Leseprobe Im Sturm

1

Alderney, 1. Juni

Die Segeljacht glitt lautlos über das flaschengrüne Wasser der Braye Bay. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten das Vorsegel in ein weiches Licht und vergoldeten Mastspitze und Decksaufbauten. Der Skipper drehte am Steuerrad, holte das Großsegel ein und ließ das Boot mit der einlaufenden Tide auf die Hafeneinfahrt zutreiben.

Ruby Nolan verfolgte mit einer Mischung aus Sehnsucht, Neid und Bewunderung, wie der weiße Rumpf elegant durch die seichte Dünung schnitt. Ihr Blick wanderte weiter zu der schlanken, sonnengebräunten Frau, die am Bug stand. Mit einer Hand hielt sie sich am Vorstag fest, mit der anderen schirmte sie die Augenpartie gegen die tief stehende Sonne ab. Ihre blonden Locken glänzten im letzten Tageslicht wie eine schimmernde Aureole. Sie trug weiße Shorts, bequeme Sneaker und ein blaues T-Shirt mit dem aufgedruckten Wappen von Alderney, einem goldenen Löwen auf grünem Grund. Der Mann hinter dem Ruder hatte eisgraues Haar und war mindestens zwanzig Jahre älter als seine Begleiterin. Wahrscheinlich waren sie für einen Wochenendtrip vom Festland aus über den Kanal nach Alderney gesegelt. Ruby malte sich ihre Ankunft im Braye Beach Hotel aus, wo ein Abendbüfett aus erlesenen Meeresfrüchten auf sie wartete. Vielleicht würde der Mann anschließend eine Flasche Champagner auf die gebuchte Suite bestellen und sich auf eine heiße Nacht mit der kühlen Blonden freuen. An jedem Wochenende fielen reiche Geschäftsleute, Banker und Broker aus der Londoner City auf den Kanalinseln ein, um sich zu amüsieren und ihr Geld zu verprassen. Ob sie seine Ehefrau war? Oder nur eine kurze Affäre, deren Namen er morgen schon vergessen haben würde?

Die Jacht glitt majestätisch in das innere Hafenbecken. Als sie die Einfahrt passierte, änderte sich schlagartig das sanfte, bernsteinfarbene Licht, wie es so oft auf Alderney geschah. Einer Armee grauschwarzer Schattenkrieger gleich, verschluckte ein aufziehendes Wolkenband die Sonne. Eine Windbö kräuselte das Wasser. Fasziniert beobachtete Ruby, wie eine unsichtbare Hand das Meer streichelte. In weniger als einer Stunde würden die Zärtlichkeiten zwischen Wind und See enden und ein handfester Sturm über die Insel hinwegfegen. Für alle Segler, die jetzt noch auf dem offenen Wasser waren, wurde es höchste Zeit, heimzukehren.

Alderney! Für das Paar auf dem Boot bedeutete der Name einen Ort, der Glück, Spaß und Luxus versprach. Für Ruby war die Insel ein öder Felsen im Meer, an den sich zweitausend Lapins klammerten. Die Franzosen nannten die Insulaner nach den Unmengen von Kaninchen, denen man überall begegnete. Die Lapins konnten Alderney ebenso wenig verlassen wie Ruby. Der Ärmelkanal trennte die Tiere vom Festland, Ruby dagegen hielt ein Geflecht aus Blutsbande, Schuldgefühlen und Verantwortung fest.

Im Zwielicht der Abenddämmerung blickte sie resigniert auf ihre verdreckten Hände und die schwarzen Halbmonde unter den Nägeln. Sie wusste, dass sie gehen musste, ehe es zu spät war. Doch sie konnte es nicht.

Durch das Loch im Fenster der Werkstatt hinter ihr drangen Stimmenfetzen nach draußen. Ruby verscheuchte die Träumereien von einem besseren Leben, schlug die Fahrertür des Pick-ups zu und wischte sich die ölverschmierten Hände ab. Sie erreichte damit nur, den Dreck noch mehr zu verteilen. Wütend pfefferte sie den Lappen in eine rostige Blechtonne, versetzte ihr einen Tritt und stapfte auf den Hintereingang der kleinen Tankstelle mit angeschlossener Autowerkstatt zu. Dies war ihre Welt – ein Leben, das weiter von den Vergnügungen der reichen Londoner entfernt war als Alderney vom Grund des Ärmelkanals.

Die Auseinandersetzung in der Werkstatt gewann an Lautstärke und Aggressivität. Eine der beiden Stimmen erkannte Ruby als die ihres Bruders Robbie. Die zweite kam ihr bekannt vor, aber sie achtete nicht auf sie. Es spielte keine Rolle, mit wem Robbie wieder Streit angefangen hatte oder ob er gerade einen der wenigen Kunden verprellte, die die Dienste der Nolans noch in Anspruch nahmen. Sie hatte all das so satt, dass es kaum mehr zu ihr vordrang.

Ruby streckte die Hand nach der Türklinke aus und schwor sich in diesem Moment, dass sie fortgehen würde. Sie wollte nicht enden wie Dad, dessen Grab sie jeden Samstag auf dem Friedhof der Saint Anne Church besuchte.

Aus der Halle drang ein dumpfer Schlag, das aufgeregte Geschrei verstummte. Ihre Finger verharrten über der Klinke. Die plötzliche Stille war so vollkommen, als wäre Ruby schlagartig taub geworden. Den Bruchteil einer Sekunde lang war sie überzeugt, dass sie die verbeulte Tür um keinen Preis öffnen durfte, obwohl sie es unzählige Male in ihrem Leben getan hatte. Tat sie es dennoch, würde sie durch eine magische Pforte treten, hinter der unvorstellbare Schrecken lauerten. Nichts wäre dann mehr so wie zuvor. Ein namenloses Ding würde das zerbrechliche Gewebe aus Raum und Zeit zerreißen und sie und die Welt, die sie kannte, durch den Riss saugen und verschlucken.

Ruby hörte das Flappen eines Segels in der abendlichen Brise und das Lachen der Frau auf dem Boot. Die alltäglichen Geräusche klangen seltsam fehl am Platz. Etwas Furchtbares war passiert  ein Ereignis, das niemand mehr ungeschehen machen konnte und das ihr Leben für immer verändern sollte.

Der sonderbare Moment übernatürlicher Klarheit verging so schnell, wie er gekommen war. Leise quietschend schwang die Blechtür zur Werkstatt auf. Vor der Hebebühne, auf der ein hellgrüner Mini Cooper auf einen neuen Auspuff wartete, stand Robbie. Er hielt einen großen Schraubenschlüssel in der Hand, von dem Blut auf den Betonboden tropfte. Zu seinen Füßen lag Louie Harris, der Mann, den die meisten Leute auf Alderney am liebsten tot gesehen hätten. Ihr Wunsch hatte sich offenbar gerade erfüllt.

2

Ruby schloss die Augen, wartete einen Moment und öffnete sie wieder. Harris lag wie zuvor auf dem Boden der Werkstatt, Robbie stand am selben Fleck, mit kalkweißem Gesicht und einem Chaos aus Ungläubigkeit und Panik im Blick. Dies was kein Albtraum, sondern die Wirklichkeit.

Robbie, der ewige Pechvogel; der kleine Junge, den sie vor all den Katastrophen, in die er ständig geriet, beschützen musste, es jedoch selten vermocht hatte. Robbie, der kein Fettnäpfchen ausließ und Probleme anzog wie ein Dunghaufen Fliegen. Er stand da wie ein vor der Schlange erstarrtes Lapin und versuchte zu begreifen, was er getan hatte.

Das Schicksal hatte es nie besonders gut mit ihm gemeint. Als der liebe Gott die Unglücksraben ausgesucht hatte, war Robbie irrtümlich gleich zweimal an der Reihe gewesen. Diesmal hatte er den Vogel abgeschossen.

„Robbie. Was hast du gemacht?“, fragte Ruby.

Er schien sie erst jetzt wahrzunehmen, hob den Kopf, als wäre er mit Blei ausgegossen, und ließ den Schraubenschlüssel fallen. Er schlug scheppernd auf den Betonboden. Ein Tropfen Blut spritzte hoch und landete auf Rubys Jacke. Ihr Bruder stand vor ihr in Dads altem Mechaniker-Overall, der ihm eine Nummer zu groß war, glotzte sie mit seinen Teetassenaugen an und deutete auf Harris.

