Kapitel 1
London, 1780
Das Stück war gut gewesen, aber ein eisiger Wind fuhr ihnen in die Knochen, als Rhys und Gwyn Tremayne das Royal Theatre verließen.
»Unsere Kutsche sollte sich links von uns befinden«, sagte Rhys. »Und je früher wir einsteigen und nach Hause fahren, desto besser! Sollen wir den Abend mit einem Brandy vor einem lodernden Feuer ausklingen lassen?«
»Das klingt sehr reizvoll«, erwiderte Gwyn und ergriff seinen Arm. Dann hielt sie inne, als sie ein starkes Gefühl erfasste. »Aber noch nicht. Lass uns zuerst ein wenig spazieren gehen.«
»Spürst du etwas, das entdeckt werden muss, Lady Tremayne?«, fragte Rhys sanft. Da seine Frau wohl den besten Spürsinn in ganz Großbritannien besaß, wusste er es besser, als ihr zu widersprechen. Er hob lediglich einen Arm und wies den Kutscher an, ihnen zu folgen.
»Etwas oder jemanden.« Gwyn zog ihren Umhang enger um sich, als sie sich zielsicher durch die Masse der wartenden Kutschen und Theaterbesucher zu schlängeln begann, die angeregt über das gerade gesehene Stück diskutierten.
Zwei Straßenecken von Covent Garden entfernt fanden sie sich in einem schmalen Sträßchen wieder. Auf halbem Weg hielt Gwyn inne und bog dann links in eine dunkle Gasse ab, die kaum vom unbeständigen Mondlicht beleuchtet wurde. Eine Mauer markierte das Ende der Sackgasse, wo sich ein Haufen Unrat vor schmutzigen Ziegeln angesammelt hatte. Ohne auf ihren teuren Umhang zu achten, kniete sie auf dem gefrorenen Boden nieder und sprach leise: »Du kannst jetzt herauskommen, mein Junge. Du bist in Sicherheit.«
Es gab ein raschelndes Geräusch, aber niemand erschien. »Wie klingen warmes Essen, ein Feuer und ein Bad?«, lockte sie mit ihrer überzeugendsten Stimme.
Die Stimme eines Kindes knurrte: »Will kein Bad!«
»Dann fangen wir mit dem Essen und dem Feuer an«, meinte sie versöhnlich. »Kommst du heraus? Wir werden dir nicht wehtun.«
Rhys stand schweigend hinter ihr, wusste, dass ein verängstigtes Kind einen ziemlich großen erwachsenen Mann mehr fürchten würde als eine Frau mit sanfter Stimme. Der Unrat bewegte sich und ein kleines, schmutziges Gesicht kam zum Vorschein. Ein Junge, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt.
Gwyn strich eine Locke aus hellem Haar zurück, zog dann den Ziegenlederhandschuh von ihrer rechten Hand und bot sie dem kleinen Jungen an. Zögernd nahm er sie. Als sie seine eiskalten Finger mit ihrer warmen Hand umfasste, weiteten sich seine Augen und er seufzte vor Erleichterung.
»Du weißt, dass ich ungefährlich bin, nicht wahr?«, fragte Gwyn.
Der Junge sah stirnrunzelnd zu Rhys. »Ihr vielleicht schon, bei ihm bin ich mir nicht sicher!«
»Ich bin auch ungefährlich«, erklärte Rhys mit seiner sanftesten Stimme. »Ich kann andere sehr gut beschützen.«
Unbeeindruckt kniff der Junge misstrauisch die Augen zusammen. Als Rhys ganz still stand, verkündete Gwyn beruhigend: »Ich bin Gwyn Tremayne. Wie ist dein Name?«
Der Junge zögerte, als wäre sein Name zu kostbar, um ihn zu teilen. Nach einem Moment sagte er: »Caden.«
»Caden. Das ist ein guter kornischer oder walisischer Name. Mein Mann und ich kommen aus Familien aus Cornwall.« Da sie wusste, dass es noch mehr zu finden gab, richtete sie ihren Blick wieder auf den Schutthaufen. »Dein Freund kann auch herauskommen.«
Caden schnappte nach Luft und zuckte vor ihr zurück. Einen Moment lang fürchtete sie, er würde versuchen, davonzulaufen, aber eine dünne, kindliche Stimme erklang aus den Trümmern. »Ist schon gut, Cade. Das sind die Leute, nach denen wir gesucht haben.«
Ein noch kleinerer Junge tauchte aus den Trümmern auf, seine zerlumpten Kleidungsstücke waren fast nicht vom Müll um ihn herum zu unterscheiden. Den Blick auf Gwyn gerichtet sagte er: »Ich bin Bran.«
»Wie Branok?« Wieder bot Gwyn ihre Hand an und Bran nahm sie, ohne zu zögern. Seine kleinen Finger fühlten sich an, als wären sie aus Eis gehauen. In der Dunkelheit fiel es schwer, die Jungen deutlich zu sehen. Obwohl beide dunkle Haare besaßen, ähnelten sie einander ansonsten kaum. Brans Augen waren hell, Cadens dunkel, aber die Farbe ließ sich im Schatten nicht erkennen. »Seid ihr Brüder?«
Die Jungs wechselten einen Blick. »Jetzt schon!«, stellte Caden grimmig fest, forderte jeden heraus, der es bestreiten könnte.
