Kapitel 1
Vincent Mary liebte es, sein Publikum zu verblüffen. Wenn Führungen durch sein Weingut Domaine de Charente auf dem Tagesprogramm standen, kleidete sich der Zweiundfünfzigjährige mit Absicht wie ein einfacher Knecht. Sein grobschlächtiges Aussehen tat ein Übriges, um die Besucher davon zu überzeugen, dass sie es mit einem eher niedrig gestellten Mitarbeiter zu tun hatten: kräftige Figur, rundes rotes Gesicht mit einer Landschaft aus schwarzen und weißen Bartstoppeln, umrahmt von einem zerwühlten Haarschopf mit grauen Strähnen.
Der Ort seiner Überraschung war sorgfältig ausgewählt. Wenn er mit der Gruppe den mit feinem Kies ausgelegten Platz vor der Fassade des Schlösschens überquerte, blieb er ungefähr in der Mitte stehen und sagte wie nebenbei: „Ich bin übrigens der Eigentümer. Meiner Familie gehört dieses Anwesen seit zweihundert Jahren. Hier lang, die Herrschaften …“
Mit Genugtuung registrierte Vincent auch an jenem Tag im November, wie die etwa fünfzehn Gäste erstaunte Blicke austauschten. Es war ein Samstag, später Vormittag, der einzige wöchentliche Termin, den die Domaine de Charente zu jener Jahreszeit für das allgemeine Publikum anbot. Sein Blick blieb an einem jungen Mann hängen, der keine Reaktion zeigte. Er war schlank, hatte hellbraune Haare und ein glatt rasiertes, fein geschnittenes Gesicht. Etwas an seiner Art sagte dem Schlossherrn, dass der Besucher kein Franzose war. Schon zu Beginn der Führung im Verkostungsraum hatte Vincent gefragt, ob jemand in der Gruppe kein Französisch verstünde, eine Frage, die er in Englisch mit schwerem Akzent noch einmal wiederholt hatte. Niemand hatte sich gemeldet. Als die Verblüffung über den vermeintlichen „Knecht“ abgeklungen war, fragte Vincent: „Seid Ihr alle Franzosen, oder haben wir heute auch ausländische Gäste bei uns?“
Aus dem Augenwinkel beobachtete er den jungen Mann, und tatsächlich hob der nach einem Moment des Zögerns die Hand.
„Ah! Woher, Monsieur?“
„Allemagne“, antwortete der junge Mann.
„Sehr gut“, erwiderte Vincent. Er überspielte den Stich im Magen, den ihm diese Antwort jedes Mal bescherte. „Ein lieber Nachbar aus Deutschland. Seien Sie willkommen. Sie verstehen mein Französisch?“
„Ja, Monsieur.“
„Ich werde versuchen, deutlich zu sprechen, damit Sie alles mitbekommen. Speziell später im Garten. Die Geschichte des Schlosses ist gerade für Deutsche sehr interessant.“
Ihm war, als sei der Gast bei diesen Worten erbleicht, aber das konnte auch ein optischer Effekt sein, denn genau in diesem Augenblick gab eine Wolke die Sonne frei und tauchte das Anwesen und seine Umgebung in ein strahlendes Herbstlicht.
Die Domaine de Charente war bei Weitem nicht das größte, aber eines der schönsten Weingüter des Loire-Tals. Etwa zwei Kilometer außerhalb des Tausend-Seelen-Dorfes Limeray fuhr man zuerst durch einen Wald und gelangte dann auf jenen kiesbelegten Platz, um den sich die wichtigsten Gebäude gruppierten: ein Schlösschen im Renaissance-Stil, der Stall, die alte Kutschengarage, das Wirtschaftsgebäude und etwas zurückversetzt, hinter einer Baumgruppe, das ehemalige Wohnhaus der Knechte. Hinter dem Schloss erstreckte sich ein Ziergarten, der nach Vorbild der herrlichen Gartenanlagen der bekannten Loire-Schlösser angelegt, aber deutlich kleiner war. Zu beiden Seiten dehnten sich die Weingärten aus.