„Er wollte das Geld. Alles. Sofort.“

Seine Schultern sackten nach vorn, er schien zu schrumpfen und begann zu zittern, als wäre er in ein Fass mit Eiswasser gefallen. In der Stille hörte Ruby seine Zähne klappern.

„Da … da … das geht doch ni… nicht. Wir haben’s ja ni… nicht“, stotterte er.

Sie verdaute den Schock schneller als er. Ihr Verstand begann kalt und klar zu arbeiten. So war es immer. Robbie steckte in der Klemme, Robbie hatte Mist gebaut, Robbie ließ sich übers Ohr hauen, und sie bog es gerade. Schließlich musste sie auf ihn aufpassen, denn das hatte sie Dad versprochen.

Und nun lag der Ex-Bulle Louie Harris mit einem Loch im Kopf auf dem verölten Werkstattboden und rührte sich nicht mehr. Ihr Blick fiel auf den blutigen Schraubenschlüssel, wanderte weiter zu Robbies mondbleichem Gesicht und verhakte sich in etwas, das er gerade gesagt hatte. Es passte nicht zu dem, was sie sah. Endlich drängte sich die Erkenntnis in ihr Bewusstsein.

„Es waren doch nur noch drei Raten fällig“, sagte sie. „Ich habe Baxter pünktlich an jedem Monatsanfang bezahlt.“

„Ich hab mir noch mal was geliehen“, murmelte Robbie.

„Wie viel?“

„Ich hatte einen todsicheren Tipp. Ehrlich, Ruby, ich …“

Wie viel?

„Zwanzig…tausend.“

Zwanzigtausend Pfund! Woher sollten sie so viel Geld nehmen? Die Werkstatt warf gerade genug ab, um sie beide und Mum mit dem Allernötigsten zu versorgen.

„Er hat behauptet, Baxter hätte die Geduld verloren“, sprudelte Robbie hervor. „Er nimmt uns alles weg, wenn wir ihn nicht sofort ausbezahlen, hat er gesagt. Da musste ich doch etwas tun. Das verstehst du doch, Ruby, nicht wahr? Das verstehst du doch? Es ging nicht anders.“

„Warum bist du nicht zu mir gekommen?“

„Ich wollt’s dir nicht sagen, hab gedacht, ich krieg’s alleine hin. Du hast genug Sorgen mit Mum und der Werkstatt.“

Sie fuhr sich über die Augen und schüttelte entsetzt den Kopf. Baxter hatte dem naiven Robbie einen Kredit aufgeschwatzt, den sie nie zurückzahlen konnten, und sie damit in die Falle gelockt. Nun hatte er sie in der Hand. Sie machte einen Schritt auf Harris zu.

„Ist er …?“

Sie meinte tot. Tot. Tot. Tot. Ruby fürchtete sich davor, das Wort auszusprechen. Wenn sie den Mund hielt, blieb es vielleicht ein böser Traum. So lächerlich es war, klammerte sie sich doch an diese verrückte Vorstellung, bis die Illusion zerplatzte wie eine Seifenblase.

Robbie beugte sich über die mutmaßliche Leiche und zuckte zurück, als könnte sie ihn beißen.

„Ich weiß nicht“, sagte er. „Sollen wir nachsehen?“

Dad ausgenommen, hatte Ruby noch nie einen Toten gesehen. Ihr Vater hatte einen so friedlichen Eindruck gemacht, aber das war vermutlich auf die Arbeit des Bestatters zurückzuführen gewesen. Ruby wusste, dass sie irgendetwas mit den Verstorbenen anstellten, damit sie hübscher aussahen. Harris dagegen wirkte im Tod genauso verkniffen und misstrauisch wie im Leben. So als könnte er selbst nicht glauben, dass er gegangen war.

Sie zögerte und betrachtete ihn genauer. Er schien nicht mehr zu atmen, sein Brustkorb bewegte sich nicht. Da war eine Menge Blut unter seinem Kopf. Konnte ein Mensch so viel davon verlieren, ohne zu sterben? Sie biss sich auf die Unterlippe. Auch wenn er noch lebte, konnten sie ihn nicht einfach auf die Ladefläche des Pick-ups legen und ins Mignot Memorial Hospital bringen. Der Notarzt würde fragen, wie es zu der Kopfverletzung gekommen war, und die Polizei einschalten. Es würde eine Untersuchung geben, Chief Henderson würde Robbie verhaften und einsperren. Ihr Bruder hatte häufig Ärger mit der Polizei – hier eine Kneipenschlägerei, dort eine nächtliche Ruhestörung, weil er mit seinem aufgemotzten Sunbeam Stiletto die Rue de Beaumont entlangraste. Wenn man es recht bedachte, war Henderson ziemlich nachsichtig mit ihm umgegangen. Er hatte ihn mehrfach ermahnt, aber immer wieder laufen lassen. Einen versuchten Totschlag konnte er allerdings nicht ignorieren.

„Der neue Chief soll ein harter Hund sein“, sagte Robbie.

Ruby blickte auf.

„Wovon sprichst du?“

„Wir haben einen neuen Polizeichef - Cole heißt er, glaube ich. Er war bei der Metropolitan Police in London in einer Sondereinheit.“

„Woher weißt du das?“

Robbie zuckte mit den Schultern. „Dave hat’s mir erzählt.“

In ihrem Hinterkopf begannen die Alarmglocken zu schrillen. Natürlich! Chief Henderson war tot. Es hieß, er sei hinter seinem Schreibtisch an einem Herzinfarkt gestorben, aber wahrscheinlich hatte ihn der Gin umgebracht. Robbie hatte recht, der Neue wusste, wie man Mörder überführte. Im vergangenen Herbst hatte er im Alleingang die Flutmorde aufgeklärt, an denen Henderson sich zwanzig Jahre lang die Zähne ausgebissen hatte.

„Ich werde sagen, dass Harris mich angegriffen hat und dass ich mich gewehrt habe“, sagte Robbie. „Vielleicht hab ich ein bisschen zu fest zugeschlagen, aber umbringen wollte ich ihn nicht.“

„Sei still, ich muss nachdenken.“

Sie lief nervös auf und ab, hielt dann inne und blickte durch das vordere Fenster. Vor einer der Zapfsäulen stand ein silberner Ford Explorer. Das musste der Wagen sein, mit dem Louie Harris gekommen war.

Robbie zog sein Handy aus einer Tasche des Overalls.

„Wen rufst du an?“, fragte Ruby.

„Die Polizei. Und das Mignot Memorial.“

„Steck das Telefon ein.“ Sie brütete bereits einen Plan aus. „Wir müssen die Leiche fortschaffen“, sagte sie.

Er sah sie verständnislos an. „Wie … fortschaffen?“

Ruby schnalzte ungeduldig mit der Zunge. Manchmal arbeitete Robbies Verstand so langsam wie ein alter Schiffsdiesel.

„Du hattest in den letzten zwei Jahren mindestens ein halbes Dutzend Mal Ärger mit der Polizei“, sagte sie. „Niemand, der halbwegs bei Verstand ist, wird dir das Märchen abnehmen, dass du, ohne es zu wollen, zu hart zugeschlagen hast. Das hätte nicht mal Henderson getan. Wenn du ’ne Menge Glück hast, verknacken sie dich nur wegen Totschlag und nicht gleich wegen Mord.“

„Sie können mich ruhig ausquetschen. Ich werde sagen, dass er uns überfallen hat. Ich schaffe das.“

„Na klar“, ätzte Ruby. „Mensch, Robbie, denk einmal richtig nach. Hast du vergessen, wer dieser Mann ist? Jeder auf Alderney weiß, dass Louie Harris vom Dienst suspendiert wurde, weil er unseren Dad für einen Einbrecher hielt und ihn erschossen hat! Niemand wird daran zweifeln, dass du ihn aus Rache erschlagen hast. Dafür gehst du für den Rest deines Lebens in den Knast.“

„Oh.“

Ruby dachte fieberhaft nach. Um über die Runden zu kommen, hatten sie einen Kredit gebraucht, aber nach Dads Tod keinen mehr bekommen. John Baxter, der selbst ernannte Inselkönig und ewige Kandidat für das Amt des Präsidenten von Alderney, hatte seine Hilfe angeboten. Er unterstützte großzügig in Not geratene Inselbewohner, denen allerdings schnell klar wurde, dass man von ihm nichts umsonst bekam. Wer mit den Raten in Verzug geriet, machte Bekanntschaft mit Louie Harris, der jeden säumigen Zahler daran erinnerte, dass sein Boss in erster Linie Geschäftsmann und kein altruistischer Baptistenprediger war. Der ehemalige Polizist terrorisierte dann die Schuldner, bis sie aus Scham und Angst zahlten und schwiegen.