Beide sprachen mit weichem West-Country-Akzent, und sie fragte sich, wie ihre Geschichte lauten mochte. Wie waren sie nach London gekommen? Bran schien die Fähigkeit zu besitzen, die Natur eines Menschen zu erkennen und zu entscheiden, was getan werden muss. Caden besaß sicherlich auch eine besondere Gabe, vielleicht auf andere Weise.
Das über sie herauszufinden konnte warten. Was jetzt zählte, war, die Jungs aus dieser bösartigen Kälte herauszuholen. »Nun kommt mit uns und wir bringen euch zu uns nach Hause, wo ihr es warm habt und es etwas zu essen gibt.«
Bran erhob sich zitternd und fiel beinahe vor Schwäche und Kälte um. Gwyns Herz schmerzte bei dem Anblick und sie kündigte an: »Ich werde dich jetzt aufwärmen.« Sie beugte sich vor, hob Bran in ihre Arme und richtete sich dann auf. Das Kind wog fast nichts, und sein zerrissenes Hemd gab etwas auf seinem rechten Schulterblatt preis. Wenn sie raten müsste, hätte Gwyn gesagt, dass es wie die Tätowierung eines Drachen aussah.
Das war eine Frage für einen anderen Tag. Gwyn zog Bran in ihren Mantel und bedeckte ihn damit bis zu seinem Kopf. Sein dünner Körper schmiegte sich eisig an ihren. »Ist es so besser?«
Mit einem zuckersüßen Lächeln spähte er aus den Falten ihres Umhangs. »Viel besser, Ma’am.«
»Nein! Sie werden ihn nicht wegbringen!«, rief Caden aus und kam taumelnd auf die Füße.
»Keine Sorge, Caden, wir werden euch nicht trennen«, versprach Rhys, als er den größeren Jungen in seine Arme nahm und seinen eigenen Mantel um ihn legte, wie Gwyn es bei Bran getan hatte. Caden kämpfte noch etwas, aber die Wärme schien ihn zu erweichen.
Sie trugen die Kinder zurück auf die breitere Straße, wo die Kutsche wartete. Ihr Kutscher, Jones, warf ihnen einen bedeutungsschweren Blick zu, sagte jedoch nichts. Dies war nicht das erste Mal, dass er sah, wie sie Kinder retteten.
Rhys öffnete die Kutschentür. In dem Wissen, dass Caden nicht getragen werden wollte, setzte er den Jungen in das Gefährt. »Es gibt Reisedecken auf den Sitzen, um euch zu wärmen.« Das Kind kletterte hinein und es gab ein Rascheln von Stoff, als es eine Decke um sich zog.
