Leseprobe I'll always choose you

Normal sein

Magnus

Ich werde das schaffen. Ich werde es schaffen, weder meinem Vater auf seine polierten Lackschuhe noch meiner Mutter auf ihr geblümtes Kleid zu kotzen. Auch wenn das heute wohl eine meiner größten Herausforderungen sein wird, denn schon der Anblick des Blumenmusters macht mich schwindlig.

Vor fünf Minuten dachte ich, es wäre die mieseste Idee der Woche gewesen, an dieser Veranstaltung teilzunehmen. Jetzt stellt sich heraus, dass es noch dümmer war, mich gestern derartig volllaufen zu lassen. Ich erinnere mich nicht mehr an den gesamten Abend, aber ich weiß genau, dass ich der Meinung war, das heute zu bereuen. Und hier stehe ich jetzt, zwischen mehreren Journalisten und Zuschauern, mit dem schlimmsten Kater meines Lebens.

Im Grunde genommen ist mir der Erweiterungsbau der Feuerwehrstation ziemlich egal. Für die Stadt ist diese Eröffnungsfeier allerdings so bedeutsam, dass der Bürgermeister höchstpersönlich eine Rede halten soll.

Und Adrian Vaughn, seit über sieben Jahren Bürgermeister von Wilbur Peaks und bedauerlicherweise mein Vater, lässt natürlich keine Gelegenheit aus, sich der Öffentlichkeit mit einem seiner legendär langweiligen Monologe zu präsentieren.

Mit einer bislang ungekannten Sehnsucht wandert mein Blick zur Eingangstür, von der mich nur wenige Schritte trennen. Vielleicht kann ich glaubwürdig genug ein Husten andeuten und in Richtung Büfett fliehen. Sie haben nicht mal für vernünftiges Essen gesorgt, es gibt nur jede Menge Sekt und Saft und Obstsalat in kleinen Gläsern.

Ein Journalist sieht mich viel zu neugierig an. Obwohl ich zwei Jahre weg war aus dieser durchschnittlichen amerikanischen Stadt, die so ziemlich jedes Klischee erfüllt, das man aus bekannten Sitcoms kennt, habe ich einen Radar für sowas.

Zwei Jahre eine Art Flucht, die alles hätte besser machen sollen. Erst auf einem College hunderte Meilen entfernt und dann den Sommer bei meiner Tante an der Küste. Aber nichts ist besser geworden. Eher im Gegenteil. Doch das ist mir gerade sowas von egal.

Deshalb lenke ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Rede des Bürgermeisters. Lange halte ich auch diesmal nicht durch, da mich Moms stoische Miene beinahe zum Lachen bringt. Ich weiß nicht, wann ich Elizabeth Vaughn zuletzt in einem Kleid ohne Blumenmuster gesehen habe. Oder ohne den strengen Dutt, aus dem vorn immer zwei Strähnen heraushängen. Mit ihren Strumpfhosen und den Absatzschuhen, die man meilenweit in allen Räumen hört, ist sie nicht nur optisch, sondern auch durch ihr Verhalten die perfekte Ehefrau.

Nein, ernsthaft. Sie kann bis spät in die Nacht backen, wenn es ansonsten am nächsten Tag zu wenig Gebäck beim gemeinnützigen Kuchenverkauf gibt. Sie kann Schirmherrin von verschiedenen Wohltätigkeitsvereinen sein, ohne ihren wöchentlichen Buchclub zu vernachlässigen. Und sie kann jederzeit in die Kameras lächeln und der Presse verkaufen, dass ihr Mann einen hervorragenden Job macht. Wahrscheinlich könnte man sie mitten in der Nacht wecken und sie würde in ihrem geblümten Morgenmantel erklären, wie sehr sich Adrian Vaughn für diese Stadt engagiert.

Nur das Muttersein hat ihr niemand beigebracht. Sie hat nicht mal was gesagt, obwohl ihr ältester Sohn, mein überaus unerträglicher Bruder Dorian, zwei verschiedene Socken trägt und mit einem überheblichen Grinsen Kaugummi kaut. Und ihr fällt nicht auf, dass ich die Knopfreihe meines Hemdes schief geschlossen habe oder wie viel Mühe es mich kostet, aufrecht neben ihr zu stehen. Ihr war an diesem Samstagmorgen nur wichtig, dass wir pünktlich losfahren und auf der Veranstaltung die Vorzeigefamilie mimen. Dabei hätte ich mir am Wochenende vor dem Start am neuen College weitaus bessere Beschäftigungen vorstellen können.

Hier sind wir also, die Familie Vaughn. Alle beisammen und so scheiße glücklich. Für die Fotos zumindest.

»Deshalb, liebe Mitbürger«, fährt mein Dad fort, »ist es mir eine große Ehre und Freude, gleich den Erweiterungsbau feierlich eröffnen zu dürfen.«

Die Rede neigt sich offenbar dem Ende zu, er richtet nämlich seine Krawatte und positioniert sich näher beim Stoffband, das er gleich durchschneiden soll. Jetzt bedankt er sich bei unzähligen Leuten, deren Namen er nur kennt, weil sie auf seinem klugen Zettel stehen. Ich muss ein Gähnen unterdrücken. Die vier Stunden Schlaf waren eindeutig zu wenig. Im Gegensatz zu mir hielten es meine Eltern für eine gute Idee, mich heute früh aus dem Bett zu scheuchen und nach zwei Jahren der Stadtgemeinde wie den verlorenen Sohn vorzuführen.

Ich kann mir vorstellen, was morgen in der Sonntagszeitung steht. Jüngster Sohn des Bürgermeisters schon erwachsen. Gewachsen bin ich allerdings seit meinem letzten Auftritt vor der Presse, kurz nach meinem Highschool-Abschluss, nicht mehr. Dorian überragt mich weiterhin. Nur volljährig bin ich inzwischen. Und die Haare reichen mir nun weit über die Ohren, was Mom gestern mit einem Naserümpfen zur Kenntnis genommen hat. Es war genau derselbe Ausdruck, mit dem sie heute Morgen Dorians Sockenauswahl bemerkt und doch unkommentiert gelassen hat.

Viel schlimmer finde ich persönlich seine neue Frisur. Wenn er die vorderen Strähnen noch ein bisschen mehr wachsen lässt, kann er sein rechtes Auge bald ganz damit verdecken. Jedes Mal, wenn ihm die Haarspitzen zu weit ins Auge fallen, pustet er sie nach hinten und kaut dann schmatzend sein Kaugummi weiter. Das bringt ihm diesmal ein leises Räuspern unserer Mutter ein.

»Deshalb« meint Dad derweil und ich atme tief durch die Nase ein. Verflucht. Sollte das hier noch länger dauern, kann ich für nichts garantieren. Auch wenn ich zwei Jahre solche Events meiden konnte, war ich bis zu meinem neunzehnten Lebensjahr auf eindeutig zu vielen Gedenk- und Spendenveranstaltungen oder Einweihungsfeiern. Immerhin findet der Spuk in ein paar Monaten ein Ende, dann ist Dads zweite Amtszeit vorbei und es ist mal an der Zeit für eine andere Familie, die dieses Theater spielen darf.

»Ich hoffe, ich habe niemanden unerwähnt gelassen«, beendet der Bürgermeister endlich seine Rede. »Ich lade Sie nun alle herzlich dazu ein, die neuen Räumlichkeiten zu erkunden und mit uns anzustoßen.« Jemand hält ihm ein Kissen hin, auf dem eine Schere liegt. Es wundert mich, dass Dad bislang keine Schere, auf der sein Name eingraviert ist, für solche Gelegenheiten geschenkt bekommen hat.

Begleitet von einem verhaltenen Applaus, der dieser Art von Veranstaltungen innewohnt, zerschneidet er das Band. Die Blitze der Fotoapparate besiegeln die Zeremonie und wir lächeln synchron in die Kameras.

Wir posieren für ein paar Fotos, wie Dad die Schere hält, wie Dad ein Stück heiles Band beinahe zerschneidet, wie Dad mit einem Glas Sekt wichtigen Geldgebern zuprostet. Ich war dreizehn, als Dad zum ersten Mal gewählt wurde, also kann ich schon an der Körpersprache ablesen, wer von welcher Bedeutung in dieser Stadt ist. Wer Geld und Macht hat und wer nur blufft.

Alle wollen sie plötzlich mit Dad sprechen. Vor allem die Journalisten versuchen, ihn und die Verantwortlichen des Neubaus zu interviewen. Da erkenne ich meine Chance. Als Mom von jemandem angesprochen wird, nutze ich den Moment und schiebe mich an der Menge vorbei. Mein genaues Ziel kenne ich noch nicht, vielleicht die Toiletten oder die Terrasse, um mal einen Augenblick lang ungestört zu sein. Mir kommt jemand vom Catering mit einem Tablett entgegen und bietet mir ein Getränk an. Automatisch nehme ich ein Glas Sekt und nippe daran. Wenn man etwas auf dem College lernt, ist es die Selbstverständlichkeit des Trinkens.