In einem dieser Gärten war Simone Mary damit beschäftigt, die Rebstöcke vor dem kommenden Frost zu schützen, indem sie rund um jede Pflanze Erde anhäufelte. Simone, siebenundzwanzig Jahre alt, halblanges Haar, sportliche Figur und an Arbeitstagen ähnlich salopp gekleidet wie ihr Vater, blickte auf und erkannte aus der Ferne eine Menschengruppe in der erhöht angelegten Laube am Rand des Ziergartens. Sie wusste, dass Vincent den Besuchern gerade die von dort sichtbaren Weinfelder der Domaine zeigte, und sie konnte Wort für Wort rezitieren, was er den Leuten erzählte: „Neunzig Prozent der Arbeit, die zu einem Qualitätswein führt, findet im Weinfeld statt! Wenn Ihnen jemand erklärt, dass er aufgrund seiner Kelterkünste im Weinkeller einen Spitzenwein herbeizaubert, den es im Weinfeld noch nicht gegeben hat, haben Sie es mit einem Scharlatan zu tun.“ Sein Zeigerfinger stach in die Luft. „Oder noch gefährlicher: mit einem Panscher!“
Vincent neigte zu Übertreibungen. Er liebte es, Gäste und Kunden mit seinen Bemerkung zu überrumpeln oder – wenn er schlechter Laune war – auch mal mit einem doppelbödigen Scherz zu verstören. Das brauchte er wie die Luft zum Atmen.
Simone hatte vier Stunden durchgearbeitet, ihr Rücken schmerzte, und sie hielt die Zeit für gekommen, ein Weilchen auszuruhen. Oft nutzte sie diese Pause, um ihren Vater beim heikelsten Teil der Führung zu begleiten: Im Ziergarten standen die Ruinen des ehemaligen Verwalterhauses, zerstört während der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg. Wenn ein Deutscher in der Gruppe war, musste er sich an diesem Punkt der Führung auf harte Momente gefasst machen.
Simone beschleunigte ihre Schritte. Ihr Vater war heute ausgesprochen schlechter Laune, weil am Vorabend „sein“ Fußballclub Tours FC wieder einmal verloren hatte und bereits jetzt, lange vor dem Ende der Saison, der Abstieg aus der Zweiten Division denkbar wurde. Rasch gelangte sie zur Ruine des Verwalterhauses, und tatsächlich war dort bereits die Gruppe versammelt. Simone spürte sofort, dass die nicht eben wohlwollende Aufmerksamkeit der Besucher auf einen jungen Mann gerichtet war, der mit ernster Miene am Rand stand und kein Wort sagte. Simone hört noch, wie jemand bemerkte: „Na ja, ist alles lange her.“
Worauf Vincent mit knarrender Stimme erwiderte: „Natürlich ist das lange her. Auch der Bau dieses Schlosses ist lange her, und die Erfindung der Winzerkunst ist noch länger her, und trotzdem erzähle ich darüber, weil es Teil unserer Geschichte ist.“ Er wandte sich an den jungen Mann: „Ich wollte Sie keinesfalls in Verlegenheit bringen, aber ich werde diese Episode auch nicht auslassen, nur weil ein Deutscher in der Gruppe ist. Das werden Sie wohl verstehen, nicht wahr?“
Der junge Mann schien zwar betroffen, doch auch entschlossen, die Situation mit Würde durchzustehen. „Naturellement, Monsieur.“
Eine ältere Frau klopfte ihm auf die Schulter, aber es wirkte eher spöttisch.
