Leseprobe Ich weiß, was du getan hast

Prolog

Sie dreht sich um, als ich ihren Namen rufe. Sie wirkt überrascht und ein wenig verwirrt, bemüht sich aber um eine freundliche Miene, während ich mich ihr nähere. Vermutlich versucht sie sich zu erinnern, woher sie mich kennt oder ob sie mich überhaupt kennt.

Na ja, es ist auch wirklich lange her.

„Hallo“, sagt sie unsicher, als ich vor ihr stehen bleibe. So kurz vor dem Labor Day sind nicht viele Menschen in diesem Teil des Parks unterwegs, deshalb ist sie wahrscheinlich misstrauisch. Das sollte sie auch sein – zumindest mir gegenüber. Ich habe nichts Gutes im Sinn.

Ich erwidere den Gruß nicht, und sie runzelt die Stirn. „Äh, tut mir leid, aber …“

Mit einem erzwungenen Lächeln halte ich ihr die Hand hin und nenne ihr meinen Namen. „Wir sind zusammen zur Schule gegangen.“

„Oh, richtig!“ Sichtlich erleichtert schüttelt sie mir die Hand. Zum Glück versucht sie nicht, mich zu umarmen. „Jetzt erinnere ich mich wieder“, sagt sie. „Wie gehts dir denn?“

„Gut“, erwidere ich. „Wirklich gut. Und dir?“

Sie verfällt in einen Monolog über ihr Leben, ihren Job und wie großartig es ihr seit dem Schulabschluss ergangen ist. Ich höre ihr nicht wirklich zu. Für mich war es überhaupt nicht großartig und sie verdient dieses Glück nicht. Aber das ist schon in Ordnung.

Ich werde ihr alles nehmen. Schade nur, dass sie den Grund nie erfahren wird. Sie ist nur ein Mittel zum Zweck, um jemanden zu vernichten, der es wirklich verdient hat. Aber die Frau, die mir mein Leben gestohlen hat, wird auch nicht so leicht davonkommen.

Ich habe viel größere Pläne für sie.

Sie starrt mich an und ich realisiere, dass sie mir wohl eine Frage gestellt hat. Keine Ahnung, worum es geht. „Sorry, wie war das?“, frage ich.

„Ich wollte wissen, ob du wanderst.“ Sie deutet auf die Stiefel, die sie zugeschnürt hat, als ich nach ihr gerufen habe. „Ich wollte gerade rauf zur Sycamore Cliff. Der Weg ist nicht zu steil und von oben hat man eine fantastische Aussicht. Möchtest du mich begleiten? Wir können über die guten alten Zeiten reden“, fügt sie mit einem Grinsen hinzu.

Ich schaue von ihr zu dem Berg, der über uns aufragt, stelle mir vor, wie tief es über die steilen Klippen hinuntergeht, wie sie wohl dreinblickt, wenn ich sie runterstoße. Den schockierten, angsterfüllten Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht, wenn sie in den Tod stürzt.

„Klingt gut“, sage ich mit einem Lächeln. „Nichts wie los.“

Kapitel 1

Es ist der erste Kindergartentag und ich bin überzeugt, dass meine Tochter jeden Moment vor Aufregung platzt wie eine Seifenblase.

Alyssa vibriert förmlich in ihrem Kindersitz, während wir auf den Parkplatz der Wolfsbrook Elementary fahren. Sie ist vier und klein für ihr Alter, im Oktober wird sie fünf. Aber sie ist nicht unterentwickelt oder minderwüchsig, nur von Natur aus zierlich. Meine dunkelhaarige, grünäugige Elfe mit ihrer Stupsnase und dem strahlenden Lächeln, das jeden Raum erhellt. Sie wickelt jeden um den Finger, dem sie begegnet, von daher mache ich mir keine Sorgen, dass sie Schwierigkeiten haben wird, sich in der Ganztags-Vorschule anzupassen.

Ich bin diejenige, der es schwerfällt. Obwohl ich mir geschworen habe, nicht zu weinen, brennen meine Augen, als ich auf einen freien Parkplatz fahre und den Motor abstelle. Es ist so weit. Mein Baby wagt die ersten Schritte ins Meer des Erwachsenwerdens.

