Prolog
„Mr. Burcham?”
“Ja?”
„Hier ist Detective Harper. Wie geht es Ihnen?“ Seine Stimme klingt nachdenklich. Als würde er sich davor fürchten, mir etwas mitteilen zu müssen.
„Ganz okay, denke ich.“
„Uns liegt jetzt der vorläufige Obduktionsbefund vor“, fährt Detective Harper fort.
„Jetzt schon?“, frage ich.
Das ging schnell.
„Der Gerichtsmediziner hatte ein wenig Zeit übrig und konnte die Obduktion vorziehen“, antwortet Detective Harper. „Wenn Sie sich etwas mehr Zeit lassen möchten, bevor wir über die Ergebnisse sprechen, kann ich das verstehen.“
„Nein. Ich will wissen, was passiert ist.“
„In Ordnung“, sagt er. Offensichtlich wäre es ihm lieber gewesen, ich hätte seinen Vorschlag angenommen. „Aber vielleicht sollten Sie sich vorher hinsetzen.“
„Alles ok, ich sitze schon.“
„Also gut … Unser vorläufiger Befund lässt darauf schließen, dass Ihre Frau versehentlich an einer Überdosis gestorben ist. Die Laborergebnisse haben Kokain nachgewiesen.“
Mir bleibt das Herz stehen.
Vor meinem geistigen Auge sehe ich Amys Körper auf dem Obduktionstisch liegen, die Halskette ruht auf ihrer Brust, und mir schießt eine Frage durch den Kopf: Warum belügt mich die Polizei, was meine tote Frau angeht?
1
„Amy. Ich bin’s noch mal. Langsam mache ich mir wirklich Sorgen.“ Ich muss mich unterbrechen, weil es so aussieht, als würde ein Flugzeug gleich direkt auf meinem Wagen landen. Zum Glück fliegt es weiter. „Ich warte auf dem Parkplatz, und auf der Webseite steht, dass ihr vor über einer Stunde gelandet seid … Also … na ja … ich mache mir jetzt ernsthafte Sorgen. Ruf mich also bitte an.“
Ich beende den Anruf und starre auf den weitläufigen Parkplatz. Ich sehe zu, wie Reisende zu den ausgewiesenen Haltestellen gehen und ihr Gepäck hinter sich herziehen, um von einem der umherfahrenden Busse abgeholt und zum Hauptterminal gebracht zu werden.
Komm schon, Amy! Wo bist du?
Sie rief mich Freitagabend an und teilte mir mit, dass sie sicher in Boston angekommen war und in ihr Hotel eingecheckt hatte. In den vergangenen Monaten war sie ein paarmal in Boston gewesen. Während des Telefongesprächs sagten wir uns „Gute Nacht“ und „Ich liebe dich“ – die Routine, die wir in zwanzig Jahren Ehe entwickelt haben. Immer wenn sie auf Geschäftsreise geht, rufen wir uns jeden Abend an, wenn auch nur für ein paar Minuten, einfach, um zu hören, wie der Tag des anderen gelaufen ist, um „Ich liebe dich“ zu sagen und einander eine gute Nacht zu wünschen.
Doch seit dem Anruf am Freitag habe ich nichts mehr von ihr gehört.
Inzwischen ist es Sonntagnachmittag …
Gestern Abend hat sie mich nicht angerufen und ist auch nicht ans Handy gegangen, als ich versucht habe, sie zu erreichen. Es war keine große Sache, oder zumindest dachte ich mir da noch nichts. Sie befindet sich halt in einer anderen Zeitzone. Vielleicht dauerte die Besprechung mit dem potenziellen Kunden länger als geplant, und ich weiß, dass sie deswegen ziemlich stresst. Sie ist schon seit Monaten nervös, aber sie hat gesagt, sie sei kurz vor dem Abschluss. Also ging ich davon aus, dass sie gestern Abend nur eingeschlafen ist. Ich hinterließ ihr eine Nachricht, in der ich ihr Gute Nacht wünschte, ihr sagte, dass ich sie liebe, und sie bat, mich heute früh nach dem Aufwachen anzurufen, um ihren Flug zu bestätigen.
Aber heute Morgen habe ich nichts von ihr gehört.
Es gab keinen Anruf, in dem sie mir sagte, dass sie eingeschlafen sei. Keinen Anruf, um mich wissen zu lassen, dass sie auf dem Weg zum Flughafen sei. Keinen Anruf, um mich zu informieren, dass sie gelandet ist und ich zum Terminal kommen soll, um sie abzuholen.
Mein Daumen klopft nervös aufs Lenkrad, während die nächste Maschine dröhnend über meinem Kopf hinwegrauscht.
Ich muss nach Hause – nein. Korrektur: Amy und ich müssen nach Hause fahren.
Unsere siebzehnjährige Tochter Tatum und ihr neunzehnjähriger Freund Aiden verbringen den Abend miteinander, und wir haben die feste Regel, dass sie nicht allein miteinander im Haus sein sollen.
Ich sehe wieder auf mein Handy und seufze.
Sie muss ihren Flug verpasst haben, aber warum schickt sie mir dann keine Nachricht?
Was ist los, Amy?
Ein paar Stunden Funkstille sind das Eine. Schließlich gehen Handys mal kaputt, die Leute sind beschäftigt, aber das hier fühlt sich anders an.
Irgendetwas stimmt nicht.
Ich rufe die Kontakte auf meinem Handy auf und scrolle hinunter zur Nummer von Malcolm Davis, Amys Chef bei Fortis Capital, dem Hedgefond-Unternehmen, bei dem sie für die Akquise von neuen Kunden zuständig ist. Als Amy vor drei Jahren den Job bekam, gab sie mir seine Nummer, aber sie bläute mir ein, ihn nur im absoluten Notfall anzurufen. Bisher habe ich sie noch nie gewählt …
Malcolm Davis antwortet beim dritten Klingelton.
„Mr. Davis? Hier ist Mark Burcham.“
„Mr. Burcham. Hallo“, erwidert er aufrichtig überrascht. „Es ist schon eine Weile her, oder.“
„Ja, das stimmt.“
Mr. Davis und ich sind uns ein paar Mal hier und da auf Weihnachtsfeiern und Veranstaltungen begegnet. Er ist Anfang sechzig, hat jedoch die Energie eines Mittdreißigers. Er ist sportlich und gesellig und für Amy so etwas wie eine Vaterfigur geworden.
„Ich bin froh, dass Sie angerufen haben“, sagt er, bevor ich weitersprechen kann. „Haben Sie was von Amy gehört? Sie kam gestern Abend nicht zum Dinner.“
Ich muss blinzeln. Amy hat nicht erwähnt, dass Mr. Davis mit nach Boston reisen würde.
„Sie sind in Boston?“, frage ich.
Er schweigt kurz.
„Boston? Was soll ich in Boston?“
„Ich dachte, Sie sind vielleicht mit Amy hingeflogen, um mit dem potenziellen Kunden zu verhandeln.“
„Mit welchem Kunden?“
„Dem in Boston. Den Amy schon lange für –“
„Stopp! Moment mal, Mr. Burcham. Wir sollten noch mal zurück zum Anfang.“ Er holt tief Luft und fährt ruhig und besonnen fort. „Also, was ist mit Amy? Wo ist sie?“
„Sie ist – sie ist wieder nach Boston geflogen, um sich mit dem Kunden zu treffen, den sie für die Firma gewinnen soll.“ Ich bemühe mich, so ruhig wie er zu bleiben, doch ich kann nicht anders, als schneller zu reden, während ich versuche, ihm die Situation zu erklären. „Ich wollte wissen, ob Sie mit ihr gesprochen haben, da ich seit Freitagabend nichts mehr von ihr gehört habe. Ich bin am Flughafen und warte dort auf sie. Ihr Flugzeug ist vor über einer Stunde gelandet und ich habe seitdem immer noch nichts von ihr gehört –“
„Mr. Burcham“, unterbricht er mich. Sein beruhigender Tonfall ist brüchig geworden. „Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Amy wollte gestern hier in Los Angeles mit dem Team zu Abend essen, um neue Strategien zu besprechen, aber sie kam nicht. Von einem potenziellen Klienten in Boston weiß ich nichts.“
In meinem Magen befindet sich plötzlich eine Bleikugel.
„Was? Nein. Mr. Davis – sie ist nach Boston gereist. Sie hat gesagt … dass Sie sie hingeschickt hätten, damit sie sich mit dem Typen treffen soll.“
„Hat sie den Namen des potenziellen Kunden genannt?“
„Nein. Sie hat gesagt, es sei vertraulich. Sie ist in den letzten Monaten mehrmals hingeflogen. Sie müssen doch gemerkt haben, dass Amy weg war.“
Er zögert.
„Mr. Davis?“
„Sie hat sich eine Auszeit genommen.“ Er wählt seine Worte mit Bedacht. „Aber sie hat gesagt, sie würde Zeit mit Ihnen und Tatum verbringen.“
Die Bleikugel fällt mir vor die Füße.
