Prolog
London, Ende April 1817
Ein Gentleman von Ehre würde im Kartenspiel niemals kaltschnäuzig das Vermögen einer Dame setzen. Die meiste Zeit war Phineas Knight, Marquess of Huntington, ein Gentleman von Ehre.
Nicht jedoch in diesem Augenblick.
»Wie schmachvoll, Huntington.« Lord Derrick, der immer ein Gentleman war, saß neben Finn am Spieltisch und verzog angewidert die Lippen. »Schmachvoll und deiner nicht würdig.«
Finn ging nicht darauf ein. Gott wusste, die ganze Sache war peinlich genug. Es sei denn natürlich, er gewönne. Dann war dieser Einsatz schlicht ein nettes Mittel, sich eines ärgerlichen Rivalen zu entledigen.
Nett und schnell dazu. Man deckte eine Karte auf, und die Sache wäre entschieden.
Diese Effizienz gefiel Finn. Was den eigentlichen Gewinn anging, so spielte er kaum eine Rolle, und seine Höhe war von untergeordneter Bedeutung.
Jede der beiden jungen Damen würde ihren Zweck erfüllen.
»Jetzt ist es zu spät für Gewissensbisse, Derrick. Das Spiel hat begonnen.« Finn trommelte mit den Fingern auf den Tisch, mit dem einen Auge auf sein Blatt fixiert, mit dem anderen zwischen seinen Gegenspielern hin und her wechselnd.
Lord Harley grinste wie üblich debil. Niemand verlor gern gegen einen Minderbemittelten wie Harley, aber Männer wie er glichen dem Ungeziefer in einem Krähennest – eklig zwar, aber so gewöhnlich, dass man kaum einen Gedanken daran verschwendete.
Lord Wrexley war da ein ganz anderer Typus. Er war von den beiden, die Finn an diesem Tisch gegenüber saßen, derjenige, der ihm eine Klinge zwischen die Rippen jagen würde, sobald er ihm die Kehrseite zuwandte. Wrexley musste man im Auge behalten, denn nichts war gefährlicher als ein skrupelloser Mann, der nichts zu verlieren hatte.
»Das wirst du früh genug bereuen, Huntington. Harley hat teuflisches Glück im Kartenspiel. Verdammt, Harley.« Lord Derrick hob die Stimme. »Warum kannst du nicht um Banknoten spielen, wie alle anderen Schurken Londons auch?«
Harley blickte über den Rand seiner Karten hinweg, und sein provozierendes Grinsen vertiefte sich noch. »Aber wir spielen um Banknoten. Darf ich daran erinnern, dass Lady Honora fünfzigtausend davon hat.«
»Miss Somerset hat vierzigtausend und dazu Augen, die so tiefblau sind, dass halb London vor ihr in die Knie geht.« Lord Derrick warf einen geringschätzigen Blick über den Tisch. »Aber ich schätze, dir ist das nicht gut genug, oder, Harley?«
Harley lachte. »Was für eine romantische Vorstellung. Aber wenn vierzigtausend und ein Paar blauer Augen reichen würden, auch nur einen von uns zu verführen, wären wir nicht mitten in diesem Spiel.«
»Im Gegenteil, Harley. Warum erst um eine Lady spielen, die dich gar nicht reizt?« Lord Wrexley spielte mit den Fingerspitzen am Rand seiner Karten und verzog die Lippen zu einem herausfordernden Grinsen, während er Finn ansah. »Ich würde für Miss Somerset sogar tiefer als nur in die Knie gehen.«
Lord Derrick schnaubte. »So tief, dass du das Vermögen deiner eigenen Cousine setzt, als wäre es bloß ein Gebot für einen Gaul bei Tattersall’s? Lady Honora hat Besseres von euch allen verdient, erst recht aber von dir, Wrexley.«
Wrexley zuckte die Achseln und klopfte mit einem Knöchel auf den Tisch. »Bring’s zu Ende, Harley.«
Lord Harley warf eine Karte über den Tisch in seine Richtung und sah Finn an. »Nun, Huntington? Noch eine Karte?«
Finn sah auf sein Blatt. Sie spielten vingt-et-un, und er hatte vierzehn Punkte auf der Hand. Das sah nicht vielversprechend aus.
Er klopfte auf den Tisch. Harley schob ihm eine Karte hin und legte sein Blatt verdeckt auf dem Tisch ab, ohne für sich selbst eine Karte zu nehmen.
Ein weiteres schlechtes Zeichen.
»Was zum Teufel hast du gegen Miss Somerset, Huntington?« Lord Derricks Miene wurde mit jeder Karte, die über den Tisch wanderte, finsterer.
»Sie ist hervorragend.«
Diese knappe Antwort befriedigte Lord Derrick nicht. »Sie ist eine bezaubernde Dame, wie sie im Buche steht, und es ist dir doch völlig gleich, ob ihr Vermögen um Zehntausend geringer ist als das von Lady Honora. Warum also nicht einfach Miss Somerset den Hof machen, und fertig?«
Für jeden anderen Gentleman war Miss Somerset eine verführerische Option. Sie war in Surrey aufgewachsen und trug die Langweiligkeit ihrer ländlichen Herkunft immer noch im Wesen, aber dennoch war sie unbestreitbar ein lupenreiner Diamant. Trotz ihres Erfolgs auf dem Londoner Heiratsmarkt war sie aber dennoch nicht Finns erste Wahl. Sie hatte in der Tat wunderschöne Augen – das stand außer Frage –, aber gelegentlich schien in den blauen Tiefen ein Mutwille auf, den Finn nicht sehr schätzte.
