1. Kapitel
Er ist es.
Ich erkenne ihn an der scharf geschnittenen Nase wieder. An der Art, wie sich seine Nasenflügel aufblähen. An seinen dichten Augenbrauen und an seinen markanten Wangenknochen. Vor allem aber an seinen Augen. So grün wie die See.
Zweifellos ist er ein gut aussehender Mann. Das Kind, an das ich mich erinnere, war acht oder neun und bereits auf dem Weg zu einem gut aussehenden Mann gewesen.
Der Name dieses Jungen war Tom.
„Mom, Dad“, sagt meine Tochter. „Ich möchte euch gern Michael vorstellen.“
Michael.
Also nicht er. Nur eine verblüffende Ähnlichkeit. Eine optische Täuschung. „Michael und ich werden heiraten“, redet sie weiter.
Mein Mann gleich neben mir beginnt zu husten, als hätte er sich an irgendetwas verschluckt. Wir stehen auf dem sanft abfallenden Rasen in der Mitte zwischen dem Haus und dem See. Die Sonne scheint auf uns herab. „Tatsächlich?“, erwidert mein Mann. „Heiraten? Wow …“
Er versucht, gut gelaunt zu klingen, und sieht mich an. In seinem Blick spiegelt sich alles wider. Mehr, als man in Worte fassen kann. Die ganze turbulente Vergangenheit unserer Tochter Joni. Der Tochter, die gleich aus zwei Privatschulen weglief. Nach der wir nächtelang in der Stadt auf düsteren Straßen gesucht haben, stets mit der Frage im Hinterkopf, ob wir sie tot oder lebendig wiederfinden würden.
Sie ist kein Teenager mehr, sage ich mir. Sie ist eine junge Frau. Wir wussten, dass sie uns jemanden vorstellen wollte. Aber dass die beiden verlobt sind, kommt für uns völlig überraschend.
Ich versuche, Michael nicht anzustarren, der ihre Hand hält, während sie beide vor uns auf der leicht abfallenden Rasenfläche unseres Gartens dastehen. Hinter ihnen schimmert der See graublau, verstreut funkelt die Sonne wie Diamanten auf dem Wasser. Von weiter weg ist das Brummen eines Motorboots zu hören. Ich frage Joni: „Wann ist denn das passiert?“
„Erst vor zwei Wochen“, sagt sie und streicht ihr welliges blondes Haar hinter die Ohren.
Ich erkenne es an ihrem Tonfall und an ihrer Körpersprache: Meine Frage hat sie in den Verteidigungsmodus wechseln lassen.
„Wir wollten es euch hier erzählen. Wir hatten bereits geplant, zum Haus am See zu kommen, und als er mich dann fragte …“ Joni drückt Michaels Hand und lässt den Satz unvollendet. Sie ordnet sich ihm unter.
Michael macht einen kleinen Schritt nach vorn und konzentriert sich mehr auf meinen Ehemann Phil als auf mich. „Ich hätte gern auf traditionelle Art und Weise um ihre Hand angehalten, Sir.“ Er sieht zu Joni, dann fügt er hinzu: „Aber es sollte eine Überraschung sein.“
Mir ist bewusst, dass ich die Arme verschränkt habe und mich ebenfalls im Verteidigungsmodus befinde. „Wie lange seid ihr schon …?“
„Mom“, unterbricht sie mich. „Wir hatten schrecklich viel zu tun.“
„Ich wollte nur fragen, wie lange ihr euch schon kennt. Ich habe nie … du hast noch nie …“
„Wir werden über alles reden.“
„Okay.“
„Aber ich wollte …“ Joni beißt sich auf die Lippe und sieht zur Seite. Nachdem sie ihre Gedanken geordnet hat, sagt sie: „Ich wollte es euch erzählen, sobald wir hier angekommen sind. Damit ihr euch an den Gedanken gewöhnen könnt. Ich dachte nämlich, wenn ich ihn euch einfach als meinen Freund vorstelle und dann am Schluss des Wochenendes unsere Verlobung erwähne, dann hätte das …“
Keinen guten Eindruck gemacht könnte das sein, was sie mir sagen will. Mir ist klar, worauf sie hinauswill.
Am Telefon hatte sie sich nur vage geäußert. Da ist jemand, den ich euch unbedingt vorstellen will. Wir wussten, was sie damit meinte. Seit sie siebzehn war, hat Joni ständig jemanden mit nach Hause gebracht, den sie uns unbedingt vorstellen wollte. Fünf Jahre lang ein neues Gesicht nach dem anderen, dazu Beziehungen, die schon wieder zu Ende waren, kaum dass sie begonnen hatten. Sie hat jeden ihrer Freunde mitgebracht, weil sie unseren Segen haben wollte. Fast wie eine Katze, die eine tote Maus vor die Tür legt. Ich hatte das nie verstanden, wenn sie doch in jeder anderen Hinsicht gegen alles rebelliert hat.
Als Psychotherapeutin hätte ich dazu irgendwelche Erkenntnisse zur Hand haben müssen, aber vielleicht wird meine Urteilsfähigkeit dadurch beeinträchtigt, dass ich ihre Mutter bin.
Joni führt schließlich ihren Gedanken zu Ende. „Wenn wir gewartet hätten, bis das Wochenende um ist, dann hättet ihr keine Zeit mehr gehabt, euch daran zu gewöhnen. Darum machen wir es auf diese Weise.“ Sie atmet tief durch. „Mom, Dad, das ist mein Verlobter Michael Rand.“
Er grinst und bekommt gleichzeitig einen roten Kopf. Er ist gut darin, den Blickkontakt zu halten, und seine ganze Körpersprache deutet auf eine sehr offene Art hin. Er hält Jonis Hand, der andere Arm hängt herunter. Ich versuche, seine Gesichtszüge nicht zu offensichtlich zu betrachten und mit dem Jungen von vor fünfzehn Jahren zu vergleichen.