Nach Dads Tod hatte Baxter Ruby in der Werkstatt aufgesucht, ihr fünfzigtausend Pfund in die Hand gedrückt und ihr versichert, sie könne sich mit der Rückerstattung Zeit lassen, bis das Geschäft wieder besser lief.

Ruby hatte das Geld genommen, weil sie keine Wahl gehabt hatte. Ihr war rasch der Verdacht gekommen, dass Baxter Hintergedanken hegte, aber als sie begriffen hatte, dass er es auf das Grundstück der Familie Nolan und die Nachbarparzellen abgesehen hatte, war es zu spät gewesen. Die Falle war zugeschnappt, und sie und Robbie zappelten am Haken wie zwei fette Wolfsbarsche.

All das musste sie nun aus ihren Gedanken verbannen und eiskalt und überlegt handeln. Falls der neue Chief ein Verbrechen wittern sollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als so gut wie jeden auf der Insel zu verdächtigen. Harris hatte den meisten Leuten einen Grund geliefert, ihm den Schädel einzuschlagen. Er musste annehmen, dass jemand eine alte Rechnung beglichen hatte.

Ruby blickte sich in der Werkstatt um. Die Tür zum Hinterhof stand offen. Eine dunkelgrüne Persenning flatterte im Wind und gab ab und zu den Namen eines kleinen Kajütboots preis: die Candice, Harris’ Boot, das er vor einer Woche wegen eines defekten Außenbordmotors hergebracht hatte. Ruby hätte ihn liebend gerne zum Teufel gejagt, aber sie brauchten jeden Cent. Auch Louie Harris war ein zahlender Kunde. Ihr kam eine Idee.

„Hast du den Motor der Candice endlich repariert?“, fragte sie.

„Klar. Die Ersatzteile sind heute Morgen gekommen. Warum fragst du?“

Sie erklärte ihm ihren Plan, der allmählich Gestalt annahm, noch während sie ihn entwickelte.

„Wenn wir uns nicht allzu dämlich anstellen, wird uns niemand mit seinem Verschwinden in Verbindung bringen.“

Sie musterte ihren Bruder stirnrunzelnd. Er kaute an den Nägeln und trat nervös von einem Bein aufs andere. Robbie war das schwache Glied in der Kette. Kam er damit klar, einen Totschlag begangen zu haben? Harris war ein Erpresser und Denunziant gewesen, aber trotzdem ein menschliches Wesen. Robbie hatte dessen Leben mit dem Hieb eines Schraubenschlüssels beendet, was auch für ihn nicht ohne Folgen bleiben konnte. Stellte er sich der Polizei, bedeutete das eine Katastrophe. Die Nolans würden alles verlieren, was sie besaßen: die Werkstatt, ihren Lebensunterhalt und den kümmerlichen Rest Ansehen, den die Familie auf Alderney noch genoss. Mum würde es nicht überleben, wenn sie Robbie ins Gefängnis steckten. Seit Dads gewaltsamem Tod war sie ohnehin schwer depressiv.

Ruby zerrte eine starke Plastikplane von einem staubigen Werkzeugregal und faltete sie auseinander.

„Los, pack mit an. Wir schaffen ihn auf die Candice.“

Er half ihr, die Plane auf dem Boden auszubreiten. Sie fassten Harris unter den Schultern und an den Füßen. Ruby fluchte und keuchte. Der Kerl war schwer wie die Schuld, die auf ihnen lastete.

„Zieh ihm die Jacke aus“, sagte sie.

„Wieso?“

„Erklär ich dir gleich. Mach schon.“

Das Vorhaben war komplizierter als gedacht, doch schließlich schafften sie es. Ruby warf Robbie die auffällige Jacke mit dem Polizeiemblem der Guernsey Police zu. Harris war zwar nicht mehr im Dienst, aber er lief immer noch in der Uniformjacke herum. Er schien sich daran geklammert zu haben wie an einen Talisman, denn außer seinen Erinnerungen war sie das Einzige, was ihm geblieben war. Wie so oft, hatte der schwache Henderson ihn gewähren lassen.

„Probier sie an.“

Robbie versank in der Jacke. Ruby musterte ihn kritisch. Er war kleiner und schmaler als Harris, außerdem hatte er feuerrotes Haar, genau wie sie selbst. Er schien zu begreifen, schlug den Kragen hoch und zog seine schwarze Wollmütze über die Ohren. Aus der Nähe betrachtet, war die Verkleidung sofort zu durchschauen, aus einiger Entfernung könnte ein flüchtiger Beobachter ihn jedoch durchaus mit Harris verwechseln, wenn er nicht allzu genau hinschaute.

Er sah sie hoffnungsvoll, beinahe bittend an.

„Hast du einen Plan?“

Ruby grinste. Die Anspannung schien ihre Mundwinkel zu zerreißen.

„Habe ich nicht immer einen? Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass jemand Harris vermissen wird, aber irgendwem wird bald auffallen, dass er nicht mehr da ist. Die Polizei wird nach ihm suchen, herumschnüffeln und anfangen, Fragen zu stellen: Wen hat er zuletzt getroffen, wo ist er vor seinem Verschwinden gewesen, und wen hat er angerufen?“

„Aber … das führt sie sofort zu uns.“

Sie drehte sich nach der Uhr am Kopfende der Werkstatt um. Es war kurz vor sechs. Die Sturmwolken hingen so tief und schwer über der Insel, als zöge bereits die Dämmerung herauf. Sie fasste ihren Bruder bei den Schultern und bohrte ihren Blick in seine zweifelnden Augen.

„Hör mir jetzt genau zu. Wir können nicht abstreiten, dass er hier war, also erzählen wir folgende Geschichte: Harris hat gegen sechs auf meinem Handy angerufen und nach seinem Boot gefragt. Ich habe ihm versichert, dass es fertig ist und ich gerade dabei bin, es zum Hafen zu bringen. Hast du das kapiert?“

Er nickte krampfhaft. Sie ließ ihn los und begann, auf und ab zu laufen, während sie weiterredete.

„Es ist wichtig, dass wir bei der Version bleiben, falls sie uns einzeln befragen. Wir werden den Ablauf so lange wiederholen müssen, bis wir selbst daran glauben.“

Robbie pfiff durch die Zähne. Ruby blieb stehen und drehte sich um. Ihr Bruder hielt Harris’ Brieftasche in den Händen.

„Mann, er hat über zweitausend Pfund bei sich.“

Sie zögerte einen Augenblick. Das Geld konnten sie gut gebrauchen.

„Leg sie zurück“, sagte sie dann.

„Aber …“

„Mach, was ich dir sage. Wenn Baxter Harris geschickt hat, um Schulden einzutreiben, und das Geld später fehlt, wird die Polizei sofort von Raubmord ausgehen und einen Unfall ausschließen.“

„Aber ich dachte …“

„Was?“

„Wir versenken ihn doch mit der Candice. In einer Stunde liegt das Schwein auf dem Meeresgrund. Niemand wird die Leiche jemals finden. Alle werden denken, dass Harris ertrunken ist.“

„Und wie willst du zurück an Land kommen? Schwimmen?“, fragte sie.

„Was sollen wir denn sonst machen?“

„Das wirst du schon sehen. Leg jetzt die Brieftasche zurück.“

Robbie fügte sich widerwillig. Sie durchsuchten die Hosentaschen des Toten und stießen auf einen Schlüsselbund.

„Weißt du, wo er wohnt?“, fragte Ruby.

„Nachdem seine Alte ihn an Weihnachten rausgeworfen hat, ist er bei Nellie Marshall untergekrochen. Er hat im Parterre ein Apartment gemietet.“

„Gut. Fahr mit seinem Wagen dorthin.“

„Was soll ich denn dort?“, maulte Robbie.

„Ruf mich von seinem Festnetzanschluss aus an.“

„Wozu?“

„Die Polizei wird unsere Geschichte überprüfen. Sie werden sich die Verbindungsdaten und Anruflisten beim Provider besorgen. Also muss dieser Anruf wirklich stattgefunden haben, kapiert?“

„Sie sollen glauben, dass es Harris war, der angerufen hat“, sagte Robbie.

