glück, aber auch das von Timurcin und Valerie ohne Bedenken aufs Spiel setzen? Das ist einfach nur total irrsinnig. Ich zweifle wirklich an deinem gesunden Verstand.“
Justine erhob die Hand und zeigte mit dem Finger auf ihre Mutter. „Ich weiß genau, was ich tue, da brauche ich keine Belehrungen seitens meiner senilen Mutter.“ Verächtlich schüttelte sie den Kopf. „Du bist doch nur um das Wohl deines geliebten Timurcin besorgt. Seine sensible Künstlerseele könnte irreparablen Schaden davontragen. Weißt du was? Das ist mir scheißegal. Timurcin ist ein Versager, ein Säufer, ein Niemand, der in seinem Leben nichts auf die Reihe bringt. Ich habe keinen Respekt vor ihm. Warum sollte ich auf seine Gefühle Rücksicht nehmen?“
„Rücksichtnahme?“ Henriette funkelte sie aufgebracht an. „Du weißt doch überhaupt nicht, was das bedeutet. Es gab und gibt für dich immer nur Justine und sonst niemanden. Aber lasse dir in deinem freudetrunkenen Triumphgefühl von einer alten Frau gesagt sein, Valeries und Timurcins Liebe ist groß genug, um deinen kleinen intriganten Vorstoß zu überwinden. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Valerie wirklich von Timurcins Schuld überzeugt ist? Falls doch, dann verstehst du wirklich nichts von dem großartigen Gefühl namens Liebe. Liebe überwindet jede Grenze und alle unüberwindbaren Schwierigkeiten. Es tut mir wirklich leid, dass es dir nicht möglich ist, wahre Liebe für jemanden zu empfinden. Ich würde dir von ganzem Herzen gönnen, dass dir dieses reine, unverfälschte Gefühl der Liebe irgendwann doch einmal zuteilwird.“
Mit diesem endgültigen Appell erhob sie sich so würdevoll wie möglich, griff nach ihrem Gehstock und ging – ohne auf Justines giftige und keifende Reaktion zu achten – zur Wohnungstür. Ein letztes Mal drehte sie sich noch einmal um und ihr Blick ruhte nachdenklich und sehnsüchtig, aller Hoffnung auf Versöhnung beraubt, auf ihrem einzigen Kind. Justine stand weiterhin im Wohnzimmer. Deren hässliche Worte blendete Henriette komplett aus. Sie sah nur das schöne, hochmütige Gesicht ihrer Tochter und bedauerte ihre eigene Unfähigkeit, jemals zu Justine vorgedrungen zu sein.
Sie bereute zutiefst ihre in der Vergangenheit gemachten Fehler. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Justine nur ein wenig Bereitschaft zeigte, sich ihr anzunähern. Aber das Gegenteil war der Fall. Justine schien sich in ihrer Eifersucht auf Timurcins und Valeries Glück nun erst recht in einen gärenden Hass hineinzusteigern.
Henriette löste sich aus ihrer Starre und schloss die Wohnungstür hinter sich, ohne noch einmal die vielleicht letzte Chance zu ergreifen, zu Lebzeiten ein versöhnliches Wort mit ihrer Tochter zu wechseln.
Kapitel 35
Justines Rache
Justine kam es vor, als strömte durch ihren gesamten Körper nichts als Hass, gnadenlos und kalt. Wahrscheinlich war dieses Gefühl für sie so lebensnotwendig wie für andere Menschen Luft zum Atmen und eine gesunde Blutzirkulation.
Warum schaffte es ihre Mutter immer noch, nach all den Jahren, die sie in Misstrauen, Neid und Abscheu nebeneinander gelebt hatten, sie derart zu verletzen? Falls sie bis zu diesem Zeitpunkt noch einen winzig kleinen Tropfen schlechten Gewissens in sich getragen hatte, so hatte es ihre Mutter gerade vortrefflich verstanden, ihr das letzte bisschen Anstand und Moral endgültig zu nehmen.
Schon vor geraumer Zeit hatte Justine begonnen, ein gehöriges Misstrauen gegenüber Timurcins plötzlichem Sinneswandel zu entwickeln. Wo einst ein heruntergekommenes, ungepflegtes Wrack zu bedauern war, hatte mit einem Mal ein attraktiver Mann gestanden, der etwas für Geist, Seele und nicht zu verachten für seinen Körper tat.
Eines Tages war es glasklar in Justines Bewusstsein gedrungen, dass Timurcin seit Wochen zumeist aus dem Bett aufstand, bevor sie die Wohnung verließ. Ein unglaubliches Ereignis, das seit Jahren nicht mehr vorgekommen war. Als ob das nicht schon seltsam genug wäre, ging er noch vor dem Frühstück eine Stunde joggen. Im Tenniscenter hatte er ebenfalls einige Privatstunden genommen.