»Für meinen Geschmack ist sie zu lebhaft.«
Lady Honora Fairchild hingegen war die Art junge Dame, die ihm nicht einen Augenblick Kopfschmerzen bereitete. Sie war so handzahm und gutmütig wie ein neugeborenes Frühlingslämmchen und wäre somit die perfekte Wahl als Ehefrau. Sie würde eine hervorragende Marquise abgeben.
Lord Derrick verschränkte die Arme und verfiel in Schweigen.
»Nun, Huntington?« Harley leckte sich wie ein Mann, der den Sieg schon riechen konnte, über die Lippen. »Werden wir die gesamte Nacht hier sitzen, während du über die Unwägbarkeiten des Schicksals nachdenkst? Sieh dir deine verfluchte Karte an.«
Finn hob eine Ecke der Karte an.
Eine Fünf.
Er deckte sie auf und breitete all seine Karten auf der Mitte des Tischs aus. »Neunzehn.«
Nicht der Hauch einer Emotion glitt über Wrexleys Antlitz, aber Finn erkannte sogleich, dass sein Blatt das von Harley nicht schlagen würde. Ein Mann mit dem schwächeren Blatt würde nicht mit solcher Genugtuung grinsen.
Harley warf seine Karten hin. »Zwanzig. Pech, Huntington.«
Finn starrte finster auf Harleys Karten, die vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet lagen. Nun, damit war die Sache erledigt. Harley würde sich Lady Honora schnappen und sogleich damit anfangen, ihr Vermögen auf den Kopf zu schlagen.
»Nun, Wrexley?« Lord Harley konnte seine Freude kaum verhehlen. »Wird Huntington bis zur nächsten Saison Junggeselle bleiben oder nicht?«
Lord Wrexley ließ einen gleichgültigen Blick von Harley zu Finn gleiten, dann warf er seine Karten ebenfalls auf den Stapel. »Zweiundzwanzig.«
»Verfluchte Schande, Wrexley.« Harley wirkte eher amüsiert als mitfühlend.
Eine Schande, womöglich sogar ruinös. Der jetzige Lord Wrexley hatte, wie alle Lord Wrexleys vor ihm, eine unangenehme Schwäche für das Glücksspiel, und sein Vermögen hatte seine letzte Pechsträhne nicht überlebt. Natürlich war ihm sein Titel geblieben, aber außer seinem attraktiven Gesicht und seinem charmanten Auftreten sprach nicht viel für ihn. Er hatte mit Miss Somerset zunächst einmal einen hohen Einsatz gewagt. Wenn er sich Hoffnungen auf sie machte, musste sie ihn ermutigt haben.
Das sprach nicht gerade von einem guten Urteilsvermögen ihrerseits, besonders, da Wrexley die Gefühle nicht zu erwidern schien. Sollte ihn sein Verlust betrüben, so verrieten seine Züge nichts davon. Er zuckte lediglich mit den Schultern und schob seinen Stuhl vom Spieltisch zurück. »Es gibt noch andere Erbinnen. Aber du blickst so finster drein, Huntington. Gar nicht wie ein Mann, der sich soeben eine Aussicht auf vierzigtausend und Londons meistgefeierte blauäugige Schönheit gesichert hat. Sag mir nicht, du bist in meine Base verliebt.«
Verliebt in Lady Honora? Wohl kaum. Wäre er in sie verliebt, würde er sie niemals heiraten. Ein Mann wollte nicht wegen einer Frau den Kopf verlieren, aber schon gleich gar nicht wegen der eigenen Ehefrau. Das würde die Dinge nur verkomplizieren, und Finn schätzte keine Komplikationen. »Liebe hat doch nichts mit der Ehe zu tun.«
»Nun, wo liegt dann das Problem?« Harley sammelte die Karten ein und schob sie in seine Manteltasche. »Man könnte annehmen, du bist gezwungen, eine Dame mit leeren Taschen und dem Antlitz eines Schafs zu heiraten. Wenn du Miss Somerset nicht anziehend findest, überlass sie Wrexley. Er scheint begierig darauf zu sein, sie zu besitzen.«
Finn lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete Wrexleys Gesicht. Ein Spiel oder eine Wette zu verlieren, brachte Wrexleys Rachsucht zutage, und die hatte er vor Finn noch nie so gut verbergen können wie vor dem Rest Londons. »Ist das so, Wrexley?«
»Ich denke nur, dass es schade ist, wenn eine so bezaubernde Dame an einen Mann verschwendet wird, der sie nicht angemessen schätzt. Aber vielleicht willst du noch ein Spiel um sie wagen, Huntington?«
Da Finn bereits einmal um Miss Somerset gespielt hatte, hatte er keinen Anlass, sich von Wrexleys distinktlosem Vorschlag vor den Kopf gestoßen zu fühlen, doch irritiert presste er die Lippen zusammen. »Noch einmal um sie spielen? Nun, Wrexley, so spricht man nicht über meine künftige Verlobte.«
Wrexley zuckte erneut die Schultern, dann schob er die Arme in seinen Mantel. »Dann lass mich der erste Gratulant sein.« Er nickte Harley und Lord Derrick zu. »Ich wünsche den Gentlemen einen angenehmen Abend.«