„Jetzt hast du’s verstanden. Ich lasse inzwischen sein Boot zu Wasser.“

„Und dann?“

„Du wartest eine Viertelstunde in seiner Wohnung, bevor du zum Hafen fährst. Dann gehst du an Bord der Candice und bringst sie zum Saye Beach.“

„Und wenn mich jemand sieht?“

„Das will ich doch hoffen. Die Polizei soll schließlich glauben, dass der alte Starrkopf trotz unserer Warnungen rausgefahren ist, um den reparierten Motor zu testen. Je mehr Zeugen, desto besser. Sie werden einen Mann in einer Jacke der Guernsey Police sehen, der an Bord der Candice geht und leichtsinnigerweise bei einem aufziehenden Unwetter den Hafen verlässt. Pass aber auf, dass dir niemand zu nahe kommt. Schaffst du das?“

„Sicher, warum nicht?“

Weil du gerade einen Menschen erschlagen hast und kaum klar denken kannst, dachte Ruby.

„Wie lange brauchst du vom Hafen bis zum Saye Beach?“, fragte sie.

Robbie ging zum Fenster und warf einen skeptischen Blick in den Himmel. Es hatte zu regnen begonnen, der Sturm gewann stetig an Kraft.

„Zehn Minuten, vielleicht fünfzehn oder zwanzig. Es kommt auf den Wind und die Strömung an. Da braut sich was zusammen.“

Ruby atmete tief durch. In den meisten Dingen erwies sich Robbie als Niete, aber er war ein guter Segler und kannte die Gewässer um Alderney wie seinen Werkzeugkasten. Möglicherweise kamen sie aus der Sache ja noch raus, ohne dass man ihn ins Gefängnis steckte.

„Los jetzt. Trödle nicht rum, und fass mit an.“

Sie wickelten Harris in die Plane und trugen ihn nach draußen. Die Blechtür zum Hinterhof schlug krachend gegen die Hallenwand. Bald würde es zu gefährlich sein, mit dem Boot hinauszufahren. Doch genau dieses Risiko machte den Plan, den Ruby in Sekundenschnelle entwickelt hatte, glaubhaft. Harris war bei den Bewohnern von Alderney verhasst gewesen, weil er während seiner aktiven Zeit als Polizist seine Nase mit Vorliebe in Dinge gesteckt hatte, die ihn nichts angingen. Alle kannten ihn als misstrauischen Stinkstiefel, der hinter jedem Lächeln eine Verschwörung witterte. Drängte man ihn zu einer Sache, die ihm gegen den Strich ging, konnte man davon ausgehen, dass er mit Sicherheit das Gegenteil tat. Niemand würde sich wundern, wenn er mit dem Boot, das die Nolans repariert hatten, sofort eine Probefahrt machen würde, weil er befürchtete, übers Ohr gehauen zu werden. Hätte Ruby ihn vor dem aufziehenden Sturm gewarnt, wäre er erst recht gefahren. Von einem einmal gefassten Entschluss ließ er sich nicht abbringen, das war erst recht im Revier der Alderney Police bekannt. Die Geschichte, die sie dem neuen Chief auftischen würden, war deshalb absolut glaubwürdig.

Robbie benutzte die Laufkatze des Hebekrans, mit dem sie Bootsrümpfe und anderes schweres Gerät umsetzten, um die Leiche an Bord der Candice zu hieven. Ruby stand Schmiere und versicherte sich, dass niemand sie beobachtete. Der Regen fiel in dichten silbrigen Bahnen zur Erde und schützte sie vor neugierigen Blicken.

Wenig später lag die Leiche auf dem Deck des acht Meter langen Kajütboots. Sie begannen die Candice zum Transport vorzubereiten. Robbie schlang die Tragegurte um den Rumpf, während Ruby den Auslegerkran bediente. Bald ruhte die Candice fest verzurrt auf dem Bootsanhänger.

„Ich lasse das Boot zu Wasser. Du fährst mit Harris’ Wagen zu Nellie Marshall und rufst mich von seinem Apartment aus auf meinem Handy an. Anschließend kommst du sofort zum Hafen und bringst die Candice zum Saye Beach. Wir treffen uns dort in einer Stunde“, erklärte Ruby.

Eine Windbö spielte übermütig mit der zerfledderten Werbefahne bei den Zapfsäulen und klatschte Regensalven gegen den Bootsrumpf. Der Wettergott war mit ihnen und deckte ihr Vorhaben, die Straßen waren wie leer gefegt.

Ruby sah auf ihre Armbanduhr. Es war Viertel nach sechs. Sie blickte Robbie nach, der durch den Regen auf den silbernen Explorer zulief. Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen? Wenn sie aufflogen, würde sie wegen Beihilfe zum Mord und Verschleierung einer Straftat ins Gefängnis gehen. Sie konnte sich nicht damit herausreden, ihren Bruder schützen zu wollen, es war ihr Plan, die Candice zu versenken und die Leiche verschwinden zu lassen. Was sie noch mehr beunruhigte, war die Frage, ob sie mit ihrer Tat klarkommen würden. Für den Rest ihres Lebens teilten sie nun ein Geheimnis, das niemals offenbar werden durfte.

Ruby koppelte den Anhänger an den Pick-up und fuhr zum Hafen. Das Risiko, dass die Polizei Harris’ Leiche während der kurzen Fahrt entdeckte, schätzte sie gering ein. Selbst wenn sie in eine Verkehrskontrolle geriet, würden die Beamten das Boot nicht durchsuchen. Alderney war klein, jeder kannte jeden. Es gab nur vier Polizisten im Revier von Saint Anne. Da waren der schleimige Gordon Lyme – ein Neffe des Chefs der übergeordneten Guernsey Police –, der junge Dave Bailey, der mit Robbie zur Schule gegangen und locker mit ihm befreundet war, sowie Constable Penny Saunders. Der alte Henderson wäre ohnehin zu faul gewesen, eine Radarfalle aufzubauen und sich mit dem Papierkram herumzuschlagen. Blieb der neue Chief, den sie noch nicht einschätzen konnte.

Sie fuhr an Fort Grosnez vorbei zum Breakwater-Damm. An dessen südlichem Ende wendete sie und manövrierte den Pick-up rückwärts an der Mole entlang. Hier senkte sich die Fahrspur allmählich ab und führte ins Hafenbecken hinein. Als die Wellen den Kiel umspülten, stoppte sie. In diesem Moment klingelte ihr Handy. Das Display zeigte Robbies Mobilfunknummer an. Sie zischte ärgerlich durch die Zähne.

„Du sollst mich doch von Harris’ Anschluss aus anrufen und nicht von deinem Telefon, du Idiot!“, schnauzte sie.

„Schalt mal ’nen Gang runter, Schwesterchen“, erwiderte er. „Ich bin vor dem Haus, aber ich komme nicht rein.“

„Wieso nicht?“

„Der Typ hat ’nen Hund. Der macht einen Heidenlärm, wenn ich mich der Wohnungstür auch nur nähere.“

Ruby fluchte. Sie hatten kaum begonnen, da wurde es bereits kompliziert und lief aus dem Ruder. Es fehlte noch, dass die neugierige Nellie Marshall nachsah, warum der verdammte Köter kläffte.

„Okay, komm zurück zur Werkstatt. Du musst Harris’ Handy benutzen.“

„Bin gleich da.“

Ruby stieg aus dem Pick-up und kletterte auf das Boot. Bei der ersten Durchsuchung der Leiche hatte sie nur auf die Schlüssel geachtet. Sie ekelte sich davor, den Toten anzufassen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Plastikplane, in die sie ihn gewickelt hatten, wieder aufzuschnüren. Sie kniete sich neben den Toten und zerschnitt das zähe Gewebeklebeband mit ihrem Taschenmesser.

Harris’ Mobiltelefon steckte in einer Seitentasche seiner Cargohose. Ruby nahm es mit spitzen Fingern heraus und wischte über das Display. Wenn es mit einer PIN geschützt war, hatte sie ein Problem, doch zu ihrer Erleichterung wurde sie aufgefordert, den eingescannten Fingerabdruck abzugleichen. Sie unterdrückte ihre Abscheu, packte Harris’ rechte Hand und drückte seinen Zeigefinger auf das Display. Die Haut war noch warm. War das normal? Wie schnell kühlte ein Toter ab?

Das Telefon piepte eine Bestätigung. Hastig rief Ruby die Einstellungen auf und verlängerte die verbleibende Zeit bis zur nächsten Aufforderung zur Identifizierung auf eine Stunde, das sollte reichen.

