Leseprobe Im Zimmer nebenan | Ein fesselnder Psychothriller, der unter die Haut geht

1. Kapitel

In dem Moment, in dem sie mich anblickt, sehe ich ihr an, dass sie glaubt, ich hätte meine Tochter ermordet.

„Hi, ich bin Detective Anne Briar. Ich leite die Ermittlungen in diesem Fall.“

Sie hält mir ihre Hand hin. Ich fasse danach, schüttele sie, lasse sie wieder los.

„Ich bin voller Hoffnung und Zuversicht, Bella sicher und wohlbehalten nach Hause zurückzubringen. Während wir daran arbeiten, dieses Ziel zu erreichen, können Sie mich ruhig jederzeit anrufen oder mir eine SMS schicken.“

Ihre Worte klingen einstudiert, so als hätte sie sie in ihrer Karriere als Detective mit Schwerpunkt auf vermissten Personen schon oft sagen müssen. Ich frage mich, wie hoch ihre Erfolgsquote ist. Wie viele Vermisste hat sie tatsächlich ‚sicher und wohlbehalten‘ nach Hause zurückgebracht? Wie viele Kinder verschwinden denn schon spurlos aus Spencer, Michigan?

Ein uniformierter Polizist schiebt sich in der offenen Tür an ihr vorbei, um ins Haus zu gelangen. Sie geht einen Schritt zur Seite.

„Ich bin Charlie, das ist meine Frau Andi.“ Charlie beugt sich vor und schüttelt ihr die Hand.

Alles an Anne Briar ist fahl. Ihre Haut ist blass, die Haare sind matt, und ihre Kleidung wirkt verschossen. Ihre Augen dagegen haben etwas sehr Eindringliches, und ihr Blick scheint mich zu durchbohren. Ich sehe zu Boden, da ich mich der Herausforderung nicht gewachsen fühle.

Sie streckt ihre Hand aus und hält mir ihre Visitenkarte hin. Ich sehe hoch, zögere aber zu lange, und so ist es Charlie, der in Aktion tritt. Er greift um mich herum und nimmt die Karte an sich. Dann bedankt er sich bei ihr und dirigiert sie in unser Wohnzimmer. Ich spüre, dass ihr Blick immer noch auf mir ruht, als sie bereits an mir vorbeigeht. Dann begegnen sich unsere Blicke, und während ich wieder zur Seite sehe, spüre ich mein Herz in meiner Kehle pochen.

Innerlich möchte ich mich am liebsten ohrfeigen, während ich meinen Kaffeebecher vom Tresen nehme und ihnen folge. Seit achtundvierzig Stunden habe ich kein Auge mehr zugetan. Die Erschöpfung und der Schock machen meinen Verstand träge und fahrig, obwohl er gerade jetzt rasiermesserscharf sein sollte.

Kurz bevor ich das Wohnzimmer erreiche, bleibe ich stehen, da sich meine Aufmerksamkeit auf eine Gruppe von Leuten richtet, die sich vor der Tür zu Bellas Kinderzimmer versammelt haben. Einige tragen Uniform, andere Zivilkleidung, während sie dichtgedrängt dastehen. Was sehen sie sich an? Wonach suchen sie?

„Mrs Miller?“, Briars Stimme lotst mich weiter ins Wohnzimmer.

„Ja, bitte?“, erwidere ich.

Ich habe das Gefühl, dass sie mit mir geredet hat. Sie sieht mich erwartungsvoll an, wiederholt aber nicht, was sie gesagt hat. Ich drehe mich zu Charlie um, der sich auf die Couch gesetzt hat. Seine blauen Augen sind weit aufgerissen, und mit seinen völlig zerzausten sandbraunen Locken sieht er aus wie kurz vor einem hysterischen Anfall. Er fährt sich mit beiden Händen wieder und wieder durch die Haare – ein nervöser Tick, der mir bis gerade eben noch nie bei ihm aufgefallen ist. Mit der Hand tippt er auf den freien Platz neben ihm.

„Detective Briar muss uns ein paar Fragen stellen“, sagt er.

Mir kommt ein ersticktes Lachen über die Lippen, und so wie ein Hund, der Wasser aus seinem Fell zu schütteln versucht, schüttele ich den Kopf, um die Verwirrung aus meinem Hirn zu vertreiben. Als ich an Charlie vorbeigehe, um mich neben ihm hinzusetzen, verkrampfe ich innerlich über meine Unbeholfenheit. Ich trinke einen Schluck Kaffee, während Briar etwas aus ihrer Kuriertasche holt. Ich zucke zusammen, als die kühle Flüssigkeit meine Lippen berührt. Wahrscheinlich würde es unhöflich aussehen, wenn ich jetzt wieder aufstehen würde, um den Kaffee in der Mikrowelle aufzuwärmen. Also trinke ich noch einen kalten Schluck. Ich brauche unbedingt das Koffein.

Normalerweise ist es mir egal, ob ich auf andere unhöflich wirke. Das kommt ohnehin oft vor. Aber mir ist es sehr wichtig, wie diese Frau über mich denkt. Und ich befürchte, dass diese erste Begegnung nicht gut verlaufen ist. Ich benehme mich seltsam und muss mich beruhigen.

Erst jetzt, nachdem ich Platz genommen habe, wird mir bewusst, dass Briar in Bellas Sessel sitzt – dem blauen bequemen Sessel, der meiner Tante Margaret gehört hat. Er ist das Einzige, was ich nach Margarets Tod behalten habe. Bella hat sich in diesem Sessel gern in eine Decke gekuschelt, um sich im Fernsehen Cartoons anzusehen und ihre Cornflakes zu essen.

„Es tut mir leid, aber … würde es Ihnen etwas ausmachen, stattdessen den anderen Sessel zu nehmen?“ Ich deute auf den antiken Sessel gleich daneben, der weniger nach einer Sitzgelegenheit und mehr nach Dekoration aussieht, was auch tatsächlich der Fall ist.

Sie sieht den Sessel und dann mich an. Ich überlege, was ich machen soll, wenn sie sich weigert. Aber sie reagiert mit einem verkniffenen Lächeln und steht auf.

„Kein Problem.“ Sie nimmt auf der äußersten Kante Platz, da sie offenbar Angst davor hat, das Korbgeflecht ihrem Gewicht auszusetzen. Ich kann es ihr nicht verübeln. Soviel zu meiner Absicht, mich nicht seltsam zu verhalten.

„Ich werde die Unterhaltung aufnehmen, damit ich sie mir später noch einmal anhören kann, falls das erforderlich werden sollte. Ist das für Sie okay?“ Sie stellt das Diktiergerät zwischen uns auf den Wohnzimmertisch. Es nimmt digital auf, nicht wie früher auf einer kleinen Kassette.

„Ja, natürlich“, sagt Charlie und nickt.

Beide sehen mich an, und ich nicke ebenfalls.

„Sie müssen es sagen, damit Ihr Einverständnis aufgezeichnet werden kann.“

„Ja“, sage ich.

Stimmengewirr ertönt aus dem Flur, und dann sieht einer der Polizisten um die Ecke.

„Tut mir leid, wenn ich störe. Aber wir brauchen ein Foto von dem Mädchen.“ Der Polizist hört sich außer Atem an, obwohl er nur ein paar Schritte gegangen ist. Während er redet, ist er Charlie und mir zugewandt, sein Blick ruht jedoch auf Briar.

„Bella“, sage ich und stehe auf.

Sein Blick zuckt ungehalten zu mir.