Heute bin ich allerdings leicht aus der Übung. Ich schlage mir versehentlich das Glas gegen die Schneidezähne, da ich mit dem Arm die Schulter eines anderen Gastes streife.

»Pass doch auf«, raune ich ihm verärgert zu, obwohl ich noch gar nicht betrunken bin.

»Sorry«, meint der Typ schneller als erwartet und ich mustere ihn kurz von der Seite. Ich hätte nicht gedacht, jemanden in meinem Alter bei dieser Veranstaltung zu treffen. Unvermittelt frage ich mich bei seinem Anblick, ob er noch zur Highschool oder schon aufs College geht.

Beim Gedanken an die nächste Woche wird mir wieder übel. Nach dem Schulabschluss hat Dad mich auf ein weit entferntes College, das schon unzählige Schwimm-Legenden hervorgebracht hat, geschickt. Zurück in Wilbur Peaks muss ich ab Montag am Training des hiesigen Colleges teilnehmen und schon die Vorstellung bereitet mir Bauchschmerzen.

»Wolltest du auch …«, fängt der blonde Typ an und räuspert sich, um seine Frage mit klarerer Stimme zu beenden, »… zur Terrasse?«

Ich blicke ihn an, als wäre er neben meinem Bruder der einzige junge Mann in meinem Alter in ganz Wilbur Peaks. Für diese Veranstaltung trifft das wahrscheinlich zu. Zwischen all den älteren Gästen kommt er mir wie eine Fata Morgana vor, ich bin wohl dehydriert.

»Jetzt nicht mehr«, brumme ich und leere mein Glas mit einem einzigen Schluck. Das war eine schlechte Entscheidung, der Sekt schlägt nämlich Wellen in meinem Magen. Einen Kater mit Alkohol zu bekämpfen, hat noch nie funktioniert. Trotzdem werde ich mein Glas irgendwo los und greife nach dem nächsten, um es mir in den Rachen zu kippen. Es kann das Feuer, das in meinem Inneren lodert, nicht löschen. Wie ironisch, da wir doch in einer Feuerwache sind.

Den blonden Typen bin ich zwar losgeworden, doch zu allem Überfluss drehe ich mich noch einmal zu ihm um, als wollte ich mich versichern, ihn mir nicht nur eingebildet zu haben. Er bemerkt mich gar nicht, sondern stößt Luft durch den Mund aus und öffnet die Tür zur Terrasse, als wollte auch er der Situation schnell entfliehen. Wir haben einen wirklich warmen Septembertag, eigentlich viel zu schön, um am Montag das neue Semester zu beginnen.

Es gibt wohl nur eine Toilette und die Schlange davor reicht bis zum Büfett. Ich presse mir eine Hand auf den Magen, in dem es dank meines grandiosen Einfalls rumort. Nach dem Aufstehen konnte ich nichts essen und mein gestriges Abendbrot bestand nur aus ziemlich viel Alkohol. Ich entscheide mich, mir ein Glas mit Obstsalat zu organisieren und das Ungetüm in meinem Bauch zu beruhigen, finde allerdings keine Gabel.

Während es sich als ziemlich glitschige Angelegenheit herausstellt, Erdbeeren, Mango und Ananas mit den Fingern zu essen, wandert mein Blick über die vielen Köpfe zu meinem Dad. Er absolviert heute mal wieder einen Marathon im Händeschütteln und lässt mehr Fotos von sich knipsen, als es von mir aus meiner gesamten Kindheit gibt.

Etwas stutzig macht mich das ja schon. Entweder ist Dads Popularität in den vergangenen zwei Jahren extrem gestiegen oder die Journalisten sind aus einem anderen Grund an diesem Tag so interessiert an ihm. Als ich von einem von Dads Mitarbeitern angesprochen und gebeten werde, ihn zu begleiten, entwickelt sich die Veranstaltung in eine Richtung, die mir gar nicht gefällt. Er nimmt mir die Reste meines Obstsalats ab und ich wische schnell meine Hände an meiner Hose ab. Wenn Mom nicht für die Presse lächeln müsste, hätte mich jetzt sicherlich ihr böser Blick getroffen.

Keine zwei Minuten später stehe ich neben meinem Dad. Nur langsam dämmert mir, warum die Familie ausgerechnet bei dieser dämlichen Veranstaltung Zusammenhalt vorgaukeln soll. Warum ich nicht zuerst meine erste Woche am neuen College überstehen darf.

Der Leiter der Feuerwehrstation, den Dad uns vorhin als Mr. Perry vorgestellt hat, klopft ein paar Mal gegen das Mikrofon und räuspert sich.

»Wenn wir noch einmal kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürften«, sagt er und wartet, bis das Gemurmel verstummt. Die Erdbeeren schlagen inzwischen Purzelbäume in meinem Magen und ich schlucke mehrmals, als könnte ich sie so davon abhalten, die falsche Richtung zu wählen.

»Auch wenn ich Ihnen heute schon mehrfach dafür gedankt habe, was Sie alles für uns getan haben, Mr. Vaughn«, meint Mr. Perry, »kann ich nur wiederholen, wie froh wir sind, dass Sie sich so für die Erweiterung der Feuerwache eingesetzt haben. Deshalb freut es mich umso mehr, Sie heute vor allen beglückwünschen zu dürfen.«

In meinen Ohren dröhnt es, ich kann ihm kaum zuhören. Mein Mund ist voller Speichel und irgendwie gelingt es mir nicht, ihn herunterzuschlucken. Mein Dad hat sich neben mir zu seiner vollen Körpergröße aufgerichtet und sein professionelles Lächeln aufgesetzt. Je länger der Kampf in meinem Inneren andauert, umso klarer wird mir, dass ich es nicht schaffen werde, meinen Mageninhalt bei mir zu behalten.

»Unser Bürgermeister hat mich gebeten«, erzählt Mr. Perry weiter, »heute feierlich zu verkünden, dass er sich erneut zur Wahl aufstellen lässt.« Er zeigt auf meinen Dad und plötzlich sind unzählige Augenpaare auf uns gerichtet. Mom tätschelt stolz Dads Arm und auch Dorian lächelt brav in die Kameras. Mir ist diese Info völlig neu. Mein Dad kandidiert schon wieder? Heilige Scheiße, das ist zu viel.

Die Neuigkeit und die ungewollte Aufmerksamkeit geben mir den Rest. In mir zieht sich alles zusammen und ich will zur Seite ausweichen, doch ich finde keinen Ausweg, um das Unvermeidliche abzuwenden. Als mein Dad das Mikrofon annimmt und sich gerade bedanken will, verliere ich endgültig die Kontrolle über meinen Magen und erbreche mich direkt auf seine Schuhe.

***

Eine halbe Stunde danach geht es mir ein bisschen besser, obwohl die Stimmung im Auto zum Zerreißen gespannt ist. Wir werden von Dads persönlichem Assistenten Owen gefahren, Dad sitzt vorn im Auto und uns trennt glücklicherweise eine getönte Glasscheibe. Mir gegenüber sitzen Mom und Dorian und ich starre betreten auf die Tüte mit Dads Schuhen, die wie ein Souvenir auf dem Sitz neben mir liegt.

Mom hat große Mühe, mir keine Vorwürfe zu machen, das merke ich an der Art, wie ihre Nasenflügel beim Atmen zittern. Dorian hingegen belustigt die ganze Situation sehr.

»Ich glaube, er wird schon wieder grün um die Nase«, sagt er und wäre ich nicht angeschnallt und so entkräftet, würde ich ihm gegen sein Schienbein treten.

»Stimmt doch gar nicht«, murmele ich, obwohl meinem Magen schon die Erinnerungen an den Morgen reichen, um sich erneut umzudrehen.

Mit ungeahnter Panik klopft Mom gegen die Scheibe hinter sich und sagt mit zu hoher Stimme: »Owen, fahren Sie sofort rechts ran!«

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, während ich kurz darauf hinter einem Gebüsch kniend meinen restlichen Mageninhalt entleere. Dabei saue ich mein Hemd noch weiter ein.

»Vielleicht sollten wir ihn zu einem Arzt bringen. Falls er sich etwas eingefangen hat«, höre ich Mom irgendwo hinter mir sagen. Dads Sakko, mit dem sie den Blick von der Straße auf mich abschirmt, weht im Wind.

»Das ist sicherlich morgen wieder weg«, erwidert Dorian, der als Einziger weiß, dass ich gestern Nacht betrunken nach Hause gekommen bin. Blöderweise habe ich seine Zimmertür nämlich mit meiner verwechselt und ihn versehentlich geweckt. Das kommt davon, wenn man so lange nicht mehr zuhause war.