Alkoholexzesse in der Bar gab es ihren zuverlässigen Informationsquellen zufolge auch nicht mehr. Überhaupt hatte sie in ihrer Wohnung in der letzten Zeit weder leere Bierflaschen noch benutzte Cognac- oder Whiskeygläser gefunden. Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, beschäftigte er sich in seiner Freizeit mit dem Lesen von klassischen Werken der Weltliteratur. Das war nicht normal, nein, das war schlichtweg unfassbar.
Ab diesem Zeitpunkt hatten Justine die schlimmsten Befürchtungen geplagt. Timurcin war seit Jahren nicht zu bewegen gewesen, sein jämmerliches Selbstmitleid aufzugeben. Also musste etwas Bedeutendes vorgefallen sein, das ihm wieder zu neuem Lebensmut und Tatkraft verhalf.
Justine schwante Böses, sämtliche Indizien hatten darauf hingedeutet, dass Timurcin eine Frau kennengelernt hatte, die ihm mehr bedeutete. Als sie ihn damals vor der Wohnungstür angetroffen hatte, war sie davon ausgegangen, dass es sich um einen unbedeutenden One-Night-Stand gehandelt hatte. Justine lachte bitter auf. Es wirkte, als habe sich ihr Mann mit seinem unerfüllten Leben ausgesöhnt. Während ihrer gesamten Ehe hatte Timurcin niemals Anstalten gemacht, sich einer anderen Frau zuzuwenden. Justine wusste nicht genau, ob es daran lag, dass er die Ehe nicht aufgeben wollte, oder ob er einfach Angst vor ihrer Reaktion hatte. Vielleicht war er auch schlichtweg zu lethargisch und bequem gewesen. Egal, was auch immer ihn dazu bewegt hatte, ihr war es gelegen gekommen.
Plötzlich hatte sie heiße, unfassbar große Wut auf diese unbekannte Frau überkommen. Wenn diese Person es geschafft hatte, Timurcin in diesem kurzen Zeitraum gravierend zu verändern, was würde sie zukünftig noch bewegen können?
Wahrscheinlich würde sie sich nicht ewig damit begnügen, heimliche Geliebte zu bleiben, und eines fernen Tages würde sie von Timurcin eine Entscheidung verlangen. Entweder sie oder seine Frau! Erstmals konnte sich Justine vorstellen, dass Timurcin für seine neue Liebe alles riskieren würde. Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass Timurcin, wenn er wirklich und wahrhaftig liebte, alles gab, um seine Herzdame glücklich zu machen. Er hatte auch sie in den ersten Jahren ihrer Beziehung auf Händen getragen, denn sie allein war die Quelle seines Lebens gewesen. Schlussendlich hatte er alles, was ihm wichtig war, aufgegeben, um sie zufriedenzustellen.
Dass sie irgendwann nur Hohn und Verachtung für seinen nicht vorhandenen Kampfgeist verspürte, konnte er damals nicht ahnen.
Justines Hände zitterten, als sie sich einen Drink einschenkte. Ihr bitteres Lachen klang selbst in ihren Ohren schaurig. Nun flüchtete sie sich schon ins selbige Vergessen wie ihr Mann. Trotzdem trank sie das halbe Glas leer, aber ihre Gedanken ruhten nicht.
Seitdem ihre Befürchtungen immer größere Ausmaße annahmen, plagten sie beängstigende Albträume. Ein unangenehmes Gefühl, das sie zweifelsohne nicht gewohnt war und sie in dieser Intensität beunruhigte. Sie hatte all die Jahre die Oberhand in allen Belangen ihres Lebens behalten und verschwendete keinen Gedanken daran, jemals die Führung aus den Händen zu geben. Keinesfalls würde sie sich in der Öffentlichkeit von ihrem Ehemann bloßstellen lassen. Dieses Weichei, dieser Versager hatte wohl immer noch nicht begriffen, mit wem er sich da anlegte. Sie hatte beschlossen, ihn und seine Schlampe fertigzumachen. Er würde es noch bitter bereuen, sich mit ihr angelegt zu haben.
Ihr war damals klar gewesen, dass sie so schnell wie möglich in Erfahrung bringen musste, wer die Unbekannte war. Unter den Angestellten gab es einige Personen, die gegen ein geringes Entgelt bereit waren, Ohren und Augen für sie offen zu halten. Sie hatte ihre Informanten zu diesem Thema befragt und auf umgehende Ergebnisse gehofft.