Harley beobachtete ihn beim Hinausgehen, dann wandte er sich Finn zu. »Ein Wort unter Freunden, Huntington. Wrexley kann böse werden, wenn er hinter etwas her ist. Ungefähr wie ein Wegelagerer, der auf eine goldene Taschenuhr aus ist. Wenn er sich in den Kopf gesetzt hat, die bezaubernde Miss Somerset zu wollen, könnte er zu fragwürdigen Methoden greifen, um sie zu gewinnen. Wenn du beschließt, ihr den Hof zu machen, bist du gut beraten, ein Auge auf ihn zu haben.«
Finn hatte sich schon längst entschieden, ein Auge auf Wrexley zu haben, aber er nickte einfach. »Ich werde daran denken.«
»Du wärst ein Narr, ihr nicht den Hof zu machen, musst du wissen. Es wird nicht unangenehm sein, sie im Bett zu haben.« Harley grinste wie jemand, der über diese Frage gründlich nachgedacht hatte. »Ich würde darauf wetten, dass sie Temperament hat.«
Lord Derrick, der während dieses Austauschs geschwiegen hatte, schlug mit der Faust auf den Tisch. »Nein, das werdet ihr nicht. Habt ihr beide euch für einen Abend nicht ausreichend entblödet? Keine verfluchten Wetten mehr.«
»Ja, wenn es dir ganz gleich ist, Harley«, sagte Finn gedehnt, »dann ziehe ich das Spiel um Miss Somerset zurück.«
»Das ist gut, Huntington, aber für Ritterlichkeit ist es jetzt etwas spät. Ich kann nicht umhin, für die Dame Mitgefühl zu empfinden, dass sie an einen derart gleichgültigen Ehemann verschwendet werden soll. Das ist ja, wie mit einem Eisblock verheiratet zu sein, nicht? Wenn sie ihrer Pflicht nachgekommen ist und einen oder zwei Erben für dich aus ihrem Körper gepresst hat, mag es ihr in den Sinn kommen, sich einen Liebhaber zu nehmen. Ich werde darauf achten, in ihrer Reichweite zu sein, wenn es so weit ist.«
Finn warf Lord Harley einen säuerlichen Blick zu. »Wenn du so verliebt in sie bist, warum hast du dann um das Recht gespielt, Lady Honora den Hof zu machen?«
»Wegen des Geldes natürlich. Was sonst? Übrigens glaube ich nicht, dass ich Miss Somerset irgendetwas bedeute, trotz meiner vielen Vorzüge. Ich habe den Verdacht, sie würde mich zurückweisen, wenn ich ihr einen Antrag machen würde.«
»Wenn sie dich als Ehemann annimmt, Harley, wird sie dich nicht als Liebhaber annehmen.«
Harley lachte. »Die Ehe ist dazu angetan, die Erwartungen einer Dame in dieser Hinsicht herunterzuschrauben.«
»Die eines Gentlemans ebenfalls.« Wobei Finn sich glücklich schätzen würde, wenn Langeweile die einzige Herausforderung in seiner Ehe wäre.
Harley schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. »Dafür sind Kurtisanen da. Aber das weißt du längst, oder nicht, Huntington?«
Lord Derrick wartete, bis Harley gegangen war, bevor er Finn einen angeekelten Blick zuwarf. »Was für eine Zeitverschwendung. Du warst ein verdammter Narr, dich von Harley zu diesem Spiel verleiten zu lassen.«
»Es wurde kein echter Schaden verursacht.« Harley hatte recht. Wenn Finn Lady Honora nicht haben konnte, würde er sich eben mit Miss Somerset arrangieren. Sie wäre gut genug. Schließlich konnte man Mutwillen zähmen.
»Kein Schaden für dich, aber was, wenn Miss Somerset davon Wind bekommt? Es würde ihre Gefühle verletzen, und sie könnte beschließen, deine Werbung zurückzuweisen. Was dann, Huntington?«
»Sei nicht absurd, Derrick. In ganz London gibt es keine Dame, die einen Marquess zurückweisen würde. Aber sie wird ohnehin nichts davon erfahren. Wrexley und Harley können nichts sagen, ohne sich selbst zu belasten. Keiner von uns wird darüber reden.«
Lord Derrick runzelte die Stirn, während Finn aufstand und seinen Mantel von der Stuhllehne hob. »Jetzt, da die Frage deiner Gattin geklärt ist, geht es zu deiner Konkubine?«
»Ich kann sie ebenso gut genießen, solange ich noch Gelegenheit dazu habe.«
Er würde die Affäre beenden, sobald er verlobt wäre. Schließlich war er der Marquess of Huntington, und trotz seiner gelegentlichen Abstürze in die Verruchtheit, die er von seiner Mutter ererbt hatte, war er ein Mann von Ehre, wie es sein Vater auch gewesen war.
Aber noch war er nicht verlobt, und Lady Beaumont war nur eine kurze Kutschfahrt entfernt; sie wartete auf ihn, und ihr üppiger Körper war warm und willig.
Was Miss Somerset anging …
Er hätte ihr Lady Honora vorgezogen, aber Miss Somerset war fast ebenso gefügig wie ihre Rivalin, und ihr Großvater war ein Earl gewesen. Wenn die Abstammung erst einmal geklärt war – welchen Unterschied machte es da noch, welche Dame seine Marquise wurde?
Wenn es um die Ehe ging, war eine Frau ebenso gut wie die andere.
Kapitel 1
Drei Monate später
»Lord Huntington küsst mich einfach nicht.«
Iris Somerset sog einen tiefen, reinigenden Atemzug ein und ließ ihn in einem so langen Seufzer wieder ausströmen, dass ihre Lungenflügel empört protestierten.