„Der Name des Mädchens ist Bella.“ Ich gehe an ihm vorbei durch den Flur zum Regel nahe der Haustür. Dort findet sich ein Foto von Bella, das ich erst vor ein paar Wochen aufgenommen hatte. Sie begleitete mich, als ich das Foto ausdrucken ließ, und sie durfte auch den Rahmen aussuchen. Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass dieses Foto nur ein paar Wochen später auf einem „Vermisst wird“-Plakat landen würde.

Ich drehe den Rahmen um und löse die Metallklammer, um die Pappe hinter dem Foto herauszunehmen. Dann halte ich das Foto in der Hand und betrachte ihr Lächeln, das von ihrem Zahnfleisch geprägt ist. Endlich hat sie begonnen, die Milchzähne zu verlieren. Die beiden richtigen vorderen Schneidezähne kommen allmählich zum Vorschein, die beiden Zähne daneben fehlen ebenfalls. Ihr Gesicht ist leicht gerötet – sie hat die gleiche empfindliche Haut wie Charlie, und an jenem Tag hatte sie viel Zeit in der Sonne verbracht. Ihre meeresblauen Augen leuchten, auch die hat sie von ihrem Dad geerbt. Das unbändige dunkelbraune Haar hat sie dagegen von mir. Sie trägt zwei Zöpfe, doch die Haare stehen in alle Richtungen ab.

Hinter ihr kann man ein wenig vom Spielplatz ausmachen, aber was man nicht sehen kann, sind die Luftschlangen und Ballons hinter der Kamera. Lila, rosa, blau und gelb – all ihre Lieblingsfarben. Die Ballons, auf denen „Happy Birthday“ geschrieben stand. Und der Kuchen mit acht Trickkerzen, die nach dem Ausblasen auf unerklärliche Weise trotzdem weiterbrannten.

Mit zitternder Hand gebe ich dem Polizisten das Foto.

„Benutzen Sie das Foto für Plakate? Wir bekommen es doch wieder, richtig?“, will Charlie wissen.

„Wir werden Flugblätter mit dem Foto und wichtigen Angaben zur Person drucken, die wir dann verteilen und mit denen wir in der Nachbarschaft herumgehen. Und ja, Sir, Sie werden das Foto so schnell wie möglich zurückerhalten.“

Ich setze mich wieder zu Charlie und versuche, gegen eine aufsteigende Übelkeit anzukämpfen. Mein Brustkorb ist so angespannt, dass ich befürchte, er könnte jeden Moment platzen, und dann würden sich all meine Eingeweide auf dem Wohnzimmertisch verteilen. Ich möchte allein sein. Ich möchte die Augen zumachen. Im Haus ist es viel zu hell, weil die frühsommerliche Sonne durch die hohen Wohnzimmerfenster in den Raum scheint. Zum ersten Mal seit unserem Umzug wünschte ich, wir hätten Vorhänge.

Briar räuspert sich und setzt sich etwas gerader hin, um die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken.

„Wann haben Sie Bella zum letzten Mal gesehen?“, will sie wissen.

„Gestern Abend“, sagt Charlie. „Wir haben sie ins Bett gebracht und ihr einen Gutenachtkuss gegeben …“ Charlies Stimme versagt, und mir bricht es das Herz. Wir werden das nicht durchstehen können.

„Und keiner von Ihnen hat sie danach noch einmal gesehen?“

„Nein“, bestätigen wir beide.

„Und um wie viel Uhr war das?“

Charlie sieht mich an. „Gegen halb neun“, sage ich.

„Und um viel Uhr wurde Ihnen klar, dass sie nicht mehr in ihrem Zimmer war?“

„Heute Morgen um acht“, antwortet Charlie. „Wir wecken sie jeden Morgen um acht Uhr.“

„Und wann sind Sie aufgestanden?“

„Um sieben“, sagt er.

Ihr Blick wandert zu mir.

„Um sechs“, sage ich.

Das sind die Uhrzeiten, zu denen wir normalerweise aufstehen. Würde sie sich unsere Handys ansehen, könnte sie sehen, dass unsere Wecker auf diese Zeiten gestellt sind. Außerdem ist es die Antwort, die ich ihr geben wollte. So viel Wahrheit wie möglich. Aber sie wirft mir wieder diesen Blick zu. Sie überspielt es ganz gut, aber nicht gut genug. Sie muss ihre Rolle spielen, so wie wir unsere Rollen spielen müssen. Wir sind die verängstigten Eltern, die nach ihrem Kind suchen. Sie ist die mitfühlende Polizistin, die unser Kind zu uns zurückbringen wird.

Doch sie vermutet, dass ich ihr nicht alles sage, was ich weiß. Ich kann es daran erkennen, wie sie ganz leicht die Augen zusammenkneift. Wie sie die Augenbrauen nur ein wenig zusammenzieht, dass man es fast nicht bemerkt. Etwas in ihr kann die Finsternis in mir erkennen. Für einen Detective ist es hervorragend, diese Fähigkeit zu besitzen. Für mich ist das gar nicht gut, denn mir wird bewusst, dass ich ihr soeben ein Zeitfenster von einer Stunde geliefert habe. Eine Stunde, in der Charlie noch geschlafen hat, während ich wach war, als unsere Tochter bereits verschwunden war.

„Und als Sie um sechs Uhr aufgestanden sind, ist Ihnen da irgendwas Ungewöhnliches aufgefallen? Irgendwelche Geräusche oder andere Dinge, die nicht üblich waren? Erinnern Sie sich an irgendetwas?“

„Nein“, sage ich in einem Flüsterton, füge dann aber lauter hinzu: „Nichts fühlte sich irgendwie anders an.“

„Okay. Was haben Sie heute Morgen gemacht, bevor Sie in ihr Zimmer gegangen sind?“

„Ich habe die Kaffeemaschine eingeschaltet.“ Ich sehe rüber zur Küche und überlege, wie meine morgendliche Routine aussieht. „Während der Kaffee durchlief, habe ich geduscht.“ Normalerweise dusche ich morgens nicht, aber heute Morgen war es notwendig. Ich zähle es jetzt als Teil meiner Routine auf, damit es nicht ungewöhnlich wirkt.

Sie nickt, damit ich weiterrede.

„Ich habe mich angezogen und geschminkt, mir einen Kaffee eingeschenkt und ihn in der Küche getrunken.“ Fast hätte ich angefügt: „während ich auf meinem Handy nach dienstlichen Mails gesehen habe“, denn das mache ich normalerweise. Aber heute Morgen habe ich das nicht gemacht, und ich weiß nicht, ob sie so etwas nachprüfen können. Dabei fällt mir ein, dass ich meiner Chefin schreiben muss, dass ich heute nicht zur Arbeit kommen werde.

„Das ist alles?“, fragt sie.

„Ja. Ich trinke meinen Kaffee üblicherweise fünf bis zehn Minuten, bevor Charlies Wecker klingelt. Er duscht immer nur kurz, darum schenke ich für ihn einen Kaffee ein, wenn ich höre, dass er das Wasser aufgedreht hat. Danach sitzen wir da, trinken unseren Kaffee und reden darüber, was jeder von uns am jeweiligen Tag machen wird.“

„Das war also der Ablauf Ihres Morgens, bevor Sie Bellas Zimmer betreten haben?“ Sie wendet sich Charlie zu. „Sie sind um sieben Uhr aufgestanden, haben geduscht und mit Ihrer Frau Kaffee getrunken?“

„Ja“, bestätigt er.

„Wer von Ihnen ist in ihr Zimmer gegangen, um sie zu wecken?“

„Das war ich“, sage ich. Wieder rede ich mit leiser Stimme, aber diesmal wiederhole ich meine Worte nicht. Jetzt kommt der Moment, den ich gut rüberbringen muss. Mir läuft eine Träne über die Wange. Meine Reaktion ist echt. Die Geschichte ist gelogen, aber die Trauer ist echt. Es kostet mich all meine Kraft, nicht zu Boden zu sinken und in dieser Trauer zu ertrinken.