Ich kann fast nicht anders, denn die Ähnlichkeit ist einfach verblüffend. Die Augen, die Nase. Sogar die dunklen Haare – zeitgemäß abgestuft auf mittlere Länge geschnitten – ist ähnlich. Sein Haar ist voller, als ich es in Erinnerung habe. Aber er ist ja inzwischen auch um einiges älter.
„Also gut“, sagt Paul und streckt seine Hand aus. „Dann willkommen in der Familie, Michael.“
Er schüttelt Pauls Hand. „Vielen Dank, Mr Lindman.“
„Sie können Paul zu mir sagen.“
Michael dreht sich zu mir um und hält mir seine Hand hin. „Mrs Lindman.“
Einen Moment lang kann ich mich nicht rühren. Mein Blick hat seine Augen erfasst, und wieder sehe ich, dass Toms Augen die gleiche Farbe haben. Aber wie kann ich mich ernsthaft an so etwas erinnern? Das scheint nicht weiter wichtig zu sein, denn mit einem Mal werde ich fünfzehn Jahre in die Vergangenheit zurückgeschleudert und sehe mir Fotos von einem Tatort an, an dem ein brutales, blutiges Verbrechen begangen wurde. Ein Mann auf dem Boden einer Küche, den Schädel eingeschlagen, umgeben von einer Lache aus frischem, dunkelrotem Blut.
Ich blinzele kurz und löse mich von dieser Erinnerung. Ich schüttele Michaels Hand und versuche, meine Hand nicht zu schnell zurückziehen. Gleichzeitig gelingt es mir, lange genug Blickkontakt zu halten.
Er ist es.
Nein, er ist es nicht. Er kann es nicht sein.
Und selbst wenn er es wäre – was sollte ich sagen? Was sollte ich tun? Alles, was sich in diesen fünf Sitzungen mit dem achtjährigen Tom Bishop abgespielt hat, muss vertraulich bleiben. Selbst wenn ich mir absolut sicher wäre, wäre ich ethisch dazu verpflichtet, mein Wissen für mich zu behalten. Es wäre nicht nur höchst unprofessionell, Joni etwas davon zu erzählen – ich könnte auch meine Lizenz als Psychologin verlieren. Dass es hier um die Verlobung meiner Tochter geht, spielt keine Rolle.
„Und?“, fragt Paul. „Sollen wir auf eure Verlobung anstoßen?“
„Dad, es ist erst elf Uhr vormittags“, wendet Joni ein.
„Na und? Wir machen hier Urlaub, oder etwa nicht?“
„Ich mache uns Mimosas“, werfe ich hastig ein, da ich mich unbedingt zurückziehen möchte. „Setzt ihr drei euch doch schon mal an den See. Ich bin gleich bei euch.“
Ich drehe mich um und gehe zum Haus, bevor irgendjemand protestieren kann.
„Mrs Lindman?“ Fast hätte ich es geschafft. Ich werde langsamer und drehe mich um. „Ja?“
„Können Sie meine Mimosa alkoholfrei machen?“, fragt Michael. „Ich trinke nämlich eigentlich nicht.“
Einen Augenblick lang bringe ich kein Wort heraus. Dann endlich: „Ja, natürlich. Kein Problem.“ Ich gehe weiter und muss mich zwingen, nicht zu rennen. Zwar ist es mir nicht erlaubt, etwas zu sagen, aber ich kann meine eigene Neugier sehr wohl stillen und im Internet nach Paul suchen. Das verstößt nicht gegen irgendwelche ethischen Grundsätze.
Kurz bevor ich die Haustür erreicht habe, sehe ich noch einmal zum See. Paul ist auf dem Weg zum Bootssteg, Joni und Michael gehen neben ihm und halten sich noch immer an den Händen. Ich fasse nach dem Türgriff und will soeben nach drinnen gehen, da wirft mir Michael einen Blick über die Schulter zu.
Er lächelt mich an, dann dreht er sich wieder weg.
2. Kapitel
Tom Bishop ist ein halbwegs bekannter Triathlet. Ihm gehört aber auch eine Firma, die „die besten Puppenhaus-Shows der Welt“ präsentiert. Ich suche nach Thomas Bishop, aber die Ergebnisse helfen mir auch nicht weiter. Dann fällt mir etwas ein: Der kleine achtjährige Tom spielte in den Medien kaum eine Rolle. Wenn er erwähnt wurde, dann blieb seine Identität stets verdeckt.
Laura Bishop ist dagegen ein ganz anderes Thema. Ich finde zahlreiche Beiträge über die Frau, die ihren Ehemann umbrachte und dann einem anderen die Schuld gab. Fast wäre sie damit auch durchgekommen – wäre da nicht die Zeugenaussage ihres eigenen Sohns gewesen.
Minutenlang klicke ich mich durch die Artikel, sauge die Fotos vom Haus der Bishops in mich auf, das von der Polizei abgesperrt ist. Laura Bishops Fotos nach der Verhaftung – in Künstlerkreisen ein bekannter Name, ganz ohne Make-up, die Haare nachlässig zum Pferdeschwanz zusammengebunden, die Augen düster und leer. So völlig anders als all die inszenierten Bilder von ihr, die anschließend in der Berichterstattung über den Mord zu sehen waren. Ich klappe den Laptop zu.
Das ist verrückt.
Ich nehme den Laptop von der Kücheninsel und bringe ihn zurück ins Wohnzimmer, wo ich ihn auf den Schreibtisch stelle, von dem aus man die vordere Terrasse und den See überblicken kann. Die drei sitzen am Wasser in den Adirondack-Gartensesseln. Joni wirft lachend den Kopf in den Nacken.