Dann half Rhys Gwyn in die Kutsche. Sie hielt Bran weiter fest, während sie sich auf den nach vorn gerichteten Sitz setzte. Bevor er einstieg und die Tür schloss, wies Rhys den Fahrer an: »Jetzt nach Hause, Jones.«
Als die Kutsche westwärts über das Kopfsteinpflaster ratterte, fragte Gwyn: »Wie seid ihr Jungs hierher nach London gekommen?«
Die Stille erstreckte sich so lange, dass sie sich fragte, ob einer von ihnen antworten würde. Dann begann Caden vorsichtig: »Was bedeutet es, eine besondere Gabe zu besitzen? Mein Pa hat mich begabt genannt, bevor er mich aus dem Haus geworfen hat.«
Bei dem Gedanken, dass ein so kleiner Junge so bestialisch behandelt wurde, zog sich Gwyns Herz zusammen, aber seine Frage bestätigte, was sie bereits wusste. »Begabte Menschen sind in einigen Dingen einfach besser als die meisten anderen. Beispielsweise besser darin, Emotionen zu spüren. Besser, jemanden zu überzeugen oder vielleicht besser, verlorene Gegenstände zu finden. Vielleicht gut darin, festzustellen, ob jemand lügt oder die Wahrheit sagt. Kleine Gaben, aber oft nützlich.«
Bran fragte mit leiser, harter Stimme: »Warum hassen uns die Leute?«
Während Gwyn sich fragte, wie man Bigotterie erklären könne, erklärte Rhys mit seiner tiefen, beruhigenden Stimme: »Manchmal geschieht es aus Angst. Manchmal aus Neid. Manche Leute müssen einfach jeden hassen, der anders ist.«
Es war eine gute Erklärung.
Als sie Bran an sich drückte, sagte Gwyn leise: »Einige Leute hassen, aber es gibt auch solche, die dich genau so lieben, wie du bist.«
Kapitel 2
London, Frühjahr 1803
Das britische Innenministerium hatte vielfältige Aufgaben zum Schutz der Öffentlichkeit im Allgemeinen, aber auch zur Wahrung der Rechte des Einzelnen. Es befasste sich nicht nur mit allen Fragen von Recht und Ordnung, sondern betrieb zudem still und leise einen Geheimdienst, um mögliche Bedrohungen für das Land und dessen Bevölkerung zu untersuchen.
Bran Tremayne arbeitete für das Innenministerium, was zu seinen ungewöhnlicheren Talenten passte, und er nahm seine Verantwortung, alle Briten zu schützen, sehr ernst. Es handelte sich um eine unverzichtbare, ehrenwerte Arbeit. Der einzige Teil, den er nicht mochte, bestand im Schreiben von Berichten.
Der Bericht über ein von ihm aufgedecktes Problem hinsichtlich eines unehrlichen Magistrates in Berkshire und was er getan hatte, um es zu lösen, war zur Hälfte geschrieben, als ihn der Anflug einer Intuition mit dem Stift in der Luft innehalten ließ. Seine Instinkte manifestierten sich normalerweise in silbernen Funken und Fäden. Je intensiver das Silber, desto dringender die Situation.
Diesmal spürte er eine schwache silberne Linie zum Haus seiner Eltern. Er hatte geplant, in etwa einer Stunde zum Abendessen dorthin zu gehen, aber er begriff, dass er sich sofort auf den Weg machen sollte. Er spürte keine Gefahr, aber es war definitiv Zeit zu gehen.
Er erhob sich von seinem Schreibtisch, froh darüber, mit der Arbeit an dem Bericht aufzuhören. Nachdem er seinen Mantel und seinen Hut angezogen hatte, verließ er die Räume, die er sich mit Caden teilte. Sein Bruder Cade war unterwegs, ebenfalls im Auftrag des Innenministeriums, also befand sich Bran in der Stimmung für Gesellschaft.
Der späte Nachmittag war mild und die frische Luft belebend, während er die zehn Minuten zum Tremayne House ging. Er zog seinen Schlüssel heraus, um die Tür zu öffnen, als sie aufschwang und seine Mutter enthüllte, ihr schönes Gesicht einladend, ihr helles Haar kaum von Grau berührt.
Er lächelte. »In einer Familie, in der jeder eine Gabe besitzt, gibt es nicht viele Überraschungsbesucher, nicht einmal einen, der früh zum Dinner erscheint.«
»Manchmal gibt es Überraschungen, aber du gehörst nicht dazu.« Gwyn Tremayne zog ihn in eine warme Umarmung. Wann immer er ihre Arme um sich spürte, erinnerte sich Bran an diesen magischen Moment in einer bitterkalten Winternacht, als sie ihn umarmt hatte und seine Mutter geworden war.