„Nun denn, weiter im Text: Nachdem unsere ‚deutschen Freunde‘ das Haus des Verwalters vernichtet hatten, bereiteten sie ihre Abreise vor. Zurück an die Ostfront, wo sie hoffentlich eine nette Zeit hatten.“ Lachen in der Gruppe, während der deutsche Besucher mit versteinerter Miene zuhörte. „Der Kommandant dieser Soldaten, nun ja, eigentlich waren es Polizisten … Sie wissen schon, diese Leute, die in Russland für Ordnung gesorgt haben. Nicht an Straßenkreuzungen oder als Schülerlotsen, sondern mit Erschießungen von Zivilisten, Verzeihung, mein Herr, ich erzähle hier nur die Geschichte, wie sie sich abgespielt hat … jedenfalls: Der Kommandant organisierte eigens einen Lastwagen. Den brauchte er, denn die eigenen Fahrzeuge waren schon voll beladen, hauptsächlich mit Möbeln und Kunstwerken aus dem Schloss. Den zusätzlichen Lastwagen organisierte er von einem Händler in Amboise.“ Das Wort „organisierte“ sprach Vincent mit ironischem Singsang aus und malte dazu Anführungszeichen in die Luft. „Dem Eigentümer wurde sogar eine Quittung ausgestellt, aber er hat den Lkw natürlich nie wiedergesehen. Dann ließ der Kommandant die gesamten Weinvorräte, die seine Männer bis dahin nicht ausgesoffen oder an ihre Familien geschickt hatten, auf den besagten Lkw laden.“ Vincent hob den Zeigefinger. „Ich sage immer: Gott sei Dank waren das Polizisten, die für Recht und Ordnung sorgten. Man stelle sich vor, es wären Soldaten oder gar Leute von der SS gewesen!“
Unterdrücktes Gelächter bei den Umstehenden. Einigen wurde die Tirade wegen der Anwesenheit eines Deutschen allmählich unangenehm. Ein Franzose mittleren Alters sagte immer wieder: „Lange her, Monsieur, lange her.“
„Was sagen Sie dazu, junger Freund?“, ging Vincent den Deutschen direkt an. „Lange her? Nicht darüber reden?“
Der Angesprochene schluckte, hielt aber dem Blick des Hausherrn stand. Leise sagte er: „Sie haben alles Recht der Welt, diese Geschichte zu erzählen.“
Vincent nickte zufrieden. Er hatte den Besucher gegen die Wand gestellt und machte sich bereit für den Gnadenschuss. „Das ist noch nicht alles …“
In diesem Augenblick schritt Simone ein: „Ich kann mir vorstellen, dass Sie mittlerweile alle neugierig auf unsere Weine sind. Folgen Sie mir bitte in den Verkostungsraum!“ Wegen der verwirrten Blicke der Besucher fügte sie rasch hinzu: „Ich bin Simone Mary, die Tochter des Hauses. Mein Vater hat eine Menge Geschichten auf Lager. Manchmal muss ich ihn bremsen, sonst haben Sie nachher keine Zeit mehr fürs Verkosten.“
„Oh, là, là“, brummte Vincent. „Jetzt hast du mir aber schön die Luft rausgelassen. Was sollen die Leute denken? Dass du hier die Hosen anhast?“
Simone zeigte ihr charmantestes Lächeln. „Auf die Idee könnte nun wirklich niemand kommen. Aber sieh mal auf die Uhr, Papa! Wir müssen noch mit André über die neuen Etiketten sprechen, er wird in zwanzig Minuten hier sein und wartet nur ungern.“
Vincent starrte sie an und machte eine Was-soll-das-Geste. Er wusste genauso gut wie sie, dass der Termin pure Erfindung war. Mit dem Grafiker hatten sie erst kommende Woche eine Verabredung. Simone antwortete mit einer Was-soll-ich-denn-tun-Grimasse.
Als die Besucher im Verkostungsraum an den Gläsern nippten und zwischendurch Salzkekse mit Käsestückchen zu sich nahmen, raunte Simone ihrem Vater zu: „Gratuliere, du hast es wieder geschafft, einen Kunden zu vergrämen. Der kauft in seinem Leben keinen Wein von der Domaine de Charente.“
Vincent winkte ab. „Mir doch egal.“
„Und was kann der junge Kerl dafür, dass sich hier vor vielen Jahrzehnten ein paar Leute aus seinem Land danebenbenommen haben? Du warst unhöflich. Würdest du in Vietnam oder Algerien bei einer Führung gerne hören, wie sich die Franzosen dort aufgeführt haben?“
„Mein Schatz, du redest mal wieder hektoliterweise Unsinn“, polterte Vincent. „Glaubst du wirklich, die Reiseführer in Vietnam oder Algerien halten damit hinter dem Berg? Und wenn sie es tun, dann nur, weil sie um ihr Trinkgeld fürchten. Das ist kein edles Motiv. Ich bin wenigstens authentisch. Voilà!“
„Wirst du wenigstens ein wenig mit dem Deutschen plaudern, damit er nicht meint, du hättest etwas gegen ihn persönlich?“
Vincent machte große Augen. „Ma chère, wenn er das glaubt, ist ihm wirklich nicht zu helfen!“
Simone warf die Arme in die Luft und stieß einen Laut der Frustration aus. Alter Dickkopf, dachte sie und wandte sich einem Ehepaar zu, das Auskünfte über den weißen Dessertwein erbat, der seit jener Zeit unter dem Namen „Larmes de Limeray“ angeboten wurde, „Tränen aus Limeray“ – auch das in Erinnerung an „damals“.