Es ist doch völlig lächerlich. Die Chance, dass der Verlobte meiner Tochter mit dem Jungen identisch ist, den ich vor fünfzehn Jahren in meiner Praxis behandelt habe, ist extrem minimal. Aber eine Suche nach Michael Rand auf Facebook ergibt jede Menge Treffer, nur sieht keiner von ihnen dem jungen Mann ähnlich, der in unserem Garten sitzt. Allerdings sagt das nicht viel aus. Der Verlobte meiner Tochter ist ein Millennial, und viele von denen machen einen großen Bogen um Facebook.
Also versuche ich es auf Instagram und Snapchat, aber ohne Erfolg.
Ich bin übermüdet. Vielleicht liegt es ja daran. Paul und ich sind schon am Donnerstag zum Haus am See gefahren, weil wir gehofft hatten, so den Staus am Freitag zu entgehen. Aber das hat nicht geklappt, denn offenbar waren außer uns noch Tausende Leute mehr auf die gleiche Idee gekommen. Und so hatte die Fahrt, die unter optimalen Bedingungen viereinhalb Stunden dauert, sich auf über sechs Stunden in die Länge gezogen. Dann hatte ich letzte Nacht auch noch kaum geschlafen, weil es zu warm und brutal schwül gewesen war und es im Haus keine Klimaanlage gibt.
„Luxusprobleme“, würde Joni zu solchen Klagen sagen. Und natürlich hat sie damit auch recht. Aber zu allem Überfluss hatte ich auch noch einige meiner aktiven Patienten im Stich lassen müssen, darunter eine Frau namens Maggie Lewis, die mir besonders große Sorgen bereitet. Diese kluge und wunderschöne junge Frau wird von chronischen Depressionen und Ängsten geplagt. Wenn sie ihre Medikamente nicht nimmt, ist sie zu nichts mehr zu gebrauchen. Wenn sie sie nimmt, verfällt sie in Lethargie und nimmt schnell zu. Vor Kurzem hat sie damit gedroht, die Tabletten wieder einmal abzusetzen. Meine Befürchtung ist, dass sie das bereits gemacht hat. Das macht mir zu schaffen, wenn ich ganz ehrlich sein soll.
Im August ist es immer schwierig, Urlaub zu machen. Paul und ich arbeiten sehr viel – vermutlich sogar zu viel –, daher ist es wichtig, von Zeit zu Zeit alles für eine Weile hinter sich zu lassen. Da unsere zwei Kinder inzwischen erwachsen sind, ist das die einzige Gelegenheit, ein wenig Zeit mit der ganzen Familie zu verbringen. Trotzdem ist es nie ein einfaches Unterfangen.
Als ich die Zutaten für vier Mimosas zusammenstelle – eine davon alkoholfrei, also mit Orangensaft, da ich keinen alkoholfreien Sekt im Haus habe –, wird mir bewusst, dass ich nicht nur müde, sondern regelrecht erschöpft bin.
Ich bin eine Frau von dreiundfünfzig, die dreißig Jahre lang nonstop gearbeitet hat. Paul und ich haben schon darüber gesprochen. Es wird für uns beide Zeit, es langsamer anzugehen. Wenigstens ein bisschen.
Ich mixe die Drinks, dann probiere ich von meinem Glas. Ehe ich mich versehe, ist es nur noch zu einem Viertel voll. Na, dann eben. Ich gieße Orangensaft nach und gebe einen kräftigen Schuss Sekt dazu, dann nehme ich das Tablett und will nach draußen gehen. Auf halber Strecke zur Tür bleibe ich stehen. Joni hat die Bombe in Sachen Verlobung und Heirat eben erst im Garten platzen lassen, aber sie sind erst ein paar Minuten davor hier angekommen. Sie haben kurz das Haus betreten und ihr Gepäck abgestellt. Da steht es noch, mitten im Flur.
Jonis Koffer ist mir vertraut, da sie mit der ramponierten lila Tasche auf Rädern schon seit Jahren reist. Die dunkle Ledertasche muss demnach Michael gehören. Und der Reißverschluss ist ein Stück weit aufgezogen.
3. Kapitel
Nur ein flüchtiger Blick. Nur um festzustellen, ob sich obenauf irgendetwas Brauchbares befindet. Zum Beispiel eine Brieftasche.
Die kann ich nicht entdecken. Ich taste mich vor zwischen gefalteten Hemden und Hosen. Meine Hand stößt gegen etwas Hartes aus Plastik, vielleicht einen Deostift. Ich fasse nach etwas, das eine Kulturtasche sein könnte. Ich suche weiter und merke, wie mir der Schweiß ausbricht und ich mir wie eine Kriminelle vorkomme. Das hier ist nicht in Ordnung. Wenn ich hinter Michaels Identität – oder seine von mir vermutete Identität – kommen will, dann darf ich nicht heimlich sein Gepäck durchsuchen. Vielmehr muss ich mit ihm reden, von Angesicht zu Angesicht.
Ich nehme das Tablett hoch, das ich auf dem Boden abgestellt habe, und will gerade aufstehen.
„Kann ich behilflich sein?“
Die Stimme ist so nah, dass ich vor Schreck einen leisen Schrei ausstoße. Die Haustür steht offen, Michael befindet sich draußen vor der Fliegengittertür. Er öffnet sie, während ich mich mit dem Tablett aufrichte. „Tut mir leid“, sagt er. „Ich dachte, ich komme her und frage, ob ich Ihnen irgendwie helfen kann. Lassen Sie mich das ruhig tragen.“
„Vielen Dank. Das ist schon okay. Ich habe Sie bloß nicht kommen hören.“ Als ich ihm das Tablett gebe, lasse ich es um ein Haar fallen.
Jetzt komm schon. Lieber Himmel, Emily …
Nach einem flüchtigen Lächeln streiche ich ein paar Strähnen aus dem Gesicht und fahre mit den Fingern durch mein schulterlanges Haar.
„Ist alles in Ordnung?“ Michael sieht mich besorgt an.