Er erwiderte die Umarmung und schloss dann schnell die Tür, ehe eine der Hauskatzen in die Wildnis von Mayfair entkommen konnte. »Willst du damit andeuten, dass du einen echten Überraschungsbesucher hattest?«
»Ja, du hast ihn gerade verpasst.«
»Sollte es mir leidtun?«, fragte er, als sie ihre Hand auf seinen Arm legte und ihn in das kleine Wohnzimmer führte. Im hohen Spiegel am Ende des Korridors erhaschte er einen Blick auf sich selbst und spürte die übliche Überraschung beim Anblick des feinen jungen Gentlemans. Er vergaß nie seinen ersten Blick in den Spiegel, als er ein blasses, schmuddeliges Kind gewesen war, das sich in Gwyns Arme gekuschelt hatte. Die geräumigen Zimmer und die elegante Einrichtung des Hauses hatten ihn glauben lassen, er befinde sich in einem Palast. Es hatte nicht lange gedauert, bis er begriff, dass Tremayne House sogar noch besser als ein Palast war. Es war ein Zuhause.
»Ich vermute, du wirst unseren Besucher bald treffen.«
Gemeinsam betraten sie das Wohnzimmer. Groß und Respekt einflößend stand dort Rhys und schenkte Getränke für sie alle ein.
»Brandy?« Bran hob die Augenbrauen, als sein Vater ihm das Glas reichte. »Sind die Neuigkeiten so furchtbar?«
»Du könntest es so sehen.« Gwyn nahm einen Sherry von ihrem Mann an, und sie ließen sich nebeneinander auf dem Sofa nieder. Sie mochten es immer, sich in direkter Nähe voneinander aufzuhalten, um einander berühren zu können.
Bran setzte sich auf einen Stuhl gegenüber. »Also erzählt mir von diesem Besucher.«
»Mr Davey ist ein Anwalt aus Plymouth, der im Auftrag von Lord Penhaligon arbeitet«, antwortete Rhys. »Er sucht einen etwa dreißigjährigen Mann aus Cornwall – mit einer Drachen-Tätowierung auf seinem rechten Schulterblatt.«
Brans Hand zuckte und Brandy spritzte auf seine Finger. »Zum Teufel! Warum?«
»Der junge Mann, den er sucht, ist Branok Penhaligon, dritter und jüngster Sohn von Lord Penhaligon von Plymouth«, antwortete Gwyn. »Mr Davey sagte, dass der Junge frühe Anzeichen von besonderen Gaben gezeigt hatte, also wurde er in Pflege gegeben, um den Haushalt nicht zu stören.«
Bran war im Tremayne House für seine Ruhe und Kontrolle bekannt, aber Gwyns Worte ließen das Temperament mit ihm durchgehen. »Verdammt noch mal!« Er holte tief Luft und fügte dann entschuldigend hinzu: »Verzeiht meine Ausdrucksweise. Aber ich wurde nicht in Pflege gegeben. Ich wurde in die schlimmste Art von Pflegeheim geschickt, wo Menschen Kinder abladen, wenn es ihnen egal ist, ob sie leben oder sterben! Keine Wärme, kaum Nahrung, größere Kinder, die kleinere Kinder schlagen. Ich wäre gestorben, wenn Cade es nicht geschafft hätte, uns beide da herauszuholen. Warum sollten mich Leute, die mich wie Abfall behandelten, zurückhaben wollen?«
»Anscheinend sind die beiden älteren Söhne gestorben, und du bist jetzt der letzte, direkte männliche Erbe«, erklärte Rhys. »Lord Penhaligons Wunsch nach einem Erben seines Blutes muss stärker sein als seine Abneigung gegen diejenigen, die besonders begabt sind.«
»Er kann in der Hölle verrotten«, knurrte Bran mit zusammengebissenen Zähnen. Er hob seinen Brandy und kippte den Inhalt in einem brennenden Schluck hinunter. »Du hast diesem Anwalt nichts von mir erzählt, oder?«
»Natürlich nicht«, beruhigte Gwyn. »Er kam bei uns vorbei, weil wir dafür bekannt sind, speziell begabten Kindern in Not geholfen zu haben. Wir erklärten ihm, wir würden Nachforschungen anstellen.«
»Wir verstehen, wie wütend du dich fühlst«, sagte Rhys ernst. »Aber vielleicht solltest du darüber nachdenken, bevor du die Möglichkeit rundheraus ablehnst.«
»Du hast natürlich recht.« Bran holte tief Luft, schloss die Augen und sammelte sich, um einen klaren Gedanken hinsichtlich der Suche der Penhaligons nach ihrem verachteten und verstoßenen Sohn zu fassen. Ein Anwalt namens Davey …
Sobald er seine Wut losgelassen und über das, was er gerade erfahren hatte, nachdachte, spürte er eine pulsierende silberne Linie, die südwestlich nach Cornwall führte. Er atmete aus, öffnete die Augen und sagte: »Ich denke, ich muss mit Davey sprechen und wahrscheinlich auch nach Cornwall gehen. Ich habe das Gefühl, dass es in Cornwall etwas gibt, das weitere Nachforschungen erfordert.«
»Etwas Persönliches oder etwas, das mit deiner Arbeit zu tun hat?«, fragte Rhys.