Dabei beobachtete sie verstohlen den Deutschen. Er nippte ohne Begeisterung an einigen Gläsern, verzehrte gedankenverloren ein paar Kekse und ging dann Richtung Ausgang, wo ein Tisch mit dem Gästebuch wartete. Eine Weile verharrte er davor, offenbar unschlüssig, dann ergriff er einen Kugelschreiber und trug etwas ein. Schließlich wandte er sich dem Ausgang zu. Nach ein paar Schritten blieb er abrupt stehen und drehte sich um. Dabei kreuzten sich ihre Blicke. Simone nickte ihm freundlich zu und hob grüßend die Hand. Der Deutsche blieb ernst, nickte kurz, hob seine Hand in einer verhaltenen Geste und verließ den Raum.
Simone fühlte sich unwohl. Sie war drauf und dran, einem Impuls zu folgen und ihm nachzueilen, um sich für das Verhalten ihres Vaters zu entschuldigen. Doch in diesem Augenblick stieß einer der Besucher aus Versehen ein Glas vom Tisch, das mit lautem Klirren auf dem Steinboden zerschellte. Dem Schuldigen, ein älterer Herr, war die Unachtsamkeit so peinlich, dass Simone ihn beruhigen musste. Als die Situation bereinigt war, eilte sie zum Ausgang, sah aber nur noch einen weißen Pkw in der Ausfahrt Richtung Wäldchen verschwinden.
Ich muss mit Vater ein ernstes Wort sprechen, dachte sie. Die Erinnerung pflegen – das durfte man. Aber so konnte man nicht mit Menschen umgehen, die für das damalige Geschehen keine Verantwortung trugen.
Simone kehrte in den Verkostungsraum zurück und warf einen Blick in das Gästebuch. Der Deutsche hatte seinen Namen hinterlassen: Johann König. Darunter standen eine Handy-Nummer und die Bemerkung:
Charmantes Schloss. Vorsicht vor dem Schlossgespenst!
Nun musste die Französin schmunzeln. Schlossgespenst. Nicht schlecht.
Kapitel 2
„Jetzt mach nicht so ein Gesicht!“, herrschte Vincent seine Tochter an.
Sie saßen an einem kleinen Esstisch in der Küche. Dort fanden sie sich für das Frühstück und die Mahlzeiten untertags ein, für ein schnell zubereitetes Gericht, bevor sie weiterarbeiteten. Simone löffelte an einer Bouillabaisse, die vom Vortag übrig geblieben war. Die Szene mit dem Deutschen ging ihr nicht aus dem Kopf. Und warum hatte er seine Handynummer hinterlassen? Das konnte ja nur einen Grund haben: Er wollte angerufen werden. Aber was bedeutete das nun wieder? Erwartete er eine Entschuldigung? Oder wollte er als möglicher Käufer hofiert werden?
Vincent winkte mit seinem Löffel. „Hallo, Mademoiselle! Könnten Sie Ihr Funkgerät bitte auf Empfang stellen?“
„Ich höre ja zu“, sagte Simone. „Ich soll freundlicher zu Laurie sein, wenn sie wieder zu Besuch kommt und sich in eine Ecke setzt und den Mund nur aufmacht, um zu fragen, ob sie in der Küche helfen darf.“
„Du schüchterst sie ein“, sagte Vincent. „Wenn du nicht dabei bist, verhält sie sich ganz anders.“
„So ein Quatsch“, erwiderte Simone. Sie brach ein Stück von dem Weißbrot ab, das zwischen ihnen auf dem Tisch lag. Daneben stand eine Karaffe mit Wasser. Wein war zu Mittag verboten, darauf hatten sie sich geeinigt. Zwar widersprach das der französischen Lebensart, der Vincent mit Leib und Seele verschrieben war, doch hatte er den Argumenten seiner Tochter auf Dauer nicht widersprechen können. Es stimmte, dass er über viele Jahre hinweg zu viel getrunken hatte. Dafür gab es auch einen Grund, den man nicht „gut“ nennen konnte, höchstens nachvollziehbar. Seit dem Unfalltod seiner Frau Lucienne, als Simone gerade fünf Jahre alt gewesen war, hatte der Witwer es mit Müh und Not geschafft, nicht vollends in den Alkoholismus abzustürzen. Er trank noch heute viel, doch die Tragödie vor mehr als zweieinhalb Jahrzehnten war auf Dauer kein ausreichend guter Grund, um sich „ins Grab zu saufen und die Tochter mit dem Betrieb alleinzulassen“, wie Simone es bei einer unschönen Diskussion ausgedrückt hatte.