Ich erwische mich bei dem Gedanken, wie fertig ich erst sein werde, wenn sie die Highschool abschließt, und verdränge ihn. Bis dahin ist noch viel Zeit.

Außerdem ist dieser Tag auch so schon emotional genug.

„Wir sind da!“, ruft Alyssa und schnallt sich ab. „Kann ich die Tür selber aufmachen, Mommy?“

Ich schenke ihr ein Lächeln. „Ja, aber warte, bis ich auf deiner Seite bin, okay? Es ist viel Verkehr.“

„Also gut, ich warte.“

Ich entriegle die Kindersicherung, schnappe mir meine Tasche und steige aus. Da Alyssa so klein ist, habe ich ihr praktisch seit dem Tag, an dem sie ihre ersten Schritte gemacht hat, die Verkehrsregeln eingebläut. Kein Fahrer würde sie sehen, wenn sie ihm vor den Wagen läuft. Der Gedanke bereitet mir Albträume.

Ich bin überrascht, wie viel an diesem Morgen los ist. Als wir die Vorschule letzte Woche besucht haben, um Alyssas Klassenzimmer zu besichtigen und ihre Lehrerin, Mrs Jocasta, kennenzulernen, standen nur eine Handvoll Wagen auf dem Parkplatz und keine in der halbmondförmigen Auffahrt vor dem Schulgebäude. Jetzt drängen sich dort hummelgelbe Busse und der Parkplatz ist so voll, dass manche Wagen auf der Hauptstraße und den Seitenstraßen parken müssen. Der erste Schultag gleicht einem Affenzirkus, bei dem die Kinder sich über neue Klamotten und Ausstattung austauschen, während die Eltern und Lehrer versuchen, die aufgeregte Meute ins Gebäude zu treiben.

Natürlich ist es genauso gewesen, als ich hier zur Schule gegangen bin, aber damals sind mir weder der Verkehr noch die Erwachsenen aufgefallen. Ich war nur eines von vielen Kindern.

Ebenso wie Rosalie Phillips.

Während ich den Strom von kleinen Menschen auf dem Bürgersteig beobachte, sehe ich sie für einen Moment vor mir, wie sie in der zweiten Klasse war – das dunkle Haar zu Zöpfen geflochten, die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen, die nach zwei peinlichen Jahren des Zahnspangetragens in der Mittelstufe korrigiert worden war, die Sommerkleider, die sie so oft trug, selbst im Winter über Rollkragenpullis und dicken Strumpfhosen. Wir waren zwar nicht gerade die besten Freundinnen, aber sie war in meiner Stufe und ich kannte sie.

„Mommy, kann ich jetzt endlich die Tür aufmachen?“

Die gedämpfte Stimme meiner Tochter reißt mich aus meinen Gedanken. Die Erinnerung an Rosalie verblasst, während ich um den Wagen herumeile und knapp hinter Alyssas Tür stehen bleibe. „Okay, komm raus, Baby“, sage ich.

Sie zieht am Griff, schafft es beim ersten Versuch und klettert heraus, ihren brandneuen „Mein kleines Pony“-Rucksack im Schlepptau. Nachdem sie die Tür geschlossen hat, schiebt sie einen Arm durch den Träger ihres Rucksacks, doch der andere bereitet ihr Schwierigkeiten. Bei dem Versuch hineinzuschlüpfen, dreht sie sich im Kreis wie ein Hund, der seinen Schwanz jagt.

Ich muss mir ein Lachen verkneifen. „Brauchst du Hilfe, Kleines?“

„Nein, ich schaff das“, erwidert sie mit dem unbeirrten Selbstbewusstsein, das Kinder haben. Nach drei weiteren Versuchen erwischt sie schließlich den Träger und strahlt mich an. „Siehst du?“

„Gut gemacht“, lobe ich meine kleine Ms Eigenständig.