Oh Gott, es fühlte sich gut an, diese Worte endlich laut auszusprechen.
Schon vor Wochen hatte sie nach Atem geschnappt. Sie war nahe am Erstickungstod gewesen, als der Marquess of Huntington sie zu Beginn der Saison zur glücklichen, alleinigen Empfängerin seiner zur Schau gestellten Gunst auserkoren hatte.
Gewiss hatte sie nicht beabsichtigt, ihr Geständnis ausgerechnet hier herauszulassen. Man sprach mitten in Lady Fairchilds Rosengarten doch nicht übers Küssen. Es war eine große Ehre, eine Einladung auf das Anwesen Ihrer Ladyschaft nach Hampstead zur jährlichen Schnitzeljagd zu erhalten, und eine gewisse Gesittetheit wurde vorausgesetzt.
Aber nun war sie so weit gegangen, also konnte sie es auch zu Ende führen. »Ich habe alles versucht, was ich mir vorstellen konnte, um ihn zu einer Indiskretion zu verleiten, aber es ist, als wolle man einen Fisch dazu bringen, freiwillig in den Haken zu beißen.«
Iris verschränkte die Arme vor der Brust, sah ihre beiden Begleiterinnen an und wappnete sich für das, was kam.
Wie gewöhnlich platzte Lady Honora als Erste heraus. »Pst, Iris! Er könnte gleich hinter dieser Hecke stehen!« Sie ließ panisch die Blicke durch den gesamten Garten schweifen, um sicherzugehen, dass sie allein waren, dann wandte sie sich wieder Iris zu, und auf ihrem hübschen Antlitz lag ein schockierter Ausdruck. »Was meinst du damit, er küsst dich einfach nicht? Natürlich küsste er dich n…«
»Warum küsst du ihn dann nicht einfach? Er wird seinen wilden Gelüsten in dem Augenblick erliegen, in dem deine Lippen seine berühren, und das wird das Problem sogleich aus der Welt schaffen.« Violet schnippte mit den Fingern.
Bei jeder anderen Gelegenheit hätte Iris es wohl amüsant gefunden, dass sie genau so reagierten, wie sie es vorausgesagt hätte, aber das mangelnde Interesse Lord Huntingtons war nichts, worüber sie lachen konnte. »Soweit ich das sehe, hat er eben keine wilden Gelüste. Das ist das Problem, Violet.«
Lady Honora zuckte bei dem Wort Gelüste zusammen. »Meine Güte, Iris. Was erwartest du? Er ist ein ehrbarer Gentleman.«
Violet runzelte die Stirn. »Ehrbare haben keine Wünsche?«
»Nein! Ich meine, gewiss haben sie die … ach, woher soll ich das wissen?« Lady Honora wandte sich Violet zu. »Wenn sie tatsächlich Gelüste haben, dann verbergen sie sie gut, aus Respekt ihren Verlobten gegenüber.«
Iris konnte nicht leugnen, dass Lord Huntington sie mit dem äußersten Respekt behandelte. Er war unerschöpflich beflissen und bemüht, ganz, wie man es von einem Gentleman von solch tadellosem Charakter erwarte würde. Keine wohlerzogene junge Dame könnte sich über eine solche Behandlung beklagen.
Wie verwirrend, wenige Wochen, bevor sie Marchioness of Huntington werden sollte, herauszufinden, dass sie zu guter Letzt keine wohlerzogene junge Dame war. »Wenn ihr mich fragt, ist er zu respektvoll.«
Violet wischte sich mit dem Mantelärmel die Lachtränen aus dem Gesicht. »Nun, sehr bald wirst du ihn ganz für dich allein haben. Kannst du es nicht abwarten, ihn in der Privatsphäre eures Schlafzimmers zu einem Kuss zu verführen, wenn ihr erst einmal verheiratet seid?«
»Ich kann warten, sicher. Aber er sollte es nicht können.«
»Ohje.« Lady Honora rang die Hände. »Ich bin sicher, wir sollten nicht übers Küssen sprechen. Oder übers Verführen. Oder über Schlafzimmer.«
»Vielleicht nicht, Honora, aber mit wem sollte ich sprechen können, wenn nicht mit dir oder Violet? Meinst du vielleicht, ich solle mit meiner Großmutter übers Küssen und über Schlafzimmer sprechen?«
Die Vorstellung, Iris könnte ein solches Gespräch mit Lady Chase führen, ihrer alten, zänkischen Großmutter, sorgte bei Violet für einen erneuten Heiterkeitsausbruch.
Iris musterte ihre kleine Schwester. »Du kannst so viel lachen, wie du willst, Violet, aber du würdest gut daran tun, dich darauf zu besinnen, dass du selbst schon bald mit deinen diversen, Ärger verursachenden Verehrern umgehen musst. Nun ja, ich meinte, was kann ich tun, um … ähm, einen körperlichen Ausdruck der Zuneigung zu provozieren?«
»Tun?« Lady Honora keuchte entsetzt. »Na, gar nichts. Wie kannst du so etwas nur fragen, Iris?«
»Wie könnte ich es nicht fragen, Honora? Wenn sich irgendjemand die Mühe machte, jungen Damen zu zeigen, wie sie einem Gentleman auf subtile Weise bedeuten können, dass ein Kuss willkommen wäre, bräuchte ich euren Rat nicht. Aber leider: unendliche Lehrstunden, wie man die Quadrille tanzt und wie man auf das Pianoforte einhämmert, aber kein einziges Wort darüber, wie man eine Verführung anstellt.«
»Verführung?« Lady Honora wirkte, als wolle sie gleich in Ohnmacht fallen. »Hast du den Verstand verloren?«
»Nun, was hast du denn bis jetzt ausprobiert?« Violets hysterischer Anfall war vorüber, und auf ihre gewohnt pragmatische Art klatschte sie in die Hände, wie ein Marschall, der die Aufmerksamkeit seiner Truppen forderte.