Amy hat Mr. Davis angelogen? Und mich auch? Nein, das kann nicht sein. So was würde Amy nie machen. Warum sollte sie lügen? Es muss irgendein Missverständnis sein. Mr. Davis ist offensichtlich verwirrt, denn das Ganze ergibt keinen Sinn. Warum sollte Amy mir erzählen, dass ihr Chef sie nach Boston schickt, und ihm sagen, sie würde sich eine Auszeit nehmen, um Zeit für mich und Tatum zu haben? Wohin sollte sie –?
„Mr. Burcham?“, fragt Mr. Davis und stoppt so vorübergehend die Gedanken, die in meinem Kopf herumwirbeln. „Ist alles in Ordnung?“
„… ich weiß nicht.“
In der Leitung herrscht erst einmal eine lange Stille, die vom Dröhnen eines landenden Flugzeugs unterbrochen wird.
„Hat Amy vor ihrer Abreise irgendwas gesagt?“, fragt er. „Hat sie sich irgendwie anders verhalten?“
„Ich, äh … es tut mir leid, Mr. Davis. Ich weiß es nicht.“
„Rufen Sie mich bitte an, sobald Sie von ihr hören?“
„Selbstverständlich“, antworte ich, während meine Stimme versagt.
Dann lege ich auf.
Amy. Was ist bloß los?
2
„Vielen Dank, dass Sie das Hotel Viceroy anrufen. Ich heiße Chris. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Hallo, Chris. Hier ist Mark Burcham. Meine Frau hatte für dieses Wochenende ein Zimmer in Ihrem Hotel reserviert. Sie hat am Freitag eingecheckt. Ich möchte mich nur vergewissern, dass sie heute früh ausgecheckt hat. Ihr Name ist Amy Burcham“, sage ich, während ich den Blick auf die Straße richte, um meinen Wagen auf dem Rückweg nach Sherman Oaks im stockenden Verkehr zu navigieren.
„Steht Ihr Name auch auf der Reservierung?“
„Nein. Die Buchung erfolgte über sie … ihre Firma, Fortis Capital.“ Mit dem Wissen, das ich jetzt habe, komme ich nicht umhin, zu zögern. „Aber ihr Name muss auf der Reservierung stehen“, füge ich hastig hinzu.
„Es tut mir leid, Sir, aber diese Auskunft darf ich nicht geben.“
„Okay, aber können Sie mir sagen, ob eine Reservierung für Fortis Capital vorliegt?“
„Nein. Es tut mir leid.“
„Hören Sie, äh, Curt?“
„Ich heiße Chris.“
„Chris. Sorry, aber hören Sie, Sie bekommen keinen Ärger, das verspreche ich. Ich versuche bloß, meine Frau zu finden … Sie wird vermisst.“
Die Worte laut auszusprechen ist beängstigend, aber sie wird tatsächlich vermisst … nicht wahr? Ich habe seit über sechsunddreißig Stunden nichts mehr von ihr gehört und auch keine Ahnung, wo sie ist.
„Es tut mir wirklich leid, Sir, aber ich darf keinerlei Informationen über Reservierungen weitergeben. Es verstößt gegen unsere Richtlinien.“
„Ja, ich verstehe“, sage ich seufzend. „Vielen Dank.“
Während ich hinter einem Pickup-Truck halte, drücke ich auf den Knopf am Lenkrad, um das Telefonat zu beenden. Vor mir erstrecken sich die Reihen stehender Autos auf der 405 bis zum Sepulveda‑Pass.
Soll ich die Polizei informieren? Was kann ich sagen?
„Meine Frau wird vermisst.“
„Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?“, wird der Beamte fragen, während er sich mit einem Stift Notizen auf einem Schreibblock macht, nehme ich an.
„Ich habe sie am Flughafen abgesetzt. Sie sagte, sie würde geschäftlich nach Boston reisen, aber ihrem Chef hat sie gesagt, sie würde sich eine Auszeit nehmen, um mehr Zeit mit mir und unserer Tochter zu verbringen.“
Der Polizist wird in seinen Notizen innehalten und mich ansehen. „Also hat sie Sie und ihren Chef über ihren Aufenthaltsort angelogen?“
„… Ja“, werde ich zugeben müssen.
Der Beamte wird eine Sekunde lang auf dem Ende seines Stifts herumkauen und dann sagen: „Technisch gesehen klingt es nicht so, als würde sie vermisst. Es sieht eher danach aus, als wolle sie nicht gefunden werden.“
Ich weiß nicht, ob er das sagen würde, aber ich befürchte es. In Wahrheit gibt es bisher keinen Polizisten, den ich gefragt habe. Ich habe mir selbst klargemacht, dass es so klingt, als wolle Amy womöglich nicht gefunden werden.
Die Amy, die ich kenne, würde so etwas nie tun, aber es ist die einzige Erklärung, die mir einfällt.
Meine Gedanken kreisen die gesamte, gut einstündige Fahrt zurück ins Tal, ohne zu einem anderen Schluss zu kommen.
Schließlich biege ich in die Einfahrt unseres Hauses ein. Es ist weiß mit einem schwarzen Dach und schwarzen Zierleisten. Der technische Begriff für diesen Stil ist „industrielles Bauernhaus“. Die Bezeichnung hasse ich, aber den Look liebe ich.
Ich drücke auf den Knopf, um das Garagentor zu öffnen, und fahre hinein. Bevor ich aussteige, nehme ich mir einen Moment Zeit, um mich zu sammeln. Während sich das Tor schließt, werfe ich einen Blick durch den Rückspiegel auf den Mustang, der auf der Straße parkt. Normalerweise wäre das ein ernstes Problem, aber im Augenblick ist es die geringste meiner Sorgen.
Schließlich steige ich aus dem Wagen und gehe langsam zur Tür. Ich drehe den Knopf und betrete die Küche, die rechts zum Wohnzimmer hin offen ist.
Auf dem Sofa lehnt sich Tatum an Aiden. Den schlimmen Jungen.
Den Rebellen (obwohl es seine Eltern waren, die ihm den Mustang gekauft haben, der jetzt draußen parkt). Aiden mit den dunklen Augen und dem Strubbelkopf. Er ist der schlimmste Albtraum eines jeden Vaters und kuschelt mit meiner Tochter, die für mich immer mein kleines Mädchen sein wird. Das kleine Mädchen, das früher zu Amy und mir ins Bett gekrochen ist, wenn ihr etwas große Angst machte. Dann rollte sie sich neben mir zusammen und ich strich ihr übers Haar, bis sie einschlief.
Wie man sieht, fällt es mir schwer, zu akzeptieren, dass mein kleines Mädchen kein kleines Mädchen mehr ist.
„Hey, Dad“, ruft Tatum über die Schulter, ohne den Blick von der Fernsehsendung abzuwenden, die sie sich mit Aiden ansieht.
„Na, ihr?“, sage ich, während ich die Schlüssel auf den Küchentresen werfe und ein paar Schritte aufs Wohnzimmer zugehe.“Ihr kennt doch die Regel, dass ihr nicht allein im Haus sein sollt.“
Aidens fast unmerkliches Grinsen, bevor Tatum sich umdreht, lässt mich beinahe ausrasten.
„Ihr wolltet doch schon vor zwei Stunden zurück sein. Hätten wir vielleicht draußen vor der Tür warten sollen oder was?“ Sie hält inne und wirft einen Blick hinter mich. „Wo ist denn Mom?“
„Sie musste noch eine Nacht in Boston bleiben“, lüge ich. „In letzter Minute was erledigen.“
Tatum überlegt für den Bruchteil einer Sekunde. Dann zuckt sie mit den Schultern, wendet sich wieder dem Fernseher zu und lehnt sich erneut an Aiden.
„Hey, wir müssen noch darüber reden, dass ihr beide allein im –“
Tatum stöhnt. „Puh! Also gut. Das nächste Mal warten wir. Okay?“
Zu jedem anderen Zeitpunkt würde ich sie darauf hinweisen, dass wir diese Regel aus einem bestimmten Grund haben. Vor ein paar Monaten haben Amy und ich Aiden dabei erwischt, wie er sich mitten in der Nacht heimlich aus Tatums Zimmer schlich. Ich war drauf und dran, den beiden zu sagen, dass ihre Beziehung auf der Stelle vorbei war, vor allem, als Aiden so tat, als wäre es keine große Sache. Doch dann zog Amy mich beiseite und erklärte mir, dass mein Verbot alles nur noch schlimmer machen würde. Als Beweis erinnerte sie mich an die Abneigung ihres eigenen Vaters gegen mich, als wir angefangen hatten, uns regelmäßig zu treffen, und dass mich das in ihren Augen nur noch heißer machte. Ich gab zu bedenken, dass Aiden in dieser Hinsicht meine Hilfe nicht bräuchte, aber ich verstand, was sie meinte. Am Ende beschlossen Amy und ich, dass es ein paar neue Regeln geben würde; die erste und wichtigste war, dass sich Tatum und Aiden nie allein zusammen in unserem oder seinem Haus aufhalten dürften. Immer müssten Eltern anwesend sein, und wenn so was noch einmal passieren sollte, dann würden wir es auf meine Weise machen. Tatum antwortete mit einem schmollenden „Also gut.“ Aiden murmelte ein „Auch egal“, was mich wieder fast in die Luft gehen ließ, doch Amy beruhigte mich, indem sie mir die Hand aufs Knie legte.