„Können Sie beschreiben, was Sie gesehen haben?“

„Nichts.“ Wut kocht in mir hoch, aber Wut ist das falsche Gefühl, also ersticke ich es mit Sorge und Panik – den richtigen Gefühlen. „Da war nichts. Bella lag nicht in ihrem Bett.“

Ich will mehr sagen. Ich hatte auch vorgehabt, mehr zu sagen. Aber ich frage mich jetzt, was ich ihr sagen kann und was nicht, damit ich mich nicht in diesem Geflecht aus Lügen verstricke. Mein Atem geht flach und hastig.

Charlie meldet sich zu Wort. „Ich hörte Andi nach Bella rufen. Aber nicht auf die richtige Weise“, sagt er.

„Was meinen Sie mit ‚nicht auf die richtige Weise‘?“

„Normalerweise ruft sie ihren Namen, um sie zu wecken. Aber was ich hörte, war eine Frage. Wie man ruft, wenn man jemanden sucht.“

Bella … Bella? Wo bist du? Bella?

Auch das entspricht der Wahrheit.

Mir wird bewusst, dass sie Charlie nicht auf die gleiche anklagende Weise ansieht, wie sie es bei mir macht. Man muss kein Detective sein, um Charlies goldenes Herz zu sehen. Von seiner Brust geht förmlich ein Leuchten aus.

„Besteht die Möglichkeit, dass Bella selbstständig das Haus verlassen hat? Hat sie früher schon mal versucht, sich aus dem Haus zu schleichen oder wegzulaufen?“

Ich verziehe das Gesicht, weil ich Verwirrung und Verärgerung zugleich empfinde. Sie ist acht, keine sechzehn.

„Nein“, sage ich nur.

Briar nickt, folgt mit den nächsten Fragen aber weiter dieser unmöglichen Richtung. „Falls es ihr trotzdem gelungen sein sollte, das Haus zu verlassen, wohin würde sie dann wohl gehen? Leben Freunde oder Verwandte in der Nähe, zu denen sie gehen könnte?“

„Nein“, antworte ich abermals. „In der Nähe wohnen keine Verwandten, und sie würde sich nicht mitten in der Nacht auf den Weg zu ihren Freunden machen. Bei den meisten von ihnen weiß sie nicht mal, wo die wohnen.“

Ich beiße mir in die Wange, da ich Blut schmecken und den Schmerz von aufplatzender Haut spüren möchte. Erneut überkommt mich der überwältigende Wunsch allein zu sein. Ich stehe unter Schock, ich bin hundemüde, und ich brauche einen Moment für mich allein, um diesen schlimmsten Tag in meinem Leben zu verarbeiten. Dabei war ich mir immer sicher gewesen, dass ich den schon vor Jahren erlebt hatte. Doch das war ein Irrtum gewesen, ein ganz schwerer Irrtum.

„Tut mir leid“, sage ich, als die Polizistin zur nächsten Frage ansetzen will. „Ich verstehe ja, dass diese Fragen wichtig sind. Aber mir kommt es so vor, als würden wir nur Zeit damit vergeuden, hier herumzusitzen, wenn wir doch eigentlich da draußen nach Bella suchen sollten.“ Ist das nicht genau das, was alle Eltern sagen? Es gibt nichts, was sie und ihr Team für mich tun könnten. Und für Bella. Aber ich habe mir genügend Krimis angesehen.

„Es sind bereits Polizeibeamte auf der Suche nach ihr. Sie gehen von Tür zu Tür und suchen die Nachbarschaft nach Hinweisen auf sie ab“, erklärt sie.

Charlie legt seinen Arm um mich und drückt mich an sich. Ich möchte zurückweichen, da ich im Moment nicht angefasst werden will. Trotzdem rühre ich mich nicht, da ich nicht will, dass die Polizistin aus meiner Abneigung gegen seinen Trost irgendwelche Schlüsse zieht.

„Ich muss zur Toilette“, sage ich und stehe auf. Im Flur gehe ich um die beiden Männer herum, die vor Bellas Zimmer stehen. Ich versuche, den Blick auf den Fußboden gerichtet zu lassen. Hinter mir höre ich das Geräusch der Kamera, mit der ein Foto nach dem anderen gemacht wird, um auf den Bildern ihres Zimmers nach Hinweisen zu suchen.

Ich drücke die Tür hinter mir zu und schließe ab. Dann stütze ich mich auf die Frisierkommode. Wie kann das nur mein Leben sein?? Ich zwinge mich dazu, mein Spiegelbild zu betrachten und mir in die Augen zu sehen. Dunkle Ringe haben sich unter meinen geröteten Augen gebildet. Meine glatten braunen Haare hängen schlaff herab und reichen bis über meine Schultern. Auf meinen Lippen sind dunkle Flecken zu sehen, wo ich die Haut abgepult habe. Der Lidschatten, den ich am Morgen nachlässig aufgelegt habe, hat sich inzwischen an den Rändern meiner Lider gesammelt. Ich sehe aus wie gegen die Wand geworfen.

Ich spritze etwas kaltes Wasser in mein Gesicht und trockne mich mit dem klammen Handtuch ab, das an der Tür am Haken hängt. Bei einem letzten Blick in den Spiegel fasse ich in meine Haare, um die runde Narbe seitlich an meinem Hals zu verdecken. Es ist eine Angewohnheit, die ich schon als Teenager entwickelt habe. Ich sehe zur Wanne, auf dem Rand sind noch Tropfen von der morgendlichen Dusche zu sehen. Angst lässt mir einen Stich durch die Brust gehen. Ich habe vergessen, die Wanne mit Bleichmittel auszuwischen.

2. Kapitel

Als ich ins Wohnzimmer zurückkehre, spüre ich, wie mir Schweiß den Rücken entlangläuft und sich im Kreuz sammelt. Ich höre Charlie, der soeben erklärt, dass unser Haus keinerlei Alarmanlage hat.

„Ich kenne auch niemanden in der Nachbarschaft, der so was hat. Es schien nie notwendig zu sein …“, sagt Charlie, hört auf zu reden und sieht auf seine Hände.

Bis vor Kurzem war dies noch eine gute Stadt. Richtig schlecht ist sie auch jetzt noch nicht, aber es geht langsam abwärts. Und trotzdem leben die meisten Leute hier immer noch so „wie in der guten alten Zeit“, als man nachts noch nicht die Haustür abgeschlossen und nicht alle Fenster zugemacht hat. Niemand hier hat Überwachungskameras.

Ich sollte eigentlich diejenige sein, die in erster Linie mit der Polizei redet. Aber Charlie ist für mich eingesprungen, als er gesehen hat, dass es für mich zu viel wurde. Ich muss mich zusammenreißen. Nur noch für eine kurze Zeit. Ich setze mich zu meinem Ehemann und atme tief durch, als er seine Finger mit meinen verschränkt. Ich ziehe meine Hand weg und greife nach der Kaffeetasse.

Ich zwinge mich, Briar in die Augen zu sehen. Unschuldige haben keine Angst vor Blickkontakt.

„Wüssten Sie irgendjemanden, der Ihnen oder Bella etwas antun möchte?“, fragt Briar und streicht eine Strähne aus dem Gesicht. Die Strähne ist nicht blond, aber auch nicht braun. Sie trägt die Haare nach hinten zum Dutt zusammengebunden, aber ein paar sind der Klammer entwischt.