Iris zuckte hilflos die Achseln. In Wahrheit hatte sie keinen blassen Schimmer, wie man einen Gentleman zu einem Kuss verleitete. »Alles, was mir eingefallen ist. Ich habe ihm in die Augen geblickt, mit der Hand über seine gestrichen, als er meinen Arm nahm – solche Dinge eben. Wir sind mehrmals durch Großmutters Garten geschlendert, einmal sogar bei Mondlicht, aber Lord Huntington ist immun gegen jegliche amouröse Ouvertüre.«
Immun, oder er nahm es gar nicht wahr. Iris war sich noch nicht sicher, was zutraf. Letzteres könnte leicht geändert werden, aber ersteres …
Das war schon beunruhigender.
Violett tippte mit dem Finger auf ihre Unterlippe und dachte nach. »Hast du dir über die Lippen geleckt? Ich habe irgendwo gelesen, dass glänzende Lippen Gentlemen ans Küssen denken lassen.«
Iris starrte ihre Schwester an. Woher nahm sie denn so etwas? »Das habe ich noch nicht probiert, nein.«
Lady Honora stieß ein unbehagliches Stöhnen aus und bedeckte ihr Gesicht.
»Ach, hör auf zu stöhnen, Honora. Es geht um einen Kuss, nicht um den Ruin, und schließlich sind sie bereits verlobt.« Violet hielt inne und sah genauer in Honoras errötetes Antlitz. »Du bist auch verlobt, nebenbei bemerkt. Hat Lord Harley dich schon geküsst?«
Die Röte stieg Lady Honora bis in die Haarwurzeln. »Nun, ich … das heißt … Oh, mein Gott, Violet. Nun gut. Ja, er hat es einmal geschafft, mich dazu zu bringen, just in diesem Garten. Er ist schneller, als er wirkt, wisst ihr.«
Lady Honoras Stimme bebte vor Abscheu. Sie hatte gar keine Vorliebe für Lord Harley, aber Lady Fairchild bestand auf dieser Verbindung, und Honora würde nicht wagen, Lady Fairchilds Wünsche zu hinterfragen.
Violets Stirn kräuselte sich in einem überraschten Runzeln. »Na, vielleicht würden die glänzenden Lippen helfen, aber ansonsten kann ich nichts beisteuern. Lord Huntington ist recht … nun, er ist ein lebhafter Gentleman, nicht?«
Sie alle dachten einen Augenblick über die Lebhaftigkeit von Lord Huntington nach.
Es dauerte nur einen einzigen Augenblick.
Lady Honora stieß einen winzigen Seufzer aus, und Iris und Violet reagierten ihrerseits mit einem atemlosen Seufzen.
In körperlicher Hinsicht war Phineas Knight, der Marquess of Huntington, einfach perfekt.
Seine pure Anwesenheit reichte aus, um in jedem Ballsaal Londons klimpernde Wimpern in der Damenwelt auszulösen, und das aus gutem Grund. Aber nicht nur seine breiten Schultern, seine kühlen grünbraunen Augen oder sein dichtes, goldbraunes Haar lösten wohliges Erbeben in jedem Dekolletee aus. Es war nicht einmal sein altehrwürdiger Adelstitel oder das beeindruckende Vermögen, das dahinter stand, obgleich jeder einzelne dieser Aspekte ausreichen würde, ihn für jede junge Dame begehrenswert zu machen.
Nein, es war er selbst, der Mann. Er war die Quintessenz dessen, was einen britischen Gentleman ausmachte. Ehrenhaft, attraktiv und intelligent, außerdem modebewusst, ohne überkandidelt zu wirken, gewandt im Umgang mit Degen und Pistole, noch dazu ein einflussreicher Politiker – das alles machte Lord Huntington zu einem Mann, nach dem jede Dame sich sehnte, und dem jeder Gentleman nacheiferte. Sollte er auch für den Geschmack einiger Menschen etwas zu kühl und großartig daherkommen, so löste dies in der feinen Gesellschaft nicht einmal ein Zwinkern aus.
Der Mann war schließlich ein Marquis.
Lady Honora seufzte erneut. »Sein Gesicht ist einfach perfekt.«
Violet rollte mit den Augen. »Niemand ist makellos, Honora, nicht einmal Lord Huntington.«
»Na, welchen Makel hat er denn? Ich behaupte, du wirst keinen finden.«
»Es ist die kleine Kerbe in der Mitte seines Kinns«, erklärte Violet ohne zu zögern.
»Aber dieses Grübchen ist so charmant. Findest du nicht auch, Iris?«
Iris machte sich zwar große Sorgen wegen Lord Huntingtons kühler Schicklichkeit, aber sein Gesicht war schön, und es wäre geradezu Häresie, würde sie schweigen, während ihre Schwester sein liebenswertes Grübchen herabwürdigte. »Ich bin ganz vernarrt in es. Wieso ist es ein Makel, Violet?«
Violet warf ihnen einen triumphierenden Blick zu. »Weil jede Dame, die davon träumt, ihn zu küssen – und das tut meiner Ansicht nach jede einzelne Lady Londons – entscheiden muss, ob sie mit seinen köstlichen Lippen oder diesem verwirrenden kleinen Grübchen anfangen soll.«
Nach kurzem Schweigen brachen Iris und Violet in Gelächter aus.