Sie blickte auf Harris hinab, der regungslos auf dem Deck lag. Hastig schob sie mit der Schuhspitze einen Zipfel der Plane über sein Gesicht. Das Klebeband, mit dem sie ihn verschnürt hatte, lag in der Werkstatt. Es musste eben so gehen, Harris war es egal. Sie ließ das Boot zu Wasser, vertäute es am Pier und fuhr zur Werkstatt zurück.

Robbie wartete bereits auf sie. Sie drückte ihm das Handy in die Hand und wandte den Blick ab, als sie die Unsicherheit in seinem Gesicht sah.

„Reiß dich zusammen, wir haben es fast geschafft“, sagte sie.

Er nickte stumm und begann zu wählen.

„Was machst du da?“, fragte Ruby.

„Dich anrufen.“

„Nicht von hier aus. Du musst zurück zu Harris’ Apartment. Sonst fliegen wir auf, wenn die Polizei die Funkzellen auswertet. Ich glaube, die können das mit GPS ziemlich genau überprüfen.“

„Okay.“

Robbie war kreidebleich. Er stellte keine Fragen mehr, sondern reagierte nur noch mechanisch auf ihre Anweisungen. Ruby verließ der Mut. Auch wenn ihr Plan gelang, würden sie scheitern, wenn die Polizei ihren Bruder einem Verhör unterzog. Er würde keine zehn Minuten durchhalten.

„Fahr jetzt los“, sagte sie.

Er steckte das Telefon ein, schlich mit hängenden Schultern zu Harris’ Wagen und fuhr los. Ruby wartete angespannt. Sieben Minuten später klingelte ihr Handy.

„Okay. Du weißt, was du zu tun hast“, sagte sie. „Wir treffen uns am Saye Beach.“

Als sie in die sandige Zufahrt zum Strand im Nordosten von Alderney einbog, fegte ein stürmischer Wind über die Insel und zupfte übermütig an den weiß bemützten Wellen. Mit sorgenvoller Miene beobachtete Ruby das aufgewühlte Meer. Himmel und See verschmolzen in dem unwirklichen Zwielicht. Irgendwo dort draußen kämpfte ein kleines Kajütboot gegen die Kraft des Sturms an. Sie musste auf Robbies seemännisches Können vertrauen, er konnte die Gefahr besser einschätzen als sie. Trotzdem fühlte sie sich für ihn verantwortlich, es war ihr Plan gewesen, ihre Entscheidung, ihren Bruder in dieser Nussschale auf das offene Meer hinauszuschicken … mit einer Leiche an Bord.

Endlich erspähte sie einen hellen Fleck, der wie ein Korken auf den Wellen tanzte und langsam größer wurde.

Die Candice lief in die Bucht ein. Robbie drehte das Boot bei, das heftig in der Dünung zu schaukeln begann. Ruby watete in die kalte Brandung hinein. Er reichte ihr die Hand und zog sie an Bord.

„Was hast du denn jetzt wieder angestellt?“, fragte sie.

Er fuhr sich über die Hautabschürfungen auf seiner linken Wange.

„Die See geht ziemlich heftig. Ich bin mit dem Kopf gegen das Steuerrad geknallt.“

„Hat dich jemand gesehen?“

„Der alte Lewis. Was sollen wir mit Harris machen?“

„Hilf mir, die Flutventile zu öffnen.“

„Wozu?“

Ruby kniff die Augen zusammen und schätzte die Entfernung zu den Riffen ab, die sich etwa eine Seemeile nordöstlich der Bucht erstreckten. Bei Flut waren sie auch für geübte Segler schwer zu erkennen, Dutzende Boote lagen dort auf Meeresgrund. Der Meeresboden fiel bis auf eine Tiefe von dreißig Metern ab.

„Wir stellen das Ruder fest und lassen das Boot auf die Riffe zutreiben“, sagte Ruby.

Er nickte aufgeregt. „Jeder wird glauben, dass die Candice bei Sturm aufgelaufen und Harris über Bord gegangen ist. Die ablaufende Tide wird ihn in den Kanal hinaustreiben, wo ihn die Fische fressen.“

„Hoffen wir es. Wie lange wird es dauern, bis das Boot vollläuft und sinkt?“

Robbie warf einen skeptischen Blick in den aschgrauen Himmel. „Das kommt darauf an, wie weit wir die Ventile aufdrehen. Bis zu den Riffen braucht die Candice bei der ablandigen Strömung ungefähr fünfzehn Minuten.“

„Okay. Zieh die Jacke aus.“

Robbie entschied, die Ventile zur Hälfte zu öffnen. Sie laschten das Ruder fest und drehten das Boot in den Wind. Robbie drückte den Gashebel nach vorn, dann sprangen sie in das flache Wasser. Nach wenigen Augenblicken verschmolz das Kajütboot mit der Dämmerung. Robbie zitterte vor Kälte, Ruby spürte nichts. Ihre Gedanken wirbelten in einer endlosen Spirale herum, auf der Suche nach einem Detail, das sie übersehen haben könnte.

„Hast du den Explorer am Hafen abgestellt?“, fragte sie.

„Bei der Mole in der Nähe der Anlegestelle der Candice.“

„Gut. Fahren wir zurück.“

Zwanzig Minuten später betraten sie die Werkstatt. Ruby erschrak. Vor der Hebebühne stand ihre Mutter. In ihren alten Morgenmantel gehüllt, mit wirrem, grauem Haar und bleich wie der Tod starrte sie auf den großen Blutfleck.

„Mum! Was machst du denn hier?“, fragte Ruby.

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2. Juni

Detective Chief Inspector Steve Cole nippte an seinem Kaffee und führte eine stumme Unterhaltung mit dem Foto seines Vorgängers Bill Henderson, das an der Wand gegenüber dem Schreibtisch hing. Der im vergangenen Herbst verstorbene Leiter der Alderney Police Force erwies sich heute als besonders wortkarg, also konzentrierte sich Steve auf den Kalender. Am 9. September war er auf Alderney angekommen und hatte seinen Dienst als Polizeichef der Insel angetreten. Seit 266 Tagen war sein altes Leben unwiderruflich vorbei, und seit ebenso vielen Tagen war er von Abby und der kleinen Ivy getrennt – was auch der eigentliche Grund seiner trübsinnigen Laune war.

Er lehnte sich zurück und trank einen Schluck. Das Knarren des wackeligen Bürostuhls erinnerte ihn daran, dass er noch immer keinen neuen geordert hatte. Er hatte niemals vorgehabt, länger als nötig zu bleiben. Vieles war seit diesem Entschluss geschehen und hatte sich verändert – Entwicklungen waren eingetreten, mit denen er nicht gerechnet hatte und die seine Pläne über den Haufen geworfen hatten.

Steve stand auf, schlenderte mit der Tasse in der Hand ans Fenster und blickte skeptisch in den wolkenverhangenen Himmel. Seit gestern Abend fegte ein heftiger Sturm über Alderney hinweg. Der Frühling war nass und kalt zu Ende gegangen, der Sommer ließ sich Zeit. Auf der Frankreich vorgelagerten Insel schien alles etwas länger zu dauern. Steve glaubte, die tadelnden Blicke seiner Vorgänger im Rücken zu spüren, weil sie seine Einschätzung missbilligten. Eigentlich hatte er die Porträts abhängen wollen, doch das hätte bei seinen Untergebenen einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen. Auf Tradition legte man großen Wert in Saint Anne, der einzigen Ortschaft Alderneys, die zugleich Hauptstadt und Regierungssitz der Insel war. Also hatte er die Fotos hängen lassen und auch sonst nichts verändert – bis hin zu dem knarrenden Bürostuhl. Denn schließlich war er nur auf der Durchreise, nicht wahr? Es lohnte die Mühe nicht, sich häuslich einzurichten. So oder so ähnlich hatte er bei seiner Ankunft im September gedacht. Die geplante kurze Episode auf der kleinen Kanalinsel dauerte inzwischen allerdings fast ein Dreivierteljahr.

„Okay, es war meine Entscheidung, hierherzukommen und den Posten des Chiefs zu übernehmen“, murmelte er. „Ich gebe ja zu, dass es gar nicht so übel ist. Allmählich gewöhne ich mich daran.“

Nein, es waren nicht der gemächliche Polizeidienst und die Ruhe, die ihn störten. Ihn machte das Warten verrückt. Eigentlich hatte er längst fort sein wollen, zusammen mit Abby, aber sein Erfolg als verdeckter Ermittler der Londoner Metropolitan Police hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Abby steckte seit einem halben Jahr in einem Zeugenschutzprogramm fest. Sie sollte als Kronzeugin in dem Prozess gegen den Mafiaboss Viktor Sorokin aussagen, den sie gemeinsam zur Strecke gebracht hatten. Die Verhandlung hätte bereits im Februar stattfinden sollen, aber Sorokins Anwälte erreichten mit Befangenheitsanträgen und anderen an den Haaren herbeigezogen Gründen immer wieder einen Aufschub. Steve fragte sich, welche Strategie dahintersteckte. Der Pate der Londoner City saß im Pentonville-Gefängnis und wartete auf seinen Prozess wegen Korruption und Geldwäsche. An seiner Verurteilung bestand kein Zweifel. Nicht zuletzt durch Abbys Aussage waren die Beweise der Anklage wasserdicht.