Bran dachte einen Moment nach. »Beides. Ich nehme an, dass der erste Schritt darin besteht, mit diesem Mr Davey zu sprechen.«
»Der erste Schritt«, stellte Gwyn fest, »ist das Abendessen!«
Am nächsten Morgen schaute Bran, so früh wie es noch als gesellschaftlich akzeptabel gesehen werden konnte, in Daveys Hotel vorbei. Ein Angestellter bestätigte, dass Mr Davey sich in seinem Zimmer befinde, also kritzelte Bran: ›Ich glaube, ich bin der Mann, nach dem Ihr sucht‹, auf die Rückseite einer seiner Visitenkarte und bat darum, sie dem Anwalt zu bringen.
Dann zog er sich in einen privaten Salon zurück, um zu warten. Es handelte sich um einen schlichten Raum mit nur einem kleinen Tisch und mehreren Stühlen. Er dachte darüber nach, Tee zu bestellen, entschied sich aber dagegen. Dies war kein gesellschaftlicher Anlass.
Davey erschien in Rekordzeit im Salon, mit Brans Karte in einer Hand. Er war ein schlanker Mann mit durchdringendem Blick und etwa in Brans Alter. Sein Blick wanderte von der Karte zu dem Gesicht seines Besuchers. »Auf Eurer Karte steht, Euer Name sei Branok Tremayne. Besteht zwischen Euch und Lord und Lady Tremayne eine Verbindung?«
»Sie sind meine Eltern auf jede Art, die zählt.« Bran stand auf und deutete auf einen Stuhl. »Sie haben mir von Eurem Besuch erzählt, aber es mir überlassen, zu entscheiden, ob ich reagieren möchte.«
Davey setzte sich. »Ihr seht aus wie ein Penhaligon.«
»Was für ein deprimierender Gedanke.« Bran setzte sich wieder hin. »Ich bin nicht bereit, mein Hemd auszuziehen, um die Tätowierung zu bestätigen, aber vorausgesetzt, ich bin tatsächlich der Mann, den Ihr sucht, könnt Ihr erklären, warum ich ein Penhaligon-Erbe beanspruchen sollte?«
»Die Besitztümer und das Vermögen sind beträchtlich, und natürlich ist da noch der Titel«, antwortete Davey.
»Ich habe mich noch nie nach einem Titel gesehnt und meine Finanzen befinden sich in einem komfortablen Zustand, also sind das keine besonders überzeugenden Gründe«, sagte Bran. »Warum sollte ich mir die Mühe machen, mich zu melden?«
»Neugier?«, schlug Davey mit Belustigung in den Augen vor.
Bran hätte fast gelacht. Er könnte lernen, Davey zu mögen. »Ich bin ein wenig neugierig, aber welche Art von Familie verurteilt unerwünschte Kinder zum Verhungern und einem frühen Tod?« Er schaffte es nicht, die Bitterkeit in seiner Stimme zu verbergen.
»Eine törichte Familie«, entgegnete Davey überraschend. »Alle Kinder stellen ein Geschenk dar, aber Lord Penhaligon ist …«, er zögerte und fuhr dann fort, »… sehr altmodisch.«
»Ist das die höfliche Bezeichnung für einen dickköpfigen Tyrannen‹?«, wollte Bran wissen.
»Der juristische Anstand verbietet es mir, das zu beantworten.«
Er könnte Davey auf jeden Fall mögen. »Erzählt mir von der Familie. Teilen sie alle Lord Penhaligons Vorurteile? Wie ist der Rest der Familie? Wie starben die älteren Söhne?« Die Worte trafen Bran mit unerwarteter Kraft. Er hatte zwei ältere Brüder gehabt, Blutsverwandte, jetzt tot, die er nicht mehr kennenlernen konnte. Ein seltsames Gefühl.
