Leseprobe Imperfect Boss

Kapitel 1

Jessica

So ein Mist. Ich war spät dran, schoss es mir durch den Kopf, als ich auf meinen High Heels die Wall Street entlang stöckelte, während mir der kalte Wind um die Nase blies. Immer wieder musste ich anderen Geschäftsleuten ausweichen, die mir entgegenkamen und es mindestens genauso eilig zu haben schienen wie ich. Ein typisches Phänomen im Financial District des Big Apple. Hier war grundsätzlich jeder im Stress und die Menschen eilten geschäftig umher wie ein Bienenschwarm.

Die letzte Subway hatte ich verpasst und fürchtete jetzt, dass ich es nicht mehr pünktlich zu meinem Termin mit Mister Anderson schaffen würde. Dabei hatte Lydia mir eingetrichtert, ich solle bloß pünktlich kommen, weil ihr Boss es nicht leiden konnte, wenn man unorganisiert war. Doch ich war fast bei meinem Ziel angekommen, als mein Handy klingelte.

„Ja?“ Ich hielt mir das Smartphone ans Ohr, während ich an der Federal Hall vorbei hastete, an der es wieder einmal vor Touristen wimmelte, die Fotos von der Sehenswürdigkeit schossen.

„Hallo, Sweetheart“, sagte Alan mit seiner samtweichen Stimme, die mir wie jedes Mal eine Gänsehaut bescherte. „Bist du schon da?“

„Fast“, erwiderte ich und blieb ungeduldig an einer Ampel stehen. „Es ist nicht mehr weit.“

„Wunderbar. Ich wollte dir nur viel Erfolg wünschen und dich nochmal an die wichtigsten Dinge erinnern. Erstens: Denk an deine Körpersprache. Aufrechte Haltung und direkter Augenkontakt sind bereits die halbe Miete. Zweitens: Bleib sachlich und lass dich nicht provozieren. Das Buch ist gut. Du weißt das und ich weiß das. Immerhin geht es darin um mich.“ Er lachte leise. „Und drittens: Achte auf ein tadelloses Äußeres und lächle so oft wie möglich. Damit kannst du jeden verzaubern. Vor allem, wenn du deine Lippen so rot geschminkt hast, wie ich es mag. Du schaffst das, Sweetheart. Ich glaube an dich.“

„Danke. Aber ich muss jetzt auflegen. Ich bin spät dran und muss mich beeilen.“

Alan schnalzte mit der Zunge. „Was habe ich dir über Unpünktlichkeit gesagt?“

„Ich weiß, Alan. Aber das hilft mir jetzt nicht weiter. Also … Danke für deinen Anruf. Ich werde mein Bestes geben. Versprochen.“

„That’s the spirit. Melde dich, sobald du fertig bist und am Wochenende feiern wir deinen Erfolg.“

„Ist gut. Bis später.“

Ich legte auf, als das weiße Ampelmännchen erschien und setzte mich zusammen mit zig anderen Anzugträgern in Bewegung. Ich bog in die Broad Street ab, wo ein paar Meter weiter bereits die Eingangstür zu dem Hochhaus zu sehen war, in dem sich einer der größten Verlage von ganz New York befand. Bereits von hier aus war der Schriftzug ‚Anderson Publishing‘ an der Fassade zu erkennen.

Schnell zog ich meinen Handspiegel hervor und checkte mein Make-up, um Alans Ratschlag zu befolgen. Vor Nervosität hatte ich mir offenbar auf der Lippe herum gebissen, denn die Farbe war halb verschwunden. Also holte ich im Laufen meinen Lippenstift aus der Handtasche und zog meinen Mund nach. Ich lief durch eine Einfahrt und fuhr im nächsten Moment vor Schreck zusammen, als ein riesiger Laster laut neben mir hupte, weil er offenbar in die Einfahrt neben dem Hochhaus wollte, die ich gerade durchquerte.

„Haben Sie Tomaten auf den Augen?“, brüllte ein großer Mann mit langen, zerzausten Haaren und Vollbart und lehnte sich zu mir aus dem Fenster.

Schnell wandelte sich mein Schreck in Ärger. „Besser Tomaten auf den Augen als keine Manieren“, schimpfte ich zurück. „Sie haben mich fast zu Tode erschreckt.“

„Dann schminken Sie sich beim nächsten Mal besser zu Hause statt auf der Straße. Ich hätte Sie fast überfahren. Und das nur, weil Sie unbedingt aussehen wollen wie die nächste Bordsteinschwalbe.“

Ich wurde puterrot und vergaß für den Moment völlig, dass ich es eilig hatte. Wütend stemmte ich die Hände in die Hüften.