„Mir geht es gut. Danke für Ihre Hilfe.“ Ich deute auf den Weg nach draußen, während ich die Tür für ihn aufdrücke.
Gemeinsam gehen wir über den mit Steinplatten ausgelegten Weg und wechseln auf die leicht abfallende Wiese. Auf halber Strecke zum Steg ragt ein Fahnenmast in den Himmel, die Flagge der Vereinigten Staaten bewegt sich leicht in der schwülen Brise, die über uns hinwegzieht. Wo die Rasenfläche endet, bilden drei Stege ein großes U. Das breite Bootshaus befindet sich auf der linken U-Seite. Darin befinden sich unser Segelboot und ein kleines Ruderboot mit einem Außenbordmotor.
Michael bewundert die Umgebung, während wir Seite an Seite gehen. „Hier ist es einfach wunderschön.“ Er trägt das Tablett wie ein Kellner, indem er es auf den Fingerspitzen balanciert und den Rand mit der anderen Hand festhält.
„Waren Sie schon mal in Lake Placid?“
„Nein, aber ich wollte schon immer mal herkommen.“
„Tatsächlich?“
„Ich habe viel darüber gelesen. Die Tuberkulose, die Heileinrichtungen. Joni ist heute Morgen ein wenig mit mir herumgefahren, um mir diese Häuser mit den großen Veranden und allem anderen zu zeigen.“ Er hält kurz inne. „Es ist irgendwie faszinierend, wenn ich mir vorstelle, wie all diese Städter hergekommen sind, um die frische Luft zu atmen. Wie sie gehofft haben, dass sie sie heilen wird. Oder ihnen zumindest helfen wird.“
Mir fehlt die Zeit, um etwas darauf zu erwidern oder um Fragen zu stellen, da wir fast schon am Bootssteg angekommen sind. Aber meine Gedanken bewegen sich in alle möglichen Richtungen. Lake Placid ist weit weg von dort, wo Joni inzwischen lebt. Wie früh am Morgen müssen sie abgefahren sein, wenn Joni noch Zeit genug hatte, um Michael etwas von der Gegend zu zeigen? Und wann hat meine Tochter jemals Interesse an der Geschichte von Lake Placid gezeigt und sich Wissen darüber angeeignet? Vor allem aber frage ich mich, wo sie diesen Mann kennengelernt hat und warum sie beide es so eilig haben zu heiraten?
„Ah, da kommen ja unsere Erfrischungen“, sagt Paul. Er hat es sich in einem der hölzernen Adirondack-Gartensessel bequem gemacht. Mein Ehemann sieht exakt so aus, wie man sich einen Architekten Mitte fünfzig aus Westchester County vorstellt, dem ein Haus an einem See in den Adirondacks gehört. Er trägt eine weiße Hose und ein marineblaues Poloshirt, die Beine hat er übereinandergeschlagen, und einer seiner Bootsschuhe hängt an seinem großen Zeh. Für mich sieht es so aus, als würde er sich ganz besonders lässig geben, so als würde er sich besonders große Mühe geben, um Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen.
Joni ist untypisch angezogen – jedenfalls für ihre Verhältnisse. Die Khaki-Shorts sind adrett, das Top ist eine Button-Down-Bluse. Die hübschen Sandalen lassen erkennen, dass sie ihre Zehennägel lavendelfarben lackiert hat. Sie will verantwortungsvoll erscheinen, nachdem sie diese völlig unerwartete Ankündigung gemacht hat, von der ich mich wie erschlagen fühle. Sie trägt ebenfalls ein bisschen dick auf.
Michael sucht nach einem Platz für das Tablett, aber es steht nirgends auch nur ein kleiner Tisch.
„Hier … so geht es.“ Ich reiche Paul und Joni je ein Glas, mein eigenes stelle ich auf die Armlehne meines Stuhls, sodass Michaels Glas mit dem roten Strohhalm als einziges auf dem Tablett zurückbleibt.
Paul hat die Stühle im Kreis angeordnet, da der Platz auf dem breiten Steg entlang des Ufers gerade eben dafür ausreicht. Als wir alle sitzen, sagt er: „Okay.“ Dann hält er seinen Drink vor sich. „Auf Joni und Michael.“ Er sieht zwischen den beiden hin und her, dann wandert sein Blick zu mir: „Möge ihr Glück von Dauer sein.“
„Cheers“, rufe ich, aber es kommt mir zu schnell und zu eifrig über die Lippen. Wir stoßen alle miteinander an, dann lehnt sich jeder nach hinten und trinkt einen Schluck.
Einen Moment lang sagt niemand ein Wort.
Michael sieht hinaus aufs Wasser. „Das ist ein wunderschöner See. So sauber und so dunkelblau, dass er fast schwarz wirkt. Wissen Sie, wie tief er ist?“
„Gut fünfundvierzig Meter.“ Paul zeigt auf einen Punkt in der Ferne. „Dahinten sind es etwas mehr als zwanzig Meter. Der See hat eine ordentliche Größe. Über achthundert Hektar. In der Mitte befinden sich auch noch drei Inseln. Sehen Sie die?“
Michael schirmt mit der Hand seine Augen vor der Sonne ab. „Ich hatte das für das gegenüberliegende Ufer gehalten.“
„Nein, das ist Buck Island.“
„Wow. Wunderschön.“
Während die beiden sich unterhalten, werfe ich Joni immer wieder heimliche Blicke zu. Sie verfolgt das Gespräch der Männer und scheint mich gar nicht wahrzunehmen. Aber ich weiß, das stimmt so nicht. Sie hat Angst. Joni war als kleines Mädchen immer ein schwieriges Kind gewesen, ein richtiger Hitzkopf. Und als Teenager … na ja, das hat jeder von uns durchgemacht. Sie hat diese Zeit unversehrt überstanden und ist zu einer starken Frau herangewachsen. Aber es gibt eine Sache, bei der sie Unsicherheit erkennen lässt – wenn es darum geht, dass ich ihre Entscheidungen gutheiße. Ich habe so etwas nie gewollt, aber es ist nun mal ihre Achillesferse.