Selbst Lady Honora konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Wie kommt es, dass du so verrucht bist, Violet?«
»Wir sprechen hier gerade über die Verruchtheit von Iris, ich muss doch sehr bitten. Obgleich ich nicht weiß, ob es wirklich so verrucht von ihr ist, sich einen unschuldigen Kuss ihres Verlobten zu wünschen. Es ist nicht so, als erwartete sie, dass er sie in die Büsche zieht und über sie herfällt.«
»Nein, aber wenn ich versuche, ihn zu einem Kuss zu verlocken, erwarte ich, dass er kooperiert.« Iris sah zu Honora. »Ich möchte nur herausfinden, ob ich es angenehm finde. Ist das so schockierend?«
Wenn sie daraus schließen sollte, wie in ihrem Bauch jedes Mal die Vorfreude kribbelte, wenn sie seine Lippen ansah, würde sie es tatsächlich sehr angenehm finden, aber was nützten seine schönen Lippen, wenn er sie nur für sich behielt?
Iris zögerte und schluckte dann auch den letzten Rest Stolz herunter. »Meint ihr, er will mich vielleicht nicht küssen?«
Die beschämende Wahrheit war, dass sie bereits seit einiger Zeit den Verdacht hatte, er fühle sich gar nicht zu ihr hingezogen. Sein Werben war völlig korrekt verlaufen, aber Iris war dennoch überrascht gewesen, als er an ihrer Tür erschien. Schließlich hätte er jede haben können, die er wollte. Jede junge Lady in ganz London hatte die gesamte Saison über geseufzt, wenn sie ihn sah.
Sobald er bei ihrer Großmutter darum gebeten hatte, sie zu hofieren, hatte er bereitwillig die Erlaubnis erhalten. Tatsächlich würde niemand daran denken, Lord Huntington etwas abzuschlagen, Iris eingeschlossen, die ihn selbstverständlich akzeptierte. Vielleicht hatte sie sich auch ganz kurz des Triumphgefühls schuldig gemacht, weil sie den einen Gentleman verführt hatte, nach dem sich alle Damen in London sehnten.
Es dauerte jedoch nicht lang, bis eine verwirrende Stimme in ihrem Kopf flüsterte, dass Lord Huntington gar nicht in sie verliebt war, und trotz allem, was sie versuchte, verstummte sie nicht mehr. Sie erwartete nicht, dass er eine ausgefeilte Liebeserklärung machte oder versuchte, sie zu verführen. Er war kein Gentleman, der alles nach außen trug. Aber ein unschuldiger Kuss würde ihr viel von ihrem Zweifel an seiner Zuneigung nehmen.
Doch dieser Kuss kam nicht, und Iris konnte ihr Unglück beim Blick in Violets und Honoras Augen nicht verbergen. »Vielleicht bereut er es, einen Antrag gemacht zu haben, und wünscht sich, er wäre mit einer anderen Dame verlobt.«
Honora eilte zu Iris und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Oh nein, Iris, ich bin sicher, dass das nicht stimmt. Niemand ist bezaubernder als du.«
Violet, die jegliche geringschätzige Bemerkung über eine ihrer vier Schwestern ablehnte, sah schon bei dem Gedanken beleidigt aus. »Jeder heiratsfähige Mann dieser Saison hat nach deiner Hand geangelt, Iris. Lord Huntington hat Glück, dass er dich bekommt, und ich wage zu sagen, dass er das weiß. Du hast alles, was die Schönste einer Saison haben muss.«
Lady Honora drückte Iris’ Arm. »Violet hat recht, Iris. Die Regeln der Gesellschaft, Sitten, Anstand – all das wirkt zusammen, um zu verhindern, dass man sich vor der Eheschließung bereits kennenlernt. Lord Huntingtons Verhalten ist völlig korrekt. Als Gentleman kann er nicht gegen den feinen Anschein verstoßen, auch wenn er das möchte.«
Iris tat einen zittrigen Atemzug. Vielleicht hatten sie recht, und ihre Sorgen waren unbegründet. »So hatte ich noch nicht darüber nachgedacht. Es ist nur … Ich dachte, die Werbung würde anders laufen. Irgendwie romantischer. Ich nehme an, das war närrisch von mir.«
»Ich halte das gar nicht für närrisch. Es geht nur um einen schlichten Kuss, um Himmels willen, und das ist nicht viel verlangt. Wir drei kommen sicherlich auf eine Möglichkeit, wie Iris Lord Huntington zu einem Kuss verlocken kann. Lasst uns mal sehen – Spaziergänge im Mondschein hat sie schon ausprobiert, außerdem die Hand berührt, in seine Augen geblickt, und sie wird noch den Trick mit den glänzenden Lippen ausprobieren.« Violet zählte alles an ihren Fingern ab. »Das ist schon ein guter Anfang, wage ich zu sagen. Aber es muss noch mehr Dinge geben, die sie tun kann. Hilf mir mal eben beim Nachdenken, Honora.«