Ich tue so, als würde ich nachdenken. Aber nicht zu lange. Dann schüttele ich den Kopf. „Nein. Niemand.“

Sie lässt uns eine Liste aller Leute erstellen, die wir kennen: Kollegen, Bekannte, Freunde. Es ist keine besonders lange Liste. Vermutlich ist sie kürzer als die meisten Listen, die andere Leute erstellen würden. Die meisten Namen sind die von Leuten, die Charlie kennt, ein paar sind Freunde von Bella. Ich schreibe nur meine Kollegen auf.

„Hat sonst noch etwas gefehlt? Kleidung? Schuhe? Andere Habseligkeiten?“, erkundigt sich Briar.

Ich schüttele den Kopf, aber dann fällt mir das Diktiergerät wieder ein. „Nein, nicht dass ich wüsste.“

Mein Magen kribbelt bei dieser Lüge. Es ist anstrengend. Ich muss aufpassen, wohin ich sehe, wenn ich rede. Und was meine Hände dabei machen. Und wie sich meine Stimme anhört. Und das, während unentwegt Polizisten das Haus betreten und verlassen. Und Bellas Zimmer betreten und verlassen.

Wir haben ihnen gestattet, sich im ganzen Haus umzusehen, aber sie scheinen sich vor allem auf Bellas Zimmer zu konzentrieren. Als die Spurensicherung eintraf, hat ein Mann sich zunächst angesehen, auf welchen Wegen man das Haus betreten und verlassen kann, und überall nach Fingerabdrücken gesucht. Die Wanne war eine große Nachlässigkeit von meiner Seite. Ich versuche, Briar zuzuhören und gleichzeitig darauf zu achten, was gleich um die Ecke geschieht. Ich würde hier nichts davon mitbekommen, wenn sie das Badezimmer betreten. In diesem Moment könnten sie mit einem Wattestäbchen Proben vom Abfluss der Badewanne nehmen.

Polizisten durchqueren am laufenden Band das Wohnzimmer, von denen die meisten durch die Vordertür das Haus verlassen. Nur der nervöse Cop von vorhin bleibt stehen und sieht zu Briar: „Wir haben alles, was wir brauchen. Einen Teil davon werde ich ins Labor schicken. Mal sehen, was wir herausfinden können.“

Was genau will er ins Labor schicken? Was glaubt er, was seine Kollegen gefunden haben? Mein Herz schlägt so brutal in meiner Brust, dass es wehtut. Ich versuche mich zu beruhigen, während sich in meinem Kopf alles dreht.

Reiß dich zusammen.

Detective Briar nickt und steht auf. Werden sie jetzt alle gehen? Ich sehe zur Wanduhr gleich hinter Briar und erwarte, dass es bereits Nachmittag ist. Aber tatsächlich ist es noch nicht mal zehn Uhr.

„Sie haben meine Karte. Da steht auch meine Handynummer drauf. Rufen Sie mich bitte an, falls Sie etwas von Bella hören oder Sie irgendwelche neuen Informationen erhalten. Und auch, wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, das für uns von Nutzen sein könnte. Ich werde mir ansehen, was wir bislang haben. Dann werde ich mit den Kollegen reden, die momentan von Tür zu Tür gehen. In ein paar Stunden werde ich wieder herkommen, um Sie auf den neuesten Stand zu bringen und über unsere nächsten Schritte zu reden. Sorgen Sie bitte dafür, dass mindestens einer von Ihnen die ganze Zeit zu Hause bleibt, falls Bella hier wieder auftaucht.“

Mit diesen Worten verlässt sie das Haus.

***

Als die Tür hinter dem letzten Polizeibeamten ins Schloss fällt, möchte ich einfach nur auf den Boden niedersinken und bis morgen da liegenbleiben. Aber Dinge müssen erledigt werden. Ich greife nach meinem Handy und schicke meiner Chefin eine SMS, damit sie weiß, dass ich heute nicht ins Büro komme, weil Bella verschwunden ist. Charlie betreibt sein eigenes Unternehmen für den Bau von Einfamilienhäusern, daher gibt es keinen Chef, bei dem er sich melden muss. Aber ich bin mir sicher, dass er Dinge umarrangieren muss, wenn er unerwartet nicht ins Büro kommt.

„Musst du irgendwen in der Firma anrufen?“, frage ich, während ich zum Fenster gehe, um nachzusehen, ob irgendein Polizist noch mal zurückkommt. Ich kann niemanden entdecken, also gehe ich ins Badezimmer und hole aus dem Schrank unter dem Waschbecken die Flasche mit dem Bleichmittel. Charlie sieht mir von der Tür aus zu.

„Glaubst du, sie werden sich unsere Badewanne ansehen?“, fragt er, ohne auf meine Frage zu antworten.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie es schon gemacht. Aber ich will auf Nummer sicher gehen.“ Ich drücke den Stöpsel in den Abfluss und gieße das Bleichmittel in die Wanne, das mir sofort in den Augen brennt.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Indem du dich ein wenig ausruhst“, sage ich.

Er sieht mich ungläubig an.

„Leg dich zumindest eine Weile hin.“

Er kneift die Augen zu und drückt Daumen und Zeigefinger gegen seine Schläfen. Er atmet tief durch und fährt sich mit der Hand übers Gesicht. Seine Schultern beben, und ich zögere. Ich will ihn nicht trösten. Mir fehlt die Kraft, um mich um ihn zu kümmern, und dafür hasse ich mich umso mehr. Ich zwinge mich aufzustehen, indem ich mich vom Wannenrand hochdrücke, dann lege ich die Arme um Charlie, der sich gegen mich sinken lässt. Als er den Kopf auf meine Schulter drückt, stürzen der Schmerz, die Traurigkeit und der Verlust auf mich ein. Mir wird förmlich der Boden unter den Füßen weggezogen.

Charlie sinkt mit mir zusammen zu Boden, und dann kauern wir engumschlungen dort und schluchzen. Ich erinnere mich daran, dass dies der Grund ist, wieso ich ihn geheiratet habe. Vor Bella war da Charlie. Ein Mann, der mich Gefühle empfinden ließ. Es war berauschend, nachdem ich mich fast mein Leben lang wie betäubt gefühlt hatte. Doch was ich jetzt fühle, ist einfach zu viel. Es wird mich umbringen.

***

Nachdem wir uns wieder zusammengerissen haben und ich mit der Wanne fertig bin, zünde ich überall im Haus Kerzen an und öffne das Badezimmerfenster einen Spaltbreit, damit der Geruch des Bleichmittels verfliegt.

„Werden wir einfach hier rumsitzen und abwarten?“, fragt Charlie. „Ich finde, wir sollten irgendetwas tun.“

„Vielleicht sollten wir uns vors Haus stellen“, schlage ich vor. „Einfach vorne auf die Veranda.“

Charlie denkt darüber nach und atmet tief ein. „Okay“, sagt er, als er wieder ausatmet.

Die Szene, die sich uns draußen bietet, ist bizarr, wenn ich mir vor Augen halte, dass unsere Familie dafür die Ursache ist. Etliche Polizeiwagen säumen die Straße, die Nachbarn stehen auf der Veranda oder im Vorgarten oder vor der Garage und reden mit anderen Nachbarn. Ich kenne keinen von ihnen, weil ich immer auf Abstand zu ihnen geblieben bin. Und nun stehen sie an diesem schwülen sonnigen Nachmittag da, werden von der Polizei nach dem verschwundenen Mädchen von nebenan gefragt und erzählen den Beamten, welchen Eindruck sie von mir und meiner Familie haben.