Dann nehme ich sie an der Hand und wir steuern über den Parkplatz auf die grasbedeckte Anhöhe zu, die zur Auffahrt führt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht eine Frau vor den Bussen und hält ein rotes Stoppschild hoch. Sie ist um die dreißig und trägt eine orangefarbene Sicherheitsweste. Als sie uns sieht, überquert sie die Straße und kommt mit einem freundlichen Lächeln auf uns zu.

Alyssa strahlt ebenso breit zurück. „Hi! Ich bin Alyssa Dawn Bauman“, sagt sie. „Ich gehe jetzt hier zur Schule, so wie meine Mommy früher.“

Ich widerstehe dem Drang, ihr einzuschärfen, dass sie Fremden nicht ihren vollen Namen nennen soll. Menschen in Uniform sind eine Ausnahme, und diese Verkehrshelferin trägt eine Dienstmarke.

„Hallo, Alyssa Dawn Bauman“, erwidert die Frau. „Ich bin Ms Fischer. Freut mich, dich kennenzulernen.“

„Hi, Ms Fischer!“

Die Verkehrshelferin lacht, bevor sie in die silberne Trillerpfeife bläst, die sie um den Hals trägt, und ihr Stoppschild hochhält, um den Verkehr anzuhalten. Während wir hinter ihr die Straße überqueren, zerrt Alyssa an meiner Hand und deutet mit der anderen auf etwas. „Wer ist das, Mommy?“, flüstert sie. „Ist sie berühmt?“

Ich drehe den Kopf in die Richtung, in die sie zeigt, zu dem hüfthohen, schmiedeeisernen Zaun, der von der Rückwand des Schulgebäudes über den Hof bis zum Ende der Haupteinfahrt verläuft. Dahinter steht eine Frau – schätzungsweise Ende zwanzig, wie ich, spindeldürr, gekleidet in ein weißes Seidengewand, das wie ein Morgenmantel aussieht, und schwarze High Heels mit Riemchen. Ihre Augen sind von einer riesigen, dunklen Sonnenbrille verdeckt und ihre vollen Lippen blutrot geschminkt. Das platinblonde Haar fällt ihr in losen Wellen über die Schulter und in einer Hand hält sie eine glimmende Zigarette.

Sie steht einfach nur da und beobachtet die Kinder auf dem Bürgersteig.

Etwas an ihr lässt meine inneren Alarmglocken schrillen. Vielleicht ist es die Tatsache, dass sie einen Morgenmantel und High Heels in der Öffentlichkeit trägt – was ziemlich seltsam ist – oder dass sie ohne ein Kind im Schlepptau vor einem Kindergarten herumlungert und raucht. Ganz offensichtlich arbeitet sie nicht hier. An der Sache ist etwas faul.

„Ich glaube nicht, dass sie berühmt ist, Kleines“, sage ich, während ich Alyssa weiterziehe. „Komm, lass uns deine Lehrerin suchen.“

Sobald wir im Gebäude sind, lässt meine Anspannung nach. Alyssa erinnert sich vor mir an den Weg zu ihrem Klassenzimmer und zerrt mich aufgeregt durch die Gänge, bis wir den Kindergartenflügel erreichen, wo die Lehrkräfte neben den Türen ihrer Zimmer stehen, um die Neuzugänge zu begrüßen.

Wolfsbrook, New Hampshire, ist ein großer Vorort für wohlhabende Mitglieder der Mittel- und Oberschicht, und die Grundschule verfügt über vier Kindergartenräume, die jeweils mit einer Lehrkraft und mindestens einem Assistenten besetzt sind. Dadurch bleibt die Klassengröße unter zwanzig Schülern. Und Mrs Jocasta erinnert sich offenbar an jeden einzelnen von ihnen, denn sie begrüßt meine Tochter mit Namen, als wir zur Tür kommen.