Es war nur wenige Monate her, dass Vincent erstmals seit Luciennes Tod mit einer anderen Frau im Schloss erschienen war, der wenige Jahre jüngeren Laurie Duval aus Amboise. Doch die Chemie zwischen ihr und Simone war von Anfang an problematisch gewesen.
Die junge Winzerin zuckte die Achseln und reckte den Kopf wie zum Angriff vor. „Warum sollte sie von mir eingeschüchtert sein? Ich bin zwanzig Jahre jünger!“
Vincent machte wieder seine typische Kreisbewegung mit dem Suppenlöffel. „Du drückst dich immer so intellektuell aus. Laurie ist ‚nur‘ die Inhaberin eines Friseursalons. In ihrem ganzen Leben ist sie nicht so viel herumgekommen wie du junges Huhn. Verstehst du das denn nicht?“
„Jetzt mal ehrlich.“ Unbewusst imitierte Simone die Gebärden ihres Vaters und zeigte mit dem Löffel auf ihn. „Dir ist nie der Gedanke gekommen, dass sie gerne die Dame des Hauses in einem Château sein möchte?“
Vincent warf seinen Löffel auf den Tisch. „Nom de Dieu, junge Frau! Bleiben wir mal auf dem Boden! Ich behalte ja auch für mich, was mir gelegentlich durch den Kopf geht, wenn ich an deinen aktuellen Verehrer denke.“
Nun warf auch Simone ihren Löffel auf den Tisch. Das Löffel-Hinwerfen war das traditionelle Signal zwischen Vater und Tochter, dass sie voneinander genervt waren.
„Das ist eine billige Retourkutsche!“, schnappte sie. „Und was heißt hier ‚aktuell‘? Wie viele Verehrer habe ich denn schon ‚verbraucht‘?“
„Noch dazu ein Immobilienmakler!“ Vincent warf die Arme in die Höhe. „Der hat doch ein Auge auf die Domaine de Charente geworfen. Wenn ich mich nur an seinen letzten Besuch erinnere – dieser Maurice hat unser Zuhause förmlich vermessen mit seinem Maklerblick.“
„Papa!“ Simone sprang auf. „Das ist nicht fair! Und du könntest dir wenigstens seinen Namen merken. Er heißt nicht Maurice, sondern Marcel.“
„Entschuldige, werde ich mir aufschreiben. Was ich damit sagen wollte“, Vincent legte seinen Zeigefinger auf sie an. „Wir sollten einen Burgfrieden schließen. Du bist nett zu Laurie, und ich bin nett zu Marcel … so heißt er doch, oder?“
„Was heißt hier: Du bist nett? War ich nicht nett?“
„Du hast sie mit intellektuellen Fragen in Verlegenheit gebracht.“
Simone setzte sich wieder hin. „Na gut, dann werde ich in Zukunft weniger intellektuell sein. Ich weiß zwar nicht, wie das geht, aber das kriegen wir hin. Apropos in Verlegenheit bringen: Dein Theater mit dem Deutschen bei der Führung heute war auch nicht beste Etikette. Möglicherweise haben wir einen Kunden verloren, nur weil du wieder einmal den Mund nicht halten konntest.“
„He, junge Frau, ein wenig Respekt bitte ich mir aus.“
„Ich bin total respektvoll.“ Sie nahm den Löffel wieder auf, rührte die Bouillabaisse um und fixierte ihren Vater. „Der Deutsche hat übrigens seine Telefonnummer hinterlassen.“
„Ah!“, rief Vincent aus. „Perfekt! Dann ruf ihn doch an, und lade ihn zu einem persönlichen Termin ein. Kannst ihn auf deine Art betreuen und ihm die Bidule mit Wein vollladen. Keine Sorge, ich werde nicht hier sein. Ich will dir ja nicht das Geschäft des Jahrzehnts vermasseln. Vielleicht lasse ich mir von Laurie die Haare schneiden.“
„Schon wieder!? Papa, du brauchst doch keinen Vorwand, um Laurie zu besuchen.“
Der Vater ließ die Schultern sinken. „Boeuf! Wo hast du heute deinen Humor gelassen? Das war ein Scherz! Was ich damit sagen wollte: Wenn du den Fritz zu einem Verkaufsgespräch einladen willst, werde ich nicht im Weg stehen. Entweder verkrieche ich mich im Keller oder besuche Laurie. Das wollte ich damit sagen. Voilà, muss man hier alles in Klartext übersetzen? Für eine Intellektuelle bist du zeitweise schwer von Begriff, meine Kleine.“
Simone überlegte, ob sie den Suppenteller vom Tisch kippen und eine Szene machen sollte. Aber sie schaffte es, ihr Temperament zu bändigen. Und kam zum Schluss, dass ihr Vater sich auf seine Weise für die Episode mit dem Deutschen entschuldigt hatte. Auf seine sehr, sehr eigene Weise.