Keiner von ihnen kennt mich. Aber viele von ihnen kennen Bella. Bella ist im gleichen Maß gesellig, wie ich es nicht bin. In dieser Hinsicht kommt sie nach Charlie. Ich war nie gut darin, was Freundschaften angeht. Ich erwidere nicht die Bemühungen, die andere Leute an den Tag legen, und deshalb verlieren sie irgendwann die Lust, es noch länger zu versuchen. Es hat mir nie etwas ausgemacht, keine Freunde zu haben, vor allem nicht mehr, seit ich Charlie und Bella hatte.

Ein schwarzer Pick-up kommt mit quietschenden Reifen vor unserem Haus zum Stehen. Ich mache einen Schritt nach hinten, da ich einen Moment lang Angst habe. Aber Charlie tritt vor. Einer der Polizisten, der ein Stück weit entfernt ist, bleibt stehen und beobachtet, wie Charlies bester Freund und Mitarbeiter John aus dem Wagen aussteigt und zum Haus gelaufen kommt. Die Sorge steht ihm ins Gesicht geschrieben, als er Charlie kurz an sich drückt und ihm auf den Rücken klopft.

„Immer noch keine Spur von ihr?“, fragt er und drückt meine Schulter, da er weiß, dass ich nicht der Typ für Umarmungen bin.

John ist der Typ Mann, den man am liebsten unsympathisch finden möchte, aber nicht kann. Er ist attraktiv, gut in allem, was er anpackt, und er scheint einfach alles zu haben, was er je haben wollte. Es scheint so, als hätte er das Leben auf eine Weise im Griff, die keiner von uns beherrscht. Und er kann durch die Art, wie er sich anderen Leuten widmet, jedem das Gefühl geben, etwas Besonderes zu sein. Aber sein Scharfsinn macht mich nervös. Ich beobachte Charlie aufmerksam und mache mich darauf gefasst, ihm ins Wort zu fallen, wenn er zu geschwätzig wird.

„Nein, noch immer nichts“, antwortet Charlie und verschränkt die Finger im Nacken. „Sie werden sich in der Nachbarschaft umsehen, ob es irgendwo Überwachungskameras gibt, und sie werden jeden fragen, ob er irgendetwas gesehen hat.“

„Was ist mit Suchtrupps?“, will John wissen.

Charlie zuckt mit den Schultern. „Von einem Suchtrupp war keine Rede.“

„Ich werde mit einem der Polizisten reden. Vielleicht können wir ja was auf die Beine stellen. Dann können wir hinter eurem Haus anfangen und uns zwischen den Bäumen vorarbeiten.“ Er zeigt dabei auf die Rückseite unseres Hauses. „Vielleicht können wir ja auch die Parks und das Naturschutzgebiet durchsuchen.“

John verzieht selbst den Mund, als er das Naturschutzgebiet erwähnt. Bella wäre nicht in der Lage, zehn Meilen von zu Hause bis dorthin zu laufen. Dann würden sie nach einer Leiche suchen. Mit hocherhobenem Kopf und gestrafften Schultern geht er zu einem der Polizisten.

„Andi, was ist, wenn jemand eine Kamera hat? Was, wenn jemand aufgenommen hat, was passiert ist, und wir stehen als Lügner da? Wir müssen an einigen davon vorbeigekommen sein“, sagt Charlie, als John außer Hörweite ist.

Ich erwidere nichts, weil ich keine Antwort weiß. Es ist gut möglich, dass wir an mindestens einer Kamera vorbeigekommen sind, auch wenn es in unserer Nachbarschaft keine geben soll. Aber jetzt können wir daran ohnehin nichts mehr ändern.

John kommt zu uns zurück und sagt uns, dass sie jetzt einen Suchtrupp zusammenstellen. John hat sich schon freiwillig dafür gemeldet und ein halbes Dutzend Freiwillige rekrutieren können. Er gibt Charlie einen Klaps auf die Schulter.

„Mach dir keine Sorgen, Mann. Sie wird unversehrt nach Hause kommen. Ich rufe dich später an.“

Dann geht er zu seinem Pick-up zurück. Ich renne ins Haus, da mir Tränen über das Gesicht strömen. Charlie folgt mir nach drinnen. Meine Brust schmerzt, und ich möchte nur noch sterben. Das Ganze ist mehr, als ich bewältigen kann.

„Rede mit mir“, sagt Charlie.

Ich lege mich auf die Couch und schlinge die Arme um mich, während ich versuche, mich zusammenzureißen. „Und was soll ich sagen?“

„Was du willst. Sag mir, was du denkst. Wie du dich fühlst.“

„Ich denke, dass das hier mein allerschlimmster Albtraum ist und dass ich lieber tot wäre“, erwidere ich.

„Sag doch so was nicht“, kontert er mit leiser Stimme und lässt den Kopf sinken.

„Dann sag mir nicht, dass ich dir sagen soll, was ich denke und fühle.“ Ich drehe mich so, dass ich die Rückenlehne der Couch vor mir habe.

Der Tag fühlt sich an, als würde er niemals enden. Er zieht sich so endlos in die Länge, dass ich allmählich glaube, dass ich das alles entweder nur träume oder dass ich in einer Art Zeitschleife gefangen bin. Wir warten im Haus darauf, dass Briar wieder herkommt und Neuigkeiten mitbringt.

Allmählich lässt der Schock nach, dafür zermalmt der Schmerz nach und nach meinen ganzen Körper. Es ist einfach zu viel. Ich will nicht mehr leben. Ein lautes Hämmern an der Haustür lässt mich zusammenzucken, als hätte mir jemand eine Kugel ins Herz gejagt. Ich setze mich auf und sehe Charlie an, der mit einem Gesichtsausdruck zur Tür läuft, als wollte er dem Verursacher dieses Lärms den Kopf abreißen.

„Mr Miller, ich möchte Sie nur auf dem Laufenden halten. Darf ich?“, fragt Detective Briar.

Von meinem Platz auf der Couch kann ich sie nicht sehen, aber ich höre, wie Charlie sie hereinbittet. Ich stehe auf, mache mir aber nicht die Mühe, meine Tränen wegzuwischen. Es ist gut, wenn sie sieht, dass ich außer mir bin.

Dann fällt mir das Bleichmittel ein, und ich kann nur beten, dass sie an der Tür nichts davon riechen kann. Ich gehe zu ihr und schnuppere beiläufig, kann aber nicht sagen, ob man den Geruch noch bemerken kann oder nicht. Ich beobachte ihre Mimik, ob die irgendetwas erkennen lässt.

„Wir befragen derzeit alle Leute auf Ihrer Liste. Sie hatten übrigens recht, was die Kameras angeht. Bislang sind wir in Ihrem Block nicht fündig geworden. Aber wir halten weiter Ausschau.“

„Vielen Dank, Detective“, sagt Charlie.

Sie nickt kurz und redet weiter: „Der Form halber müssen wir Sie beide ebenfalls offiziell befragen. Können Sie dafür morgen früh zur Wache kommen? Vorausgesetzt natürlich, wir haben sie bis dahin noch nicht gefunden.“

Charlie reißt die Augen auf und will zu einer Antwort ansetzen, doch ich komme ihm zuvor. Es ist zu befürchten, dass er wegen dieser Befragung viel zu besorgt reagiert.

„Selbstverständlich“, sage ich. „Wir würden alles tun, um zu helfen.“

„Gut.“ Briar geht zur Tür, bleibt aber noch einmal stehen. „Wir wollen weiter sicherstellen, dass die ganze Zeit über einer von Ihnen zu Hause ist. Wenn Sie also getrennt zur Wache kommen könnten, wäre das sehr hilfreich.“

Das ist für mich wie ein Schlag ins Gesicht. Es kann einfach nichts Gutes dabei herauskommen, wenn sie allein mit Charlie redet.