»Geht’s jetzt?«, fragt Mom, als ich zu ihnen zurückkehre, und sie mustert mich mit einer Fürsorglichkeit, die ich ihr nicht abnehme.

»Ist ja nicht mehr weit«, entgegne ich und klettere wieder ins Auto. Dad hat sich auf dem Vordersitz verschanzt und ignoriert mich. Das gelingt ihm die gesamte Fahrt, bis wir unser Haus erreichen. Die Auffahrt fühlt sich heute länger an und ich bin froh, dass ich keinen Mageninhalt mehr habe. Einen Moment lang beobachte ich, wie Dad aussteigt und auf Socken den Vorgarten durchquert.

Owen hilft Mom aus dem Auto und kurz sind Dorian und ich ungestört.

»Sieh es positiv«, meint er amüsiert. »So bleibt die Ankündigung von Dads Wiederkandidatur immerhin im Gedächtnis. Für die Wähler. Und für jede zukünftige Familienfeier.«

Ich verziehe den Mund und steige nach ihm aus dem Auto. Owen hält mir den Arm hin, um mich zu stützen, ich lehne kopfschüttelnd ab. Zu meiner Hinrichtung werde ich wenigstens erhobenen Hauptes schreiten.

Mom und Dorian sind schon drinnen, Dad hält die Tür auf und scheint auf mich zu warten. Nur zögernd trete ich neben ihn und ziehe ernsthaft in Erwägung, ob es eine Möglichkeit wäre, ab sofort im Gartenhaus zu wohnen. Ich habe mich noch nicht entschlossen, die Türschwelle zu übertreten, da packt mich Dad grob am Oberarm und zerrt mich ins Haus.

»Kannst du nicht einfach normal sein?!«, raunt er mir verärgert zu und lässt mich im Flur wieder los. Ich bin froh, dass sein Assistent nach mir das Haus betreten hat und seinen Job erledigt.

»Es gibt genügend Fotos von der Eröffnung«, meint Owen und tippt irgendwas auf seinem Smartphone. »Für die Bekanntmachung Ihrer Wiederkandidatur nehmen wir einfach ein älteres Pressefoto. Ich kläre das sofort mit den Zuständigen.«

Dad schenkt mir keine Beachtung mehr und auch Owen muss ihm durch den großen Eingangsbereich hinterherdackeln, um nicht ignoriert zu werden.

»Wir kümmern uns darum, dass alle Fotos nach dem Vorfall gelöscht werden und nirgendwo auftauchen.«

Wenn es mir nicht so beschissen gehen würde, fände ich es beinahe witzig, wie Owen versucht, das Ereignis zu umschreiben.

Ich fühle mich wie ein ungebetener Gast, während ich in meinem beschmutzten Hemd am unteren Treppenende stehe und nicht mal weiß, worauf ich eigentlich warte. Vielleicht ahnt mein Körper, was uns bis zum Wahltag Mitte Januar bevorsteht. Mom scheint zumindest zu wissen, worauf ich gewartet habe, denn sie kommt aus dem Raum unter der Treppe und gibt mir ein frisches T-Shirt.

Vorsichtig knöpfe ich mein Hemd auf und reiche es ihr. Mit spitzen Fingern nimmt sie es an und trägt es zum Wäscheraum. Ich würde ja sagen, es liegt an den zwei Jahren, in denen ich nur selten zu Besuch war, dass wir uns so entfremdet haben. Aber dafür hätten auch ein paar Tage gereicht.

Bei Tante Bridget war es anders – das Leben so viel leichter. Den Sommer bei ihr zu verbringen, war heilsam und … zu kurz.

Mom ist inzwischen zurückgekehrt und bleibt etwas unschlüssig vor mir stehen.

»Ich koche dir einen Tee und dann wird das schon wieder«, sagt sie und beinahe hätte ich sie gefragt, was genau sie meint. Ich bezweifle stark, dass eine verdammte Tasse Tee die Beziehung zu meinem Dad reparieren, Mom und mich einander näherbringen oder den Vorfall an meinem alten College ungeschehen machen kann.

Obwohl der vorherige Wahlkampf fast vier Jahre her ist, weiß ich noch gut, wie viel Aufmerksamkeit uns die Öffentlichkeit geschenkt hat. Als wäre es ansonsten nicht schon genug. Dad hat in seiner ersten Amtszeit einige schlechte Entscheidungen getroffen und viel dafür getan, dennoch überall positiv in der Presse aufzutauchen.

Ich will gerade die Treppe nach oben steigen und mich den restlichen Tag in meinem Bett verkriechen, da steckt Dorian seinen Kopf durch die Tür zum Esszimmer heraus. »Dad will mit dir reden.«

Fuck. Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich war auf diesen ganzen Tag, nein, auf die nächsten Monate nicht vorbereitet. Wir haben September und die Wahl ist erst im neuen Jahr. Wie halte ich das mehrere Monate lang aus? Die Interviews und Fotos, die Wohltätigkeitsveranstaltungen, das große Interesse an meiner Person?

Mit weichen Knien folge ich meinem Bruder bis zum langen Esstisch. Dad sitzt am Kopfende, während Owen im hinteren Teil des Raums aufgeregt mit irgendwem telefoniert.

Hin- und hergerissen zwischen Reue und Wut warte ich auf das Donnerwetter.

»Ich hatte dich nur um eine Sache gebeten, Magnus«, meint Dad und trommelt nervös mit den Fingern auf dem Tisch. »Ich habe dich vom College geholt, wie du wolltest, und meine Kontakte genutzt, damit du hier aufs College wechseln kannst. Deshalb hättest du mir jetzt wenigstens diesen einen kleinen Gefallen tun und den Tag nicht ruinieren können. Nur darum habe ich dich gebeten.«

»Vielleicht hättest du es präziser ausdrücken sollen, Dad«, mischt sich Dorian überflüssigerweise ein. »Kotz mir nicht auf die Schuhe, Sohn.«

Unser Vater sieht ihn nicht mal an, seine dunkelbraunen Augen sind nur auf mich gerichtet.

»Tut mir leid«, sage ich, auch wenn ich es nicht so meine. Es ist vielmehr ein Reflex. »Ich hätte gestern nicht trinken dürfen.« Meine Entschuldigung genügt ihm immerhin für den Anfang.

»Gut. Dann haben wir uns ja verstanden.« Dad erhebt sich von seinem Stuhl und läuft zu Owen, um Herr der Lage zu bleiben. Indessen betritt Mom den Raum mit einem Tablett und einer Tasse Tee.

»Ich bringe dir den Tee nach oben«, sagt sie und nickend begleite ich sie. »Das Wasser ist eh viel zu heiß. Pass auf, dass du dich nicht daran verbrennst und nichts verschüttest.«

»Klar«, murmele ich. Dabei sollte sie doch eigentlich wissen, dass ich ein Experte darin bin, alles um mich herum in Schutt und Asche zu legen.

Anders sein

Daniel

Es gibt keinen anderen Tag im Jahr, an dem die Flure des Wilbur Peaks Colleges so sauber sind wie am ersten Montag des neuen Semesters. Die Böden glänzen, die Türen wurden von Stickern befreit und die flackernden Lampen repariert. Wirklich schade, dass es keinen halben Tag dauern wird, bis es wie vorher aussieht.

Auch wenn ich das College in- und auswendig kenne, fühle ich mich nach den Semesterferien wie ein Fremder. Ich kenne die Dozenten und brauche dennoch jedes Mal ein paar Tage, um mich an die neuen Kurse zu gewöhnen. Es hat mich schließlich davor mehrere Monate gekostet, einen Rhythmus zu finden und der Semesterbeginn torpediert das jedes Mal.

Weil ich mich selbst gut kenne, habe ich mich noch vor dem Kursbeginn mit Paige verabredet. Sie ist seit der Schulzeit meine einzige weibliche Freundin, was sie streng genommen automatisch zu meiner besten Freundin macht.

Leider schaffe ich es nicht bis zu unserem vereinbarten Treffpunkt, da ich aufgehalten werde.

»Daniel.« Mrs. Ortiz, die viel zu motivierte und viel zu junge Dekanin unseres Fachbereichs, versperrt mir den Weg, als hätte sie den gesamten Morgen nur auf mich gewartet.

»Guten Morgen, Dekanin Ortiz«, sage ich zerknirscht und mache mich instinktiv etwas kleiner, indem ich den Kopf einziehe. Eine Angewohnheit, die man sich in der Jugend ziemlich schnell aneignet, wenn man innerhalb weniger Monate fast anderthalb Köpfe wächst.

»Nenn mich bitte Penelope«, erwidert sie und stupst mir mit der Hand gegen den Oberarm.