„Eh, bien, Burgfrieden“, sagte sie. „Du vertraust meinem Instinkt, und ich vertraue deinem. Wir lassen ab jetzt unsere ‚Verehrer‘ aus dem Spiel. Einverstanden?“
Vincent hob den Zeigefinger. „Ab und zu werde ich trotzdem meine Meinung sagen. Klar, aber höflich. Darf ich das?“
„Wann hast du dir je etwas von mir verbieten lassen?“ Simone stand auf und stellte den Teller auf der Anrichte ab. „Natürlich darfst du. Ich mache später sauber. Jetzt rufe ich den Deutschen an. Hast du das Gästebuch schon weggeräumt?“
„Ja, es liegt auf der Kommode im …“
In diesem Moment klingelte das Festnetz-Telefon.
„Warte, gleich gibt er den Anruf ans Handy weiter“, sagte Vincent und legte sein Samsung bereit.
„Ich gehe schon ran“, sagte Simone und griff nach dem Hörer. „Oui?“
„Mein Name ist Johann König“, sagte eine Männerstimme mit dem Hauch eines deutschen Akzents. „Spreche ich mit einem Mitglied der Familie der Domaine de Charente?“
„Ich bin die Tochter des Hauses, bonjour.“ Simone deckte den Hörer ab und flüsterte mit großen Augen: „Du wirst es nicht glauben – das ist der Deutsche von heute Vormittag!“
„Der Fritz? Oh, là, là!“ Vincent stand auf. „Dann kannst du ja Frieden schließen mit den Preußen und ein paar Flaschen loswerden. Ich gehe zurück zur Arbeit.“
„Hallo?“, kam es aus dem Hörer.
„Verzeihung“, erwiderte Simone. „Ich musste nur meinem Vater etwas sagen. Monsieur König, Sie kommen mir zuvor, ich wollte Sie schon längst anrufen. Sie hatten ja Ihre Telefonnummer hinterlassen.“
„Ah, ja, was für ein Unsinn, meine Nummer zu hinterlassen!“, sagte der Deutsche. „Was mussten Sie nur von mir denken! Dann auch noch das ‚Schlossgespenst‘! Das ist der Grund meines Anrufs. Ich wollte mich für meinen Eintrag im Gästebuch entschuldigen. Idiotisch von mir, ich bitte vielmals um Verzeihung. Kann man das wieder entfernen?“
„Könnte man, aber das würde ich ungern tun“, sagte Simone. „Das ist die lustigste Eintragung seit Wochen. Monsieur König, Sie haben keinen Grund, sich zu entschuldigen.“ Sie vollführte eine scheuchende Geste, weil ihr Vater den Kopf zur Tür reinsteckte und mit einer Geisterbahn-Grimasse zu verstehen gab, wie er die Situation sah.
„Verschwinde schon, raus mit dir!“, fauchte Simone.
„Pardon?“, kam es aus dem Telefon.
Simone bemerkte, dass sie vergessen hatte, den Hörer abzudecken. „Excusez-moi, ich musste gerade den Hund aus der Küche verjagen.“
Der Vater hörte das. Aus dem Flur erschallte eine Hitparade der populärsten Flüche aus dem Agrarsektor des Loire-Tals.
„Situation geklärt?“, fragte der Anrufer zögernd.