3. Kapitel

Wir einigen uns darauf, am nächsten Morgen um acht Uhr und um neun Uhr nacheinander zur Polizeiwache zu gehen. Mein Herz rast wie wild, und ich versuche, zumindest nach außen hin, Ruhe zu bewahren. Charlie hat die Hände im Nacken verschränkt. Seine Wangen blähen sich auf, als er von Panik erfasst den Atem ausstößt.

„Entspann dich“, sage ich. „Es ist völlig normal, dass sie uns befragen wollen. Wir haben sie als Letzte gesehen, und wir waren hier im Haus. Das gehört einfach zu ihrer Routine dazu.“

Mit dem Zeigefinger zupfe ich an der Haut gleich neben dem Daumennagel. Charlie tigert wieder hin und her, und ich beobachte ihn, während ich mit dem Fingernagel weiter die Haut bearbeite, die so ausgefranst aussieht wie ein Seil, das sich in seine Bestandteile auflöst. Ich möchte Charlie am liebsten anbrüllen, dass er sich hinsetzen und mal fünf Minuten lang Ruhe geben soll. Ich ziehe die Haut zu weit ab und zucke zusammen, als ich einen leichten Schmerz spüre. Als ich meine Hand betrachte, sehe ich, wie sich Blut an meinem Daumennagel sammelt.

Charlie geht zum Kühlschrank und holt eine Flasche Bier heraus. Er hält sie mir hin, aber ich mache keine Anstalten, sie ihm aus der Hand zu nehmen. Also stellt er sie auf die Kücheninsel und holt eine weitere Flasche heraus, mit der er zur Couch geht und sich hinsetzt. Endlich. Ein paar Bier werden ihm helfen, sich zu beruhigen, daher beschließe ich, ihm Gesellschaft zu leisten. Ich nehme die Flasche, die er mir hingestellt hat, setze mich ans andere Ende der Couch und ziehe die Knie bis an meine Brust an.

Ich nehme einen großen Zug aus meiner Flasche, dann noch einen. Meine Muskeln reagieren fast augenblicklich. Eine Art Mattheit schleicht sich in mein Gehirn, ähnlich wie flauschige weiße Wolken, die sich vor die Sonne schieben. Mir wird dabei bewusst, wie daraus ein Problem entstehen kann.

Ein Bild, das meinen Vater volltrunken und schlafend auf der Couch zeigt, drängt sich durch die Wolken in meinem Verstand, und mir dreht sich der Magen um. Ich stelle die Flasche auf den Boden. Er hatte es nicht verdient, seinen Schmerz zu betäuben, und das gilt auch für mich.

***

Irgendwann um Mitternacht herum fragt Charlie, ob wir schlafen gehen sollen. Ich sage ihm, er soll sich schon mal hinlegen, ich werde in Kürze nachkommen. Nachdem er gegangen ist, strecke ich die Beine aus und lasse den Kopf auf der Armlehne nach hinten sinken, bis ich die Welt draußen vor dem Fenster kopfüber betrachten kann.

Es war das große Fenster, das uns dazu veranlasste, dieses Haus zu kaufen. Charlie hatte gerade erst sein Geschäft gegründet, und wir konnten uns das große Haus im viktorianischen Stil nicht leisten, das er gerne gehabt hätte. Wir entschieden uns für ein Haus in der gleichen Gegend, in der er aufgewachsen war, und damit in der Gegend, in der er als Erstes arbeiten wollte, um den einstigen Glanz der heruntergekommenen historischen Häuser wiederherzustellen – und sogar, um neue Häuser zu bauen, die wie die alten aussahen.

Wir beschlossen, hier zu wohnen, während wir arbeiteten, Geld zur Seite legten und allmählich unser Traumhaus bauten. Dieses Haus hier war jünger, als es Charlie recht gewesen war. Es stammte aus einer Phase, in der die Bauunternehmer jedes Haus so schnell wie möglich fertigstellen wollten und dabei zu den gleichen billigen Baumaterialien griffen wie überall hier in der Gegend. Doch die Fassade unseres Hauses hatte ein riesiges Rundbogenfenster, durch das es sich vom Rest abhob. Außerdem war der Garten von akzeptabler Größe und zudem von Bäumen umgeben. Also beschlossen wir, es zu kaufen und zu unserem Zuhause zu machen.

Stunden vergehen, während ich über die damalige Zeit nachdenke. Erst der Gesang der Vögel reißt mich aus meinen Überlegungen. Ich setze mich hin und sehe zur Uhr, dabei stelle ich fest, dass es kurz nach fünf ist. Die Sonne wird bald aufgehen.

Meine Muskeln protestieren schmerzhaft, als ich von der Couch aufstehe, und für einen Moment wird mir schwarz vor Augen. Ich zwinkere ein paar Mal gegen die Dunkelheit an, dann gehe ich zur Kaffeemaschine. Nach einer weiteren schlaflosen Nacht fühle ich mich, als hätte ich zwanzig Flaschen Bier getrunken, nicht nur eine halbe.

Ich weiß, mein Körper wird mich bald dazu zwingen, mich schlafen zu legen. Mir bleibt gar keine andere Wahl. Aber ich fürchte mich vor den Bildern, die mein Verstand produzieren wird, wenn ich ihn nicht kontrollieren kann. Also vermeide ich Schlaf so lange, bis mein Körper von selbst die Arbeit einstellt.

Nachdem ich den Kaffee aufgesetzt habe, klettere ich auf den Hocker an der Kücheninsel, da ich zum Stehen einfach zu müde bin. Ich höre, wie Charlie in die Küche kommt, und hebe den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen. Aber genauso schnell wende ich meinen Blick wieder ab. Ich ertrage diesen Ausdruck von Verlust nicht, der seine Miene prägt. Das alles ist meine Schuld.

Er setzt sich zu mir an die Kücheninsel, und ich mache mich innerlich auf seine Berührung gefasst. Seine Hand legt sich auf meine und drückt sie leicht. Ich beiße mir auf die Wange, um diesen Ansturm von Gefühlen abzuwehren, der mich vereinnahmen will. Der Druck seiner Hand lässt nach, ich atme wieder durch.

Charlie geht zur Kaffeemaschine und holt zwei Tassen aus dem Schrank darüber. Er schenkt Kaffee in meine Lieblingstasse und stellt sie mir hin. „Hast du überhaupt geschlafen?“

„Nein“, antworte ich ehrlich. „Du?“

„Ich bin mal kurz eingenickt. Aber ich hatte einen Traum, der … ich habe es alles wieder gesehen.“ Sein Gesicht sieht mit einem Mal zerknautscht aus. Er dreht sich weg, macht den Kühlschrank auf und holt die Kaffeesahne heraus. Ich starre auf das Muster auf der Oberfläche der Kücheninsel, während sich ein Kloß in meinem Hals bildet.

Er hustet und dreht sich wieder zu mir um. Jetzt macht er nicht mehr ganz so sehr den Eindruck, als könnte er jeden Moment zusammenbrechen. Ich weiß, er versucht nur meinetwegen Stärke zu zeigen.

„Soll ich zuerst zur Wache gehen?“, frage ich.

„Ja, ich glaube, das wäre eine gute Idee. Dann kannst du mir sagen, was sie dich gefragt haben, damit ich vorbereitet bin.“

Ich nicke. Genau das war auch mein Gedanke gewesen.