„Dad“, sagt Tatum vom Sofa aus und reißt mich aus den Gedanken. „Ich hab gesagt, dass wir das nächste Mal warten.“
Sie hält mein Zögern für den Wunsch, mich weiter mit ihr zu streiten, während sie allein sein wollen.
„Okay. Gut. Ich, äh … ich geh dann ins Arbeitszimmer“, murmle ich. Ich weiß nicht, was ich dort will, aber ich muss nachdenken. Ich laufe durch die Küche, doch bevor ich wieder auf dem Flur bin, rufe ich über die Schulter: „Zehn Uhr.“
„Ja, Dad“, erwidert Tatum.
Ich kann buchstäblich hören, wie sie die Augen verdreht.
Ich betrete das Arbeitszimmer, mache die Tür hinter mir zu, lasse mich auf den Stuhl hinter dem Computertisch fallen … und bleibe regungslos sitzen.
Ich lüge meine Tochter nicht gern über ihre Mutter an, aber wenn ich Tatum sagen würde, dass Amy nicht am Flughafen war, wird sie ausflippen. Dann wird sie mich mit Fragen, auf die ich keine Antworten habe, löchern. Zwar kann ich mir einreden, dass ich sie nur anschwindle, um etwas Zeit zu gewinnen, aber was soll ich ihr sagen, wenn ich nicht bald von Amy höre?
Ich drehe den Stuhl zum Fenster und schaue hinaus. Die Sonne ist hinter dem Horizont versunken. Ihre Strahlen haben die Unterseite der Wolken in Brand gesetzt.
Vielleicht sollte ich Liz anrufen.
Damit würde ich definitiv eine Linie überschreiten. Amy hat seit über zwei Jahren nicht mehr mit ihrer Schwester gesprochen. Ich bezweifle, dass sie weiß, wo Amy steckt, aber vielleicht …
Ich ziehe mein Handy heraus und rufe Liz’ Nummer auf, doch statt die entsprechenden Tasten zu drücken, starre ich sie nur an.
Wenn ich Liz anrufe, wird eines von zwei Dingen passieren: Entweder zeigt sie mir die kalte Schulter und legt auf – oder aber sie flippt aus und stellt mir wie Tatum eine Menge Fragen, auf die ich keine Antworten habe.
Rasch stopfe ich das Handy wieder in die Tasche.
Ich werde Liz nicht anrufen. Jedenfalls jetzt noch nicht.
Ich sehe wieder aus dem Fenster und lege mir einen einfachen Plan zurecht.
Wenn ich bis zum Sonnenaufgang nichts von Amy gehört habe, rufe ich die Polizei.
Hoffentlich kommt es nicht dazu. Ich gehe nicht davon aus, aber einen Plan zu haben, selbst wenn es nur ein einfacher ist, beruhigt mich etwas.
Ich bin sicher, dass sie anrufen wird.
Es ist alles vermutlich nur ein großes Missverständnis.
Das muss es sein!
3
Zwei Stunden sind vergangen und ich sitze immer noch auf dem Stuhl.
Draußen vor dem Fenster ist es mittlerweile völlig dunkel geworden.
Ich habe mindestens hundertmal auf mein Handy geschaut und mehr als ein Dutzend Nachrichten auf Amys Telefon hinterlassen.
Der einzige Fortschritt, den ich gemacht habe, ist die Erkenntnis, dass ich die Realität verleugne, vielleicht sogar unter Schock stehe. Als ich heute früh nichts von Amy gehört habe, fand ich das merkwürdig. Aus dieser „Merkwürdigkeit“ wurde Besorgnis, während ich auf dem Parkplatz vor dem LAX wartete. Da bestand jedoch immer noch die Möglichkeit für eine einfache Erklärung: Amys Akku war leer oder sie stand so unter Stress, dass sie vergessen hatte, einzuchecken. Das war zwar eine absurde Möglichkeit, aber ich klammerte mich daran, weil ich die Alternative nicht ertragen konnte.
Der Anruf bei Malcolm Davis machte diese Möglichkeit zunichte.
Irgendwas stimmt eindeutig nicht.
Amy hat ihren Chef angelogen, und mich auch.
Ich bin nicht wütend. Ich bin vor allem verwirrt.
Amy und ich sind Partner. Wir sind beste Freunde und ein Liebespaar. Ich kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Wir haben unsere eigenen Ehegelübde geschrieben. Wie ich es Amy gesagt habe, wusste ich nicht, wofür ich lebte, und dann sind wir uns begegnet. Ich sagte zu ihr: „Du bist es immer gewesen.“ Sie gestand mir, dass sie sich in diesem Augenblick erneut in mich verliebt hat. Wir haben uns ein gemeinsames Leben aufgebaut. Wir haben eine wundervolle Tochter großgezogen. Natürlich erleben wir wie jedes andere Paar Höhen und Tiefen, aber wir arbeiten daran, mit den Tiefen umzugehen. Wenn wir uns streiten, geht es nie darum, zu gewinnen. Vielmehr geht es darum, dem anderen zu helfen, den eigenen Standpunkt zu verstehen, auch wenn er eine andere Meinung hat. Das erfordert Vertrauen, und es gibt keinen Menschen auf dieser Welt, dem ich mehr vertraue als Amy. Das ist der einzige Grund, warum wir so weit gekommen sind.
Deshalb muss es eine Erklärung dafür geben, warum sie mir das eine und Malcolm etwas anderes erzählt hat.
Doch der Schock und die Benommenheit, die das Verleugnen in mir auslöst, weichen Angst und einer bösen Vorahnung, als mir klar wird, dass etwas ganz und gar nicht stimmt.
Ein weiterer Blick auf mein Handy zeigt mir, dass Amy weder eine Nachricht geschickt noch angerufen hat und dass es schon zehn nach zehn ist.
Ich erhebe mich von meinem Stuhl und gehe zur Tür, um zu verkünden, dass es Zeit für Aiden ist, nach Hause zu gehen, doch als ich Stimmen in der Küche höre und dann Schritte, die über den Flur zum Eingang gehen, warte ich ab. Kurz darauf geht die Haustür auf und dann wieder zu.
Wenigstens muss ich heute Abend nicht den Polizisten spielen, der eine Ausgangssperre verhängt.
Ich gehe aus dem Arbeitszimmer in den Flur, um wie jeden Abend das Haus für die Nacht zu sichern. Ich prüfe, ob die Fenster verschlossen und alle Lichter aus sind. Im Wohnzimmer schalte ich den Fernseher aus, den sie angelassen haben. Nachdem ich die Hintertür abgeschlossen habe, gehe ich zum Kamin und vergewissere mich, dass das Gas abgestellt ist. Die Pilotflamme ist letzte Woche kaputtgegangen, deswegen habe ich dies in meine abendliche Routine aufgenommen. Während ich ein zweites Mal prüfe, ob das Gas auch ganz abgedreht ist, heult auf der Straße der dröhnende Motor von Aidens Mustang auf. Unwillkürlich beiße ich die Zähne zusammen. Die Nachbarn haben mir versichert, dass sie den Lärm um zehn Uhr abends lieben. Das Dröhnen des Mustangs ist noch nicht verhallt, als die Haustür sich wieder öffnet und schließt, und ich Tatums Schritte höre, während sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufsteigt.
Ich beende meine Runde und komme an der Haustür an. Dort gebe ich im Sicherheitspanel den Code ein und es antwortet mit drei langen Pieptönen, um mich wissen zu lassen, dass das Alarmsystem scharfgeschaltet ist.
Meine Hand setzt an, den Riegel vorzuschieben, doch dann stockt sie.
Es hat etwas Unnatürliches, so als würde ich das Burgtor abschließen und Amy draußen zurücklassen, sodass sie mit dem, was auch immer es ist, alleine zurechtkommen muss.
Meine Angst und Sorge um sie nehmen zu. Es fühlt sich an wie der Moment, in dem man merkt, dass man einen Albtraum hat, und sich verzweifelt ermahnt, aufzuwachen.
Ich versuche, das Gefühl abzuschütteln, während ich mich nach oben begebe. Ich gehe den Flur zu unserem Schlafzimmer entlang und bleibe vor der geschlossenen Tür zu Tatums Zimmer stehen. Kurz überlege ich, ob ihr alles erzählen soll, aber dann stelle ich mir wieder vor, wie sehr sie das aufregen würde und welche Fragen sie mir stellen würde, die ich nicht beantworten kann. Es ihr jetzt zu sagen, bringt nichts.
„Gute Nacht, Tatum“, ist alles, was ich herausbringe.
„Gute Nacht, Dad“, erwidert sie durch die Tür im selben Tonfall und Rhythmus wie immer.
Ich gehe weiter bis ins Schlafzimmer.