Anhaltendes Schweigen folgte, in dem sie alle Möglichkeiten betrachteten, und es dehnte sich aus, bis Violet schließlich einen unzufriedenen Laut in ihrer Kehle erzeugte. »Es ist so schade, aber mir fällt nichts anderes ein. Du hast ganz recht, Iris. Was nutzt es einer Dame, zu wissen, wie man mit dem Fächer wedelt, wenn sie erst einmal verlobt ist? Sobald eine junge Lady den geschützten Raum des Almack’s verlässt, sind all die Fertigkeiten, die man von ihr für den Heiratsmarkt erwartet, für die Katz.«
Lady Honora schüttelte den Kopf. »Na, aber Iris’ Fertigkeiten haben gut genug funktioniert, ihr einen beneidenswerten Verehrer zu bescheren. Schließlich ist sie mit dem Marquess of Huntington verlobt.«
»Ja, aber was soll ich denn mit ihm anfangen, wenn ich erst mit ihm verheiratet bin? Darüber verliert niemand ein Wort, oder? Es scheint allen ganz gleich zu sein, was mit einer Dame geschieht, wenn sie einen angemessenen Ehemann gefunden hat, es sei denn, sie tut etwas Skandalöses.«
»Meine Güte, Iris, was für ein deprimierender Gedanke.« Violet griff nach ihren Schultern und schüttelte sie sacht. »Du machst dich noch ganz verrückt. Komm, ich weiß, was dich wieder aufmuntern wird.«
»Wirklich?« Iris sah ihre Schwester voller Hoffnung an. »Was denn?«
»Ein Kuss von Lord Huntington natürlich.«
Iris sackte wieder zusammen. »Ich habe alles versucht, was mir eingefallen ist, Violet …«
»Nein, das hast du nicht. Du hast nicht versucht, ihn zu küssen.« Violet griff nach ihrem Arm und deutete auf einen Pfad, der in den hinteren Bereich des Gartens führte, und ihr Gesicht rötete sich in plötzlicher Aufregung. »Er ist gerade dort hinten den Pfad entlanggegangen. Rasch. Geh ihm nach und küss ihn!«
Lady Honora schnappte Iris’ zweiten Arm. »Nein! Sie kann Lord Huntington nicht durch den Garten jagen. Das ziemt sich nicht. Was wird meine Mutter sagen, wenn sie es herausfindet?«
»Sie findet es nur heraus, wenn du es ihr erzählst, Honora. In diesem Teil des Gartens ist sonst niemand. Los, Iris. Schließlich ist es eine Schnitzeljagd.« Violets Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln. »Mit einem Kuss von Lord Huntington hast du das Spiel bereits gewonnen.«
Iris machte einen zögerlichen Schritt, blieb dann jedoch stehen. Was, wenn sie in diese kühlen Haselnussaugen blickte und nichts als Gleichgültigkeit darin erkannte? »Was, wenn er … wenn er mich zurückweist?«
Überraschenderweise ließ Lady Honora ihren Arm los und schubste sie sacht in die Richtung, in der Lord Huntington verschwunden war. »Das wird er nicht, Iris. Er hätte dir niemals einen Antrag gemacht, wenn ihm nichts an dir läge, aber wenn ein Kuss deine Zweifel lindert, ist es den kleinen Verstoß gegen die Schicklichkeit wert.«
Iris machte ein paar unsichere Schritte vorwärts, dann ging sie weiter. Das Herz schlug ihr beim Gedanken, Lord Huntington zu küssen, bis in den Hals hinauf, aber als sie zurückblickte, lächelten ihr Violet und Honora beruhigend zu.
»Weiter.« Violet winkte sie voran. »Wir warten auf der Terrasse auf dich.«
Iris tauchte blind in die üppige Pflanzenpracht vor sich ein, bis sie ihn vor sich sah. Er eilte die verschlungenen Pfade entlang. Sie würde ihn völlig aus dem Blick verlieren, wenn sie nicht gelegentlich das Dunkelgrün seines Mantels zwischen dem helleren Grün des Gartens erkennen könnte.
»Lord Huntington?« Die Jagd hatte sie etwas atemlos gemacht, doch sie war nur noch wenige Schritte entfernt, als sie ihn rief. Es bestand kein Zweifel, dass er sie gehört hatte. Trotzdem zögerte er, bevor er sich zu ihr umdrehte, und als er es tat …
Lieber Gott!
Iris musste all ihren Mut zusammenraffen, um nicht zurück in die Sicherheit des Gartens zu fliehen. Er brach auch sonst nicht in Begeisterungsstürme aus, wenn er sie sah, aber jetzt betrachtete er sie, als wäre sie ein unerwünschter Pilz im Garten.
»Miss Somerset.« Er lächelte angestrengt. »Ich vermute, Ihr seid auf dem Weg zurück zur Terrasse?«
Iris sah ihn verwirrt an. Das war eine eigenartige Frage, da sie in die entgegengesetzte Richtung ging. »Nein, Mylord. Ich suche noch nach den roten Rosenblättern für die Schnitzeljagd, und Lady Honora hat mich in diese Richtung geschickt. Sie sagte, die schönsten roten Rosen wachsen im hinteren Teil des Gartens.«
»Ich bin sicher, ich habe näher am Haus welche gesehen.«
Sein Tonfall war höflich, aber einer seiner Mundwinkel war leicht nach unten gezogen. Dennoch pochte Iris’ Herz in aufgeregter Vorfreude, als sie seinen Blick erwiderte. Seine haselnussbraunen Augen verwandelten sich, und diesen Nachmittag waren sie eher golden als braun, mit einem winzigen Hauch grün.