„Guten Morgen, Alyssa“, sagt die Lehrerin freundlich. Sie ist eine hübsche Frau Anfang dreißig, hat dichtes, erdbeerblondes Haar und ein strahlend weißes Lächeln. „Kannst du deinen Namen an deinem Fach finden und deinen Rucksack aufhängen? Wenn du Hilfe brauchst, frag einfach Mrs Field.“

„Guten Morgen, Mrs Jocasta. Ich kann meinen Namen lesen“, sagt Alyssa mit einem stolzen Lächeln. Einen Moment lang denke ich, dass sie ohne einen Blick zurück in den Raum stürmt, und mein Herz bricht ein wenig, aber sie dreht sich um und wirft ihre Arme um meine Taille. „Tschüss, Mommy“, sagt sie.

Ich drücke sie an mich und beuge mich für einen Kuss herunter. „Tschüss, Kleines“, sage ich, und meine Stimme ist ein wenig unsicher. „Ich hole dich nachher hier ab, dann kannst du mir alles über deinen ersten Schultag erzählen. Vergiss nicht, dass du nicht ohne mich rausgehen darfst, okay?“

„Werde ich nicht. Hab dich lieb! Mach's gut!“ Sie löst sich von mir und läuft zur Tür. Bevor sie das Klassenzimmer betritt, dreht sie sich um und winkt mir zu.

Ich winke zurück. „Hab dich auch lieb!“

Damit verschwindet sie in dem Chaos aus Kichern, Geplapper und bunten Dingen, die den Kindergarten ausmachen.

„Alyssa wird es bei uns gut gehen, Mrs Bauman.“

Ich zucke ein wenig zusammen, als Mrs Jocasta mich anspricht. Fast hatte ich vergessen, dass sie da ist, aber sie betrachtet mich mit einem geduldigen Lächeln – demselben, das sie wohl für alle Eltern bereithält, die ihre geliebten Zöglinge zum ersten Mal vor dem Klassenzimmer abliefern. „Ms Bauman, um genau zu sein. Aber nennen Sie mich gerne Celine“, erwidere ich. „Und danke. Ich weiß, dass es ihr gut gehen wird.“

Zum Glück fragt Mrs Jocasta weder nach meinem Ehestand noch nach Alyssas Vater. Die Sache mit ihm ist eine lange, komplizierte Geschichte. Sie schenkt mir nur ein weiteres Lächeln und sagt: „Celine also. Ich freue mich darauf, Ihre Tochter in meiner Klasse zu haben.“

Ich erwidere etwas Angemessenes wie „Danke“ und „Auf Wiedersehen“ und „Wir sehen uns nach der Schule“. Tränen steigen mir in die Augen und ich muss gehen, bevor ich dem Drang nachgebe, meine Tochter zu packen und nach Hause zu bringen, ihr zu erklären, dass sie noch nicht bereit für den Kindergarten ist, obwohl ich diejenige bin, die nicht bereit ist.

Sobald ich draußen bin und mich von den Menschenmassen entfernt habe, geht es mir besser. Ich stelle fest, dass die unheimliche Filmstar-Frau weg ist, oder zumindest nicht mehr am Zaun steht, aber dafür geht mir etwas anderes durch den Kopf – und zwar, wo ich als Nächstes hinmuss.

Die meiste Zeit bin ich dankbar, dass mein Job so flexibel ist. Ich muss nicht oft ins Büro, und es ist kein Problem, Alyssa zur Schule zu bringen und abzuholen. Aber im Moment wünsche ich mir fast, ich hätte einen traditionelleren Job, denn dann hätte ich vielleicht eine Ausrede gehabt, um nicht zur Beerdigung zu müssen. Das wird nicht leicht werden.

Ich kannte sie nicht gut, aber gut genug. Und jetzt wird Rosalie Phillips ihren dreißigsten Geburtstag nicht mehr erleben.

Kapitel 2

Um 9:30 Uhr erreiche ich das Baker-Lindstrom-Bestattungsinstitut, das vor allem bei den wohlhabenderen, alteingesessenen Familien Wolfsbrooks beliebt ist. Der Rest von uns bevorzugt die weniger spießige Atmosphäre von Morris and Sons am anderen Ende der Stadt, wo die Handvoll Beerdigungen, denen ich in meinem Leben beigewohnt habe, stattfanden. Alle außer einer, aber ich versuche, nicht an diese Beisetzung zu denken. An die, die ich fast nicht durchgestanden hätte.