„Wie bitte?“, fragte ich empört. „Besser eine Bordsteinschwalbe als …“

Verdammt. In diesem Fall passte die ‚Besser-als-Methode‘ nicht. Alan hatte mir zigmal eingebläut, dass ich aufpassen musste, wann ich diese Taktik benutzte, denn unter Umständen gab es nicht wirklich etwas, das besser war. Doch nun war es zu spät und ich musste den Satz zu Ende bringen.

„Als … als ein Waldschrat“, sagte ich, weil es das Erste war, was mir zu ihm einfiel.

Die Miene des Mannes verfinsterte sich und im nächsten Moment stellte er den Motor aus. Ich schluckte, als er tatsächlich die Fahrerkabine verließ und mit einer Zigarette im Mund auf mich zukam. Dieser Mann war riesig. Er war sicherlich zwei Meter groß, denn selbst mit meinen High Heels reichte ich ihm nicht einmal bis zur Nase. Er trug staubige Jeans, ein zerknittertes Hemd und hatte Schuhe an, die doppelt so groß wirkten wie meine eigenen.

„Wie haben Sie mich gerade genannt?“, fragte er mit düsterem Tonfall.

Ich schluckte. Dieser Mann wirkte wie ein Wilder auf mich, aber ich ging trotzdem nicht davon aus, dass er mich mitten am Tag tätlich angreifen würde. Vor allem nicht, wenn es so viele Zeugen gab wie hier. Die meisten Leute gingen ihm instinktiv aus dem Weg und machten einen großen Bogen um ihn. Ein paar blieben allerdings stehen, um das Schauspiel zu beobachten, und das machte mich mutiger.

„Ich sagte, Sie seien ein Waldschrat“, wiederholte ich und straffte den Rücken. „Und ein unhöflicher noch dazu. Immerhin hätten Sie mich fast über den Haufen gefahren und halten es nicht einmal für nötig, zu fragen, wie es mir geht.“

Der Mann schnipste seine Zigarette weg und kam noch einen Schritt näher. Ganz offenbar wollte er mich mit seiner Präsenz einschüchtern, aber da hatte er sich die Falsche ausgesucht. Ich arbeitete schon seit Jahren an meinem Selbstbewusstsein und von so einem ungehobelten Klotz würde ich mich ganz sicher nicht unterkriegen lassen.

„Sie haben recht“, sagte der Mann zu meiner Überraschung. „Das habe ich nicht gefragt. Und warum? Weil es mich einen Scheißdreck interessiert. Nun gehen Sie mir aus dem Weg, damit ich endlich durch diese Einfahrt komme. Nochmal bremse ich nämlich nicht für Sie.“

Mein Mund klappte auf, als der Mann sich daraufhin umdrehte und zurück in seinen Laster stieg.

„Ich würde lieber tun, was er sagt“, schlug eine junge Frau neben mir vor, die offenbar das Schauspiel interessiert verfolgt hatte.

„Was?“, fragte ich verwirrt.

„Sie sollten aus dem Weg gehen“, präzisierte sie und zog mich zur Seite. Genau rechtzeitig, bevor der Mann mit seinem Laster Gas gab und rasant in die Einfahrt rauschte, die offenbar zur Rückseite des Gebäudes führte, in das ich wollte.

„Ich … danke“, sagte ich. „Das war nett von Ihnen.“

„Keine Ursache. Ich bin übrigens Tiffany.“

Sie lächelte und entblößte dabei riesige Schneidezähne, die gar nicht zum Rest ihres Gesichts passen wollten.

„Ich heiße Jessica. Sehr erfreut. Kennen Sie diesen Kerl?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nie gesehen. Ist bestimmt ein Lieferant, der die Möbel für Mister Andersons Enkel bringt. Wir bekommen zwei neue Abteilungsleiter und die fangen heute an.“

Sie deutete auf das Verlagsgebäude und meine Miene erhellte sich.

„Sie arbeiten hier? Das ist ja toll“. Ich folgte ihr ins Innere des Gebäudes und zu den Aufzügen. Wir stiegen ein und ich freute mich zu sehen, dass Tiffany offenbar in dieselbe Etage wollte wie ich.