Mit jedem Tag, der verging, vermisste er sie mehr. Würden sie nach all den Monaten der Trennung überhaupt dort weitermachen können, wo ihre Beziehung erzwungenermaßen unterbrochen worden war? Offiziell war Steve, der eigentlich Thomas McCallum hieß, bei einem Flugzeugabsturz vor Neufundland ums Leben gekommen. Nicht einmal Abby war in den Plan eingeweiht gewesen, den er und sein Freund und früherer Vorgesetzter Matt Frazer ersonnen hatten. Dass sie seinen Tod vorgetäuscht hatten und er als Detective Chief Inspector Steve Aiden Cole auferstanden war, hatte sich als enorme Belastung für ihr gegenseitiges Vertrauen erwiesen. Ob sich die Notlüge am Ende als Beziehungskiller entpuppen würde?

Matt hatte keinen anderen Weg gesehen, als Thomas McCallum sterben zu lassen, um ihn vor der Vendetta Sorokins zu bewahren. Der Mafiapate hatte geschworen, jede Frau zu töten, mit der sich Steve auf eine Beziehung einließ. Es war eine perfide, grausame Art der Rache, die nicht nur ihn, sondern auch die Menschen, die Steve liebte, in tödliche Gefahr brachte. Und das alles nur, weil der Russe davon überzeugt war, dass Steve den Tod von Sorokins Geliebter Natasha Gradenko zu verantworten hatte. Es wurde Zeit, all das hinter sich zu lassen. Zeit, dass Abby ihre Aussage machte und zu ihm nach Alderney kommen durfte.

Vom vorderen Teil des Reviers drang eine resolute Frauenstimme durch die angelehnte Milchglastür mit der Aufschrift Chief. In den kurzen Pausen, in denen die Besucherin Luft holte, hörte Steve die Stimmen von Gordon Lyme und Dave Bailey, die versuchten, die Frau zu beruhigen.

Er trank seinen Kaffee aus und begab sich in die Wache. Vielleicht war etwas passiert, das ihm die trüben Gedanken und die Langeweile vertrieb. Auf Alderney gab es für sein Team nicht viel zu tun. Das war einer der Gründe gewesen, warum er dem Plan zugestimmt hatte, unter neuer Identität den Posten als Chief anzunehmen. Das Leben als verdeckter Ermittler war gefährlich. Die Zahl der Verbrecher, die er hinter Gitter gebracht hatte und die ihn am liebsten tot gesehen hätten, war zu lang geworden. In diesem Job stand man ständig mit einem Bein im Grab oder schwamm als Wasserleiche in der Themse. Wie beschaulich war dagegen Alderney. Seit er die Flutmorde im vergangenen September aufgeklärt hatte, war nichts Aufregenderes mehr passiert als eine Auseinandersetzung zwischen betrunkenen Jugendlichen mit dem Hafenmeister, bei dem eine Flasche Ale zu Bruch gegangen war. Das Herumsitzen machte ihn verrückt.

Er ging nach vorn. Bei jedem Schritt spürte er das Stechen in seiner linken Hüfte, das schlimmer würde, wenn das Barometer fiel. Es erinnerte ihn daran, wie knapp er in Sorokins Lokal und Schaltzentrale in der Londoner City, dem Red Door, mit dem Leben davongekommen war.

Vor dem Tresen in der Wache stand Nellie Marshall, eine resolute Dame mittleren Alters. Sie war krankhaft neugierig, liebte Katzen und besaß ein Haus in der Victoria Street, in dem sie Apartments an Feriengäste vermietete. In den ersten beiden Wochen nach seiner Ankunft auf Alderney hatte Steve in einem ihrer möblierten Zimmer gewohnt, aber Nellies penetrante Neugier hatte ihn rasch dazu veranlasst, sich nach einer anderen Bleibe umzusehen. Seine Wahl war auf ein renovierungsbedürftiges, altes Pfarrhaus unterhalb des Cliff Path gefallen, das der Gemeinde von Saint Anne gehörte.

„Und ich sage dir, es ist etwas Schreckliches geschehen, Gordon“, beharrte sie. „Mich zwickt’s im Nacken. Als Prescotts Kater verschwand, war’s genauso. Und was mit dem passiert ist, weißt du ja.“

„Es ist noch zu früh, um etwas zu unternehmen“, sagte Dave.

Die vollen Wangen des jungen Constables glühten wie zwei reife Pfirsiche. Steve bemerkte ein paar Krümel auf seinem Hemd und einen angebissenen Donut auf dem Schreibtisch.

„Was gibt’s denn?“, fragte er.

Nellie drehte sich zu ihm um. „Ihre Mitarbeiter behaupten, ich will mich nur wichtigmachen, Chief Cole.“

Gordon Lyme hob abwehrend die Hände. „Das habe ich nicht gesagt.“

Steve sah zu Penny hinüber. Sie saß an ihrem Platz, grinste und rollte hinter Nellies Rücken mit den Augen.

„Mrs Marshall glaubt, dass ihrem Mieter etwas zugestoßen ist“, erklärte Dave.

„Und gibt’s dafür einen Anlass?“, fragte Steve.

„Ich weiß, dass die Leute Louie Harris nicht leiden können. Sie sagen, er sei ein Widerling, und haben damit vielleicht sogar recht, aber er zahlt immer pünktlich“, antwortete Nellie.

„Dann ist doch alles in Ordnung“, erwiderte Steve.

„Eben nicht. Heute ist der Erste, und er ist nicht vorbeigekommen.“

„Er begleicht seine Miete in bar?“

„Er will es so. Mir ist es egal, solange ich mein Geld bekomme.“

„Vielleicht ist er in Urlaub gefahren oder aufs Festland rüber, um Freunde zu besuchen“, sagte Gordon.

„Louie hat keine Freunde“, murmelte Penny.

„Sergeant Lyme hat recht“, sagte Steve. „Das allein reicht noch nicht, eine Suchaktion auszulösen. Mr Harris kann seinen Aufenthaltsort frei wählen und …“

„Er ist äußerst korrekt“, fiel Nellie ihm ins Wort. „Wäre er verreist, hätte er mir das Geld vorher gebracht oder einen Umschlag in den Briefkasten gesteckt. Seit gestern Abend läuft ununterbrochen der Fernseher. Und dann ist da noch der Hund.“

„Welcher Hund?“, fragte Steve.

„Harris besitzt einen Berger de Picardie“, sagte Dave.

„Wenn er länger fortbliebe, hätte er ihn doch mitgenommen, nicht wahr?“, sagte Nellie. „Das arme Tier bellt und jault in der Wohnung, dass es nicht zum Aushalten ist.“

„Er wird Hunger und Durst haben“, sagte Penny.

„Okay, dann schauen wir uns dort mal um. Sie besitzen einen Zweitschlüssel?“, fragte Steve.

Nellie nickte eifrig.

„Kommst du mit, Penny?“

Dave zog eine Schnute, Gordon setzte eine beleidigte Miene auf.

Ich muss etwas gegen die Langweile unternehmen, dachte Steve. Sie reißen sich schon darum, einen Hund zu füttern.

Aber mit Penny war er nun mal am liebsten unterwegs. Gordon konnte er nicht ausstehen, und Dave war anstrengend. Er witterte bei jeder Gelegenheit ein Kapitalverbrechen und rasselte Ermittlungsmethoden und Profilingweisheiten herunter, die er in einem Online-Fortbildungskurs paukte.

„Okay. Brauchen wir einen Maulkorb?“, fragte Penny.

„Daves Lunchpaket wird’s auch tun.“

Der junge Constable machte ein Gesicht, als hätte er die Order erhalten, eine Diät einzulegen.

„Ist das dein Ernst?“, fragte er.

„Aber klar doch“, sagte Steve.

Penny schüttelte den Kopf und schob ihn aus der Wache. Nellie Marshall folgte ihnen nach draußen.