Der Anwalt runzelte die Stirn. »Der älteste Sohn, Arthur, war ziemlich wild. Während er in London lebte, lieferte er sich ein Duell und erlag seinen Verletzungen. Der zweite Sohn, George, liebte das Segeln. Er ertrank vor zwei Monaten in einem Sturm auf See. Es gibt eine Tochter, Glynis, das jüngste Kind, aber natürlich kann sie nicht erben. Lady Penhaligon ist sehr zurückhaltend, aber bei denen, die sie kennen, beliebt.«
Bran vermutete, dass Lord Penhaligon - sein Vater, Gott helfe ihm! - ein Tyrann war und die Frauen der Familie von ihm unterdrückt wurden. Er verachtete den Mann wahrscheinlich, wenn und falls sie sich trafen.
Merkwürdig. Er hatte immer das Gefühl, dass seine Tremayne-Familie alles war, was ein Mann sich wünschen oder brauchen konnte, dennoch verspürte er Neugier auf diese Blutsverwandten. Darüber hinaus gab es dieses nagende Gefühl von Problemen in Cornwall, dem er nachgehen sollte. »Wurde Euch befohlen, den Penhaligon-Erben zu finden und ihn nach Plymouth zu schleppen?«
»Im Grunde genommen ja. Lord Penhaligon möchte, dass ich seinen vermissten Sohn aufspüre und ihn sofort zum Penhaligon Castle eskortiere«, erklärte Davey. »Er war sich sicher, dass Branok überrascht sowie dankbar reagieren und gerne in die Burg ziehen würde, um zu lernen, wie man das Anwesen führt. Im Idealfall wäre Branok unverheiratet und bereit, eine Braut zu nehmen, die für seine Lordschaft akzeptabel scheint.«
»Ist Penhaligon naiv genug, zu glauben, dass das passiert?«, erkundigte sich Bran ungläubig.
»Er ist nicht naiv, aber er ist es gewohnt, dass man ihm gehorcht.«
»Ich hoffe, er kommt gut mit Enttäuschungen zurecht«, bemerkte Bran trocken. »Wer wäre Erbe, wenn es Euch nicht gelingt, den vermissten Branok zu finden?«
Davey zögerte, bevor er antwortete. »Lord Penhaligon hatte einen Cousin zweiten Grades, den er verachtete. Ich hörte, dass der Cousin einen Sohn besitzt, der der nächstgelegene Erbe wäre, aber offensichtlich zöge seine Lordschaft es vor, wenn sein eigener Sohn erbte.«
»Selbst einer, der über eine besondere Gabe verfügt?«
»Ich glaube, er würde Euch als das kleinere von zwei Übeln betrachten«, erklärte Davey mild.
Bran mochte definitiv den Sinn für Humor dieses Mannes. »Also ist er verzweifelt.«
Davey drückte es nüchterner aus: »Es steht nicht gut um Lord Penhaligons Gesundheit. Er hofft, den Sohn zu finden, den er immer wollte, und nicht die Söhne, die er tatsächlich hatte.«
»Es hätte ihm vielleicht besser ergehen können, wenn er seine Kinder besser behandelt hätte«, bemerkte Bran. »Aus reiner Neugier bin ich bereit, die Penhaligons zu besuchen, und mir meine eigene Meinung über sie zu bilden. Ich werde nicht lange bleiben und nicht unter dem elterlichen Dach wohnen. Gibt es ein anständiges Gasthaus in der Nähe?«
Davey dachte einen Moment nach. »Lord Penhaligon wird nicht erfreut sein, wenn Ihr Euch weigert, in der Burg zu bleiben, aber das ist ein Problem, mit dem Ihr euch befassen müsst. Es gibt keine Gasthöfe in der Nähe, die diesen Namen verdienen, aber zur Burg gehört ein Witwenhaus. Es handelt sich um ein hübsches Anwesen, günstig gelegen, ohne zu nah zu sein. Es könnte zu Euch passen, aber Lord Penhaligon wird sein Bestes tun, um Euch von seinem Willen zu überzeugen.«
»Das bezweifle ich nicht«, stimmte Bran zu. »Aber er kann brüllen, was er will, und ich werde meine Meinung nicht ändern, da er nichts hat, was ich begehre.«
»Das wird sich als großer Vorteil erweisen.« Der Anwalt legte den Kopf schief. »Wenn Ihr wirklich Branok Penhaligon seid und Euch entschieden habt, nach Plymouth zu kommen, muss ich mir die Drachentätowierung ansehen.«
Bran hatte gewusst, dass das unvermeidlich war. Er zögerte eine Weile. Falls er sich weigerte, die Tätowierung zu zeigen, könnte er leugnen, Branok Penhaligon zu sein und all die Komplikationen hinter sich lassen, die sich aus seinem Geburtsrecht ergäben.