„Ich habe gleich einen Termin bei Mister Anderson und bin spät dran“, erklärte ich und schielte nervös auf meine Armbanduhr. „Haben Sie noch irgendwelche Tipps für mich?“

„Na ja.“ Tiffany deutete auf meinen Mund. „Vielleicht sollten Sie den Lippenstift nochmal korrigieren. Das würde auf jeden Fall einen besseren Eindruck machen, auch wenn Sie schon spät dran sind.“

Erschrocken griff ich mir ins Gesicht und schaute in den Spiegel, der innerhalb des Aufzugs angebracht war. Tatsächlich hatte ich mich vorhin so sehr erschreckt, dass der Lippenstift nun quer über meine Wange verlief.

„Oh mein Gott“, rief ich. „Und das sagen Sie mir erst jetzt?“

Schnell griff ich nach meiner Handtasche, um das Malheur zu korrigieren. Ich nahm ein Taschentuch heraus und wischte wie wild an meiner Wange herum. Leider machte ich es dadurch nur noch schlimmer und verschmierte den Strich zusätzlich.

„Oh, nein“, jammerte ich. „Das ist ja grauenvoll. Mister Anderson wartet bestimmt schon auf mich, aber so kann ich unmöglich zu ihm.“

„Immer mit der Ruhe“, sagte Tiffany. „Gehen Sie am besten gleich zu den Toiletten und korrigieren das Ganze schnell. Mister Anderson ist ein netter Mann. Er wird Ihnen bestimmt nicht den Kopf abreißen.“

Als sich die Aufzugtüren öffneten, nickte ich nervös und hielt mir eine Hand vor die Wange, damit niemand das Desaster sehen konnte. Gott. Alan hätte mich bestimmt belächelt, wenn er mich so sehen könnte. Ihm wäre so etwas nie passiert. Ich warf Tiffany einen flehenden Blick zu.

„Wo sind die Toiletten?“, fragte ich.

„Einfach den Gang runter, bis ganz hinten und dann rechts. Sie können es gar nicht verfehlen. Und viel Glück beim Boss später. Keine Sorge. Mister Anderson ist total in Ordnung.“

Sie warf mir ein Lächeln zu und ich nickte dankbar. Dann eilte ich den Gang entlang, von dem links und rechts freundlich eingerichtete Büros abgingen, und hoffte, dass mich niemand aufhalten würde. Ich war zwar ohnehin schon zu spät dran, aber so würde ich Mister Anderson sicher nicht unter die Augen treten.

Ich drängelte mich an ein paar Leuten vorbei, die sich auf dem Flur unterhielten und hatte die Toiletten fast erreicht, als gegenüber ein weiterer Aufzug aufging und ein Schrank den Flur betrat. Also, natürlich nicht der Schrank selber, sondern eine Person, die einen Schrank trug, aber da sie komplett dahinter verborgen war, sah es aus, als würde der Schrank von alleine laufen. Ich wunderte mich kurz darüber, dass es überhaupt jemand schaffte, dieses Ungetüm von einem Möbelstück alleine zu schleppen, als mir auffiel, dass er mir damit den kompletten Weg versperrte.

Anders herum war es wohl genauso, denn hinter dem Schrank beschwerte sich jemand.

„Aus dem Weg! Sehen Sie nicht, dass ich hier durch muss?“

Der Waldschrat. Natürlich. Wer auch sonst? Es wäre doch ein Leichtes für ihn gewesen, kurz zu warten, um mich zur Toilette zu lassen, aber nein. Keine Rücksicht auf niemanden. Warum auch, wenn man so groß war wie ein Bär und offensichtlich auch genauso stark?

Da der Klügere bekanntlich nachgab, machte ich einen Schritt zur Seite in das nächste Büro hinein, um ihm Platz zu machen. Doch statt an mir vorbei zu gehen, stellte der Mann den Schrank genau vor mir ab, sodass ich mich keinen Zentimeter mehr rühren konnte.

„Das war ja klar“, sagte er und betrachtete mich von oben herab. „Lippenstift-Barbie versperrt mit den Weg ins Büro. Wobei … Im Moment erinnern Sie mich eher an den Joker mit Ihrem Make-up.“

Ich errötete und hob schnell wieder die Hand, um meinen verschmierten Lippenstift zu bedecken. Doch dann beschloss ich, dass es jetzt ohnehin egal war und ließ die Hand wieder sinken.