„Du solltest Dave nicht immer so aufziehen“, sagte Penny.

„Wenn er in dem Tempo weiterfuttert, wird er bald selbst wie ein Donut aussehen.“

„Das liegt in der Familie. Daves Mum ist auch … nun, ein bisschen füllig.“

„Du meinst, der Grund für seinen gesunden Appetit ist ein Kindheitstrauma, weil er beim Essen als Jüngster immer zu kurz kam?“

„Wahrscheinlich schiebt er einfach nur Kohldampf, Dr. Cole.“

Folgte man vom Revier der Queen Elizabeth II Street, stieß man nach etwa hundert Metern auf die Victoria Street. Sie hätten ihr Ziel in wenigen Minuten zu Fuß erreichen können, aber Steve ließ Penny einen der drei Streifenwagen vorfahren. Das ungewöhnlich nasskalte Wetter machte seiner geflickten Hüfte zu schaffen. Sie warf ihm einen besorgt-mütterlichen Blick zu, den er geflissentlich ignorierte, als er zum Wagen humpelte. Während der kurzen Fahrt jammerte Nellie Marshall unentwegt über die ihr entgangenen Mieteinnahmen.

Das schmale Haus mit der Sandsteinfassade und den weißen Fensterrahmen drängte sich zwischen einen Blumenladen und Sam’s Café. Im Parterre befanden sich zwei Apartments, Nellie wohnte im Obergeschoss.

Penny parkte auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Haus und bemühte sich, die bepflanzten Terrakottatöpfe zu verfehlen. Steve stieg aus und öffnete die hintere Wagentür. Nellie eilte geschäftig auf die Haustür zu. Sie hatten kaum den Korridor betreten, als Harris’ Hund an der Tür kratzte und jaulte. Dann begann er laut zu bellen.

„So geht das seit gestern Abend.“

Sie fummelte verärgert den Schlüssel ins Schloss.

„Würden Sie bitte draußen warten?“, sagte Penny.

„Ich denke nicht dran, das ist mein …“

„Wir informieren Sie über alles, was nötig ist“, sagte Steve. „Kannst du gut mit Hunden?“

Penny blickte ihn skeptisch an. „Eher mit Katzen.“

„Okay, ich gehe vor.“

Er öffnete vorsichtig die Tür. In der Diele stand ein struppiger, brauner Hund. Er sah Steve aus großen Augen an, senkte dann den Kopf und begann, unruhig auf und ab zu laufen.

„Er scheint ziemlich durcheinander zu sein“, stellte Penny fest.

„Jedenfalls macht er keinen gefährlichen Eindruck. Er wird ausgehungert sein. Schau mal, ob du seinen Napf findest, und gib ihm Wasser.“

Er schob die Tür zum Wohnraum auf. Das Apartment war leer. Auf dem Bett lagen zwei geöffnete, halb gepackte Koffer, dazwischen hastig hingeworfene Kleidungsstücke. Der Fernseher lief.

Penny füllte eine Edelstahlschale mit Wasser und stellte sie auf den Boden. Der Hund näherte sich ihr zögernd und zuckte zurück, als sie ihn streicheln wollte. Doch schließlich war sein Durst größer als sein Misstrauen.

„Ich frage mich, warum ein Kerl wie Harris sich ein Haustier hält“, sagte sie nachdenklich.

„Was für ein Typ Mensch ist er denn?“, fragte Steve.

„Er hat sich nie in unser Team eingefügt. Louie war nicht bereit, etwas von sich preiszugeben oder sich zu öffnen. Niemals wusste man, was in ihm vorging, keiner von uns hatte Lust, mit ihm Streife zu fahren.“

„Harris war Polizist?“

„Ja. Alle waren erleichtert, als er gehen musste.“

„Warum denn das?“

Penny seufzte. „Das ist ’ne lange Geschichte. Louie war ein Korinthenkacker und bestand darauf, jede noch so kleine Gesetzesübertretung scharf zu ahnden. Die Kids, die im Hafen ihre Partys feiern, hätten ihn am liebsten mit einem Betonklotz am Bein im Meer versenkt.“

„Hat Henderson ihn nicht aufgefordert, sich zu mäßigen?“

„Er war froh, wenn Harris für Ruhe sorgte, weil er keine Lust hatte, sich selbst um den alltäglichen Kleinkram zu kümmern.“ Penny schüttelte den Kopf. „Er muss ziemlich einsam sein. Der Rauswurf hat ihn schwer getroffen.“

„Keine Ehefrau oder Familie?“, fragte Steve.

„Als ich vor drei Jahren meinen Posten antrat, lief gerade die Scheidung.“ Sie lächelte gequält. „Ich lernte ihn sofort von seiner besten Seite kennen. Er war ein solcher Miesepeter, dass jeder im Revier einen Bogen um ihn machte.“

„Vielleicht hat der Hund ihm das Gefühl gegeben, nicht ganz allein auf der Welt zu sein“, sagte Steve. „Nellie meinte, er hätte ihn niemals zurückgelassen.“

„Oder er hat ein Wesen gesucht, das von ihm abhängig ist und das er kontrollieren kann“, erwiderte Penny. „Schau ihn dir an. Das Tier ist völlig verängstigt.“

„Gut möglich.“

Sie sah sich im Apartment um. „Sieht aus, als hätte er es verdammt eilig gehabt, zu verschwinden.“

„Stimmt“, antwortete Steve, „aber etwas hinderte ihn daran, es durchzuziehen.“

„Oder jemand.“

„Davon würde ich ausgehen.“ Er durchsuchte rasch den Inhalt der beiden Koffer. „Auf jeden Fall hatte er genug Geld für eine längere Reise.“

Steve hielt ein Bündel Pfundnoten hoch. Es war nicht das Einzige, das er fand.

Penny pfiff durch die Zähne.

„Das müssen mindestens hunderttausend Pfund sein.“

„Eher zweihunderttausend.“

„Glaubst du, jemand hatte es auf das Geld abgesehen?“

„Jedenfalls ist er nicht dazu gekommen, es sich unter den Nagel zu reißen.“

„In der Kaffeemaschine ist noch Kaffee“, sagte sie. „Der Fernseher läuft, und Harris hat gegen seine Gewohnheiten den Hund zurückgelassen. Scheint so, als wäre er nur mal eben Zigaretten holen gefahren und hätte vorgehabt, schnell wieder zurückzukommen. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass er seinen kurzen Ausflug nicht überlebt hat.“

„Wäre denkbar. Fragen wir mal die Nachbarn. Vielleicht hat jemand etwas gesehen oder gehört.“

Penny deutete auf den Hund. „Was machen wir mit ihm?“

„Ich fürchte, er muss sich vorübergehend ein neues Zuhause suchen.“

„Auf Alderney gibt’s aber kein Tierheim.“

„Wolltest du dir nicht schon lange ein Haustier anschaffen?“, fragte Steve.

Penny verzog den Mund. „Sicher keinen solchen Flohzirkus.“

„Was macht eigentlich Frank?“, fragte Steve. „Benimmt er sich?“

Sie öffnete den Schrank unter der Spüle, stieß auf eine Packung Hundefutter und füllte den Napf auf. Der Hund fraß hastig.

„Er hat wieder angefangen zu trinken.“

„Das war wohl unvermeidlich.“

Steve dachte an den Morgen zurück, an dem Penny zum ersten Mal mit einem blauen Auge im Revier aufgetaucht war. Kurz darauf hatte er mit Frank Saunders eine kleine Spazierfahrt zu den Klippen am Cachalière Pier unternommen und ihm klargemacht, was ihn erwartete, wenn er seine Frau noch mal verprügeln sollte.

„Du hast gar nichts davon erzählt“, sagte er.

Sie zuckte mit den Schultern und schaltete den Fernseher aus.

„Er behauptet, es wäre ein einmaliger Ausrutscher gewesen.“

„Ist er handgreiflich geworden?“

„Er war zu betrunken, um wirklich gefährlich zu sein. Ich habe ihm Handschellen angelegt und ihn an die Heizung gefesselt.“

„Wow. Du führst ja ein aufregendes Eheleben.“

Er stellte sich vor, wie Penny den Hundert-Kilo-Mann aufs Kreuz gelegt hatte. Sie maß gerade mal einen Meter sechzig. Trotzdem sollte man sie nicht unterschätzen, dachte er.