Ich muss es behutsam angehen lassen. „Und? Gibt es weitere Überraschungen? Im wievielten Monat bist du?“
„Mom.“ Joni verzieht den Mund, kann ihr Lächeln aber nicht ganz überspielen.
„Ich mein's nicht ernst.“
Joni und Michael sehen sich lange an, dann atmet sie tief durch. „Wir wissen einfach beide, dass es das Richtige ist.“
„Na, bitte. Das ist doch gut.“
Sie redet weiter und geht nicht auf meine Bemerkung ein. „Ich weiß, es muss euch verrückt vorkommen. Es ist wie in einem Film. In einem von diesen kitschigen Filmen. Aber es kommt auch im wahren Leben vor. Wir sind beide auf derselben Frequenz.“ Sie nimmt hastig einen Schluck von ihrem Drink, vielleicht um sich ein wenig Mut anzutrinken. „Er kennt mich. Ich habe ihm … alles erzählt.“
Alles?
Ich betrachte Michael. Es fällt mir schwer, ihn nicht ständig anzustarren. Diese Nase, diese platten Augenbrauen. Die Art, wie ihm seine dunklen Haare ins Gesicht fallen, wenn er sich vorbeugt. Joni will noch etwas sagen, aber ich komme ihr zuvor. Ich kann einfach nicht anders.
„Was ist mit Ihnen, Michael?“
Er sieht zu mir. „Was soll mit mir sein, Ma'am?“
„Sagen Sie Emily zu mir.“
Joni antwortet für ihn: „Ich weiß auch alles über Michael.“
Michael stützt den Kopf auf seine Hand und mustert meine Tochter voller Bewunderung. Schließlich lehnt er sich zurück und schaut nachdenklich drein. „Meine Kindheit war nicht die Einfachste, aber wer kann so was schon von sich behaupten? Als ich Joni begegnete und wir uns immer besser kennenlernten, da erzählte sie mir von ihrer … rebellischen Ader …“ Er lächelt, Joni ebenfalls. Dann fährt er fort: „Ich war ihr gegenüber genauso offen und ehrlich. In meiner Vergangenheit hatte ich viel mit Verlust und Trauer zu tun. Es gab da einige ziemlich üble Ereignisse.“
„Tut mir leid, das zu hören.“ Ich sehe zu Paul, aber seine Aufmerksamkeit ist ganz auf Michael gerichtet. Ich will, dass Paul ihn fragt, was für Ereignisse das waren, aber er sagt nichts. Und ich frage ihn auch nicht.
Was zum Teil daran liegt, dass ich es vermutlich längst weiß.
4. Kapitel
Fünfzehn Jahre zuvor wurde in Bronxville, New York mitten in der Nacht ein Mann namens David Bishop mit einem Hammer erschlagen. In seiner eigenen Küche.
Als die Polizei am Tatort eintrat, fand sie eine aufgebrochene Hintertür vor. Der Alarm war ausgelöst worden. Und man stieß auf Davids aufgewühlte oder besser gesagt hysterische Ehefrau, deren Hände mit dem Blut ihres Mannes beschmiert waren.
„Wir hatten ein Geräusch gehört“, berichtete sie der Polizei. „David ging nach unten. Dann verging vielleicht eine Minute … ich weiß nicht genau. Auf einmal hörte ich Stimmen, und David rief etwas … und dann … dann war er …“ Sie konnte ihren Satz nicht zu Ende bringen.
Im Haus entdeckte die Polizei auch Davids Sohn, den acht Jahre alten Thomas Bishop. Als sie Tom befragten, erklärte er, dass Lärm ihn aufgeweckt hatte. Wütende Stimmen, sagte er. „Schlimme Kampfgeräusche.“ Und dann Schreie.
„Wer hat geschrien?“
„Meine Mom.“
Er war in der Küche auf sie gestoßen, wo sie auf dem Boden kniete und den Kopf seines Vaters in ihren Schoß gelegt hatte. Sie war blutverschmiert gewesen. Und sie hatte Thomas angebrüllt, den Notruf zu wählen. Was er dann auch tat.
Die Ermittlungen nahmen ihren Lauf. Man hörte sich wieder und wieder Thomas Bishops Notruf an. Man untersuchte die Hintertür, suchte draußen nach Spuren, die vom Angreifer stammen mussten. Man suchte im Haus nach Fingerabdrücken. Die Bishops hatten eine Alarmanlage, aber keine Kameras. Das Haus war fast so groß wie ein Herrenhaus, von weiten Rasenflächen umgeben und durch hohe Hecken abgeschirmt. Die Leute aus der wohlhabenden Nachbarschaft hatten bis zum Eintreffen von Rettungswagen und Polizei nichts Ungewöhnliches gehört oder gesehen.
Auch Laura Bishop hatte keine nützlichen Hinweise geben können, da sie den Angreifer nicht mal gesehen hatte. Die Stimme, die sie gehört hatte, war durch Türen und Wände hindurch so gedämpft worden, dass sie auf einen Mann zwischen dreißig und vierzig tippte. Aber es war ihr unmöglich, sich auf irgendetwas festzulegen.
Der Detective des Bronxville Police Department gab den Fall bald an das New York State Police Bureau of Criminal Investigation ab. Sechs Monate später hatten die Ermittlungen des BCI noch immer nichts ergeben. Der Druck auf die beiden Ermittler Rebecca Mooney und Stephen Starzyk nahm zu. Vom jungen Tom Bishop hatten sie einige widersprüchliche Aussagen erhalten, und seine Familie war in Sorge, dass die wiederholten Befragungen durch die Ermittler ihn nur noch mehr traumatisieren könnten. Also wandten sich die Ermittler an den Bezirksstaatsanwalt, der sich an einen Richter wandte, damit eine von Gerichts wegen veranlasste Beurteilung des Jungen erfolgen konnte.