„Ich sehe lieber aus wie der Joker als wie Wolverine“, behauptete ich, obwohl ich vermutete, dass der Vergleich hinkte. „Und woher hätte ich denn bitte schön wissen sollen, dass Sie ausgerechnet in dieses Büro müssen?“

„Vielleicht, weil es leer ist?“

Ich sah hinter mich, und tatsächlich. Das große Büro mit der riesigen Fensterfront war vollständig leer. Offenbar hatte man es renoviert, denn die Wände wirkten frisch gestrichen und das Parkett auf dem Boden kam mir ebenfalls neu vor.

„Oh“, sagte ich. „Das … konnte ich von meiner Position aus nicht sehen.“

„Ach ja. Ich vergaß. Sie haben ja Tomaten auf den Augen.“

Das reichte. So viel Unverschämtheit von einem dahergelaufenen Möbelpacker musste ich mir nicht gefallen lassen.

„Nun hören Sie mir mal zu“, verlangte ich. „Nur, weil Sie heute Morgen ganz offensichtlich mit dem falschen Fuß aufgestanden sind, müssen Sie mich noch lange nicht beleidigen. Warum machen Sie nicht einfach Ihre Arbeit und ich mache meine? Dann brauchen wir beide uns nie wieder zu sehen und können fröhlich unserer Wege gehen.“

„Würde ich ja gerne, wenn Sie mir nicht ständig im Weg herumstehen würden. Also … verschwinden Sie jetzt endlich aus diesem Büro?“

Er trat demonstrativ einen Schritt zur Seite und ich ging hoch erhobenen Hauptes an ihm vorbei.

„Gerne. Ich habe auch nicht vor, es nochmal zu betreten und auf eine weitere Begegnung mit Ihnen kann ich ebenfalls verzichten.“

„Gut. Dann sind wir uns ja einig.“

Ich ging in den Flur und staunte, als der Mann den Schrank wieder anhob und damit im Büro verschwand. Dabei spannten sich seine beachtlichen Armmuskeln an und sprengten fast sein Hemd.

Das war allerdings auch schon alles, was man über den Mann an Positivem sagen konnte, denn ansonsten ließ seine Optik genauso zu wünschen übrig wie seine Manieren und innerlich erstellte ich bereits eine Liste, was ich ihm alles raten würde, sollte er einmal Alans Kunde werden.

Aber Möbelpacker konnten sich die Dienste von Alan Cook für gewöhnlich nicht leisten und kamen auch gar nicht auf die Idee, sich einer Imageberatung zu unterziehen. Vermutlich fühlte der Kerl sich ganz wohl in seiner Haut und interessierte sich überhaupt nicht für meine Verbesserungsvorschläge.

In diesem Moment erinnerte ich mich daran, dass ich Zeitdruck hatte und eilte in die Frauentoilette. Dort korrigierte ich mein Lippenstiftdesaster und erneuerte hastig die Wimperntusche. Danach erst ging ich zurück über den Flur, wo Lydia bereits auf mich wartete.

„Verdammt, Jessy. Wo bleibst du denn?“, fragte sie aufgebracht. „Der Boss wartet schon auf dich. Du bist eine Viertelstunde zu spät. Gib mir deinen Mantel.“

Lydia und ich kannten uns von der Uni, wo wir uns ein Studentenzimmer geteilt hatten. Sie war seit einigen Jahren meine beste Freundin und hatte mir den Termin bei Mister Anderson besorgt. Mit ihrer roten Mähne war sie ein absoluter Männertraum und hatte im Gegensatz zu mir Alans Tipps überhaupt nicht nötig. Sie wusste immer genau, was sie anziehen und wie sie sich präsentieren musste.

„Es tut mir leid“, sagte ich und schlüpfte aus dem Mantel, um ihn ihr zu geben. „Ich habe zu wenig Zeit eingeplant. Das war dumm von mir. Ich hoffe, dein Boss verzeiht mir.“

„So gut, wie du heute aussiehst, wird er das ganz bestimmt“, versicherte Lydia und hängte den Mantel an die Garderobe. „Also los jetzt. Setz dein schönstes Lächeln auf und dann rein mit dir.“

Sie schob mich vor sich in ein großes Büro hinein und klopfte gleichzeitig an die offene Tür.