»Nein, vielen Dank, Dekanin Ortiz.«

»Mir macht das nichts aus. Ehrlich.«

»Damit würde ich mich aber nicht wohlfühlen.«

Mir entgehen natürlich nicht die prüfenden Blicke, die uns zwei vorbeilaufende Studierende zuwerfen. Niemand sollte so vertraut mit der Dekanin umgehen. Mrs. Ortiz ist erst seit vergangenem Semester Dekanin, kann optisch mit ihren bunten Schnürsenkeln und dem Nasenpiercing aber schnell mit einer Studentin verwechselt werden.

»Na gut«, sagt sie, halb resigniert, halb belustigt. Sie lehnt sich mit der Schulter gegen die Wand und verschränkt die Arme vor dem Oberkörper, um besonders lässig zu wirken. »Ich wollte bloß wissen«, fährt sie auffällig beiläufig fort, »wie es dir geht. Wie waren deine Semesterferien? Schon gut angekommen? Alles in Ordnung? Hat dich wer schief angesehen? Soll ich jemanden zu mir ins Büro rufen?«

»Das …«, beginne ich überfordert, »waren sehr viele Fragen. Die Antworten sind Ja und Nein, aber ich kann Ihnen nicht genau sagen, in welcher Reihenfolge.«

»Scherzkeks.« Sie tätschelt meine Schulter und versteht es wohl als meine Art des Humors, obwohl ich das ernst meinte. Wenn meine Mom und sie sich nicht schon länger kennen würden, wäre die Situation noch unangenehmer, als sie sowieso schon ist. Ich wünschte trotzdem, sie würde hier in vielerlei Hinsicht mehr Distanz wahren.

»Sehe ich dich ab dieser Woche wieder bei unseren Treffen?«

»Ich brauche diese Treffen nicht mehr.«

»Das sieht deine Mom aber anders.«

»Dann sagen Sie ihr, dass es mir gut geht. So wie ich es ihr auch schon hundertmal gesagt habe«, entgegne ich und würde gern so verärgert klingen, wie ich bin, schaffe das jedoch nie.

»Sie meint es doch nur gut.«

Im Grunde genommen weiß ich das auch, doch wenn ich noch einmal irgendwem mit einer therapeutischen Ausbildung oder einem Abschluss von irgendwo erklären muss, dass es mir gut geht, glaube ich es mir selbst nicht mehr.

»Ich bin ja froh, dass dein Leben wieder in geordneten Bahnen verläuft«, meint Mrs. Ortiz nun und spricht mit gedämpfter Stimme weiter, damit es niemand mitbekommt. »Wir möchten bloß beide nicht, dass sich die berufliche Umorientierung deiner Mutter negativ auf dich oder dein Studium auswirkt.«

Im vorherigen Semester hatte ich einige unschöne Begegnungen mit Kommilitonen und bin ein paar Wochen dem College ferngeblieben, ohne es meiner Mom zu erzählen. Als sie es durch einen Zufall schließlich herausgefunden hat, hat sie – um es mal in ihrem täglichen Vokabular auszudrücken – Dekanin Ortiz als ›Augenzeugin‹ engagiert. In meinen Worten heißt das: Zuhause kontrollierte Mom, dass ich für meine Kurse lernte, am College kontrollierte Mrs. Ortiz, so gut es ihr möglich war, dass ich überhaupt anwesend war. Und sie fing an, mich regelmäßig zu sich zu rufen, um – neben dem Therapeuten, zu dem Mom mich geschickt hatte, – Gespräche mit mir zu führen.

Immerhin hat meine Mutter durch ihre berufliche Umorientierung keine andere Wahl, als mir in diesem Semester zu vertrauen. Auch wenn es vorher schon kaum möglich war, fehlt ihr für eine derartige Kontrolle schlichtweg die Zeit. Mit viel Glück kann ich ihre Spionin abschütteln, selbst wenn das bedeutet, ihr Spiel vorerst mitzuspielen.

»Vielleicht haben Sie recht«, sage ich schließlich. »Ich bitte Ihre Sekretärin am besten, die Treffen direkt in meinem Stundenplan zu notieren.«

»Prima«, freut sich Mrs. Ortiz, wobei sie augenscheinlich noch nicht glauben kann, dass ich auf ihr Angebot eingegangen bin. Sie ist relativ schnell zu durchschauen. In den letzten Treffen vor den Sommersemesterferien hatte ich irgendwann die Taktik perfektioniert, sie auf Themen zu bringen, bei denen sie zu 90 Prozent den Redeteil übernimmt, bis sie feststellt, dass die Zeit schon wieder vorbei ist. Ein paar Treffen im neuen Semester, in denen sich Mrs. Ortiz auf gewisse Weise selbst therapiert, und ich bin frei.

»Dann sehen wir uns bald«, raunt sie mir zwinkernd zu, bevor sie sich räuspert und mit lauterer Stimme, damit alle es hören können, sagt: »Am ersten Tag nach Extraaufgaben zu fragen, finde ich sehr löblich von dir, Daniel.« Das würde mir im Traum nicht einfallen und wäre ich kein so schüchterner Mensch, dem zu viel Aufmerksamkeit direkt unangenehm ist, würde ich protestieren.

Mrs. Ortiz entfernt sich endlich von mir und ich entdecke Paige am Ende des Korridors. Ich kann mich jedoch so lange nicht bewegen, bis es nicht mehr so wirkt, als würde ich Mrs. Ortiz durch den langen Gang begleiten. Daher krame ich möglichst beschäftigt in meinem Rucksack, während sie die Studierenden auf ihre spezielle Art motiviert.

»Fünf Minuten vor Kursbeginn schon hier? Sehr gut!«, sagt sie zu zwei Typen. Einen betrachtet sie etwas länger und zeigt ein paar Mal mit dem Finger auf ihn. »Toll, dass du den Pullover mit unserem Wappen anhast. Damit trägst du erheblich zum Gemeinschaftsgefühl bei.«

Mein Blick wandert wieder zu Paige, neben der in der Zwischenzeit Wesley aufgetaucht ist. Er versucht, sein Skateboard hinter seinen Beinen zu verstecken. Als Mrs. Ortiz an ihnen vorbeikommt, zeigt sie wider Erwarten und allen Wutausbrüchen unseres vorherigen Dekans zum Trotz mit beiden Daumen nach oben.

»Eine sehr umweltschonende Art, herzukommen. Klasse!«

»Äh, danke, Mrs. Ortiz«, meint Wesley gleichermaßen irritiert von ihrer Art wie alle anderen. Angefangen hat Mrs. Ortiz als unsere Dozentin, den Posten der Dekanin hat sie wahrscheinlich nicht ohne Einflussnahme meiner Mom erhalten. Schließlich war sie es, die meine Mom, ihre Mentorin während eines Praktikums zur Studienzeit, auf die Veruntreuung von öffentlichen Geldern durch unseren ehemaligen Dekan hingewiesen hat. Mom wird normalerweise gut bezahlt als Anwältin, aber hier spielte ihr Gerechtigkeitssinn die größte Rolle. Dass sie den alten Dekan verbannt hat, hat mir zuerst einige Anerkennung eingebracht, bis ein paar Kommilitonen dafür gesorgt haben, dass ich zum Gespött dieses Colleges wurde.

Bei der Erinnerung zucke ich innerlich kurz zusammen und lasse beinahe meinen Rucksack fallen. Meine Freunde sind bei mir angekommen und Paige greift gerade rechtzeitig nach dem Tragegurt.

»Kleiner Schwächeanfall?«, fragt sie und ihre Lippen kräuseln sich zu einem Schmunzeln. »Du hast bestimmt wieder nicht gefrühstückt.« Sie greift in ihre eigene Tasche und zieht einen Apfel heraus.

»Kann sein«, murmele ich und nehme ihn dankbar an. »Neue Semester machen mich immer nervös.«

»Genau wie Autofahren, Busfahren, Aufzugfahren oder …«

»Hey«, unterbricht Paige Wesley kichernd. »Wir haben uns mehrere Wochen nicht gesehen und du erwähnst direkt das Aufzugfahren.«

»Du warst neulich ja nicht dabei, als Dane sich trotz der kaputten Rolltreppen geweigert hat, den Aufzug zur U-Bahn zu nehmen«, protestiert Wes. »Ich fühlte mich wie nach einem Marathon, als wir endlich die Bahn erreicht hatten.«

»Gut so.« Paige stupst ihm mit dem Zeigefinger gegen den Bauch. »Du kannst ein bisschen Sport gebrauchen. Hast du, während ich in Europa war, nur auf dem Sofa gelegen?«

»Jetzt wirst du gemein.«

»Wer hat denn angefangen?«

»Ich kenne dich, Wes. Du hast bestimmt dein Wohnheimzimmer nur verlassen, um zu duschen und zu essen.«

»Vielleicht.«

»Leute«, unterbreche ich sie und beiße geräuschvoll in den Apfel, um ihnen nicht sagen zu müssen, wie sehr sie mir gefehlt haben. »Wir kommen zu spät zu unseren Kursen.«

Mit wenig Begeisterung folgen die beiden mir durch den Korridor, der sich weiter füllt.