Das war der Moment, als man mit mir Kontakt aufnahm. Normalerweise wäre für eine solche Aufgabe ein forensischer Kinderpsychologe zuständig, aber ich hatte schon zuvor als Klinikerin in beratender Funktion die Polizeiarbeit unterstützt. Offenbar stand mein Name auf irgendeiner Liste im BCI-Hauptquartier ganz weit oben. An den eigentlichen Anruf kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich weiß noch, wie mich Rebecca Mooney bei unserem ersten Treffen mit ihren stahlblauen Augen ansah, nachdem wir nicht mal eine Minute geredet hatten, und zu mir sagte: „Ich glaube, der Junge verschweigt uns etwas.“
„Okay …“
„Ich habe mir seine Aussagen wieder und wieder durchgelesen, und mir die Videos Dutzende Male angesehen. Was mich irritiert, kann ich nicht sagen. Ist er traumatisiert, und ist das die ganze Erklärung für mein Gefühl? Oder hat er vor irgendwas Angst? Hat er irgendetwas gesehen?“
Ich war unschlüssig. Sehr unschlüssig. Jeder Polizist und jeder Ermittler, mit dem ich im Lauf meiner Karriere zusammengearbeitet habe, war moralisch einwandfrei gewesen. Sie sind auch alle nur Menschen, manche netter als andere – halt so, wie Menschen nun mal sind. Aber sie können mit Verzweiflung reagieren, wenn sie unter Druck gesetzt werden und der Police Captain oder der Bezirksstaatsanwalt Resultate sehen will. Sie müssen auch eine Erfolgsquote erzielen, die sich danach bemisst, wie viele Fälle sie so umfassend aufgeklärt haben, dass der Schuldige hinter Gitter gebracht werden konnte.
Das Letzte, was ich wollte, war dazu beizutragen, dass ein kleiner Junge unter Druck gesetzt wird, bis er sagt, er habe etwas gesehen.
Was soll er denn gesehen haben? Wenn er den Angreifer gesehen hat, warum sollte er das verschweigen?
Nach einigem Hin und Her erklärte ich mich zu mindestens drei und höchstens fünf Sitzungen bereit. Wir würden uns nur unterhalten und vielleicht etwas Spieltherapie betreiben. Ich machte Mooney klar, dass mein Interesse dem Wohl des Kindes galt und dass ich für den Jungen aktiv wurde, nicht für den Staat. Nach meinen Sitzungen und möglichen ergänzenden Gesprächen – zum Beispiel mit Toms Lehrern, mit seiner vorrangigen Bezugsperson und mit Therapeuten, die sich zuvor mit ihm beschäftigt hatten – würde ich dann meinen Bericht abliefern.
„Keine Einwände von meiner Seite“, sagte Mooney. „Genau so soll es auch ablaufen. Es kann aber sein, dass wir zwischen den Sitzungen unabhängig von Ihnen mit dem Jungen reden müssen, falls wir irgendwelche neuen Beweise entdecken sollten.“
Es gefiel mir nicht, aber so lauteten die Bedingungen. Und eine Woche später begegnete ich Tom Bishop zum ersten Mal.
***
„Meine Eltern starben bei einem Verkehrsunfall“, sagt Michael Rand und holt mich damit in die Gegenwart zurück.
Er verstummt, während ich seine Worte zu erfassen versuche. Ein Verkehrsunfall?
Michael redet weiter. „Mein Vater … na ja, ähm … mein Vater war Alkoholiker, und bei dem Unfall war er betrunken. Deshalb …“ Michael sieht mich an und hebt sein Glas Mimosa hoch. Deshalb trinke ich keinen Alkohol.
Ein Verkehrsunfall, denke ich. Also kein Mord. „Tut mir leid“, erwidere ich. „Ich wusste nicht …“
Er zieht die Augenbrauen zusammen und schüttelt den Kopf. „Nein, bitte, das macht doch nichts. Sie waren doch nur gastfreundlich. Wir sind schließlich hier, um zu feiern.“
Ich betrachte den Gesichtsausdruck meines Mannes. Er wirkt nachdenklich. Ich liebe Paul, aber sein Verstand arbeitet völlig anders als meiner. Vielleicht erklärt das, wieso unsere Ehe trotz einiger rauer Zeiten auch nach dreißig Jahren immer noch so gut funktioniert. Nachdem Michael uns seine traumatische Vergangenheit enthüllt hat, will Paul von ihm wissen: „Und, Michael? Was machen Sie beruflich?“
Michael scheint froh zu sein, dass er das Thema wechseln kann. „Nun, im Moment gehe ich noch zur Schule. Ich bin ein Nachzügler. Aber von Beruf bin ich Zimmermann. Alles, was mit Holz und Bauen zu tun hat.“
Paul ist vor Begeisterung wie verzückt. Er rutscht an die Vorderkante seines Stuhls. „Ich bin Architekt, müssen Sie wissen. Und ich baue mein eigenes Boot.“
Michael lacht erfreut. „Ja, Joni sprach davon.“
„Ich habe von euch erzählt“, betont Joni und fasst völlig unerwartet meine Hand. „Ich habe euch richtiggehend angepriesen.“
Michael lächelt mich gütig an. Er weiß, ich bin Psychologin. O Gott, es ist so schwierig zu sagen, ob er etwas verschweigt oder ob ich mich bloß irre. Ein Verkehrsunfall? Und die äußerliche Ähnlichkeit ist einfach nur das: bloße Ähnlichkeit?