„Mister Anderson“, sagte sie. „Darf ich Ihnen Jessica Carter vorstellen?“

„Ah“, erwiderte ein älterer Mann mit grauen Haaren und dickem Bauch. „Aber natürlich. Kommen Sie doch rein. Schön, Sie kennenzulernen, Miss Carter.“

„Vielen Dank“, sagte ich und ging an Lydia vorbei. Sie zwinkerte mir aufmunternd zu und trat dann zurück, sodass ich mit Mister Anderson allein war. Er war ein Mann um die siebzig mit Halbglatze, einem altmodischen Schnurrbart und einem freundlichen Lächeln, das ihn mir auf Anhieb sympathisch machte.

Wir schüttelten einander die Hände und Mister Anderson bedeutete mir, mich zu setzen.

„Ich habe leider nicht mehr viel Zeit“, sagte der alte Mann. „Aber ich wollte zumindest kurz persönlich mit Ihnen sprechen. Immerhin habe ich es Lydia versprochen.“

Ich nickte verunsichert. Hieß das, dass kein Interesse an meinem Projekt bestand? Falls ja, dann hätte ich mir die ganze Hektik ja sparen können.

„Was … was genau soll das heißen?“, fragte ich.

„Nun. Das soll heißen, dass ich die Entscheidungen über die Verlagsprojekte an meine beiden Enkel abgegeben habe. In ein paar Monaten soll einer der beiden den Chefposten bei Anderson Publishing übernehmen, aber dafür müssen die beiden sich erstmal bewähren. Charles ist für unsere Lokalzeitung sowie für die Sachbücher und die Biografien zuständig und Henry kümmert sich um die Belletristik. Das Ganze ist etwas chaotisch verlaufen, weil meine liebe Frau seit ein paar Wochen pflegebedürftig ist.“

„Das tut mir sehr leid. Das wusste ich nicht.“

„Wie auch? Wir hängen es nicht unbedingt an die große Glocke. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich vertraue meinem Enkel voll und ganz. Charles hat ihr Manuskript bereits vorliegen und wird Ihnen nachher seine Einschätzung mitteilen. Ah. Das wird er sein.“

Es klopfte und im nächsten Moment streckte ein Mann seinen Kopf zur Tür herein, dem man die Ähnlichkeit zu seinem Großvater direkt ansah. Er hatte zwar volleres Haar und war schlanker, aber er besaß dasselbe einnehmende Lächeln und dieselben sympathischen Augen.

Er trug ebenfalls einen schicken Anzug und strahlte eine gewisse Leichtigkeit aus, die mir sehr gefiel.

„Hallo, Großvater“, sagte er. „Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass mein Büro soweit eingerichtet ist. Ich habe mein Büro bereits eingerichtet und bin zu allen Schandtaten bereit.“

Ah, ja. Das musste also Charles sein. Ein netter Zeitgenosse, wie es aussah. Erleichtert lächelte ich ihn an.

„Schön“, sagte Mister Anderson. „Darf ich dir Jessica Carter vorstellen?“

„Sehr erfreut“, sagte der Mann und reichte mir die Hand. „Hübsche Damen wie Sie sind hier immer gern gesehen.“

Er deutete einen Handkuss an und ich musste ein mädchenhaftes Kichern unterdrücken. Souverän bleiben. Das war wichtig, wenn man ernst genommen werden wollte.

„Vielen Dank“, sagte ich daher. „Es freut mich ebenfalls.“

„Miss Carter ist die Autorin der Biografie über Alan Cook. ‚The perfect Me‘.“

Die Augen des Mannes weiteten sich überrascht und erneut erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht.

„Das ist ja wunderbar. Ich habe eins seiner Seminare besucht und das hat buchstäblich mein Leben verändert.“

Sicher nicht so sehr wie bei mir, aber das behielt ich lieber für mich. Niemand musste wissen, wie unsicher und unscheinbar ich gewesen war, bevor Alan mich unter seine Fittiche genommen hatte.

„Das ist schön zu hören“, sagte ich stattdessen. „Ihr Großvater hat mir gerade mitgeteilt, dass Sie für mein Projekt zuständig sind.“

Der Mann sah seinen Großvater fragend an, aber dieser schüttelte den Kopf. „Oh, nein. Das ist ein Missverständnis. Vor Ihnen steht Henry Anderson. Nicht Charles. Er müsste allerdings jeden Moment hier sein. Ah. Da ist er ja.“

„Ich wurde aufgehalten“, brummte jemand von der Tür her. „Da war so eine ungeschickte Pute, die … Oha. Vom Regen in die Traufe.“

Mein Herz rutschte mir in die Hose, als ich die Stimme erkannte und ich fuhr zu dem Mann herum, der gerade das Büro betrat.