»Ich hätte doch den Pulli mit dem Fleck anziehen sollen«, meint der Typ mit dem College-Hoodie gerade zu seinem Kumpel, als wir an ihm vorbeikommen.

Die meisten versammeln sich vor ihren Schließfächern in den gewohnten Grüppchen, als seien nicht mehrere Wochen vergangen, seit sie das letzte Mal hier gewesen sind. Die Cheerleader, die Football-Spieler oder die Geeks. So viel zu den Klischees. Dazwischen verteilen sich die vielen, die man wohl als den Durchschnitt bezeichnen könnte. Es ist zwar nur ein kleines College, doch bei weit über tausend Studierenden gibt es eine Menge irgendwas dazwischen.

Paige, Wesley und ich sind zwar auch eine Gruppe, fühlen uns aber nirgendwo richtig zugehörig. Und das Gute daran, anders zu sein, ist, dass niemand von uns erwartet, wie sie zu sein. Während sich die meisten untereinander grüßen, durchqueren wir einfach unbehelligt den Korridor, wir sind quasi inkognito unterwegs.

»Ich muss euch unbedingt erzählen, was uns auf meiner Rückreise passiert ist«, meint Paige vor der Tür zum Treppenhaus, an dem sich unsere Wege trennen. Was sie danach sagt, überhöre ich, weil meine Aufmerksamkeit auf jemand anderen gelenkt wird.

Verstohlen blicke ich zu dem Typen mit dem braunen zotteligen Haar, das fast seine kompletten Ohren verdeckt. Er hält einen Zettel in der Hand und scheint einen Raum zu suchen. Wenn ihn das nicht verraten hätte, wäre ich mir auch so sicher gewesen, dass er heute seinen ersten Tag an diesem College hat.

Mir geht es plötzlich gar nicht mehr gut. Mein Magen rutscht mehrere Etagen tiefer, meine Knie zittern leicht und ich bin mir nicht mehr sicher, wie man regelmäßig atmet. Das ist doch … Was macht denn … In meinem Kopf sind alle Gedanken auf einmal zu einem Knäuel verwachsen.

»Dorian Vaughns Bruder«, meint Paige mit gedämpfter Stimme, nachdem sie meinen neugierigen Blick bemerkt hat. Sofort schäme ich mich dafür, kann ihn aber nicht abwenden. »Ich glaube, er heißt Magnus. Er war für ein paar Semester auf einem anderen College. Es gibt die wildesten Theorien, warum er jetzt hier ist.«

»Vielleicht weil sein Dad zum dritten Mal für das Bürgermeisteramt kandidiert«, wirft Wesley ein und ich bin weiterhin wie erstarrt. Als ob ich das nicht bereits wüsste. Am Sonntag war ich schneller als meine Mom am Briefkasten, um die Zeitung zu holen. Ich musste unbedingt wissen, was die Presse über die Eröffnungsfeier geschrieben hatte. Dass sie mit keinem Wort erwähnt haben, wie der jüngste Sohn des Bürgermeisters bei der Ankündigung von dessen Wiederkandidatur direkt auf seine Schuhe gekotzt hat, zeigt den Einfluss seines Vaters. Was ich allerdings nicht geahnt habe, ist, dass er zum neuen Semester auf dieses College gewechselt ist. Immerhin gibt es noch ein zweites College in der Nähe mit anderen Studienschwerpunkten. Es hätte also gut sein können, dass ich ihm nur bei offiziellen Veranstaltungen begegne. Doch da es nur hier ein College-Schwimmteam mit eigener Halle gibt und Magnus sein Ruf als Schwimmtalent vorauseilt, hätte ich es mir eigentlich denken können.

»Du hättest mehr als den Apfel essen müssen«, raunt Paige mir mit besorgter Miene zu. »Du bist wirklich blass, Dane.«

»Geht schon«, presse ich hervor, dabei wird mir beim bloßen Gedanken an die Pläne meiner Mom schummrig. Adrian Vaughn ist seit fast acht Jahren nicht aus der Stadtpolitik wegzudenken und doch hat sie sich in den Kopf gesetzt, es mit ihm aufnehmen zu wollen. Bis auf Dekanin Ortiz weiß hier noch niemand davon. Schlimm genug, dass ich damit wieder zur Zielscheibe des ältesten Vaughn-Sohns werde. Wenn Magnus Vaughn nur ein Viertel Arschloch von seinem Bruder ist, werden die nächsten Monate ein Albtraum. Zu allem Übel ist er aber mindestens doppelt so attraktiv.

Eilig verabschiede ich mich von meinen Freunden und verschwinde mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend im Treppenhaus.

***

Die Philosophie-Vorlesung geht wie in Trance an mir vorbei. Ich schreibe zwar mit, was uns in den nächsten Wochen erwartet, kann mich aber kaum darauf konzentrieren. Am Ende habe ich nur ein paar zusammenhangslose Notizen gemacht, klappe schnell mein Heft zu und verlasse meinen Platz, bevor mich jemand nach meinem Sommer fragen kann. Normalerweise verbringe ich die Sommer bei meinem Dad und in seinem Haus in der Natur, doch dieses Jahr waren er und seine Freundin länger verreist. Mir blieb also nichts anderes übrig, als den Sommer in Wilbur Peaks bei Mom abzusitzen.

Ich konnte meiner Mutter noch nie etwas ausreden, wenn sie es sich in den Kopf gesetzt hatte. Es ist unsere stille Absprache, dass sie mir meine Marotten lässt und ich ihr ihre. Dieses Mal hätte ich mich mit Händen und Füßen dagegen wehren müssen, jetzt ist es zu spät. Und als wäre unser unerfreuliches erstes Treffen nicht Grund genug gewesen, sich für immer zu meiden, ist es ausgerechnet Magnus Vaughn, der dieses Semester in einem Seminar mit mir sitzt.

Ich bin in Versuchung, den Raum direkt wieder rückwärts zu verlassen, werde aber von einer kleinen Gruppe weiter hineingetragen. Ratlos bleibe ich vor den Sitzreihen stehen, bis ich mir schließlich einen Ruck gebe. Ich versuche seit mehreren Semestern, diesen Kurs zu belegen.

Unentschlossen suche ich nach einem Platz in der hinteren Reihe. Just in diesem Moment trifft mich Magnus’ Blick und ihm weicht die Farbe aus dem Gesicht. Vielleicht habe ich mir das aber auch nur eingebildet. Ich habe es nämlich plötzlich sehr eilig, die hinterste Sitzreihe zu erreichen.

Den gesamten Unterricht lang wendet Magnus den Kopf nicht vom Dozenten ab. Ich hingegen kann mich kaum noch konzentrieren. Als der Dozent den Kurs beendet, erhebe ich mich hastig von meinem Stuhl, werfe achtlos meine Sachen in meinen Rucksack und beeile mich, den Raum zu verlassen.

Ich komme allerdings nicht weit, da mich jemand grob am Arm packt und mit sich zerrt. Mir bleibt die Luft weg und ehe ich protestieren kann, hat er mich schon in einen leeren Raum bugsiert und die Tür hinter uns geschlossen.

»He, was soll das?«, will ich wissen, kann mich jedoch kaum artikulieren. Nach dem ersten Schreck rutscht mir das Herz erneut in die Hose, weil ich meinen unerwarteten Kidnapper erkenne.

»Ich muss mit dir reden«, sagt Magnus und schenkt mir einen eindringlichen Blick, der mir das Gefühl gibt, ich stünde nackt vor ihm. Es ist wohl überflüssig, einander vorzustellen, nachdem er mich quasi entführt hat. Ich bin klug genug, direkt zu verstehen, was das zu bedeuten hat.

»Es geht um die Veranstaltung am Samstag, richtig?«

»Gut kombiniert, Sherlock«, erwidert er grimmig. »Ich will nicht … also … Scheiße, Mann, halt einfach die Klappe, ja? Du hast nichts gesehen, du warst nicht mal dort, wenn jemand fragt.«

»Hat dein Vater ansonsten Leute, die mich zum Schweigen bringen, oder was?«, kontere ich mit weniger Selbstsicherheit, als ich offenbar gerade ausstrahle. Magnus hat nicht mit meiner Reaktion gerechnet, so viel ist klar. Er rauft sich kurz die Haare und beinahe scheint es, als würde er ein Schmunzeln unterdrücken.