Simone lauschte. Sie hörte eine Tür knallen. „Geklärt“, antwortete sie. „Wie gesagt: Ich wollte Sie anrufen, weil ich der Meinung bin, dass Sie unhöflich behandelt worden sind. Dafür will ich mich in aller Form entschuldigen. Man kann über die Geschichte denken, was man will, aber das ist nun wirklich lange her. Ich würde davon ausgehen, dass in Ihrer Wohnung kein Hitler-Porträt hängt.“
König lachte auf. „Das ist allerdings wahr. Ich habe kein Problem damit, noch einmal zu Ihrem Château zu kommen. Eigentlich hatte ich mich für Ihre Weine interessiert. Würden Sie mir einen Termin geben? Ich kann auch gerne bis zum nächsten öffentlichen Besuchstag warten, ich möchte Ihnen ja keine Umstände verursachen. Dann probiere ich es halt nächste Woche noch einmal.“
„Wo haben Sie sich denn einquartiert?“
„In einer Pension in Amboise. Von hier unternehme ich Ausflüge. Ich bin ja mit dem Auto gekommen. Das ist wirklich eine wundervolle Gegend.“
„Sie sind sehr freundlich. Warten Sie mal …“ Simone überlegte fieberhaft. Dann gab sie einem Impuls nach. „Ich habe eine andere Idee: Heute Nachmittag habe ich etwas in Amboise zu erledigen. Wenn Sie einverstanden sind, lade ich Sie auf einen Kaffee ein. Da können wir in aller Ruhe das Gespräch führen, das Sie wahrscheinlich schon im Verkostungsraum führen wollten. Es sei denn, Sie wollten gerne noch einmal verkosten.“
„Das ist sehr liebenswürdig. Ich habe mir schon eine Meinung gebildet, aber wie gesagt: Ich hätte wirklich kein Problem damit, noch einmal …“
„Sechzehn Uhr, Café Melzi?“
„Na gut. Wenn Sie ohnehin nach Amboise kommen.“
„Das mache ich. Bis später, Monsieur.“
„Bis später, Mademoiselle. Nur eines noch …“
Simone runzelte die Stirn. „Ja?“
„Ihr Hund … der hat schon ein beeindruckendes Vokabular.“
„Ah, dann haben Sie den Part noch mitbekommen.“ Simone fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Sie wissen ja, wie das ist mit Schlossgespenstern – die können von einem Moment auf den anderen die Gestalt wechseln.“
Der Deutsche lachte laut. „Gut pariert! Dann bis sechzehn Uhr.“
Simone nickte. „Ohne Gespenst, ich verspreche es.“
„Ich freue mich drauf“, sagte der Anrufer. „Bis dann.“
In diesem Moment schob sich Vincent zur Tür herein.
„Du hast gelauscht?“, fauchte Simone.
Ihr Vater hob den Zeigefinger. „Das mit dem Hund war nicht die feine Art, missratenes Stück von Tochter! Und was hast du heute Nachmittag in Amboise verloren?“
„Gar nichts, alter Voyeur. Das habe ich erfunden, um einen Kunden zurückzuholen, den du verjagt hast. Meine Güte, dieser Monsieur König muss ja meinen, dass er in einen Asterix-Band geraten ist. Vielleicht kann ich ihn davon überzeugen, dass in Frankreich auch zivilisierte Menschen leben.“
„Warum machst du das?“, schnappte Vincent. „Gefällt er dir etwa, der kleine Teutone? Schon die Nase voll von Maurice?“
„Marcel!“, rief Simone aus. „Er heißt Marcel! Du nervst, mein Gott! Nein, ich habe einfach das Gefühl, dass wir einen guten Verkauf machen können. Vielleicht täusche ich mich ja, dann kannst du dir gerne einen Spaß machen und mich die nächsten zweihundert Jahre daran erinnern. Freu dich drauf! Aber unabhängig davon … wenn wieder einmal ein Deutscher dabei ist, könntest du es zur Abwechslung mal mit Takt versuchen.“ Sie machte eine kurze Pause, des Effektes halber, und setzte hinzu: „Weißt du, was das ist – Takt?“
„Ja“, brüllte Vincent. „Das ist, wenn man seinen Vater respektiert und nicht einen Hund nennt.“ Mit diesen Worten stürmte er davon.
„Nein, also wirklich!“, Simone bedeckte ihr Gesicht, ließ sich auf einem Stuhl nieder und murmelte: „Er braucht dringend eine Frau. Das kann von mir aus die taubstumme Friseurin sein, vollkommen egal.“
Sie sah auf die Uhr. In der Küche war noch einiges zu tun, und ein wenig konnte sie noch im Weingarten arbeiten, bevor sie zu ihrem Rendezvous in Amboise aufbrechen musste.