Aber da ist noch eine dritte Möglichkeit: Vielleicht ist aus dem kleinen Jungen, der so gut darin war, alle Probleme in seinem Kopf in Schubladen zu stecken, ein Mann geworden, der diese Fähigkeit sogar noch besser beherrscht. Zum Beispiel in dem Punkt, dass er sich für sich diese andere Vergangenheit erfunden hat, in der seine Eltern in einem Autowrack gestorben sind, was für ihn der Grund ist, keinen Alkohol zu trinken. Was sehr nützlich ist, da Alkohol dafür sorgt, dass die Hemmschwelle sinkt. Vielleicht war es ein unbewusster Schachzug, in jedem Fall aber ein raffinierter. Ohne Alkohol sinkt das Risiko, dass er versehentlich die Wahrheit enthüllt.
Um Himmels willen, du verlierst noch den Verstand. Er ist nicht Tom Bishop.
Vielleicht.
Zumindest für den Augenblick betrachte ich Michael Rand ohne Vorbehalte. Meine Tochter lächelt mich noch immer an, und ich glaube, sie ist einfach erleichtert darüber, dass ich bislang noch keine Anzeichen für ein Missfallen von meiner Seite habe erkennen lassen. Michael und Paul sind in eine Unterhaltung über die Baubranche vertieft.
Ich konzentriere mich auf meine Tochter. Immerhin habe ich sie seit sechs Monaten nicht mehr gesehen. Weihnachten war das letzte Mal. Ich sage ihr, dass mir ihre Frisur gefällt. Sie hat sich ein paar blonde Strähnchen machen lassen.
„Deine Frisur gefällt mir auch gut“, sagt sie. „Die Länge steht dir.“ Augenblicke später sind wir in ein Gespräch über dies und das vertieft, während Michael und Paul sich auf den Weg zum Bootshaus gemacht haben. Sie wollen mit dem Ruderboot den See erkunden.
Joni und ich sehen ihnen zu, wie sie ablegen, und wir winken ihnen hinterher, während der Außenbordmotor laut tuckert. Michael winkt zurück. Selbst aus der Ferne betrachtet, sieht er gut aus. Paul hat uns den Rücken zugewandt, da er das Boot von uns wegbewegt.
Joni und ich gehen zum Haus zurück. Bald ist es Mittag, und alle werden Hunger haben. Wir reden eine Weile über Jonis älteren Bruder Sean. „Er sollte morgen hier ankommen“, sage ich. „Aber du weißt ja, wie Sean ist.“
Sie verdreht die Augen. „O ja.“
Im Haus bemerkt sie das Gepäck, das im Flur steht. „Ich bringe das schon mal rauf ins Zimmer.“ Aber dann hält sie inne und zieht eine Augenbraue hoch. „Ist das okay für dich, wenn wir beide in einem Zimmer schlafen, auch wenn wir offiziell noch kein Paar sind?“
Ihr Tonfall hat etwas Verspieltes, doch ich kann ihre Anspannung heraushören.
Bevor ich auf ihre Frage antworten kann, bückt sich Joni, um nach den Griffen von Michaels offener Tasche zu fassen. „Ach“, sagt sie im nächsten Moment in einem liebevollen Tonfall. Nachdem sie in einer Seitentasche herumgekramt hat, zieht sie ein Notizbuch in einem Ledereinband heraus und zeigt es mir. „Er führt Tagebuch, Mom. Ist das nicht süß?“
Dann steckt sie das Buch wieder weg und zieht den Reißverschluss zu.
„Süß“, sage ich.
Mit seiner Tasche und ihrem Koffer geht sie in Richtung Treppe und sagt: „Was soll schon bei einem Mann verkehrt laufen, der Tagebuch führt?“
5. Kapitel
Anfangs war Tom schweigsam. Er ignorierte das Spielzeug in meinem Büro und betrachtete stattdessen seine Schuhe. Nike, daran erinnere ich mich genau. Blau mit goldenen Emblemen. Seine dunklen Haare reichten ihm bis in die Augen. Manchmal strich er sie zur Seite, um dann wieder auf seine Schuhe zu starren. Oder er sah aus dem Fenster zu den Gebäuden auf der anderen Straßenseite.
Ich erinnere mich an unsere dritte gemeinsame Sitzung. Bis dahin hatten wir uns über alles Mögliche unterhalten, nur nicht über das Verbrechen. Von allen Figuren aus X-Men mochte Tom Wolverine am liebsten. Pokémon Dash war sein liebstes Videospiel.
Mit Pokémon kannte ich mich nicht sehr gut aus. Mein Sohn Sean, der nur zwei Jahre älter ist als Tom, hatte sich nie sonderlich für Videospiele interessiert. Aber vielleicht war es der Gedanke an die Charaktere, dass ich an unsere beiden Katzen erinnert wurde. Toms Familie hatte auch Katzen gehabt.
„Tom? Wo sind eure Katzen jetzt?“
Er sah auf den Fußboden. „Bei meiner Tante Alice.“
„Sind es Kalikos?“
Er zuckte mit den Schultern.
Ich sagte: „Wir haben zwei Kalikos. Ihr Fell hat hübsche Muster, aber unser Kater hat nur zwei Farben: schwarz und weiß. Weißt du, welchen Namen wir ihm gegeben haben? Cow.“
Tom hob den Kopf. Als er lächelte, hatte ich ein Gefühl in meiner Brust, als würde sich mein Herz schlagartig ausdehnen. Gleichzeitig spürte ich ein Kribbeln im Nacken. Es lief nicht immer so ab, doch wenn man einen solchen Durchbruch erlebte, wenn man das Leuchten in den Augen seines Patienten zu sehen bekam, konnte das eine unglaubliche Erfahrung sein.
Dann wurde er wieder ernst. „Wie heißt die andere Katze?“
„Rosie, sie ist ein Mädchen.“
„Ist sie so rot wie eine Rose?“
„Nein, eigentlich nicht. Sie hat drei Farben.“
„Oh.“ Sein Blick wanderte wieder nach unten.