»Im Zweifel hat er die. Ja.«

»Und wem genau soll ich nichts sagen? Zählen da auch die anderen hundert Menschen dazu, die am Samstag da waren?«

»Die habe ich ja nicht hier wiedergetroffen. Ich will nicht …« Magnus seufzt und wäre er nicht so unfreundlich, täte er mir fast leid. »Ich will nicht, dass mein Start am neuen College davon überschattet wird. Also? Kannst du es für dich behalten?«

Einen Moment lasse ich ihn zappeln. Die Hoffnung, die in seinen Augen auflodert, macht es noch erbärmlicher. Und doch kann ich mich kaum regen, nicht aus Furcht, sondern aus Verwirrung. Ich habe die Luft angehalten, damit ich ihn einerseits nicht anatme und andererseits seinen Geruch nicht wahrnehme. Die Millisekunde, in der es die Mischung aus Deo und seinem eigenen Körpergeruch in meine Nase geschafft hat, reicht zur Irritation aus.

Schließlich gewinne ich wieder die Oberhand über meinen Körper, drücke ihm beide Hände gegen die angespannte Brust (verflucht, er ist eindeutig Sportler) und schiebe ihn von mir weg. Es kostet mich große Mühe, ruhig zu atmen und nicht angestrengt nach Luft zu schnappen.

»Ich werde niemandem davon erzählen«, sage ich durch zusammengebissene Zähne, auch wenn es mehr dazu dient, nicht zu laut zu atmen. »Aber spar dir irgendwelche Drohungen, okay? Sonst überlege ich’s mir noch mal.«

»Schön«, erwidert er zähneknirschend, greift nach seinem Rucksack und stürmt wutentbrannt aus dem Raum.

Als ich allein bin, stütze ich mich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab und schnappe nach Luft. Mein Herzschlag poltert in meinen Ohren, ein bitterer Geschmack kriecht mir die Speiseröhre hinauf. Was war das denn? Der Typ denkt wohl, dass die Macht seines Dads bis hierhin reicht.

Nachdem ich mich etwas beruhigt habe, checke ich die Uhrzeit und ziehe mit zittrigen Fingern mein Smartphone hervor. In einer halben Stunde hat meine Mom einen Termin mit ein paar wichtigen Personen der Stadt. Heute Morgen war sie schon weg, wir konnten also nicht mehr miteinander sprechen. Eigentlich will ich so wenig wie möglich davon mitbekommen, schon der bloße Gedanke daran stresst mich. Jetzt hingegen bin ich so voller Adrenalin und Ärger, dass ich eine Nachricht an sie tippe.

 

Hi, Mom. Ich wollte dir nur viel Glück für gleich wünschen.

Ich bin mir sicher, dass sie dich mehr als Vaughn mögen werden.

 

Am liebsten hätte ich hinzugefügt, dass sie alles dafür geben soll, Typen wie Adrian Vaughn und seinen Söhnen einen Dämpfer zu verpassen. Das hätte sie jedoch wieder misstrauisch gemacht und ich hätte Fragen beantworten müssen, die ich nicht gestellt bekommen will. Deshalb sende ich die Nachricht mit ein bisschen weniger, aber dennoch ausreichend Genugtuung ab.

Wütend sein

Magnus

Was zur Hölle habe ich da eben getan?! Als ich diesen Typen von der Eröffnungsfeier wiedergesehen habe, sind bei mir alle Sicherungen durchgebrannt. Jetzt laufe ich kopflos durch die Korridore, ohne zu wissen, wohin ich eigentlich unterwegs bin. Verdammt, ich sehne den Tag herbei, an dem ich mich hier nicht mehr verirre.

Endlich entdecke ich eine Tür zu den Toilettenräumen und schaffe es bis zu einer Kabine, in der ich mich einschließe. Hektisch ringe ich um Luft und stütze mich mit den Händen an der gefliesten Wand ab. Mir entfährt ein frustrierter Laut und ich presse mir eine Hand auf den Mund. Es kommt mir auf einmal vor, als seien die vergangenen Minuten nur im Traum geschehen. Als sei ich gar nicht ich selbst gewesen. Aber wann war ich das überhaupt zuletzt? Ich versuche schon seit Frühjahr, nicht völlig durchzudrehen.

Ich kann mir richtig vorstellen, wie enttäuscht Dad sein wird, wenn die Ereignisse auf der Eröffnungsfeier sich wie ein Lauffeuer am College verbreiten. Ich weiß nicht, ob ich dem Wort dieses Typen vertrauen kann. Dad würde das nicht tun. Vielleicht muss ich den Ernst der Lage erneut verdeutlichen.

Doch schon beim Gedanken daran wird mir klar, dass ich längst die Kontrolle über diese Angelegenheit verloren habe. Mein Brustkorb schnürt sich zu, als hätte jemand ein Seil um meine Rippen befestigt und würde es ohne Mitgefühl enger ziehen. Mein Sichtfeld verkleinert sich, bis ich nur noch verschwommen die Toilette vor mir erkenne.

Mein Kopf ist leer und doch toben verworrene Gedanken darin. Die Kabine, in der ich mich eingeschlossen habe, fühlt sich plötzlich so eng an wie meine Lunge. Instinktiv greifen meine Hände nach meinem Kragen, um ihn zu weiten, auch wenn ich eigentlich weiß, dass das nichts bringt. Es hilft nicht gegen das beklemmende Gefühl in meinem Inneren, das mir die Luft aus der Lunge presst.

Meine Hände sind eiskalt und gleichzeitig schweißnass. Ich reibe mehrmals mit den Handinnenflächen über meine Jeans. Über den Sommer ging es mir bei Tante Bridget so gut, dass ich geglaubt hatte, die Panik tief in mir begraben zu haben. Auf ein College in Wilbur Peaks zu gehen, hat sie auf einen Schlag zurückgebracht.

Geräusche vor der Kabinentür holen mich in die Realität zurück. Die Panik klingt nur langsam ab. Ich verlasse die Kabine mit zitternden Knien und lasse mir eiskaltes Wasser über die Handgelenke laufen. So kann ich definitiv nicht zu meiner nächsten Vorlesung.

Auf dem Gang begegnet mir allerdings Gabe, mein bester Freund hier in Wilbur Peaks seit Kindertagen. Fragend sieht er mich an.

»Mann, wo warst du heute Morgen? Ich habe dir einen Platz in der Vorlesung freigehalten.«

»Sorry, ich habe verschlafen«, sage ich und wische erneut meine kalten Hände an der Hose ab. Gabriel und ich sind in derselben Straße aufgewachsen und gemeinsam zur Highschool gegangen. Dann kam mein Dad auf die großartige Idee, mich auf ein entferntes College zu schicken, um aus mir den nächsten Schwimm-Star zu machen. Gabe hingegen besucht seit zwei Jahren dieses College. Seine Körpergröße hat ihm recht schnell und klischeehaft einen Platz im Basketball-Team gesichert.

»Hätte ich mir ja denken können«, murmelt Gabe, bevor er lauter hinzufügt: »Wo musst du gleich hin?«

»Spanisch-Wahlkurs«, erkläre ich und nehme dankbar an, dass er mir den Weg dorthin beschreibt. Der Sprachunterricht bereitet mir wenig Kummer. Das ist nicht mein erster Spanischkurs und Tante Bridget hatte im Sommer zeitweise ein Backpacker-Paar aus Spanien bei sich wohnen. Die haben meine Sprachkenntnisse schnell aufgebessert, da sie kaum Englisch konnten und Bridget kein Wort Spanisch.

Ich folge also Gabriels Wegbeschreibung und trotte zu meinem Kurs. Eigentlich hätte ich mich zurücklehnen können, doch das Nachbeben in meinem Inneren ist noch in vollem Gange.

Das beklemmende Gefühl verstärkt sich, als ich am Nachmittag die kleine Schwimmhalle des Colleges betrete. Meine Eltern hätten mich niemals auf ein College gehen lassen, das kein eigenes Schwimmteam hat.

Obwohl ich noch nie in dieser Schwimmhalle trainiert habe, ist der Gang durch die gefliesten Räume erschreckend vertraut und ruft Erinnerungen in mir hervor, die ich lieber unterdrücken würde. Nur in Badehose fühle ich mich plötzlich viel zu nackt. Deshalb verschränke ich die Arme vor dem Oberkörper und stelle mich in zweiter Reihe zu den anderen. Den Worten des Coachs kann ich kaum folgen, mein Blick wandert immer wieder zum Schwimmbecken, bis er seine Vorstellungsrunde beendet hat.

»Na, dann zeig mal, was du draufhast, Vaughn«, meint einer meiner neuen Teamkollegen, dessen Name ich mir auf die Schnelle nicht merken konnte. Er klopft mir mit der Hand auf den Rücken und schubst mich anschließend leicht in Richtung Becken.

»Ihr solltet anfangen«, erwidere ich. »Damit ihr zusehen könnt, wie ich euch schlage.« Ich war zwei Jahre auf einem College mit einem renommierten Schwimmteam. Natürlich kenne ich Typen wie diesen und natürlich kann ich mich gegen sie behaupten.