„Ich muss doch wohl sehr bitten“, sagte Mister Anderson. „Es handelt sich hier um eine potenzielle neue Autorin, also behandle sie mit etwas mehr Respekt, Junge.“

„Und wie siehst du eigentlich aus?“, fragte Henry abfällig. „Ein Friseurbesuch würde dir auch mal ganz gut tun.“

„Nur weil du bei deinem Friseur regelrecht eingezogen bist, müssen wir das ja nicht alle tun, oder?“, bemerkte Charles bissig.

„Und deine Klamotten? Hast wohl dein Bügeleisen verloren, was?“, feixte Henry.

Charles’ Miene verfinsterte sich. „Ich geb’ dir gleich eine mit dem Bügeleisen“, knurrte er. „Und wie ich mit meinen Autoren umgehe, ist doch wohl hoffentlich meine Sache.“

Er sah seinen Großvater herausfordernd an und dieser nickte widerwillig. „Das stimmt. Abmachung ist Abmachung. Du wirst schon die richtige Entscheidung treffen. Also, bis später. Miss Carter? Man sieht sich.“

„Danke“, erwiderte ich verdattert und hätte ihn am liebsten gebeten, mich nicht mit dem Waldschrat allein zu lassen.

Er ist doch nur der Möbelpacker, wollte ich sagen, verkniff es mir aber im letzten Moment, weil ich längst begriffen hatte, welchem Irrtum ich erlegen war. Dieser Mann war ganz offensichtlich kein Möbelpacker, sondern der neue Abteilungsleiter des Verlags. Verdammt. Warum nur konnte Henry nicht für die Biografien zuständig sein?

„Viel Glück“, wünschte dieser mir noch. „Das können Sie brauchen.“

Mit diesen Worten verließen Henry und sein Großvater das Büro und ließen mich mit Charles Anderson zurück, der mich von oben herab betrachtete, als wäre ich nur eine lästige Mücke, die er jeden Moment zu zerquetschen gedachte.

„Setzen“, befahl er und deutete auf den Stuhl.

Na, wunderbar. Das waren ja ganz tolle Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit.

Kapitel 2

Charles

Wenn ich etwas bei einem Menschen nicht leiden konnte, dann war es Perfektion. Perfekt frisiert wie mein Cousin, perfekte Manieren wie mein Großvater oder perfektes Make-up wie die Frau vor mir. Deswegen war es mir sogar ganz sympathisch gewesen, als sie mit verschmiertem Lippenstift vor mir gestanden und mir mutig die Stirn geboten hatte. Doch jetzt war davon nichts mehr zu sehen. Ihr Aussehen war tadellos. Sie trug einen Stiftrock und eine gerade gebügelte Bluse. Dazu hatte sie hohe Pumps an und ihr Haar war zu einem strengen Dutt zurückgebunden. Ihr Gesicht war makellos. Kein einziger Pickel und keine Unreinheit waren zu entdecken. Ihre Züge wirkten wie eine Maske, hinter der sie versuchte, all ihre Gefühle und ihre Persönlichkeit zu verstecken.

Es gelang ihr allerdings nicht ganz, den Schock zu verbergen, als ihr klar wurde, dass ihr Projekt in meinen Händen lag. Tja. Pech gehabt, Barbie. So kann’s gehen im Leben.

„Ich … ähm …“, begann Miss Carter und streckte mir die Hand entgegen. „Ich fürchte, wir hatten vorhin einen schlechten Start.“

„Warum? Weil Sie mich als Waldschrat bezeichnet haben? Und mir einen Vortrag über Höflichkeit halten wollten?“

Sie wurde blass und zog ihre Hand zurück, als ihr klar wurde, dass ich nicht vorhatte, diese zu schütteln. Ich scheute den Kontakt zu Menschen und berührte Fremde nur ungern. Das war nicht immer so gewesen, aber in den letzten Jahren war es mir in Fleisch und Blut übergegangen.

Dumm nur, dass man in einer Metropole wie New York schwerlich allen Menschen aus dem Weg gehen konnte.