Justine schreckte aus ihren Gedanken auf und starrte das halb volle Glas in ihrer Hand an. Sie hatte sich völlig in ihren Erinnerungen verloren.
Sie hatte wieder einmal eine Glanzleistung vollbracht. Höhnisch lachte sie auf, als sie sich ihre Intrige noch einmal genüsslich auf der Zunge zergehen ließ.
Justine hasste es, zur Untätigkeit verdammt zu werden, und so hatte sie die Angestellten unter Druck gesetzt, ihr innerhalb eines Tages Erkenntnisse zu liefern.
Am Abend desselben Tages saß Justine triumphierend im Büro. Gerade hatte sie von Henriettes persönlichem Dienstmädchen erfahren, dass es sich bei Timurcins Geliebter allem Anschein nach um Valerie Greifenwald handelte. Das Mädchen hatte Timurcin schon zweimal beobachtet, als er Valeries Räumlichkeiten zu abendlicher Stunde verließ oder wie heute betreten hatte. Wie praktisch, dass die Suiten auf derselben Etage lagen. Es sah Timurcin ähnlich, dass er jegliche Sorgfalt und Vorsicht vergaß. Offensichtlich unterschätzte er seine Frau auch nach den vielen gemeinsamen Jahren noch immer. Ausgerechnet diese alte Schachtel machte ihr Konkurrenz. Anscheinend war Timurcin nicht allzu wählerisch. Immerhin musste Valerie fast zehn Jahre älter sein als er. Wie konnte Timurcin ihr das nur antun? Er zog ihr eine deutlich ältere Frau vor.
Justine hatte Valerie gezwungenermaßen zugestehen müssen, sich für ihr Alter recht gut gehalten zu haben. Aber sie spielte keineswegs in ihrer Liga. Für die Presse wäre diese Neuigkeit ein gefundenes Fressen. Jeder würde sich entsetzt fragen, was mit ihr nicht stimmte. Wie konnte sie von einer Frau um die Fünfzig ausgestochen werden? Schlimmer hätte es für Justine nicht kommen können. Wenn es sich bei seiner Liebschaft wenigstens um ein blutjunges Ding handeln würde, dann hätte sie die Medien im Falle einer Veröffentlichung seiner Affäre auf ihrer Seite. Aber in diesem speziellen Fall würde sie zum Gespött der Öffentlichkeit werden. Justine war sofort klar gewesen, dass sie das verhindern musste. Dabei spielte es ihr in die Karten, dass es sich bei Valerie um eine Person des öffentlichen Interesses handelte. Nun hatte sie in ihrer makellosen Vergangenheit nur noch einen schwarzen Fleck finden müssen, um Valerie bloßzustellen und aus Timurcins Leben zu vertreiben.
Justine lächelte bei dem Gedanken, wie sie Miguel so unter Druck gesetzt hatte, dass er sich schließlich des Lebens von Valerie angenommen hatte. Sie erinnerte sich, wie Miguel sich gewunden hatte. Der Schlappschwanz und sein dämliches Gewissen. Regelrecht überraschend hatte er sogar versucht, sich gegen Justine zur Wehr zu setzen. Aber so ließ sie nicht mit sich umgehen und hatte ihm zu verstehen gegeben, was er schon längst für sie war: ein speichelleckender Handlanger und nicht mehr. Triumphierend hatte sie zugesehen, wie er darunter zusammengebrochen war und ihr seine Unterstützung zugesagt hatte. Das Versprechen auf Sex als Entlohnung hatte sie ihm dann zugestanden, sie hatte nicht so sein wollen.
Ihre skrupellosen Machenschaften waren schlussendlich nach ihren Vorstellungen aufgegangen. Wie ein Puzzle hatten alle Teile gepasst. Timurcin wusste von dem Schwangerschaftsabbruch und Miguel hatte eine Freundin Valeries ausfindig gemacht, die alles darüber ausgeplaudert hatte. Geld gewann immer, dachte Justine lächelnd und es war alles so wasserdicht, dass Valerie niemals dahinterkommen würde, wer wirklich ihr Geheimnis preisgegeben hatte.
Der Artikel war ein voller Erfolg, wie sie sofort realisiert hatte, als Valerie vor ihrer Tür gestanden hatte und auch da hatten alle Rädchen perfekt ineinandergegriffen.
Blieb nur noch Timurcin, aber davor fürchtete Justine sich nicht. Allerdings wunderte es sie, dass er bisher noch nicht auf sie zugekommen war.
Dafür ihre Mutter. Aber auch davon ließ Justine sich nicht beirren. Sie war auf Erfolgskurs und würde es bleiben.