»Du nimmst den Mund ganz schön voll.«

Ich zucke mit den Schultern und lasse ihm den Vortritt. Er mustert mich noch einen Moment, als könnte er spüren, wie viel nackter ich mich dadurch fühle. Dann macht er einen Kopfsprung ins Wasser, was der Coach sofort mit einer Ermahnung quittiert. Mein Teamkollege gleitet dennoch elegant durchs Becken und schwimmt seine Bahnen in einer Geschwindigkeit, die sich sehen lässt. Zumindest, wenn man keine richtigen Vergleichswerte hat und Mitglied im Schwimm-Team eines eher kleinen Colleges ist.

Ich nicke ihm mit gespielter Anerkennung zu, als er aus dem Becken steigt und seine nassen Haare in meine Richtung ausschüttelt. Immerhin sorgt sein arrogantes Gehabe dafür, dass ich mich wieder aufs Hier und Jetzt fokussieren kann.

Mein anfängliches Zögern wird von meinem Wettkampfgeist abgelöst und das Wasser an meinen Füßen tut ein Übriges. Ich muss nur ein Stück tauchen, damit wieder jede Faser meines Körpers weiß, dass ich genau hierhin gehöre. Als ich mich vom Beckenrand abstoße, führen meine Arme und Beine die Schwimmbewegungen nahezu automatisch aus. Die optimale Dynamik zwischen Atemzügen und Auf- und Abtauchen ist über Jahre antrainiert.

Und wenn ich das gar nicht mehr will? Aber wenn ich nichts anderes kann? Die Fragen, die mich schon seit Wochen quälen, spornen mich zu neuen Höchstleistungen an. Ich lege das letzte Stück bis zum Beckenrand zurück und spucke etwas Wasser, nachdem ich mich aus Unachtsamkeit verschluckt habe.

»Was für eine Zeit!«, ruft der Coach und eine Stimme in meinem Kopf denkt sich spöttisch, dass mir so bestimmt der Sieg beim nächsten Wettkampf sicher ist. Das ist alles, was Dad je für mich wollte. Darf man etwas hassen, wenn man so gut darin ist?

Der Coach zeigt begeistert die Messuhr in der Gruppe umher, damit alle ihm glauben. Ich nutze den Moment, hole Luft und lasse mich tiefer ins Wasser sinken. Als würde der geflieste Boden mich näher zu sich ziehen.

Mit geschlossenen Augen bleibe ich unter Wasser und lausche meinem Herzschlag. Spüre den Druck, der sich wie eine Schutzmauer um mich schließt. Fühle das Pochen in meinem Kopf. Es kostet mich mit jeder Sekunde mehr Kraft, nicht aufzutreiben, aber ich will das Gefühl noch nicht verlieren.

Wie lange ich dort unten bin, weiß ich nicht genau. Es könnten zwei Minuten, vielleicht auch fünf gewesen sein. Leider greifen da plötzlich zwei starke Hände nach mir und ziehen mich nach oben.

»Alter, bist du irre?«, fragt einer meiner Teamkollegen, der mich mit einem anderen aus dem Wasser gezerrt hat. Ich kauere ein paar Sekunden zwischen ihnen und schnappe nach Luft.

»Vaughn!«, meint der Coach aufgebracht und kniet sich neben mich, um mich besser in Augenschein nehmen zu können. Meinen Vornamen kann er sich wohl noch nicht merken, meinen Familiennamen kennt in Wilbur Peaks jeder.

»Mir geht’s gut«, murmele ich und rutsche beinahe aus, als ich zu schnell auf die Beine komme, um Abstand zwischen ihn und mich zu bringen.

»Dein Vater meinte schon, dass du erst mal wieder einen Trainingsrhythmus finden musst«, erwidert der Coach und würde meine Kehle nicht so brennen, würde ich lachen. »Geh duschen und komm zum nächsten Training wieder. Mit hoffentlich mehr Vernunft. Das ist ein Schwimmteam, kein Erste-Hilfe-Kurs, verstanden?«

»Klar«, entgegne ich griesgrämig und laufe Slalom durch die Gruppe. Wütend stoße ich die Tür zu den Duschen auf und stoppe abrupt. Eine kleine Ewigkeit starre ich die Duschen an und merke, wie meine zitternden Hände die nächste Panikwelle ankündigen. Mit geballten Fäusten lasse ich die Duschen hinter mir und laufe direkt in die Umkleide. Dort ziehe ich meine Sachen über meine nasse Badehose und beeile mich, die Schwimmhalle zu verlassen.

***

Zuhause bin ich erst noch damit beschäftigt, meine restliche Kleidung aus den beiden Koffern auszuräumen. Das meiste werfe ich achtlos irgendwohin, bis mir einfällt, dass Mom dann mit gerümpfter Nase selbst hier aufräumen wird und ich einen ruhigen Abend vergessen kann. Wieder zuhause zu wohnen, missfällt mir von Tag zu Tag mehr. Es war jedoch Teil des Deals, den Dad und ich ausgehandelt haben, dass ich wieder hier einziehe. Geld für eine eigene Wohnung habe ich aktuell nicht und Zeit für einen Nebenjob wegen des Schwimmtrainings auch nicht. Also räume ich auf, lasse es mir aber nicht nehmen, dabei laut Musik zu hören.

Eigentlich sollte ich hinterher meine Vorlesungen nachbereiten, scrolle jedoch lieber durch die sozialen Medien. Das Semester hat auch an meinem alten College wieder begonnen, ein paar meiner Freunde haben Reels von einer Party gepostet.

Ich finde mehr Bilder und zoome heran, um herauszufinden, wer was mit wem hatte und wer völlig abgestürzt ist. Nach Lektüre der äußerst unterhaltsamen Kommentare wird mir die Beschäftigung allerdings zu langweilig und mein Magenknurren führt mich ins Erdgeschoss.

Schon im Treppenhaus nehme ich die aufgewühlte Stimmung wahr. Sie wäre mir sicherlich schon vorher aufgefallen, wenn meine Musikanlage nicht die laute Stimme meines Dads übertönt hätte. Normalerweise verschanzt er sich direkt in seinem Büro, wenn er nach Hause kommt und es noch kein Abendessen gibt. Heute ist irgendetwas anders und ich bin mir noch nicht sicher, ob ich den Grund dafür herausfinden will.

Wie ein Schaulustiger bei einem Unfall lehne ich gegen den Türrahmen zum Wohnzimmer und beobachte das Spektakel. Mom hat mir den Rücken zugewandt und Dad ist so in Rage, dass auch er mich nicht bemerkt.

»Wie kommen sie darauf, ihr irgendwelche Chancen auszurechnen?«, donnert Dad und gestikuliert dabei wild.

»Reg dich nicht auf, Adrian«, versucht Mom, ihn zu beschwichtigen. Er schüttelt den Kopf und fängt an, hinter den Sofas auf- und abzugehen.

»Sie muss irgendwen bestochen haben, um überhaupt zugelassen zu werden«, wettert er weiter und ich habe keine Ahnung, von wem er eigentlich spricht. Vielleicht hat seine Praktikantin den Kaffee kalt werden lassen. Oder ihn zu heiß serviert.

»Sie ist neu in der Politik und hat im Vergleich zu dir noch keine nennenswerten Unterstützer«, meint Mom und zieht ihn am Arm zu einem Sofa, bis er sich setzt und sie ihm die Schläfen massieren kann. Dad scheint sich für den Moment etwas zu entspannen und ich verkneife mir ein Lachen.

Der Anblick von ihr, wie sie sich voll und ganz auf Dad konzentriert, nimmt mich so ein, dass ich meinen Bruder erst bemerke, als er neben mir steht.

»Hier«, raunt er mir zu und hält mir sein Smartphone hin. Es flackert ein Video darüber, das ich mir zuerst nicht ansehen will, da Dorian mir meistens etwas zeigt, das nur er lustig findet. Aber es ist wider Erwarten nichts Perverses und nichts moralisch Verwerfliches, sondern ein kurzes Video einer lokalen Nachrichtenseite. Mit Untertiteln und ein paar Bildern einer kleinen Pressekonferenz berichtet es darüber, dass eine Frau mit einer blonden Bobfrisur und einem glattgebügelten Hosenanzug namens Nora Atkins ebenfalls für das Amt des Bürgermeisters kandidiert. Mit kaum zu überlesender Ironie hat der Journalist zum dazugehörigen Artikel geschrieben: Lasst die Spiele beginnen.

Ich reiße Dorian das Smartphone aus der Hand und überfliege den Artikel schnell. Nora Atkins ist Anwältin, ihr ganzer Lebenslauf klingt wie der einer verdammten Superheldin. Und auf den Fotos lächelt sie authentischer, als Dad es jemals hinbekommen würde. Vielleicht hat sie noch nicht so viele Unterstützer wie Dad, was ihn gerade beruhigt, aber das wird sich vermutlich bald ändern.