Mein Gehirn ist auf Autopilot, während ich mich ausziehe und mir die Zähne putze. In meinem Kopf ertönt eine leise Stimme.
Mark, was machst du da? Du musst aufwachen.
Als ich mich ins Bett lege, wird sie noch deutlicher. Letzte Nacht machte es mir nichts aus, allein in diesem Bett zu schlafen, aber nun sollte Amy hier sein.
Mark …
Während ich an die Decke starre, drehen sich meine Gedanken im Kreis.
Die Stimme in meinem Kopf wird immer lauter und versucht, den letzten Rest von Schock und Taubheit zu durchdringen.
Mark, du musst aufwachen!
Mein Geist ist so benebelt, dass ich noch eine ganze Stunde lang an die Decke starre, bevor ich merke, dass ich vergessen habe, das Licht im Schlafzimmer auszuschalten. Ich stehe auf, lege den Schalter um und lege mich wieder ins Bett, aber nach einer weiteren Stunde sind meine Augen immer noch weit offen.
Wach auf!
Ich fange an zu schwitzen. Angst und Unruhe übertönen alles andere. Die Benommenheit ist verschwunden.
Mark! Wach sofort auf!
Etwas in mir zerreißt. Ich bin hellwach, nicht nur körperlich, sondern auch geistig.
Ich muss handeln. Irgendwas stimmt eindeutig nicht. Amy könnte in Gefahr sein.
Ich muss die Polizei rufen.
Ich werfe die Decke ab, setze mich auf und knipse die Nachttischlampe an.
Im selben Moment, in dem ich nach dem Handy greife, beginnt es auf dem Nachttisch zu vibrieren und das Display fängt an zu leuchten.
Ich hebe es auf und starre auf die Nummer. Auch wenn sie mir unbekannt ist, drücke ich auf die Antworttaste. „Hallo?“
„Mr. Burcham?“, fragt eine Männerstimme.
„Ja?“
„Hier ist Detective Jeff Harper vom Los Angeles Police Department. Entschuldigen Sie, dass ich so spät anrufe, aber …“
„Ist es wegen Amy? Ist mit ihr alles in Ordnung?“, frage ich atemlos. Meine Hände zittern so heftig, dass ich beinahe das Handy fallenlasse.
„Ich fürchte, Sie müssen in die Innenstadt kommen. Ich schicke einen Streifenwagen, der Sie abholt.“
„Nein. Sagen Sie mir einfach, wo sie ist!“
4
Nachdem ich den grünen Plastikknopf gedrückt habe, durch den ein Riss läuft, summt der Automat und spuckt ein Ticket aus. Ich ziehe es aus dem Schlitz und gleich darauf hebt sich die Schranke des Parkhauses.
Auf der untersten Ebene gibt es zwar viele freie Parkplätze, doch laut der Beschilderung sind sie für das Personal reserviert. Ich fahre auf die zweite Ebene, die fast leer ist, parke auf einem Stellplatz in der Nähe des Treppenhauses und laufe wieder hinunter.
Draußen auf der Straße schlägt mir ein kalter Wind entgegen. Ich habe meine Jacke vergessen. Alles, was ich mir in der Eile überziehen konnte, war eine Jeanshose.
Ich habe Tatum nicht geweckt. Stattdessen hinterließ ich ihr eine hastig gekritzelte Nachricht auf dem Küchentisch, auf der steht, dass ich noch mal weg müsste. Ich hoffe, sie liest sie nicht. Ich hoffe, sie schläft noch.
Selbst um drei Uhr morgens herrscht auf dem Freeway 5, der nur einen Block von hier entfernt ist, das stetige Rauschen von vorbeizischenden Reifen, das nur vom gelegentlichen schrillen Aufheulen eines Motorrads unterbrochen wird.
Ich laufe los und richte den Blick auf den Bürgersteig, um den Augen auszuweichen, die mich aus den vereinzelten dreckigen, baufälligen Zelten anstarren, die rechts von mir dicht am verrosteten Maschendrahtzaun lehnen.
„Suchste was?“, fragt mich eine Frau, die neben einem Unterschlupf steht, der aus einer Plane und zwei Einkaufswagen besteht. Sie muss in den Fünfzigern sein und hat kurzes, verfilztes Haar. Die Frau nickt in Richtung einer Öffnung in der Plane, die als Eingang dient. „Ich hab alles da.“
Ich starre wieder stur auf den Gehweg und gehe weiter bis zu dem Gebäude aus Ziegelsteinen und Beton. Es ist ein unharmonischer Mix aus verschiedenen Stilarten, den ich nicht einordnen kann, doch das beleuchtete Plastikschild über dem Zaun ist eindeutig:
County Los Angeles
Abteilung für Gerichtsmedizin
Gesetz und Wissenschaft für die Gemeinschaft
Ich bekomme nur vage mit, dass meine Beine mich über einen Gehweg zu Stufen tragen, die hinauf zu einer großen Holztür führen.
Durch die Glasscheiben sehe ich einen uniformierten Polizeibeamten, der in der Lobby hinter einer Plexiglasscheibe in einer Kabine sitzt und durch sein Handy scrollt. Als er aufblickt und mich sieht, beugt er sich vor und drückt auf einen Knopf auf dem Schreibtisch.
Ein zerbeulter Lautsprecher neben der Tür erwacht knisternd zum Leben. „Wir haben geschlossen“, sagt er. Seine Worte klingen verschwommen.
Ich verstehe seine Reaktion. Es ist kalt und ich trage das alte T-Shirt, das ich zum Schlafen angezogen habe. Ich unterscheide mich kaum von den Leuten auf dem Bürgersteig, an denen ich gerade vorbeigegangen bin.
Ich drücke auf die Taste unter dem Lautsprecher und halte sie gedrückt, während ich antworte. „Ich bin Mark Burcham. Detective Harper hat mich angerufen und gesagt, ich müsste –“
Der Beamte nickt und nimmt das Telefon auf dem Schreibtisch von der Gabel, spricht ein paar Worte hinein, hängt auf und drückt dann auf einen anderen Knopf.
Die Tür summt so laut, dass ich erschrocken einen Schritt zurückweiche. Ich höre, wie ein Schloss zurückgeschoben wird, und dann winkt mich der Polizist herein.
Ich ziehe an der Klinke, sodass die schwere Tür nach außen schwingt, und trete ein.
In der Lobby ist es warm und es riecht etwas nach Desinfektionsmittel.
Der Polizist in der Kabine deutet auf eine in die Wand eingelassene Holzbank.
„Setzen Sie sich. Detective Harper kommt gleich.“
Ich murmle etwas zwischen „Danke“ und „Okay“.
Während ich mich setze, fällt mir der Parkscheinautomat auf, der auf einem Holzregal neben der Kabine steht, und versuche mir zu merken, meinen Parkschein vor dem Gehen abstempeln zu lassen.
Oh Gott!
Was zum Teufel ist mit mir los? Warum denke ich in dieser Situation daran, meinen Parkschein abstempeln zu lassen?
Ich schüttle den Kopf und setze mich.
Die Bank ist so schmal, dass ich dazu gezwungen bin, mit kerzengeradem Rücken zu sitzen.
Der Polizist hat sich schon wieder seinem Handy zugewandt und meine Anwesenheit offenbar vergessen.
Das Gebäude strahlt die Atmosphäre einer Highschool mit einem Hauch des Art‑déco-Stils aus, wie man ihn aus alten Noir‑Filmen kennt, doch die Illusion wird durch das grelle Neonlicht an der Decke zerstört. In die Lobby hallen leise Stimmen aus den Korridoren, die sich nach links und rechts abzweigen, aber ich sehe niemanden. Als ob es in dem Gebäude spuken würde, was auf eine perverse Art und Weise Sinn macht.
Ein Aufzug läutet aus dem Flur zu meiner Rechten. Einen Moment später kommt ein Mann in die Lobby. Er ist ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein paar Jahre älter, groß, gut gebaut und mit einem Buzz Cut, der zu seiner Erscheinung passt. Der Polizist nickt mir zu und der Mann dreht sich um, als ich aufstehe.
„Mr. Burcham?“, fragt der Mann.
„Jap.“
Er kommt auf mich zu und schüttelt mir ernst die Hand. „Ich bin Detective Harper.“ Sein Griff ist fest, doch sein Ausdruck ist mitfühlend. „Folgen Sie mir bitte“, sagt er und deutet in Richtung des Flurs, aus dem er gekommen ist.
Ich folge ihm zum Aufzug, der seit der Ankunft auf ihn wartet, und wir gehen hinein.
Der Innenraum des Aufzugs ist geräumig; Türen sind vorne und hinten, wie in einem Krankenhaus.
„Hatten Sie Schwierigkeiten, herzufinden?“, fragt er in einem Versuch von Smalltalk, während er den Knopf für die untere Etage drückt.
„Nein“, antworte ich automatisch.
„Irgendwelche Probleme mit unseren ‚Nachbarn‘?“
Ich schüttele den Kopf.