Dieser Ort erinnert eher an einen Golfplatz als an ein Bestattungsinstitut, mit gepflegten Anlagen und Gärten und einem Parkplatz, der so glatt ist wie schwarzes Glas. Wie der Grundschulparkplatz ist auch dieser fast voll. Aber es sind nicht nur Autos, die dicht aneinandergedrängt dastehen. Hier und da versammeln sich Menschen in dunkler, förmlicher Kleidung, die unter der hellen Septembersonne gedämpfte Gespräche führen.

Rosalies Familie hat sich für eine kurze Trauerzeit entschieden, nur ein Tag, Besuchszeiten von neun bis elf, Beisetzung um 11:30 Uhr. Oberflächlich betrachtet wirkt das beinahe gefühllos, als ob sie die Sache schnellstmöglich hinter sich bringen und ihr Leben weiterführen wollen. Aber ich vermute, dass es sich in diesem Fall um überwältigende Trauer und Schock handelt, und um das Bedürfnis, so wenig Zeit wie möglich damit zu verbringen, aktiv an ihre Tragödie erinnert zu werden. Nicht nur, weil sie erst achtundzwanzig Jahre alt war, sondern wegen der Art und Weise, wie sie starb.

Vor vier Tagen sprang Rosalie Phillips von einer Klippe im Juniper State Park and Reservoir und setzte ihrem Leben mit einem absichtlichen Schwalbensprung ein Ende.

Niemand weiß, warum sie es getan hat. Sie war glücklich verlobt, stand am Anfang einer vielversprechenden Karriere und war gerade dabei, den dreißigsten Hochzeitstag ihrer Eltern zu planen. Sie war gesund und fit, liebte die Natur und hatte seit der Highschool viele Wochenenden beim Wandern im Park verbracht. Zwar besteht dabei immer ein geringes Unfallrisiko, aber in ihrem Fall war es eindeutig Selbstmord. Denn sie hat eine Nachricht hinterlassen.

Als ich meinen grauen Montego neben einem leuchtend gelben Pick-up parke, läuft mir ein Schauer über den Rücken und ich umklammere fest das Lenkrad, bis ich zu zittern aufhöre. Mein eigener Schock, als ich das von Rosalie hörte, hat mich von tieferen Gefühlen abgeschirmt, aber jetzt fühle ich mich schwach und klein. Fast schon verängstigt. Ein Mädchen, das ich kannte, liegt tot in diesem Gebäude, weniger als hundert Meter von mir entfernt. Und diesen Tod hat sie selbst gewählt.

In diesem Moment wird mir klar, dass ich nicht nur Entsetzen und Trauer empfinde, sondern vor allem Schuldgefühle, die mir wie ein Ziegelstein im Hals stecken und mich zu ersticken drohen. Aber irgendwie muss ich da durch.

Ich muss mir ins Gedächtnis rufen, dass ich nicht schuld bin an Rosalies Tod – im Gegensatz zu dem davor.

Ich reiße mich zusammen, steige aus dem Wagen und halte auf dem Parkplatz Ausschau nach einem vertrauten, roten Fiat. Gerade als ich das Fahrzeug drei Reihen weiter entdecke und darauf zusteuere, öffnet sich die Fahrertür und Jill Mazer steigt aus. Sie trägt einen schwarzen, kurzärmeligen Hosenanzug und hat ihr normalerweise zerzaustes, braunes Haar zu einem ordentlichen Dutt gebändigt.

Ich bin so erleichtert, sie zu sehen, dass ich fast ein Lächeln zustande bringe. Sie umarmt mich, und ich muss gegen die Tränen ankämpfen, die zu fallen drohen. „Vielen Dank, dass du gekommen bist“, sage ich. „Das hättest du nicht tun müssen.“

„Ist doch selbstverständlich. Wozu sind Freunde da?“ Jill drückt kurz meine Hand und nickt in Richtung des Beerdigungsinstituts. „Willst du gleich reingehen, oder …?“

„In einer Minute“, erwidere ich und atme zitternd durch. Ich bin so dankbar, dass sie hier ist. Sie ist in der Stadt aufgewachsen – in Oslow, wo die meisten von uns nach der Highschool auf die staatliche Universität gegangen sind – und hat Rosalie nur ein- oder zweimal getroffen. Jill und ich haben uns im ersten Semester des zweiten Studienjahres am College kennengelernt und auf Anhieb gut verstanden. Seitdem sind wir beste Freundinnen. Nach ihrem Abschluss ist sie sogar nach Wolfsbrook gezogen und wohnt nur ein paar Straßen von mir und Alyssa entfernt.