***

Es ist fünf vor acht, als ich vor der Polizeiwache einparke. Ich fürchte mich davor, auch nur für eine Sekunde das heilige klimatisierte Innere meines Wagens zu verlassen. Trotz der kalten Luft läuft mir der Schweiß über den Rücken, und meine Hände fühlen sich so klamm an, dass ich sie an meinen Shorts abwische, ehe ich mich in die drückende Hitze begebe.

Mein Herz dröhnt in meinen Ohren wie eine Basstrommel, als ich die Tür zur Wache aufziehe und eintrete. In all den Jahren, die ich jetzt schon in dieser Stadt lebe, gab es für mich nie einen Grund, die Polizei aufzusuchen. Es sieht hier nicht so aus, wie ich es erwartet hatte. Ich befinde mich in einem kleinen Warteraum, hinter einer Scheibe aus Panzerglas hält sich eine Frau auf, die mich erwartungsvoll anlächelt. Ich gehe zu ihr und streiche dabei meine Haare über die Schultern.

„Andi Miller“, sage ich. „Ich bin mit Detective Briar verabredet.“

„Ja! Okay. Einen Moment bitte.“

Sie hüpft von ihrem Hocker und verschwindet fast hinter der Theke. Links von mir geht eine Tür auf, und dort steht die Frau und winkt mich freundlich zu sich. Sie ist klein und trägt einen braunen Bob. Und sie erinnert mich an eine Zeichentrickfigur aus einem von Bellas Lieblingsfilmen.

Ich trete ein, und sie geht vor mir her durch einen sterilen weißen Korridor, der eher an ein Krankenhaus als an eine Polizeiwache erinnert. Briar kommt aus einem Zimmer und schickt die Frau zurück zum Empfang.

„Danke, dass Sie hergekommen sind. Wir nehmen hier diesen Raum.“ Dabei deutet sie auf die offene Tür eines Verhörzimmers. Ich gehe hinein, Briar macht hinter uns die Tür zu.

Auf der anderen Seite des Tischs sitzt ein älterer Mann, der mir zulächelt, als ich ihm gegenüber Platz nehme. Er trägt einen grauen Anzug und eine rote Krawatte, die mit irgendetwas bedruckt ist, das ich nicht erkennen kann. Sein Schnauzbart ist absolut perfekt rasiert und lässt den Mann so aussehen, wie ich mir einen Detective aus den Sechzigern vorstelle. Ein Fedora ist das Einzige, was ihm noch fehlt.

Briar setzt sich zu ihm und wirkt durch den direkten Vergleich mit ihm umso zerzauster. Die Haare hat sie im Nacken zusammengenommen, aber sie hat wohl nicht alle zu fassen bekommen, die jetzt so in alle Richtungen abstehen, als hätte jemand mit einem Luftballon über ihren Kopf gerieben. Sie beugt sich vor.

„Das ist Detective Johnson. Er wird uns im Fall Ihrer Tochter unterstützen“, erklärt sie.

Johnson streckt mir die Hand entgegen, ich schüttele sie, und er lehnt sich wieder auf seinem Stuhl nach hinten. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Andi. Ich wünschte nur, es würde unter anderen Begleitumständen geschehen.“

Seine Stimme ist tief und rau.

Ich rechne damit, dass sie den Geruch von Bleichmittel erwähnt, der ihr aufgefallen ist, als sie später am Abend noch einmal bei uns vorbeigekommen war. Ich bin darauf gefasst und werde ihr erzählen, dass ich Wein auf mein Shirt gekippt hatte.

„Zunächst einmal möchte ich mit Ihnen die Tage bis zum Sonntagabend durchgehen“, beginnt Briar.

Ich atme die angehaltene Luft aus und erzähle ihr alles. So gut wie alles.

Ich erzähle ihr von den Tagen, die wir im Park und mit Einkaufen verbracht haben. Von den Blumen, die wir gemeinsam im Garten hinter dem Haus angepflanzt haben. Vom Mittagessen, das wir auf dem hinteren Patio zu uns genommen haben. Ich habe immer versucht, die Sommerferien für Bella so unterhaltsam und unvergesslich zu gestalten wie möglich.

„Arbeiten Sie nicht bei O’Malley Law? Wie können Sie so viel Zeit mit Bella verbringen?“, wundert sich Briar.

„Im Sommer, wenn Bella keine Schule hat, arbeite ich in Teilzeit. Einen Teil der Stunden lässt mich meine Chefin abends nacharbeiten. Daher fahre ich manchmal am Abend ins Büro, wenn Charlie bei ihr sein kann.“

„Das ist sehr nett von Ihrer Chefin. Nicht viele Arbeitgeber sind so entgegenkommend“, sagt sie.

„Das stimmt.“

„Das heißt, Sie waren Anfang der Woche in der Öffentlichkeit unterwegs und haben Leute gesehen.“

Es ist keine Frage, trotzdem nicke ich bestätigend.

„Können Sie mir aufschreiben, wo genau Sie gewesen sind? Mit Datum und Uhrzeit, soweit Sie sich daran erinnern können.“ Sie schiebt mir einen Notizblock zu, auf dem ein blauer Kugelschreiber liegt.

Ich lasse mir Zeit damit, alles aufzuschreiben. Während ich den Kugelschreiber auf das Papier drücke, zupfe ich mit den Fingern der freien Hand an der Haut auf meiner Lippe. Ich versuche dahinterzukommen, was sie mit dieser Aktion bezwecken will. Ich glaube, sie will einen Beweis dafür haben, dass Bella am Abend vor ihrem Verschwinden tatsächlich noch gelebt hat und wohlauf war. In Gedanken gehe ich alles durch, wo wir gewesen sind, und die ganze Zeit über frage ich mich, ob ich mir selbst schaden könnte, wenn ihr all diese Informationen gebe.

Ich komme zu dem Schluss, dass das nicht der Fall sein dürfte, und notiere alles, woran ich mich erinnern kann. Dabei versuche ich mich auf die Fakten des jeweiligen Ausflugs zu konzentrieren, nicht auf die damit verbundenen Erinnerungen. Doch das Bild von Bella, wie sie meine Hand festhält und mich zu dem Eisverkäufer zieht, der seinen Wagen am Park angehalten hat, macht meiner Konzentration zu schaffen. Ich sehe, wie eine Träne auf dem Blatt landet, erst da wird mir bewusst, dass ich weine. Auf dem T von Turner Park, auf das die Träne gefallen ist, bleibt ein dunkler Fleck zurück.

Als ich die Liste erstellt habe, schiebe ich den Block wieder Briar zu und wische mit dem Handrücken über meine Augen.

„Ich weiß, dass das für Sie schwierig ist. Keine Mutter sollte so etwas jemals durchmachen müssen“, sagt Johnson und schaut mitfühlend drein.

„Übernachtet Bella schon mal woanders? Zum Beispiel bei einer Freundin?“, will Briar wissen und legt die nächste Frage nach.

„Nein. Sie hat es zweimal versucht, aber in beiden Fällen hat sie angerufen, dass wir sie wieder abholen sollen.“

„Wieso denn das?“

„Sie mag es nicht, anderswo als zu Hause zu schlafen. Tagsüber ist sie gern bei Freunden zu Hause. Aber wenn es Zeit wird, ins Bett zu gehen, dann will sie nach Hause kommen.“

„Wissen Sie, meine Tochter war ganz genauso“, sagt Johnson. „Sie hat feierlich verkündet, die ganze Nacht bei ihrer Freundin zu bleiben, aber kaum wurde es dunkel, klopfte es an der Tür, und sie stand im Schlafanzug auf der Veranda. Die Eltern ihrer Freundin mussten sie immer wieder zu uns zurückbringen.“ Er lacht schallend, was es so wirken lässt, als wären seine Worte viel lustiger gewesen, als es tatsächlich der Fall war.