„Gut, aber trotzdem werde ich Officer Garland bitten, Sie zu Ihrem Wagen zu begleiten, wenn wir hier fertig sind. So heißt der Mann in der Lobby.“
„Okay.“
Der Aufzug hält an und öffnet sich zu einem Flur mit Türen. An der Decke sind noch mehr Neonleuchten, deren Licht sich im schwarz-weißen Linoleumboden spiegelt.
„Hier entlang“, sagt Detective Harper, als er aus dem Aufzug tritt.
Ich folge ihm und werfe im Vorbeigehen verstohlene Blicke in einige der offenen Zimmer. Die meisten sind dunkel, aber die beleuchteten Räume sehen aus wie veraltete Labore einer Highschool.
Ich folge Detective Harper weiter, der nun in einen Seitenflur abbiegt und vor einer Tür mit der Aufschrift „Identifikation 4“ stehenbleibt.
Er dreht sich zu mir um.
„Hören Sie, Mr. Burcham, wir müssen es nicht unbedingt auf diese Weise machen.“
Ich blinzele. „Wie meinen Sie das? Ich dachte, ich soll –“
„Nun ja. Es tut mir leid. Ich hätte mich klarer ausdrücken sollen. Wir brauchen Sie für die Identifikation, aber wir müssen es nicht unbedingt so machen. Wir können Ihnen auch ein Foto zeigen, wenn Ihnen das lieber wäre.“
Es dauert einen Augenblick, bis ich seine Worte verarbeitet habe.
„Nein“, erwidere ich. „Ich muss es sehen.“
„Sind Sie sicher?“
Ich nicke.
„Okay“, sagt er, offensichtlich abgeneigt. „Nun, es wird nicht einfach. Das ist es nie. Daran führt kein Weg vorbei. Das Beste ist, den ersten Teil hinter sich zu bringen. Nur eine Frage. Das ist alles, dann übernehmen wir wieder. Verstehen Sie?“
Ich nicke erneut, aber nichts von all dem ist real.
Das kann nicht sein.
„Hier herein“, sagt Detective Harper und öffnet mir die Tür.
Ich trete ein.
Der Raum ist klein, eng und dunkel. Das meiste Licht kommt durch eine große Glasscheibe, die fast die ganze Wand einnimmt. Hinter dem Fenster befindet sich ein Raum, der fast identisch ist mit dem, in dem ich stehe, außer dass dort eine Trage steht, auf der eine vertraute Gestalt unter einem Laken liegt. Ein Mann, der Ende zwanzig sein muss und einen Laborkittel trägt, wartet am Kopfende der Trage.
Detective Harper betritt den Raum und bleibt neben mir stehen.
„Ein letztes Mal“, sagt er sanft. „Sind Sie sicher?“
Meine Knie werden weich und mein Puls flattert unregelmäßig, aber ich schaffe es, ein „Ja“ zu flüstern.
Detective Harper sieht den Mann durch die Glasscheibe an und gibt ihm mit der Hand ein subtiles Zeichen.
Der Mann im anderen Raum hebt das Laken an und zieht es langsam zurück.
Auf der Trage liegt die Leiche einer Frau.
Ihr Gesicht ist friedlich, so als würde sie schlafen – bis auf die Lippen, die bläulich verfärbt sind.
„Mr. Burcham“, sagt Detective Harper. „Erkennen Sie diese Frau?“
Das ist die surrealste Frage, die mir je gestellt wurde.
Ich kenne jeden Zentimeter dieser Frau. Ihre Haare, ihren Hals, ihre Schultern, ihre Brüste, ihre Arme, ihre Hände, selbst den Ehering an ihrem Finger. Sogar die Halskette ist da. Die Halskette mit dem kleinen Rosenanhänger. Sie hat sie oft getragen, auch wenn sie sie todtraurig gemacht hat.
Ja. Ich erkenne die Frau.
Was ich nicht erkenne, ist das, was sie anhat, weshalb ich auch den Großteil ihres Körpers sehen kann: einen scharlachroten Spitzen-BH, einen dazu passenden Slip und halterlose Strümpfe sowie schwarze Stilettos.
„Mr. Burcham?“
„Das ist Amy … Das ist meine Frau.“
5
„Sie wurde in einer Gasse in Skid Row gefunden. Anscheinend hat sie dort schon ein bis zwei Tage gelegen. Jemand hat sie gefunden und einen Streifenwagen angehalten.“
Detective Harper und ich sitzen in einem kleinen Büro ein paar Türen vom Vorführraum entfernt.
„Skid Row? Was hat sie im Stadtviertel Skid Row gemacht?“, frage ich. „Und wessen Kleidungsstücke sind das?“
„Das hat sie beim Auffinden getragen“, antwortet er, nachdem er sich einen Moment lang auf die Unterlippe gebissen hat. Dann schaut er in seinen Notizen nach. „Wir haben auch ihre Handtasche gefunden, aber sie war leergeräumt, was angesichts des Fundorts nicht überraschend ist. Das Einzige, was sie zurückgelassen haben, war ihr Ausweis. Dadurch konnten wir Sie kontaktieren.“
„Ihren Ausweis hat man nicht mitgenommen?“
„So was kenne ich schon. Der Ausweis ist für jeden wertlos, der die Leiche gefunden und ihre Sachen mitgenommen hat. Der Ausweis würde lediglich beweisen, dass der Dieb dort war, wenn er damit erwischt würde.“
„Aber warum hat er ihr nicht den Ring weggenommen? Oder ihre Halskette?“
Er beißt sich wieder auf die Lippe und zuckt mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung. Vielleicht ließ sich der Ring zu schwer abnehmen. Und was die Halskette angeht – wer weiß? Womöglich ist sie ihr hinter den Kopf gerutscht und er hat sie übersehen. Die Kette ist ziemlich dünn. Es kann sein, dass wir es nie erfahren werden.“
Ich nicke und blicke auf den Boden.
Amy, was machst du hier? Was ist passiert? Warum bist du –?
„– haben Sie Ihre Frau das letzte Mal gesehen?“
„Was?“, frage ich und kehre abrupt in die Gegenwart zurück.
„Wann haben Sie Ihre Frau das letzte Mal gesehen?“, wiederholt Detective Harper die Frage und macht sich Notizen.
„Äh … am Freitag. Gegen Mittag. Ich hab sie zum Flughafen gebracht. Sie flog wegen einer beruflichen Sache nach Boston.“
„In welcher Branche war sie tätig?“
War.
Es fühlt sich falsch an, dass er die Vergangenheitsform verwendet, aber das ist es nicht. Schließlich habe ich Amy gerade tot auf der Trage liegen sehen.
„Mr. Burcham?“ Er blickt von seinem Notizblock auf.
„Sie arbeitet – hat bei einer Hedgefonds-Firma gearbeitet.“
„Was hat sie dort gemacht?“
„Sie war für die Neukundengewinnung zuständig.“
Er nickt, kritzelt etwas und fährt fort: „Und Sie?“
„Ich?“
„Ja. Ihre Tätigkeit?“
„Ach so. Ich bin – ich bin Hausmann. Wir haben eine Tochter. Tatum. Sie macht dieses Jahr ihren Abschluss an der Highschool.“
Oh Gott, ich hoffe, Tatum schläft noch. Was soll ich ihr bloß sagen? Wie soll ich ihr sagen, dass ihre Mutter ge–?
„– mit Ihrer Frau gesprochen haben?“
Wieder werde ich in die Gegenwart zurückgerissen.
„Sorry, Detective. Was haben Sie gefragt?“
Er wehrt meine Entschuldigung mit einer mitfühlenden Handbewegung ab. „Schon gut. Das ist viel zu verarbeiten. Ich habe gefragt, ob dies das letzte Mal war, an dem Sie mit Ihrer Frau gesprochen haben.“
„Nein. Sie hat mich Freitagabend angerufen, um mir zu sagen, dass sie in ihrem Hotel eingecheckt hatte.“
„In Boston?“
Meine automatische Antwort „Ja“ bleibt mir im Hals stecken. Zwar hat sie mich von ihrem Handy aus angerufen, aber jetzt, da ich mit Malcolm gesprochen habe, ist mir klar, dass ich nicht weiß, wo sie war. Ich ging davon aus, dass sie in Boston war, weil ich sie am Flughafen abgesetzt hatte und sie mir das erzählt hatte, aber vielleicht war sie da schon wieder in Los Angeles. Und aus irgendeinem Grund sage ich Detective Harper nicht, dass Amy mich und ihren Chef angelogen hat.
Meine Fassungslosigkeit überwältigt mich.
„Ich verstehe nicht“, sage ich und presse meine Hand gegen die Stirn, um eine Migräne abzuwehren, die allmählich stärker wird. „Sie sagten, sie hat mindestens einen Tag in der Gasse gelegen?“
Er nickt.
„Warum sollte sie am Freitag in ein Flugzeug steigen und schon am nächsten Tag zurückkommen?“
Die Frage ist eher an mich selbst gerichtet, doch Detective Harper kommt offensichtlich ein Gedanke, denn er hört auf zu schreiben und kaut auf dem Ende seines Stifts herum.
„Was ist?“, will ich wissen.