„Tom?“
„Mh?“
„Ich weiß, dass dir dein Vater fehlt.“
Es war das erste Mal, dass ich ihn erwähnte.
„Ja“, sagte Tom.
„Mein Vater ist auch gestorben. Das war vor langer Zeit, aber er fehlt mir immer noch. Als er starb, stürmten alle möglichen Gefühle auf mich ein. Ich war traurig, aber ich war auch wütend. Und weißt du was? Das ist ganz normal. Es ist normal, all diese Gefühle zu haben …“
Ich wartete eine Weile, dann stellte ich behutsam ein paar Fragen, durch die sich Tom an Details aus der fraglichen Nacht erinnerte. Da er aber nicht damit abschließen konnte, was seinem Vater zugestoßen war, senkte Tom abermals den Blick.
„Ich habe Angst“, sagte er.
„Warum?“
Er wollte es nicht sagen. Als ich sah, wie ihm eine einzelne Träne über die Wange lief, stand ich aus meinem Sessel auf und ging zu ihm. Ich legte eine Hand auf seine Schulter, die andere auf seinen Kopf. „Es tut mir leid, dass du Angst hast.“
Unter meinen Füßen nahm ich etwas wahr, das mir wie ein Zittern vorkam. Ich hörte das gedämpfte Geräusch einer Tür, die ins Schloss fiel. Im nächsten Moment klopfte es an der Tür zu meinem Sprechzimmer. Meine Assistentin Mena, die mich wirklich nur in absoluten Fällen während einer Sitzung störte, stand händeringend da. Hinter ihr konnte ich die beiden Ermittler Mooney und Starzyk sehen.
„Es tut mir wirklich leid“, flüsterte Mena.
Ich überlegte kurz, dann sagte ich zu Tom: „Was hältst du davon, wenn wir eine ganz kurze Pause machen, Tom? Musst du zur Toilette?“
Er schüttelte den Kopf.
„Möchtest du einen Snack?“
Er nickte.
Lächelnd sagte ich ihm, dass Mena ihm gleich etwas bringen würde. „Ich bin nur nebenan, gleich hinter dieser Tür da, okay?“
„Okay.“
Ich verließ das Sprechzimmer und wollte den beiden Ermittlern am liebsten den Marsch blasen. Man unterbricht nicht einfach so eine Sitzung. Ich hoffte für die beiden, dass sie einen guten Grund hatten.
Nachdem Mena ins Sprechzimmer gegangen und die Tür hinter sich zugemacht hatte, sah mich Mooney ernst an. „Wir müssen das Ganze ein wenig vorantreiben.“
„Vorantreiben?“
„Hören Sie, es tut mir leid. Aber die Dinge entwickeln sich.“
„Was soll das heißen?“ Ich war es gewöhnt, mit der Polizei und ähnlichen Behörden zusammenzuarbeiten. Daher wusste ich auch, wie unverzichtbar Diskretion war. Aber diese Äußerung machte mich nervös.
„Es soll heißen, dass wir uns an einem kritischen Punkt befinden“, sagte Mooney. „Ich habe mit jemandem gesprochen, der der Familie nahesteht. Es ist … wir sind auf das eine oder andere aufmerksam geworden.“
Starzyk stand an der Tür, die in den Flur führte, und beobachtete das Zimmer, so wie es Cops üblicherweise machten. Er trug einen grauen Anzug und eine Piloten-Sonnenbrille.
Das war eine vage Antwort. Sehr, sehr vage. Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich da drinnen einen massiv traumatisierten kleinen Jungen habe, der seinen toten Vater auf dem Küchenfußboden hat liegen sehen. Und darüber muss er von sich aus reden. Ich kann ihn nicht dazu zwingen.“
„Sie sagten drei Sitzungen.“
„Ich sagte mindestens drei Sitzungen, vielleicht auch fünf“, erwiderte ich leise, aber energisch. „Ich glaube, es gibt da etwas, das er mir sagen muss. Ich glaube, er hält es unter Verschluss. Dieser Junge hat eine erschreckende Begabung dafür, Dinge abzuschotten. Er ist hochintelligent, aber er ist auch extrem traumatisiert. Um die Erinnerung an diese Nacht hat er eine Mauer errichtet. Er hat seine Mutter und seinen Vater in der Küche gesehen. Er hat gesehen, wie seine Mutter den Kopf ihres toten Ehemanns an sich gedrückt hielt. Er erinnert sich nur an die Dinge, die ihm nicht wehtun.“
Mein Atem ging angestrengt, als ich gesagt hatte, was ich sagen musste.
Mooney, die einen halben Kopf kleiner war als ich, sah mich eindringlich an. „Das ist vielleicht nicht alles, was er gesehen hat.“
„Was?“
Ich sah zu Starzyk, der nicht länger das Zimmer beobachtete, sondern mich durch seine verspiegelten Brillengläser ansah.
„Die Mutter des Jungen plant, diesen Bundesstaat zu verlassen“, sagte er. „Sie wird umziehen. In weniger als einer Woche wird sie in ein Flugzeug steigen und davonfliegen. Und den Jungen plant sie mitzunehmen.“
Mooney machte einen Schritt auf mich zu. „Dr. Lindman, wir wissen, dass es nicht Ihr Job ist, in diesem Fall für uns zu ermitteln. Sie müssen nur Ihre Beurteilung vorlegen, und das muss so schnell wie möglich geschehen. Uns läuft die Zeit davon.“
Was sie sagten, klang für mich danach, dass es um mehr ging als um eine Beschreibung des mordenden Einbrechers. Meine Kehle war wie ausgedörrt. „Ich werde mein Bestes tun. Wenn er bereit ist, wird er mir sagen, was er gesehen hat. Aber erst, wenn er bereit ist.“