„Das … war nicht so gemeint“, behauptete Miss Carter und sank dadurch noch mehr in meiner Achtung. Ich war mir sicher, dass sie sehr wohl gemeint hatte, was sie sagte und jetzt nur versuchte, gut Wetter zu machen, weil sie etwas von mir wollte. Solche Menschen konnte ich nicht leiden. Gut. Zugegebenermaßen konnte ich ohnehin die wenigsten Menschen leiden.

„War es doch“, sagte ich daher schlicht und setzte mich auf den Bürostuhl meines Großvaters.

Mein eigenes Büro war noch nicht fertig eingerichtet, aber das hatte Zeit bis später. Zuerst musste ich diesen Termin hinter mich bringen, und das am besten so schnell wie möglich. Also zog ich einen Stapel Papiere hervor, auf dem ganz oben eine Broschüre von Alan Cook lag. Er grinste mir breit entgegen und zeigte dabei strahlend weiße Zähne, die ganz sicher das Ergebnis eines Bleachings waren. Sein Anzug war absolut faltenfrei und hatte sicherlich ein Vermögen gekostet. Auf seinem Kopf saß kein Haar an der falschen Stelle.

Dieser Mann war genauso ekelhaft perfekt wie seine Mitarbeiterin, die gerade vor mir saß, und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendjemand Interesse daran haben könnte, etwas über ihn zu lesen.

„Gut, Miss Carter“, sagte ich daher. „Kommen wir zum Wesentlichen. Mein Großvater hat mir Ihr Manuskript schon vor ein paar Tagen zukommen lassen und ich habe es mir intensiv angesehen. Kurz gesagt: Es ist Murks.“

Jessicas Mund klappte auf. „Wie bitte?“

„Sie haben schon richtig verstanden. Diese Biografie taugt nichts. Wer will schon etwas über einen Mann lesen, der keinerlei Ecken und Kanten hat? Alan Cook mag erfolgreich sein in dem, was er tut, aber er ist nicht interessant.“

„Das … sehen aber tausende von Menschen anders, die jede Woche in seine Seminare rennen.“

„Live macht er vielleicht was her, aber in einem Buch kommt das überhaupt nicht rüber. Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie die Texte verfasst haben?“

Jessica nickte nur und ich fühlte mich bestätigt.

„Das merkt man. Die Formulierungen sind aalglatt und wie aus dem Lehrbuch, aber es fehlt dem Ganzen an Seele. Es kommt nichts beim Leser an und das sollte es. Warum hat Mister Cook das Buch nicht selbst geschrieben?“

Jessica schluckte. „Weil … er für so etwas keine Zeit hat. Stattdessen hat er mich damit beauftragt.“

„Tja. Hätte er sich mal jemand Besseren gesucht. Jemanden mit mehr Erfahrung und …“

„Nun ist es aber genug“, fauchte Jessica und sprang auf. „Ich bin doch nicht hergekommen, um mich beleidigen zu lassen.“

Ich lehnte mich zurück und hob eine Augenbraue. „Tja. Das ist Pech. Lobhudelei ist nämlich nicht so mein Ding.“

„Den Eindruck habe ich allerdings auch. Es kann ja sein, dass das Manuskript noch nicht perfekt ist, aber ich bin durchaus bereit, daran zu arbeiten. Alan Cook ist eine spannende Persönlichkeit und wenn Sie kein Interesse an dem Buch haben, dann suche ich mir halt einen anderen Verlag.“

Sie bluffte. Da war ich mir sicher. Wenn es so einfach wäre, einen Verlag für dieses Buch zu finden, dann hätte mein Großvater mir etwas über andere Angebote gesagt. Aber nein. Bisher hatte sich offenbar kein Verlag dafür interessiert. Der Vorteil war, dass ich das Buch dadurch zu günstigen Konditionen bekommen konnte. Die Frage war nur, ob ich das wollte, denn ich blieb bei meiner Meinung: Das Buch hatte kein Herz. Sie hatte diesen Kerl interviewt und einfach heruntergeschrieben, was er erzählt hatte. Aber es las sich mehr wie ein Sachbuch und weniger wie eine Biografie. Biografien sollten intim sein, und das war dieses Buch meiner Meinung nach nicht.