Er setzt zu einer Antwort an, doch dann zögert er.
„Detective?“
„Hören Sie, Mr. Burcham, an diesem Punkt hat es keinen Sinn, zu spekulieren –“
„Sagen Sie es mir“, beharre ich und kann nicht verhindern, dass meine Stimme lauter wird.
Er seufzt. „Mr. Burcham, es ist wahrscheinlicher, dass Ihre Frau Los Angeles nie verlassen hat.“
„Was?“, frage ich ungläubig und muss beinahe lachen. „Nein. Sie ist mit American Airlines gereist, Flug vierneununddreißig, nonstop nach Boston. Ich habe sie am Flughafen abgesetzt.“
„Haben Sie gesehen, wie sie in den Flieger gestiegen ist?“
„Natürlich nicht.“
Er kaut schon wieder auf seiner Unterlippe herum.
Meine Migräne wird heftiger.
Ich weiß, dass Amy mich über den potenziellen Kunden in Boston angelogen hat, aber aus irgendeinem Grund ist mir nie in den Sinn gekommen, dass sie nicht in ein Flugzeug gestiegen sein könnte.
Natürlich hat Detective Harper recht.
Amys Lüge ist soeben noch viel ernster geworden.
Sie hat mich nicht nur über das Treffen mit einem Kunden belogen.
Auch dass sie überhaupt irgendwohin reisen würde, war eine Lüge.
6
„Sind Sie sicher, dass Sie in der Lage sind, Auto zu fahren?“, fragt Detective Harper, als wir wieder in die Lobby zurückkehren. „Sie können Ihren Wagen über Nacht hier stehenlassen und ihn morgen abholen.“
„Ich bin okay“, antworte ich.
Ich bin mir zwar nicht sicher, ob es mir wirklich gut geht, aber es fühlt sich so an, als sollte ich das sagen. Ich muss nach Hause, bevor Tatum aufwacht. Ich muss für unsere Tochter da sein.
Detective Harper hatte noch ein paar Fragen an mich. Sie waren allgemeiner Natur und ich habe sie so gut ich konnte beantwortet. Ich dachte, dass ich dabei war, mich zu beruhigen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen und die Fassung wiederzuerlangen, sodass ich Auto fahren könnte. Doch das war vor einer halben Stunde, und die Übelkeit und das Zittern kommen in Schüben wieder.
„Sind Sie sicher?“, fragt Detective Harper erneut.
„Ja.“
„Und Sie wollen nicht, dass Officer Garland Sie zu Ihrem Wagen begleitet?“
Von seiner Kabine aus wirft Officer Garland ihm einen Blick zu, der sagt, dass er tun wird, was Detective Harper befiehlt, er aber lieber weiter durch sein Handy scrollen würde.
„Ich bin okay“, antworte ich.
Detective Harper nickt. „Also gut. Kommen Sie sicher nach Hause, und wie gesagt: Wenn Sie oder Ihre Tochter jemanden zum Reden brauchen, können wir Ihnen hervorragende Psychologen vermitteln.“
„Danke“, erwidere ich benommen und denke immer noch daran, wie Amy auf der Trage lag, als mir plötzlich ein Gedanke kommt. „Kann ich bitte ihren Ring haben? Und die Halskette?“ Detective Harper verzieht das Gesicht. „Es tut mir leid, aber wir müssen beides ein paar Tage lang dabehalten. Es könnten sich Spuren daran befinden, wie beispielsweise Fingerabdrücke. Ich werde dafür sorgen, dass die Stücke an Sie ausgehändigt werden, sobald wir mit den Untersuchungen fertig sind und die Obduktionsergebnisse vorliegen. Rufen Sie mich an, falls Ihnen in der Zwischenzeit noch etwas einfällt.“
Er gibt mir ein Kärtchen, auf dem seine Kontaktdaten stehen.
„Ja, werde ich.“ Ich nicke und stecke die Karte in meine Tasche. „Danke, Detective.“
Er schüttelt mir die Hand, dreht sich um und geht zurück zum Aufzug. Ich bleibe in der Lobby stehen.
Obduktion.
Sie werden Amy aufschneiden und zerteilen.
Als wäre es nicht genug, sie fast nackt in einer Gasse zu finden, wird Detective Harper sie auch noch in Stücke schneiden.
Und dafür habe ich mich gerade bei ihm bedankt?
Eine Welle der Übelkeit steigt in mir hoch.
Danke, Detective. Danke dafür, dass Sie den Körper meiner Frau schänden. Danke dafür, dass Sie alles noch schlimmer machen.
Wird man ihren Schädel öffnen?
Vor meinem geistigen Auge sehe ich Amy auf dem Obduktionstisch liegen, mit diesem friedlichen Gesicht, das nach oben blickt, während die sich drehende Klinge langsam ihrer Stirn zugeführt wird. Ihre Augen. Die bläulichen Lippen. Dieselben Lippen, die ich am Freitag geküsst habe, als wir auf dem Bordstein vor dem LAX standen. Dieser Kuss, der nun der letzte von tausend Küssen ist.
Amy ist weg.
Eine Million Bilder rasen durch meinen Kopf. Eine Million Erinnerungen. Zwanzig Jahre Ehe. Meilensteine und Frustrationen und die schönsten gemeinsamen Augenblicke unseres Lebens. Die Erinnerungen rollen auf diese drei Wörter zu und zerschellen daran: Amy ist weg.
Amy kann nicht weg sein.
In ein paar Stunden wird sie mich anrufen und erklären, dass ihr Akku leer gewesen ist. Sie wird mir sagen, dass das Meeting mit dem potenziellen Kunden großartig gelaufen ist und dass sie es kaum erwarten kann, nach Hause zu kommen und mit Tatum und mir zu Abend zu essen, während wir drei –
Hinter mir dröhnt eine Hupe.
Ich sitze in meinem Auto an der Ausfahrt des Parkhauses. Das fleckige Display des Kartenlesers vor meinem Seitenfenster verlangt mein Ticket.
Wie bin ich hierhergekommen?
Ich erinnere mich nicht, zu meinem Wagen gegangen zu sein. Ich erinnere mich nicht daran, eingestiegen zu sein und den Motor angelassen zu haben, und ich erinnere mich auch nicht, in die untere Etage zur Ausfahrt gefahren zu sein.
Der verrostete Van in meinem Rückspiegel drückt schon wieder auf die Hupe und eine Stimme ruft aus dem offenen Seitenfenster auf der Fahrerseite: „Verdammt noch mal, nun fahren Sie schon!“
Die Stimme hallt vom Betonboden, der Decke und den Säulen wider.
Nach einem beschämten Winken krame ich meinen Parkschein aus der Tasche.
Ich habe vergessen, ihn abstempeln zu lassen.
Ich stecke den Parkschein in den Automaten. Er zeigt mir an, dass ich zwölf Dollar schulde. Ungeschickt fummle ich mit meiner Kreditkarte herum, stecke sie in den blinkenden Schlitz und warte.
Plötzlich mache ich mir keine Sorgen mehr um den Typen hinter mir. Was mich vielmehr beunruhigt, ist die Tatsache, dass ich mich nicht daran erinnern kann, wie ich das Gebäude verlassen habe und hierhergekommen bin.
Der Automat spuckt meine Karte aus. Ich ziehe sie ab und werfe sie auf den Beifahrersitz.
Die Schranke hebt sich und ich warte, bis zwei Autos vorbeigefahren sind, bevor ich –
Klopf-klopf-klopf. Vor Schreck schreie ich fast auf.
„Können Sie mir aushelfen?“, fragt ein Mann mit verfilztem Bart und eingefallenem Gesicht, der vor meinem Seitenfenster steht.
Ich blicke geradeaus, trete aufs Gas und fahre hinaus auf die Straße.
7
Da ist es.
Das Geräusch, vor dem ich mich gefürchtet habe: Schritte oben auf dem Flur.
Tatum ist wach.
Irgendwie habe ich es nach Hause geschafft. Ich erinnere mich an kaum etwas, auch nicht daran, wie ich mich im Parkhaus zurechtgefunden habe. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich in unserer Auffahrt geparkt habe, ins Haus gegangen bin und im Dunkeln am Küchentisch gesessen habe.
Draußen ist die Farbe des Himmels von Schwarz über Lila zu Rosa und nun zu Hellblau übergegangen.
Ich habe daran gedacht, Tatum zu wecken, mich aber dann dagegen entschieden. Ich möchte, dass sie noch einmal unbeschwert schläft, vielleicht von ihrer Mutter träumt, ohne beim Aufwachen am Boden zerstört zu sein.
Ich weiß immer noch nicht, was ich ihr sagen soll. Wo Amy gefunden wurde? Was sie trug? Dass sie mich angelogen hat? Uns?
Ich weiß nicht mal, wie Amy gestorben ist.
Ich sitze hier also seit einer gefühlten Ewigkeit, die irgendwie wie im Flug vergangen ist. Mehr als einmal habe ich mir gesagt, dass ich träume, dass ich die Augen aufmachen muss, um mich oben in unserem Bett wiederzufinden, mit Amy, die neben mir schläft. Ich werde sie aufwecken und ihr alles über meinen Albtraum erzählen, damit wir darüber lachen und dann wieder einschlafen können.