Da der Vater meiner Tochter nicht mehr Teil unseres Lebens ist, ist Jill ein wahres Geschenk des Himmels.

Sie schenkt mir ein mitfühlendes Lächeln. „Du siehst furchtbar aus. Bist du sicher, dass du das tun willst? Vielleicht sollten wir stattdessen irgendwo einen Kaffee trinken gehen.“

„Nein, ist schon in Ordnung. Ich schaffe das.“ Ich schniefe einmal und strafe damit meine Worte Lügen, aber ich bin entschlossen, mich zusammenzureißen. Zumindest so lange, bis ich Rosalies Eltern gefunden und ihnen mein Beileid ausgesprochen habe – nicht, dass es ihnen Trost spenden wird. „Gott, ich hasse Beerdigungen“, sage ich.

Jill nickt ernst. „Ich auch. Erinnerst du dich an dieses Mädchen vom College, Joan?“

O Gott. Ihren Namen zu hören, ist wie ein Schlag ins Gesicht. Ich schließe die Augen und hoffe, dass ich nicht so schuldbewusst aussehe, wie ich mich fühle – obwohl diese Gefühle noch genauso stark sind wie damals, als ich mich auf Joans Beerdigung in der hintersten Reihe herumdrückte und niemandem in die Augen sehen konnte, überzeugt, dass ich ebenso gut ein blinkendes Neonschild tragen könnte, auf dem stand: ICH HABE SIE GETÖTET.

Ich habe weder Jill noch sonst irgendwem jemals erzählt, was passiert ist. Erst hatte ich zu viel Angst und dann … Dann konnte ich es einfach nicht. Manche Geheimnisse wachsen mit der Zeit, bis sie so groß und stark sind, dass es einen umbringen würde, wenn man sie ausspräche. Also nimmt man sie auf die eine oder andere Weise mit ins Grab.

„Ja, ich erinnere mich an sie“, presse ich schließlich hervor und schaffe es, hauptsächlich bekümmert zu klingen. „Warst du auch auf ihrer Beerdigung?“ Ich kann mich nicht erinnern, Jill dort gesehen zu haben, aber zu dem Zeitpunkt kannten wir uns noch nicht. Die Sache mit Joan ist gegen Ende des ersten Studienjahres passiert.

Jill schüttelt den Kopf. „Ich habe sie nicht sehr gut gekannt“, erwidert sie. „Am Abend vorher bin ich wie alle anderen zur Besuchszeit ins Bestattungsinstitut gegangen, aber am Morgen der Beisetzung hatte ich eine Prüfung im Jura-Einführungskurs. Glaub mir, die Totenwache war traurig genug.“

Ich nicke benommen und versuche, die Vergangenheit aus meinen Gedanken zu verdrängen. „Also gut, bringen wir es hinter uns“, sage ich und straffe die Schultern.

Gemeinsam überqueren wir den Parkplatz und betreten den langen Bürgersteig, der zum Eingang des Bestattungsinstituts führt. Zu beiden Seiten des Marmorweges reihen sich kleine Messingurnen, aus denen leuchtende Blumen wachsen, und zwei smaragdgrüne Rasenflächen erstrecken sich an ihnen vorbei bis zu den von Bäumen gesäumten Grenzen des Grundstücks. Auf dem Rasen und mehreren im Schatten stehenden Bänken tummeln sich weitere Menschen, die auf den Beginn der Hauptveranstaltung warten.