Aber er begriff, dass er das tun musste, egal, was es kostete. Er stand auf und zog Mantel, Krawatte sowie Hemd aus, dann wandte er Davey den Rücken zu. Er hörte, wie der Anwalt näherkam, um die Tätowierung genauer zu betrachten. Halb ausgezogen vor einem Fremden zu stehen, war nicht angenehm. Glücklicherweise berührte ihn der andere Mann nicht.
»Das Bild ist verblasst und verzerrt, weil es gemacht wurde, als Ihr noch ein Säugling wart, aber es scheint sich um den Penhaligon-Drachen zu handeln«, kommentierte Davey leise. »Ich glaube, dass Ihr in der Tat der ehrenwerte Branok Penhaligon seid.«
»Ich werde niemals der gehorsame Sohn sein, den Lord Penhaligon will.« Bran zog sein Hemd und seinen Mantel an und richtete sich wieder her. »Aber ich nehme an, ich muss nach Cornwall gehen und mich mit der Familie treffen.«
»Das wird interessant«, kommentierte Davey. »Ihr scheint so stur wie euer Vater.«
Bran verabscheute die Vorstellung, dass er etwas mit Penhaligon gemeinsam hatte. »Mein Vater ist Rhys Tremayne, der feinste Gentleman in England. Ich wette, dass Euer schlecht gelaunter Arbeitgeber euch innerhalb von zwei Wochen nach meinem Treffen auffordern wird, Papiere zu erstellen, die mich offiziell enterben.«
»Er mag es wollen, aber rechtlich seid Ihr sein Erbe und der nächste Lord Penhaligon.« Da spiegelte sich Belustigung in Davys Gesicht. »Werdet Ihr mit mir nach Cornwall reisen, wenn ich übermorgen abfahre?«
Bran dachte darüber nach und schüttelte dann den Kopf. Er hatte Arbeit, die erledigt werden musste, und außerdem wollte er nicht zu begierig erscheinen. »Ich kann heute in einer Woche abreisen. Muss ich die Burg mit Euch besuchen, damit Ihr beweisen könnt, dass Ihr mich erfolgreich gefunden habt?«
»Das wäre das Beste. Ich verfüge über ein Büro in Plymouth. Wenn Ihr mich dort trefft, können wir gemeinsam zur Burg gehen.« Er gab Bran eine Karte mit seiner Büroadresse und sie einigten sich auf eine Uhrzeit und ein Datum.
Bran nahm die Karte an und fragte sich, worauf er sich einließ.
Am Abend vor der Abreise nach Cornwall beendete Bran das Packen und setzte sich, um Cade eine Notiz zu schreiben. Da öffnete sich die Tür und sein Bruder kam höchstpersönlich herein, groß, breit und rundherum kompetent, selbst verdreckt von der Reise. Bran blickte erfreut auf. »Cade! Ich habe dich erst nächste Woche zu Hause erwartet.«
»Mich überkam das Gefühl, dass du dich in Schwierigkeiten bringst, also dachte ich, ich sollte besser zurückkehren und dir helfen«, erklärte sein Bruder, als er seinen Mantel über einen Stuhl warf. »Was ist los?«
»Keine richtigen Schwierigkeiten.« Bran erhob sich von seinem Schreibtisch und schenkte ihnen beiden je ein Glas Rotwein ein. »Es hat sich herausgestellt, dass ich der dritte und einzige überlebende Sohn eines Lord Penhaligon von Plymouth bin. Das Tattoo auf meinem rechten Schulterblatt war das Zeichen, das in meine Haut als Säugling gestochen wurde, für den Fall, dass er mich jemals identifizieren müsste.«
Cade fluchte und trank den größten Teil seines Rotweins, bevor er sich auf einem Stuhl gegenüber von Bran niederließ. »Erzähl mir alles.«
Sobald Bran seinen Bericht beendet hatte, fragte Cade: »Warum machst du da mit? Du hättest nur dein Tattoo bedeckt halten müssen.«
»Ich habe darüber nachgedacht, die Verbindung zu leugnen«, gab Bran zu. »Aber ich glaube, dass ich das tun muss. Du weißt, dass ich das nagende Gefühl hatte, dass im Südwesten etwas vor sich geht, das untersucht werden muss.«
»Das hast du erwähnt.« Cade runzelte die Stirn. »Ich denke, es wird Konsequenzen haben, die du dir nicht einmal vorstellen kannst.«
»Sollte ich alarmiert oder aufgeregt sein?«
Cade zögerte, sein Blick wurde unscharf, als er darüber nachdachte. »Beides.«
Bran nippte an seinem Rotwein und wünschte, Cade wäre nicht so gut darin, Probleme zu erspüren.