Aber ich bin wach. Das hier ist real.
Und jetzt ist Tatum wach und ich muss ihr sagen, dass ihre Mutter für immer weg ist. Das wird es besiegeln. Dies hier ist kein Traum.
Es ist ein Albtraum.
Ich sitze regungslos da und lausche, wie Tatum sich für die Schule fertig macht; das Wasser läuft durch die Rohre in der Wand zur Dusche im Obergeschoss. Alles ist still, während sie vor dem Spiegel steht und sich das Make-up aufträgt, von dem ich kein Fan bin. Dann die Schritte zurück in ihr Zimmer, wo sie sich anzieht. Ich habe diese Routine schon so oft gehört, dass ich weiß, an welchem Punkt ich anfangen sollte, Frühstück zu machen, denn wenn ich es nicht tue, holt sie sich irgendwelches Junkfood aus der Speisekammer. Doch meine Beine rühren sich nicht und meine Gedanken sind zu schwer, um aufzustehen.
Da ist das schnelle Klapp-klapp-klapp, während sie die Treppe hinunterläuft. Tatum springt vom Treppenabsatz auf den Hartholzboden des Foyers. Dann kommt sie in die Küche und tippt dabei etwas in ihr Handy ein. Mit ihren blauen Augen, dem rabenschwarzen Haar, der Stupsnase und den ausgeprägten Kieferknochen ist sie Amy wie aus dem Gesicht geschnitten.
Zunächst sieht sie mich nicht, da sie zu sehr in ihr Display vertieft ist. Sie geht ein paar Schritte auf die Speisekammer zu, bevor sie mich schließlich am Tisch sitzen sieht und stehenbleibt.
„Dad?“
Ich deute mit dem Kopf auf den Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Tischs. „Setz dich hin, Liebling.“
Sie verdreht die Augen. „Dad, wenn es ist, weil Aiden und ich allein im Haus waren – ich hab doch gesagt, dass wir nicht –“
„Tatum, bitte …“ Ich deute erneut auf den Stuhl.
Sie geht langsam zum Tisch und behält mich im Auge, während sie sich auf den Stuhl sinken lässt.
Ich mache den Mund auf, um zu sprechen, aber nichts passiert. Der Moment ist gekommen, und ich weiß immer noch nicht, was ich sagen soll.
„Dad?“, fragt sie mit angespannter Stimme, da sie spürt, dass das, worüber ich mit ihr reden muss, viel ernster als das Thema Aiden ist.
Ich kann das nicht. Ich kann es ihr nicht sagen. Es ist noch nicht einmal real für mich – wie also soll ich meinem kleinen Mädchen sagen, dass –
„Dad? Was ist denn –?“
„Mom ist weg“, höre ich mich sagen.
Im Bruchteil einer Sekunde verändert sich die ganze Welt. Es gab das Leben vor diesem Moment, und es wird das Leben danach geben, und die beiden werden völlig verschieden sein.
Tatum runzelt die Stirn und kneift die Augen zu. „Ja. Ich weiß. Du hast gesagt, dass sie noch eine Nacht in Boston bleiben muss oder so.“
„Nein, Liebling. Das musste sie nicht. Letzte Nacht wurde ich von der Polizei angerufen. Sie haben ihre Leiche in der Innenstadt gefunden. Ich musste zum Büro des Gerichtsmediziners gehen und sie identifizieren.“
Das ist alles, was ich ihr sagen werde. Der Rest kann warten, bis ich mehr weiß.
Tatum blinzelt. „Was sagst du –? … Das ist ein Witz, oder?“
„Nein. Es tut mir so leid. Es ist kein Witz.“
Tatum wartet auf irgendeine Pointe, die nicht kommt. Innerhalb weniger Sekunden verändert sich ihr Gesichtsausdruck von wartend zu flehend. „Nein … Komm schon, Dad … Du verarschst mich doch.“
Mein Schweigen beweist, dass ich das nicht tue.
Sie wird von Entsetzen ergriffen und ihre Augen füllen sich mit Tränen.
„… Dad? … Bitte …“
„Es tut mir so leid, Tatum.“
Ihr Mund steht offen. Sie sieht sich um, ohne zu wissen, auf was sie den Blick richten soll. Ihr Gesicht verzerrt sich vor Schmerz und sie beginnt zu zittern.
Ich bin schon von meinem Stuhl aufgesprungen.
Ich gehe um den Küchentisch herum und schlinge die Arme um sie, als sie anfängt, bitterlich zu schluchzen.
8
Tatum schläft oben in ihrem Zimmer.
Es war unmöglich, sie zu beruhigen, und ich habe es auch nicht ernsthaft versucht. Ich habe sie einfach nur in den Armen gehalten, während wir beide weinten.
Ihre Gefühle schwankten zwischen Wut, Verwirrung und Ungläubigkeit. Sie flehte mich an, ihr zu sagen, dass es bloß ein Scherz war. Sie versicherte mir, dass sie nicht sauer wäre, aber ich sollte aufhören zu sagen, dass ihre Mutter tot sei.
„Woher können sie so sicher sein, dass es Mom ist?“, fragte sie verzweifelt. „Ich meine, hast du sie angerufen –?“
„Tatum“, sage ich sanft, aber bestimmt. „Sie war es. Sie hatte ihren Ehering … und die Halskette an.“
Die Tatsache, dass sie die Halskette trug, hatte dieselbe Wirkung auf Tatum wie auf mich. Es war die Bestätigung, dass Amy von uns gegangen war.
Dies löste eine weitere Runde Schluchzen aus, während ich Tatum festhielt.
Sie bestand darauf, dass es nicht Mom war. Sie wiederholte beharrlich, dass ich sie anlog und damit aufhören müsste. Als ich ihr noch einmal ruhig erklärte, dass ich die Wahrheit sagte, löste dies einen Wutanfall aus. Sie stieß mich weg und rannte nach oben. Dort schlug sie ihre Zimmertür zu und schloss sie ab. Seit sie sechs war, haben wir die Regel, dass wir außer im Badezimmer keine Türen im Haus abschließen.
„Tatum, mach die Tür auf“, sagte ich, während ich auf dem Flur stand.
Sie weinte weiter.
Ich beharrte noch ein paar Mal , ohne eine Antwort zu bekommen.
„Tatum“, versprach ich schließlich. „Ich werde nicht reinkommen. Ich bitte dich nur, die Tür unverschlossen zu lassen, okay?“
Es folgten eine Pause, dann schlurfende Schritte und das Klicken des Schlosses.
„Danke“, sagte ich.
Durch die Tür konnte ich hören, dass sie einen Schluckauf hatte, seufzte und wegging.
Ich hielt mein Wort und machte keinen Versuch, die Tür zu öffnen. Stattdessen setzte ich mich mit dem Rücken zur Wand im Flur auf den Boden und lauschte auf Tatums Schluchzen. Irgendwann ging ihr Weinen in ein Wimmern über und schließlich waren die tiefen Atemzüge des Schlafs zu hören. Da brach ich mein Versprechen ein kleines bisschen und steckte den Kopf durch die Tür.
Sie lag auf dem Bett und schlief, die Arme um ihr Kopfkissen geschlungen und das Make-up tränenverschmiert.
Ich machte die Tür wieder zu und ging nach unten. Im Wohnzimmer setzte ich mich auf das Sofa und sah mich im Raum um. Ich nahm das Leben in mich auf, das Amy und ich gemeinsam aufgebaut hatten.
Wir haben dieses Haus vor zehn Jahren für 1,75 Millionen Dollar gekauft. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal in einem Millionen-Dollar-Haus leben würde, doch Amys Hedgefonds holte beinahe jeden Deal rein und ihr Stern war am Aufsteigen.
Beide fanden wir das Haus umwerfend, aber ich schreckte vor dem Preis zurück.
„Mark“, sagte sie mir, „dafür haben wir das alles doch gemacht.“
Natürlich hatte sie recht.
Amy ist die Macherin, die Risikofreudige. Ich glaube, dass meine Aufgabe, den Hausmann zu spielen und Tatum großzuziehen, mich etwas konservativer gemacht hat, und zusammen sind Amy und ich das perfekte Team. Im Laufe der Jahre habe ich unzählige Male innegehalten und darüber gestaunt, was für ein Glück ich hatte. Dass Amy und ich uns gefunden haben, ist ein Wunder. Es kann kein Zufall gewesen sein.
Und jetzt sitze ich hier und rede von ihr, als wäre sie noch da. Ich muss mich daran gewöhnen, Formulierungen wie „Amy war die Macherin“ und „zusammen waren wir das perfekte Team“ zu verwenden.
Geistesabwesend wische ich mir die Tränen ab, die mir über die Wangen rollen.