Aus irgendeinem Grund muss ich daran denken, wie viel Beerdigungen und Hochzeiten gemeinsam haben: eine große Versammlung von Verwandten und Freunden an einem eleganten Ort, eine Atmosphäre feierlicher Erwartung, viele Menschen, die weinen, eine traditionelle Zeremonie, gefolgt von einer zweiten Zusammenkunft zum Essen und Schwelgen in Erinnerungen. Aber sie liegen an entgegengesetzten Enden des Spektrums – eine steht für den Anfang, die andere für das Ende.

Der Gedanke an die Hochzeit, die Rosalie nie erleben wird, schnürt mir die Kehle zu.

Als Jill und ich den Bürgersteig hinaufgehen, treten drei junge Frauen aus den offenen Türen des Beerdigungsinstituts und kommen auf uns zu. Sie sind Klassenkameradinnen aus der Highschool, und ich erkenne sie als einige von Rosalies guten Freundinnen. Die in der Mitte, Missy Wilson, könnte sogar ihre beste Freundin gewesen sein, oder zumindest so etwas Ähnliches.

Missy hatte schon immer einen Hang zum Theatralischen, sie war die Drama-Queen der Wolfsbrook High. Und es sieht so aus, als hätte sie nichts von ihrem Gespür für Dramatik verloren. Sie schluchzt herzzerreißend, während sie auf ihren fünf Zentimeter hohen Pfennigabsätzen dahinwackelt und sich tränenüberströmt auf die beiden anderen stützt.

Ich fühle mich schlecht, weil ich mich an ihre negativen Eigenschaften erinnere und ihr diese jetzt zuschreibe. Vermutlich ist ihr Kummer aufrichtig. Aber sie macht auch eine Szene, und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie die Aufmerksamkeit liebt, obwohl sie eigentlich um ihre Freundin trauert.

Als Missy mich entdeckt, steuert sie wie eine Lenkrakete mit ausgebreiteten Armen und schmerzverzerrter Miene auf mich zu. „Oh, Celine!“, ruft sie. „Ich bin so froh, dass du hier bist. Ist es nicht furchtbar?“

Bevor ich sie aufhalten kann, finde ich mich in einer Wolke aus schlanken Armen und teurem Parfüm wieder. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Umarmung zu erwidern.

„Hi, Missy“, sage ich, nachdem es mir gelungen ist, mich zu befreien. Die beiden anderen, Liza und Georgette, stehen händeringend ein paar Meter hinter ihr, wie Revuetänzerinnen in einer Tragödie. „Mein Beileid zu deinem Verlust.“

Eigentlich ist es nicht ihr Verlust, denke ich mit einem Anflug von Gehässigkeit, und fühle mich deswegen sofort mies. Man soll nicht schlecht über andere denken – zumindest das hat meine Mutter mir eingeschärft. Aber ich kann nicht anders. Hinter Missys übertriebenem Verhalten steckt garantiert etwas Berechnendes, zumindest teilweise. Wahrscheinlich wird sie noch jahrelang Mitleid aus Rosalies Tod herausschinden.

„Gott, ich kann es immer noch nicht glauben“, sagt sie und holt von irgendwo ein spitzenbesetztes Taschentuch hervor, um sich die Augen zu betupfen. „Wusstest du, dass sie mich an dem Tag gebeten hat, sie zu begleiten? Ja doch, so war es“, fügt sie auf eine Weise hinzu, die vermuten lässt, dass sie die Geschichte schon mehrfach erzählt hat und sie mit jedem Mal weiter ausschmückt. „Aber ich hatte einen Haartermin bei Rafael, den ich Monate im Voraus buchen musste. Es ist ja so schwer, einen freien Termin bei ihm zu ergattern, weißt du? Ach, ich hätte trotzdem absagen sollen!“

Wieder heult sie laut auf, und Liza und Georgette stürzen vorwärts, um sie zu stützen, bevor sie in Ohnmacht fällt.