Trotzdem lächele ich.

Er seufzt und streicht sich mit dem Daumen über seinen Schnauzbart.

Briar sieht ihn an, dreht sich dann aber langsam wieder zu mir um. Sie scheint sich über Johnson zu ärgern.

„Wir sind noch immer mit der Namensliste befasst, die Sie uns gegeben haben. Ist Ihnen noch jemand eingefallen, mit dem wir reden sollten? Oder ist Ihnen etwas in den Sinn gekommen, das uns zu einem Verdächtigen führen könnte?“, fragt Briar und versucht, stur beim Thema zu bleiben.

Ich schüttele den Kopf. „Nein.“

Und das ist auch die Wahrheit. Denn gäbe es jemanden, dem ich die Schuld geben könnte, dann hätte ich das längst gesagt. Der Gedanke lässt mein Gewissen wachwerden. Würde ich das Geschehene tatsächlich jemandem in die Schuhe schieben können? Könnte ich tatenlos zusehen, wie derjenige den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringt?

Ja, das könnte ich.

Ich weiß ja, dass mich das zu einem schlechten Menschen macht. Aber tief in meinem Inneren habe ich das schon immer gewusst. Ich weiß nicht, wie ich auf die Idee gekommen bin, ich könnte eine Mutter sein.

„Sie hatten gesagt, dass keine Verwandten in der Nähe wohnen, richtig?“, hakt Briar nach.

„Richtig. Charlies Familie ist in einen anderen Bundesstaat umgezogen.“

„Und was ist mit Ihrer Familie?“

„Ich habe keine Familie.“

„Gar keine?“

„Nein.“

Sie sieht mich zunächst verdutzt, dann neugierig an. Aber Johnsons Augen nehmen einen sanften Zug an, und er sieht mich mitfühlend an. Es ist nichts ungewöhnlich daran, wenn man keine Familie hat. Man muss sich doch nur die Heime ansehen. Und die vielen Pflegefamilien. Jede Menge Leute sind ganz allein auf der Welt.

Die Befragung fühlt sich an, als wollte sie einfach kein Ende nehmen. Nur mit Mühe kann ich meine Augen noch offen halten. Ich suche die Wand nach einer Uhr ab, kann aber keine finden. Inzwischen muss doch mindestens eine Stunde vergangen sein.

„Okay. Gab es in den letzten Wochen jemanden, der Bella besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt hat?“

Ich sehe zur Decke und schüttele bedächtig den Kopf, ehe ich wieder Briars Blick begegne. „Eigentlich nicht. Jedenfalls ist mir nichts aufgefallen“, sage ich. „Viele Leute haben Bella ihre Aufmerksamkeit gewidmet. Sie war sehr freundlich. Auf der Straße hat sie zu Fremden einfach Hallo gesagt. Sie hat sich mit Leuten unterhalten, die in der Warteschlange neben uns gestanden haben. Die Leute haben sie geliebt, und sie hat die Leute geliebt.“

In dem Moment, in dem ich meinen Satz beendet habe, wird mir mein Fehler bewusst. Ich habe von Bella in der Vergangenheitsform gesprochen.

Scheiße.

Briar verzieht keine Miene und zeigt keine Reaktion. Aber es muss ihr aufgefallen sein. Wenn nicht ihr, dann sicherlich Johnson, der mich ansieht.

Mir kommen wieder die Tränen. Weil ich Angst habe, dass mir ein gravierender Fehler unterlaufen ist. Und weil ich einen Moment braucht, um meine Gedanken zu ordnen. Ich lasse all den Schmerz zu, den ich die ganze Zeit unterdrückt habe, und lasse ihn an die Oberfläche kommen. Briar setzt sich gerader hin und beobachtet mich.

„Ich habe gerade von ihr gesprochen … als wäre sie bereits tot“, bringe ich schluchzend heraus.

Ich weiß nicht, ob ich es nur noch schlimmer mache, wenn ich selbst darauf hinweise, aber ich habe keine Ahnung, was ich sonst machen sollte. Mein Schluchzen lässt mich am ganzen Leib so sehr zittern, dass ich befürchten muss, nicht weitermachen zu können. Doch nach ein paar Minuten verwandelt sich das Schluchzen in einen Schluckauf.

„Ich dachte immer, ich wäre in der Lage, zu spüren, wenn sie in Gefahr ist. Ich dachte, ich würde sie irgendwie fühlen können. Ich bin schließlich ihre Mom.“ Ich hebe den Kopf hoch und sehe Briar flehend an.

Zu meinem Erstaunen beugt sich Johnson vor. „Wir geben alle unser Bestes, um unsere Kinder zu beschützen. Aber es gibt immer wieder Umstände, die sich unserer Kontrolle entziehen und die wir nicht voraussehen können.“ Er streckt den Arm aus und legt seine Hand auf meine. „Es gibt keine magische oder übersinnliche Verbindung zwischen einer Mutter und ihrem Kind. Babys sterben an SIDS, während die Eltern im Zimmer nebenan friedlich schlafen. Jeden Tag verschwinden überall auf der Welt Kinder, und ihre Eltern stellen das erst Stunden später fest. Deshalb sind Sie aber keine schlechte Mutter.“

Er hat recht, nicht wahr?

Zum ersten Mal geht mir die Frage durch den Kopf, ob Anne Briar selbst auch Mutter ist. Ich wage einen Blick in ihre Richtung und erkenne sofort, dass meine Tränen bei ihr keinen Eindruck hinterlassen haben. Sie sieht verärgert aus, aber ich bin mir nicht sicher, ob das mit mir oder mit Johnson zu tun hat. Ich wische eine Träne weg, die mir eben über die Wange läuft.

„Wir möchten heute eine Pressekonferenz anberaumen“, sagt Briar, ohne auf meinen Zusammenbruch oder auf meine Äußerungen einzugehen.

Unwillkürlich versteife ich mich am ganzen Leib. Wir können nicht im Fernsehen auftauchen. Die Medien auf dieses Unglück aufmerksam zu machen, ist das Schlimmste, was wir machen können. Aber ich glaube, uns bleibt keine andere Wahl.

„Eine Pressekonferenz?“, wiederhole ich und schlucke angestrengt.

Sie nickt. „Sie und Charlie werden beide anwesend sein, aber nur einer von Ihnen muss etwas sagen. Die Reporter verschiedener Nachrichtenmedien werden anwesend sein, um das aufzunehmen und zu senden, was wir zu sagen haben. Sie werden darum bitten, dass jeder, der womöglich hilfreiche Informationen besitzt, sich bei der Polizei meldet, und Sie werden an denjenigen, in dessen Gewalt sie sich befindet, die Bitte richten, sie unversehrt zu Ihnen zurückzubringen.“

„Ich dachte, wir sollen die ganze Zeit über das Haus nicht verlassen“, wende ich ein.

„Wir werden das Haus von einem Polizisten bewachen lassen. Ich rufe auch gleich Charlie an, damit er für die Befragung herkommt. Ich möchte nicht warten müssen, bis Sie wieder zu Hause sind. Währenddessen werden wir alles für die Pressekonferenz vorbereiten und anschließend rübergehen in den Medienraum, wo alles bereit sein wird.“

„Okay“, ist das Einzige, was ich sagen kann, da meine Kehle sich noch zugeschnürter anfühlt. Ich bin mir fast sicher, dass sie das alles absichtlich so gemacht haben, damit Charlie und ich getrennt befragt werden können und ich keine Gelegenheit haben werde, vor seiner Befragung noch mit ihm zu reden.