Ein Teil von mir will was Banales machen, sich an ein bisschen Alltag klammern. Ich muss einkaufen gehen, um etwas fürs Abendessen zu holen. Ich muss die Solarlampen auf dem Gehweg zum Haus ersetzen. Sie sind viel zu schwach. Ich muss die Zündflamme am Kamin reparieren. Amy hat gesagt, sonst würde das Haus in die Luft fliegen. Das war ein Witz, den ich nicht lustig fand.
Aber so gerne ich so tun würde, als hätte sich nichts geändert, muss ich doch gleichzeitig auch wahrhaben, was geschehen ist. Alles aufzuschieben würde die Situation nur noch schlimmer machen.
Ich sollte herumtelefonieren. Den einzigen Anruf, den ich getätigt habe, nachdem ich wieder nach unten gegangen bin, war bei Tatums Schule, um ihnen mitzuteilen, dass sie für eine Weile nicht am Unterricht teilnehmen würde. Warum, habe ich nicht gesagt.
Ich muss Liz anrufen und ihr sagen, dass ein Versuch, sich zu versöhnen, nun nie mehr möglich ist.
Wie soll ich dieses Gespräch beginnen? Wo fange ich an?
Vielleicht rufe ich sie lieber noch nicht an. Womöglich ist es besser zu warten, bis ich ein bisschen mehr weiß.
Bis dahin werde ich einfach hier sitzenbleiben.
Eine Stunde später klingelt mein Handy.
„Mr. Burcham?“
„Ja?“
„Hier ist Detective Harper. Wie geht es Ihnen?“ Seine Stimme klingt nachdenklich und so, als würde er sich davor fürchten, mir etwas mitteilen zu müssen.
„Ganz okay, denke ich.“
Ganz okay?
Nein, mir geht es nicht „okay“. Warum lüge ich, um es ihm irgendwie leichter zu machen?
„Uns liegt jetzt der vorläufige Obduktionsbefund vor“, fährt Detective Harper fort.
„Jetzt schon?“, frage ich.
Sie haben sie doch erst vor ein paar Stunden gefunden. Wie zum Teufel können sie da –?
„Der Gerichtsmediziner hatte ein wenig Zeit übrig und konnte die Obduktion vorziehen“, antwortet Detective Harper. „Wenn Sie sich etwas mehr Zeit lassen möchten, bevor wir über die Ergebnisse sprechen, kann ich das verstehen.“
„Nein. Ich will wissen, was passiert ist.“
„In Ordnung“, sagt er. Offensichtlich wäre es ihm lieber gewesen, ich hätte seinen Vorschlag angenommen. „Aber vielleicht sollten Sie sich vorher hinsetzen.“
„Ich sitze schon.“
„Also gut …“ Er macht eine Pause, und ich stelle mir vor, wie er sich auf die Unterlippe beißt, bevor er mir die schlechten Nachrichten überbringt. „Unser vorläufiger Befund lässt darauf schließen, dass Ihre Frau versehentlich an einer Überdosis gestorben ist. Die Laborergebnisse haben Kokain nachgewiesen.“
Mir bleibt das Herz stehen.
Vor meinem geistigen Auge sehe ich Amys Körper auf dem Obduktionstisch liegen, die Halskette ruht auf ihrer Brust, und mir schießt eine Frage durch den Kopf: Warum belügt mich die Polizei, was meine tote Frau angeht?
„Blödsinn“, sage ich kaum lauter als ein Flüstern.
Es entsteht eine Pause.
„Hören Sie, Mr. Burcham.“ Mein Widerspruch hat ihn offensichtlich ein wenig verunsichert. „Mir ist klar, dass es manchmal schwer ist, eine solche Information zu verarbeiten, wenn es um einen Menschen geht, der einem …“
„Und ich sage Ihnen, dass diese Information absoluter Quatsch ist! Amy würde nie im Leben Kokain nehmen.“
„Nun, wie ich schon gesagt habe, könnten die Untersuchungen noch zeigen, dass es sich um eine andere Substanz handelt, die –“
„Sie hören mir nicht zu, Detective.“
„Bitte beruhigen Sie sich, Mr. Burcham. Sie sind mit den Nerven fertig und das ist auch nur zu verständlich. Wenn man so etwas hört, ist die erste Reaktion immer Ungläubigkeit und manchmal sogar Wut.“
„Detective Harper, meine Frau ist nicht an einer Überdosis Drogen gestorben –“
„Mr. Burcham, ich sage nur, was wir aufgrund der uns vorliegenden Ergebnisse glauben –“
„– und ich sage Ihnen, dass Sie falsch liegen, weil sie doch die verdammte Kette getragen hat!“
„… Wie bitte?“
„Die Halskette. Die, die Sie bei meiner Frau gefunden haben. Damals auf dem College hatte Amy eine Freundin namens Colleen Gardner. Colleen war schüchtern und meine Frau war die Extrovertierte.“ Ich habe diese Geschichte schon so oft von Amy gehört, dass ich sie wie meine eigene zitieren kann. „Zu Beginn ihres zweiten Studienjahres gingen sie auf eine Party ihrer Studentenverbindung und verloren sich dort aus den Augen. Colleen versuchte, aus sich herauszugehen. Ein paar Jungs boten ihr Kokain an. Sie wollte dazugehören und hat es deswegen ausprobiert, aber es war mit Methamphetaminen versetzt. Sie und die drei männlichen Studenten wurden ins Krankenhaus gebracht. Die Jungs haben überlebt, aber Colleen erlitt einen Herzinfarkt und starb. Darüber ist Amy nie hinweggekommen. Sie gab sich die Schuld dafür, dass sie auf der Party nicht bei Colleen geblieben war. Und die Halskette? Sie gehörte Colleen. Sie trug sie in der Nacht, in der sie starb. Amy fragte Colleens Eltern, ob sie sie haben könnte. Daher sage ich Ihnen, es ist absolut unmöglich, dass meine Frau von sich aus und freiwillig eine Überdosis genommen hat.“
Jedes Mal, wenn Amy diese Geschichte wiederholte, versuchte ich ihr klarzumachen, dass Colleens Tod nicht ihre Schuld war. Aber sie wollte es nicht hören. Sie erzählte die Geschichte auch Tatum, um sie vor den Gefahren von Drogen zu warnen. Amy rauchte eine Zeit lang Zigaretten und trank gelegentlich, aber alles darüber hinaus war eine dicke rote Linie, die sie nie überschritten hat. Im Laufe der Jahre erzählte sie die Geschichte immer seltener, aber sie trug weiterhin die Halskette, und ich wusste, dass sie die Sache nicht vergessen hatte, denn ich kenne meine Amy. Es ist unmöglich, dass sie im vollen Bewusstsein eine Überdosis genommen hat, während sie Colleens Halskette trug.
„Mr. Burcham“, sagt Detective Harper nach einer langen Pause. „Ich kann Ihre Skepsis verstehen, aber ich gebe nur weiter, was in dem toxikologischen Bericht steht, der mir vorliegt.“
„Machen Sie die Untersuchung noch einmal.“
„Das haben wir. Es ist Standardverfahren, dass wir den Labortest zweimal durchführen, wenn genügend Beweise vorliegen. Auch der zweite Test hat bestätigt, dass zum Todeszeitpunkt Ihrer Frau hohe Kokainwerte in ihrem Körper vorhanden waren.“ „Totaler Schwachsinn!“, erwidere ich verächtlich.
„Es tut mir leid, dass ich es bin, der Ihnen diese Nachricht überbringen muss, aber –“
„Ach ja?“, unterbreche ich ihn. „Und was sagen Ihre Tests sonst noch?“
Schweigen.
Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
Da ist noch mehr, und was auch immer es ist, es ist schlimmer als das Kokain.
„Detective?“
„Mr. Burcham, vielleicht sollten wir damit warten, bis Sie etwas mehr Zeit hatten, alles zu verarbeiten.“
„Was haben Sie sonst noch herausgefunden?“, frage ich, jetzt nicht mehr spöttisch.
„Es gibt Hinweise darauf, dass …“
Seine Stimme wird leiser.
„Detective Harper?“
„Das kann wirklich warten, bis Sie …“
„Nein, kann es nicht“, fauche ich.
Er seufzt. „Mr. Burcham, hatten Sie und Ihre Frau Geschlechtsverkehr, bevor Sie sie am Flughafen abgesetzt haben?“
„Nein. Hatten wir nicht. Wir hatten keinen Sex mehr seit …“ Ich versuche mich zu erinnern, wann Amy und ich das letzte Mal Sex hatten. Ich glaube, es war letzte Woche. Wir konnten nicht schlafen. Es war drei Uhr morgens, also beschlossen wir, ein bisschen Spaß zu haben, mussten jedoch leise sein, weil wir Tatum nicht wecken wollten … aber er hat nicht nach dem letzten Mal gefragt, sondern ob wir Sex hatten, bevor ich sie am Flughafen abgesetzt habe.
„Warum wollen Sie das wissen?“, frage ich.
Es folgt eine so lange Pause, dass man sie mit einem Kalender messen könnte.
„Es gibt Hinweise darauf, dass Ihre Frau kurz vor ihrem Tod mit jemandem Geschlechtsverkehr hatte.“