„Es tut mir so leid“, sage ich noch einmal, darum bemüht, Aussagen wie „Das ist ja furchtbar“ oder etwas in der Art zu vermeiden, was sie als Verurteilung auffassen könnte. Ich glaube nicht, dass Missy Wilson je auch nur einen Fuß in den Juniper Park – oder sonst irgendeine Grünanlage im Freien – gesetzt hat, aber wer weiß? Vielleicht hat Rosalie sie ja wirklich eingeladen, mit ihr wandern zu gehen. Nicht, dass sie zugesagt hätte, egal ob sie einen Termin bei einem angesagten Stylisten hatte oder nicht.

Während Missy um Fassung ringt, schaue ich mich auf dem Gelände um, in der Hoffnung, dass Rosalies Eltern herauskommen, um frische Luft zu schnappen, damit ich ihnen mein Beileid aussprechen und verschwinden kann. Mir graut vor der Vorstellung, das Gebäude zu betreten. Ich kann sie nirgends entdecken, was mich nicht überrascht … Allerdings verschlägt es mir den Atem, als ich eine andere vertraute Person in einem der Raucherbereiche erblicke.

Es ist die Frau, die ich heute Morgen hinter dem Zaun der Schule gesehen habe. Sie trägt immer noch die dunkle Sonnenbrille und den knallroten Lippenstift, hat jedoch den weißen Morgenmantel und die High Heels gegen ein schwarzes Cocktailkleid und flache Lackschuhe eingetauscht.

Sie scheint mich direkt anzustarren.

Jill stupst mich an. „Was ist los?“, flüstert sie mir zu. „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

Als ich etwas erwidern will, fällt mir auf, dass Missy bereits weiterplappert, und bei den wenigen Worten, die ich mitbekomme, bleibt mir beinahe das Herz stehen. Alle Gedanken an die geheimnisvolle Unbekannte sind wie weggeblasen. „… Er ist gestern Abend aufgewacht.“

„Wie bitte?“, flüstere ich und starre sie an. „Was hast du gesagt?“

Sie sieht mich halb mitfühlend, halb gekränkt an. Wie in der Highschool ist sie nur dann wirklich glücklich, wenn sie jedermanns uneingeschränkte Aufmerksamkeit hat. „Ich sagte, wenn sie doch nur drei Tage länger ausgehalten hätte, hätte sie Brad ihre Gefühle gestehen können. Er ist gestern Abend aufgewacht.“ Sie kneift die Augen zusammen. „Wusstest du das nicht? Ihr wart doch früher mal zusammen.“

O Gott … Ich kann nicht atmen. Brad ist wach?

„Sie hat ihn so sehr geliebt“, dringt Missys affektierte Stimme durch das schwindelerregende Rauschen in meinem Kopf. „Und niemand hat es gewusst. Sie waren auf dem College nur eine Woche zusammen, und selbst ich dachte, sie wäre seit Ewigkeiten über ihn hinweg. Immerhin wollte sie Reid heiraten. Aber dann hat sie diesen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem steht, dass sie nicht ohne Brad leben kann, und das ist alles so … Celine? Geht es dir gut?“

„Ja, alles bestens“, krächze ich verzweifelt. „Ich … muss mich nur kurz hinsetzen.“

Jill legt einen Arm um mich und zieht mich zu einer der Bänke im Schatten. Missy und ihre Revuetänzerinnen starren uns beleidigt und verwirrt hinterher. Ich murmele etwas darüber, dass wir uns später noch unterhalten können, glaube aber nicht, dass irgendetwas von dem, was ich sage, Sinn ergibt. Ich kann nicht klar denken. Etwas in mir zerbricht, und ich bin mir nicht sicher, ob es je wieder in Ordnung gebracht werden kann.

Brad Dowling liegt seit etwas mehr als fünf Jahren im Koma. Niemand hätte je gedacht, dass er wieder aufwacht, am allerwenigsten ich. Tatsächlich habe ich mein Leben um das Wissen herum aufgebaut, dass er nie wieder zurückkommen würde. Mir blieb keine andere Wahl. Auf ein Wunder zu hoffen, hätte mich zerstört. Aber jetzt, da es eingetreten ist, weiß ich nicht, was ich tun soll.

So oder so ist mein sorgfältig erschaffenes, größtenteils stabiles Leben drauf und dran, in sich zusammenzufallen.