„Ich frage mich, wie lange du den Scheißkerl noch ertragen willst.“

„Ich wollte ihm eine letzte Chance geben, weil ich hoffte, die Rosskur, die du ihm verpasst hast, würde wirken.“

„Hat sie aber nicht.“

„Solange er nüchtern bleibt, ist alles okay.“

„Aber er schafft’s nicht.“

„Nein.“

„Kommst du klar? Wenn die Hilfe brauchst …“

„Danke. Ich werde ausziehen, hab nur noch nichts Passendes gefunden.“

„Weiß er es schon?“

„Ja. Aber ich glaube, er hat noch nicht wirklich realisiert, dass ich es diesmal ernst meine.“

„Mmh. Wenn’s ihm klar wird, könnte er etwas Dummes anstellen.“

„Das ist Franks Problem, nicht meins. Sag bloß, du machst dir Sorgen um mich.“

„Aber sicher doch. Ich kümmere mich um mein Team. Ihr könnt mir jederzeit euer Herz ausschütten.“

Penny lachte. „Dann schicke ich dir Dave vorbei.“

„Stimmt etwas nicht mit ihm?“

„Ich glaube, er hat Liebeskummer.“

„Oha.“ Steve dachte an die vielen gescheiterten Beziehungen, die hinter ihm lagen. „Ob ich da der richtige Ratgeber bin?“

„Wo wir gerade beim Thema sind … Wie geht’s Abby?“

„Der Prozess gegen Sorokin ist wieder verschoben worden. Solange sie nicht aussagen kann, bleibt sie im Zeugenschutz. Es ist kompliziert.“

„Das ist es doch immer, oder nicht?“, sagte Penny.

„Das kannst du laut sagen.“

„Gibt es etwas Neues von Cataldo?“

Steve zog sich einen Stuhl heran. Die Erwähnung von Sorokins halb verrücktem Ziehsohn verstärkte das Stechen in seiner Hüfte.

„Er wird wegen mindestens zwölf Auftragsmorden von Interpol gesucht. Seit er uns durch die Lappen gegangen ist, scheint er wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Er sitzt irgendwo im Dunkeln, leckt seine Wunden und wartet, bis sich die Wogen geglättet haben. Ich bin sicher, dass wir noch von ihm hören werden.“

Der Hund hatte sich satt gefressen und schnüffelte vorsichtig an Steves Hosenbein.

„Erzähl mir mehr über Louie Harris“, sagte Steve. „Warum ist er aus dem Dienst ausgeschieden?“

Penny zog die Mundwinkel nach unten.

„Er ist und bleibt ein Arsch. Wenn er sich wirklich aus dem Staub gemacht hat, weint ihm auf Alderney niemand eine Träne nach.“

„Mmh. Sieht aber so aus, als hätte er’s nicht geschafft, wegzukommen. Ob jemand eine offene Rechnung mit ihm beglichen hat?“

„Manchmal denke ich, jeder auf der Insel hatte schon mal Streit mit ihm.“ Penny nahm ein Foto von der Wand und reichte es Steve. Es zeigte einen untersetzten Mann um die fünfzig, Penny, Gordon Lyme und Bill Henderson.

„Constable Louie Harris, jahrelang scharf auf den Posten des Chiefs, den er aber nie bekommen hat“, erklärte sie. „Ein arroganter Prinzipienreiter und herrschsüchtiger Kontrollmensch – ein echter Soziopath. Solange du ihm Honig um den Bart schmierst, kommst du gut mit ihm klar. Aber wehe, du stellst dich ihm in den Weg oder kritisierst ihn. Dann kann er richtig ausrasten. Er schnüffelt gerne im Privatleben anderer Leute herum und sucht nach Fehlverhalten und Schwächen, die er sich zunutze machen kann.“

„Klingt nach einem netten Kollegen.“

Penny schnaubte. „Frag mal Gordon. Selbst ihm war Harris zuwider.“

„Und Dave?“

„Der kam erst, als Harris gehen musste.“

„Er wurde suspendiert?“

„Bill blieb am Ende keine andere Wahl. Wenn du mich fragst, hat er ihn viel zu lange gewähren lassen. Bis es zur Katastrophe kam.“

„Du machst mich regelrecht neugierig“, sagte Steve.

„Harris erschoss einen vermeintlichen Einbrecher. Später stellte sich heraus, dass Angus Nolan unschuldig war. Er betrieb eine Autowerkstatt im Hafen, sein zweites Standbein war der Verkauf von Alarmanlagen und Sicherheitstechnik. Er war echt gut in dem Job. Seit immer mehr reiche Geschäftsleute aus der City of London Alderney als Wochenendparadies entdeckt haben und sich hier Ferienhäuser kaufen, hatte er gut zu tun.“

„Gab es Zeugen?“

„Nein. Harris behauptete, Nolan habe einen Komplizen gehabt, der vom Tatort geflohen war, aber das konnte nicht bewiesen werden. Nolans Tochter Ruby sagte aus, dass ihr Vater spätabends einen Kontrollgang unternommen hätte, um eine von ihm installierte Alarmanlage zu überprüfen. Es war eine Angewohnheit von ihm, den Kunden die Qualität seiner Arbeit gewissermaßen in Echtzeit zu demonstrieren. Harris war besessen davon, eine Einbruchsserie aufzuklären, die uns monatelang beschäftigte. Alle wussten, dass er Angus Nolan verdächtigte, ihm regelrecht nachstellte, und dass er zu Überreaktionen neigte.“

„Das heißt, er griff schnell zur Waffe.“

Penny nickte. „Nur, dass sie diesmal losging. Nolan war sofort tot, Harris hatte drei Mal gefeuert.“

„Wie lange ist das her?“

„Etwa zwei Jahre. Die Serie ging übrigens nach Nolans Tod weiter, was im Nachhinein auf tragische Weise seine Unschuld beweist.“

„Hatte er Familie?“

„Ja. Angus hinterließ eine Frau und zwei Kinder.“

„Wie haben sie seinen Tod verkraftet?“, fragte Steve.

„Robbie und Ruby führen die Autowerkstatt am Hafen weiter. Der Junge ist dreiundzwanzig. Er hat den Tod seines Vaters nie verwunden. Seitdem schlägt er immer wieder über die Stränge und baut einen Mist nach dem anderen. Seine drei Jahre ältere Schwester versucht, den Laden zusammenzuhalten, aber sie hat’s schwer. Es heißt, die Mutter sei depressiv und nicht mehr ganz richtig im Kopf.“

Steve stand auf. Der Hund blickte ihn erwartungsvoll an.

„Er mag dich“, sagte Penny.

„Was machen wir denn nun mit ihm?“

„Sieht so aus, als hätte er sich für dich als neuen Herrn entschieden.“

Steve seufzte. „Was soll ich mit einem Hund anfangen?“

„Bring ihn doch mit ins Revier.“

„Ein Revierhund?“

Penny zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Er wird’s gut bei uns haben. Dave wird ihn mit Sausages füttern, bis er platzt.“

Steve hängte das Foto zurück an den Haken. Nellie Marshall zwängte sich durch den Türspalt und reckte neugierig den Hals.

„Mir ist noch etwas eingefallen, Chief Cole. Gestern Abend gegen sechs stand Harris’ Wagen vor der Tür. Er muss kurz vorher gekommen sein, denn als ich gegen halb sechs den Müll raustrug, war er noch nicht da. Eine Viertelstunde später habe ich gesehen, wie er wieder weggefahren ist.“

„Wissen Sie, wohin er wollte?“, fragte Penny.

„Vor ein paar Tagen erwähnte er, dass sein Boot in der Werkstatt wäre. Vielleicht wollte er es abholen.“

„Harris besitzt ein Boot?“, fragte Steve.

„Ein Kajütboot, mit dem er oft zum Angeln rausfährt“, bestätigte Penny.

„Wo lässt er denn normalerweise Reparaturen durchführen?“

„Bei den Nolans.“

„Ups. Dann wollen wir die Herrschaften mal besuchen.“

Penny reichte ihm eine Hundeleine. „Festnahmen gehören zu deinem Aufgabengebiet, Chief.“

Beim Anblick der Leine zog sich der Hund blitzartig in eine Ecke zurück. Seine Augen waren riesengroß und angsterfüllt, er zitterte.

„Hast wohl schlechte Erfahrungen gemacht, was?“ Steve zuckte mit den Schultern. „Deine Entscheidung. Constable Saunders ist der Meinung, du sollst mitkommen.“

Er drehte sich um und ging zur Tür. Der Hund folgte ihm in respektvollem Abstand.

„Er hat eine gute Menschenkenntnis“, sagte Penny und lachte.