Als Dorian sich sein Smartphone zurückklaut, habe ich verstanden, warum ein solcher Aufruhr im Hause Vaughn herrscht. Mein Blick wandert wieder zu unseren Eltern. Mom ist dazu übergegangen, irgendein Mantra aufzusagen, damit Dad sich beruhigt. Die letzten Male ist er gegen kaum ernstzunehmende ältere Kandidaten angetreten. Seiner Reaktion nach zu urteilen, ist diese Nora Atkins hingegen eine echte Konkurrentin.

»Fuck«, wispere ich, nicht geschockt, sondern vielmehr erfreut und wiederhole dann die Schlagzeile des Artikels: »Dann lasst die Spiele beginnen.«

***

Dads schlechte Laune hält nicht mal bis zum nächsten Morgen an. Er geht das Nora-Atkins-Problem wie alle anderen Herausforderungen mit neuem Tatendrang an und führt schon Telefonate, als ich mich gerade aus dem Bett quäle und in die Dusche schleppe. Er tippt Nachrichten an seinem Laptop, während Mom unsere Lunch-Boxen packt, als seien wir nie älter als zehn geworden. Und er macht sich auf den Weg ins Büro, bevor ich die Milch auf meine Cornflakes geschüttet habe.

Ich hingegen bin noch immer nicht richtig wach, als ich später in einer Vorlesung und anschließend in der Cafeteria sitze. Mit meinem zweiten Frühstück wähle ich einen Platz möglichst nah bei der Tür, damit Gabe mich schneller findet. Wir sind zum Frühstück verabredet und noch mal versetzen kann ich ihn nicht.

Er stößt allerdings erst zu mir, als ich das zweite Croissant verspeist habe.

»Hast du mir was aufgehoben?«, will er schwer atmend wissen und lässt seine Sporttasche auf den Stuhl neben mir fallen.

»Wärst du zwei Minuten früher da gewesen …« Während ich spreche, sehe ich ihn gar nicht richtig an. Meine Aufmerksamkeit wird auf eine andere Gruppe gelenkt. An einem der Getränkeautomaten steht der blonde Typ von der Eröffnungsfeier am Samstag. Die beiden neben ihm sind wohl seine Freunde: ein großer Kerl mit Brille, schulterlangem Haar und Jeanshemd und eine sommersprossige, rothaarige junge Frau mit einem T-Shirt, das mindestens zwei Nummern zu groß ist. Das Motiv sagt mir nichts, ist vielleicht eine Figur aus einem Comic oder einem Computerspiel.

Ich bin heute nicht der Einzige, der verstohlen zu ihnen blickt. Genau genommen ist es ausgerechnet der blonde Typ, der die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dabei wirkt er auf den ersten Blick unscheinbar in seinem karierten Hemd und den abgetragenen Sneakern. Warum tuscheln die anderen in der Cafeteria über ihn? Sofort schlägt mein Herz schneller.

»Du hast mir keinen einzigen Krümel übriggelassen«, beschwert sich Gabe derweil. Ich nehme es nur gedämpft wahr, steige erst wieder mental ein, als er meinem Blick folgt.

»Der ganze Trubel ist bestimmt viel, wenn man es nicht gewohnt ist. Ich meine, die meisten kannten Daniel vorher kaum, aber seit der Sache ist sein Name in aller Munde. Jetzt umso mehr.«

»Wen meinst du?«, frage ich mit einem stechenden Gefühl in der Brust.

»Na, den Blonden, den alle so auffällig ansehen«, erwidert Gabe flüsternd. »Du hast mir doch gestern Abend von seiner Mutter erzählt.«

»Was? Ich habe doch nicht …«, beginne ich irritiert, bis ich mich selbst mit einem Räuspern unterbreche, weil ich eins und eins zusammenzähle. Fuck. Mein Herz springt unkontrolliert durch meinen Brustkorb. Ich habe gestern Abend noch amüsiert ein paar Nachrichten mit Gabe ausgetauscht und ihm den Artikel über Nora Atkins geschickt. Daran denkt er wohl auch gerade, denn er zieht sein Smartphone aus der Tasche und öffnet den Artikel.

»Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Nerd eine so hübsche Mutter hat«, meint Gabe. Er schiebt das Smartphone über den Tisch und ich erkenne die Ähnlichkeit zwischen Nora Atkins und dem blonden Typen am Getränkeautomaten.

Okay, das erklärt, von welcher Sache Gabe spricht und weshalb sie so große Aufmerksamkeit auf Daniel lenkt. In dem Punkt sind wir also Leidensgenossen – wir stehen beide ungewollt im Mittelpunkt des Interesses, weil seine Mom und mein Dad um den Bürgermeisterposten konkurrieren. Verdammte Scheiße.

Daniel.

Der Name geistert unaufhörlich durch meinen Kopf und hinterlässt ein seltsames Gefühl in meinem Magen. Und das nicht nur, weil seine Mutter auch einen verdammt attraktiven Sohn hat. Äußerlich hat er etwas von einem klassischen Surferboy, doch das schüchterne Verhalten eines Nerds. Und die Mischung empfinde ich persönlich als verdammt gefährlich.

»Das Gespräch entwickelt sich in eine ganz schräge Richtung.« Genau wie meine Gedanken, die ich in Wilbur Peaks niemals öffentlich äußern dürfte.

Wie froh ich bin, als Daniel und seine Freunde die Cafeteria wieder verlassen. Jetzt begreift mein verwirrtes Hirn erst die Zusammenhänge. Deshalb war er am Samstag bei dieser Veranstaltung. Sofort schrillen wieder meine Alarmglocken und ich räume meinen Teller rasch aufs Tablett.

»Ich will pünktlich beim nächsten Kurs sein«, erkläre ich Gabe und schultere meinen Rucksack.

»Bis dahin hast du doch noch genügend Zeit.«

»Nicht, wenn man einplant, wie oft ich mich verlaufe«, widerspreche ich ihm und lache verhalten, ehe ich mir den Weg zum Ausgang bahne.

Der Kurs ist mir ehrlich gesagt ziemlich egal. Mir war nur wichtig, schnell genug zu sein, um Daniel und seine Freunde nicht aus dem Blick zu verlieren. Ich entdecke sie am Ende des Gangs und verfolge sie bis ins nächste Stockwerk. Dort trennen sie sich endlich und ich kann meine Verfolgungsjagd auf eine Person konzentrieren.

Daniel biegt ein paar Mal um die Ecke und wechselt erneut das Stockwerk, bis außer uns niemand mehr zu sehen ist. Auf einmal wird er langsamer und überlegt wohl, ob er den richtigen Weg genommen hat. Ich erkenne rechtzeitig meine Chance, hole ihn ein und packe ihn am Arm, um ihn beiseitezuzerren.

Nach anfänglichem Schock braucht er einige Sekunden, bis er reagieren kann.

»Das wird jetzt nicht zur Gewohnheit, oder?«, fragt er und verschränkt die Arme vor dem Oberkörper. Sein leichtes Keuchen bringt mich kurz aus dem Konzept, während ich mich umsehe, ob wir weiterhin ungestört in diesem Gang sind.

»Du hättest mir sagen müssen, dass du Nora Atkins’ Sohn bist und deshalb am Samstag auf der Eröffnungsfeier warst.«

»Bitte was? Ich wusste am Samstag nicht, dass wir auf dasselbe College gehen und sogar gemeinsam Kurse belegen. Das habe ich erst gestern verstanden, als du in meinem Seminar saßt.«

»Dann wäre ein Hinweis danach ja mal nett gewesen«, entgegne ich mit neuer Wut und werfe einen nervösen Blick über meine Schulter, weil irgendwo Stimmen zu hören sind. In meinem Kopf dreht sich alles. Der letzte Kandidat, gegen den mein Vater angetreten ist, war echt alt. Er hatte höchstens ein paar Enkel. Nora Atkins ist aber nicht nur eine ernstzunehmende Gegnerin für ihn – wenn ihr Sohn auf dasselbe College geht, werde ich sogar an diesem Ort an Dads Wahlkampf erinnert.

»Halt dich hier einfach fern von mir«, flüstere ich Daniel aufgebracht zu.

»Wenn du aufhören kannst, mich heimlich in dunkle Ecken zu zerren.«

»Hatte ich sowieso vor.«

»Gut«, meint er schroff.

»Gut«, erwidere ich in derselben Stimmung und stolpere beinahe, weil ich so energisch aus dem Gang stürme. Im Treppenhaus weiß ich kurz nicht mehr, wo ich bin. Und das liegt sicherlich nicht daran, dass heute erst mein zweiter Tag hier ist.