„Gut. Tun Sie das“, sagte ich daher. „Viel Erfolg, denn Sie haben Recht: Der Text ist nicht perfekt und ein Buch, das ‚The perfect Me‘ heißt, sollte genau das sein.“

„Ist das eine Absage?“, hakte sie nach. „Sie brauchen nämlich nicht zu glauben, dass ich wiederkomme, wenn ich einmal weg bin.“

„Oha. Da kommt wohl wieder die Zicke in Ihnen zum Vorschein, was?“

Jessicas Augen funkelten und sie beugte sich über den Schreibtisch, sodass es fast unmöglich war, nicht zu bemerken, was für ein hübsches Dekolleté sie besaß. Ohnehin war sie eine bildschöne Frau mit Kampfgeist und das gefiel mir dummerweise.

„Wenn Sie mit Zicke meinen, dass ich eine Frau bin, die weiß, was sie will und die bereit ist, dafür zu kämpfen, dann ja. Dann bin ich wohl eine Zicke“, stellte sie klar. „Und Sie verpassen hier eine sehr gute Gelegenheit. Also frage ich ein letztes Mal: Sind Sie sicher, dass Sie kein Interesse an meinem Manuskript haben?“

Ich hob die Augenbrauen. Wer hätte gedacht, dass diese junge Frau so viel Feuer im Hintern besaß? Einerseits beeindruckte mich das, aber andererseits änderte das rein gar nichts an meiner Meinung.

„Also gut“, sagte ich. „Ich bin bereit, das Buch ins Programm aufzunehmen. Allerdings nur, wenn Sie es intensiv überarbeiten und komplett auf einen Vorschuss verzichten.“

„Bitte was?“

„Sie haben mich richtig verstanden. Kein Vorschuss. Wenn Ihnen das nicht passt, können Sie das Buch ja selbst herausbringen. Da müssten Sie dann für Cover und Lektorat sogar noch in Vorleistung gehen und verzichten auf die Werbepower eines Verlags. Ihre Entscheidung.“

„Also … das ist ja … Nein. Ich … ich mache das nicht ohne Vorschuss. Wenn es Ihnen keinen Vorschuss wert ist, dann werden Sie auch nicht viel in die Werbung investieren.“

Da hatte sie recht. Das Buch musste in diesem Fall ein Selbstläufer werden, aber falls nicht, würden wir wenigstens nicht viel Geld verlieren.

„Dann überarbeiten Sie das Manuskript“, sagte ich daher nur. „Wenn Sie es schaffen, dass der Text mehr Herz hat, können wir über einen Vorschuss reden. Es dürfte allerdings ein paar Wochen dauern, bis Sie eine Rückmeldung dazu bekommen. Immerhin haben Sie ja gesehen, was im Moment hier los ist.“

Jessica schluckte und richtete sich kerzengerade auf. Eine Frau mit Haltung und Prinzipien.

„Wissen Sie was?“, sagte sie. „Das tue ich. Ich werde das Manuskript überarbeiten. Aber Sie brauchen nicht glauben, dass ich mich dann nochmal an Ihren Verlag wende. Wie gesagt. Es gibt auch noch andere Fische im Meer und ich bin mir sicher, dass ich einen Verlag für die Biografie von Alan Cook finde. Er wird mit jedem Monat bekannter und bald werden sich die Verlage um seine Geschichte reißen.“

„Wie Sie wollen. Mein Angebot steht. Sie wissen ja, wo die Tür ist. Wobei, nein. Wir hatten ja schon festgestellt, dass Ihr Orientierungssinn zu wünschen übrig lässt. Ich würde Sie hinbringen, aber leider habe ich anderes zu tun.“

„Von Ihnen würde ich mich nicht einmal zum Ausgang bringen lassen, wenn ich mich in einem Labyrinth verirrt hätte. Danke für gar nichts, Mister Anderson. Ich hoffe, dass wir einander nicht so bald wiedersehen.“

Mit diesen Worten stürmte sie aus dem Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Ganz klar ein bühnenreifer Abgang. Schade eigentlich, dass ihr Buch nichts taugte, denn es hätte mich durchaus gereizt, erneut mit ihr zu tun zu haben. So hingegen musste ich erstmal zusehen, dass ich Ordnung in den Laden bekam.

Mein Großvater hatte diese Abteilung viel zu nachlässig geführt und ich musste dringend etwas Disziplin in die Mitarbeiter kriegen.

Am besten war es daher, wenn ich Jessica Carter ganz schnell wieder vergaß. Sie und ihr Buch über Alan Cook.

Wer war dieser Kerl schon? Und wen juckte das überhaupt?