Kapitel 3
Seit einer Ewigkeit trieb sie in der Dunkelheit. Hin und wieder wurde sie näher ans Licht gezogen. Ihr wurde Essen gegeben, man zwang sie, aus ihrem Bett aufzustehen und sich zu bewegen, bevor sie in das geistlose Meer der Dunkelheit zurückfallen durfte. Sie nannten sie Mädchen.
Hände zogen sie hoch, führten sie zu einem Stuhl, gaben ihr zu essen. Bohnensuppe.
Während sie die Suppe aus einer Tasse nippte, hörte sie Stimmen um sich herum. Die harte Stimme desjenigen, den sie die Krähe nannte, sagte: »Bist du sicher, dass du sie weit genug herausziehen kannst, um zu tun, was getan werden muss, wenn die Zeit gekommen ist? Es dauert nicht mehr lange.«
Die andere Stimme gehörte zu den Händen, die sie zum Essen und Gehen zogen. Eine höhere Stimme, eine Frau, der Star. »Sie wird es schaffen. Ihre Gabe ist mächtig und bei all der Ruhe, die sie bekommt, wird sie nur noch stärker. Sag mir einfach zwei oder drei Tage, bevor sie gebraucht wird, Bescheid, damit ich sie richtig aufwecken kann.«
»Isst sie genug? Sie ist sehr dünn.«
»Dünn, aber stark«, verkündete der Star. »Ich gehe jeden Tag mit ihr spazieren, um sie gesund zu halten.«
Die Worte stellten nur bedeutungslose Laute dar. Die Krähe ging. Mädchen beendete ihre Suppenmahlzeit und wartete träge auf das, was als Nächstes kam.
»Zeit für deinen Spaziergang«, verkündete Star und zog Mädchen auf die Füße. »Fast dunkel und ein bisschen kühl, also brauchst du diesen Schal.«
Star wickelte das Stück kratziger Wolle um Mädchens Schultern und führte sie nach draußen, wobei sie den linken Arm des Mädchens in festem Griff hielt. Frische Luft, ein Hauch von Meer, herannahende Nacht.
Star führte sie auf einem vertrauten Weg durch den Wald. Die Nacht wurde schnell dunkel und es begann zu regnen. Star blieb stehen und versuchte, Mädchen umzudrehen. »Zeit, zurückzukehren.«
Mädchen widersetzte sich. Etwas hatte sich verändert. Sie spürte … einen Funken in der Nacht. Etwas, jemand, der an ihr zerrte und etwas von der Dunkelheit lüftete. Sie erkannte, dass die Leere, die sie umgab, nicht richtig war, dass es einmal mehr gegeben hatte. Sie hatte einen anderen Namen besessen …
Star stieß ein wütendes Wort aus, das Mädchen nicht erkannte, und drückte dann eine Hand auf die Stirn des Mädchens. Dunkelheit strömte aus der Handfläche des Stars. »Tu, was ich sage, Mädchen! Es ist Zeit, zurückzugehen, bevor der Regen schlimmer wird.«
Leere legte sich wieder auf sie, aber nicht ganz so stark wie zuvor. Als sie fügsam durch den Regen in die Hütte zurückkehrte, hielt sie an dem Wissen fest, dass es etwas jenseits der Dunkelheit gab.