Ein zarter Seufzer entwich ihr. Wenn eine Dame schon einen Gentleman küsste, dann gäbe es weitaus schlimmere als Lord Huntington.
»Ich bin sicher, Ihr müsst nach dieser langen Zeit in der Sonne erschöpft sein. Erlaubt mir, Euch zur Terrasse zurück zu geleiten.«
Er bot ihr den Arm, und Iris nahm ihn, aber sie hielt ihn zurück, als er versuchte, sie den Pfad entlang zum Haus zu führen. »Nein, ich bin nicht erschöpft. Es geht mir sehr gut, und es ist solch ein zauberhafter Nachmittag, nicht wahr? Das Licht ist wunderschön.«
»Ja. Zauberhaft.« Aber er sah nicht aus, als wäre er vom Garten bezaubert, oder von ihr. Sein Blick verfinsterte sich noch mehr, und unter ihren Fingern spürte sie, wie er den Arm anspannte. »Aber ich bin mir sicher, dass Eure Schwester nach Euch sucht, und ich glaube, Lady Fairchild wollte gerade den Tee servieren.«
Iris zögerte, von seinem knappen Ton verwirrt. Lord Huntington war ihr gegenüber nie sehr romantisch, aber auch nie weniger als vollendet höflich gewesen. Sein jetziger Tonfall grenzte jedoch schon an Schroffheit. Zudem wirkte er nervös, als rechnete er damit, dass jeden Augenblick jemand aus den Büschen auf den Weg springen könnte.
»Nur bis zum Ende des Gartens, Mylord, um nach den Rosen zu sehen.« Sie warf ihm unter den Wimpern hervor einen Blick zu, von dem sie hoffte, er wirke ermutigend auf ihn. »Sie blühen gerade, und dort steht eine Bank, auf der wir uns ausruhen können.«
Sie stupste seinen Arm sacht an, doch er bewegte sich nicht. »Wofür solltet Ihr eine Bank brauchen, Miss Somerset? Ihr sagtet gerade, dass Ihr nicht erschöpft seid. Wenn Ihr eine Pause benötigt, bitte ich Euch, mich Euch zurück zur Terrasse führen zu lassen.«
Iris nahm einen tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen, und wagte einen neuen Versuch. »Es ist nicht weit, nur bis zur anderen Seite der Hecke.« Sie glitt mit der Hand seinen Arm entlang und ließ die Fingerspitzen auf der Innenseite seines Handgelenks liegen. »Die Blumen duften besonders, wenn sie von der Sonne erwärmt wurden, so wie heute Nachmittag.«
»Ich bin sicher, das tun sie, aber unsere Freunde und Eure Schwester warten schon auf uns, und es ist wohl kaum angemessen für uns, allein hier zu sein, außer Sichtweite vom Haus.«
Iris wusste sehr genau, dass Violet nicht auf sie wartete, aber aus irgendeinem Grund war Lord Huntington fest entschlossen, sie zurück zur Terrasse zu lotsen. Er bebte regelrecht vor Ungeduld, und sie hätte sich keinen verheißungsvolleren Moment vorstellen können, um einen Kuss zu stehlen, als diesen. Stattdessen ertappte sie sich dabei, dass sie sich an seinen Ärmel klammerte, bevor er noch einen weiteren Schritt machen konnte.
Hielt ihn die Sittlichkeit zurück, wie Honora vermutete, oder war er tatsächlich so gleichgültig, wie es den Anschein hatte? Er schien nichts an ihr verführerisch oder auch nur interessant zu finden, und das hielt sie keine Sekunde mehr aus.
Bei diesem Kuss ging es gar nicht mehr um Leidenschaft oder auch nur Zuneigung. Dieser Kuss entsprang der puren Verzweiflung.
»Wartet, Lord Huntington.« Mehr sagte sie nicht, leckte sich aber mit der Zunge rasch über die Lippen, damit sie glänzten, dann hob sie ihm das Antlitz entgegen, und ihr Herz pochte vor Angst und Hoffnung. Es war eher plump, aber sicher würden die feuchten Lippen ihn dieses Mal doch zu einer Regung bewegen.
Sie ließ die Lider herabsinken und betete mit jedem Atemzug, dass seine festen, sinnlichen Lippen ihre berühren würden.
Das taten sie aber nicht.
Iris’ Herz flatterte wie ein gefangener Vogel in ihrer Brust, aber nun war sie so weit gegangen, und sie wusste, sie würde nie wieder einen Versuch wagen, wenn sie dieses Mal aufgab. Sie sog einen tiefen Atemzug ein, legte die Hände an seine Brust und stellte sich auf die Zehenspitzen. Aber er war so groß, dass sie noch immer nicht seinen Mund erreichte. Nach einem weiteren zittrigen Atemzug schob sie eine Hand seine Schulter hinauf, um seinen Nacken herum und zog sachte, um sein Gesicht zu ihrem herunterzuziehen.
Es war, als versuchte sie, einen Baumstamm zu biegen.
Er bewegte sich nicht. »Was tut Ihr da, Miss Somerset?«
Iris schlug die Augen auf, und hochnotpeinliche Hitze schoss ihr in die Wangen. »Ich, ich war … sicher ist es nicht so vollends unangemessen, wenn ein verlobtes Paar sich …«
»Verlobt, Miss Somerset, nicht verheiratet. Euch ist bekannt, dass das ein Unterschied ist?«
Seine Stimme klang schärfer, als sie sie je gehört hatte, und Iris atmete schockiert ein, so entsetzt über seinen Tadel, als hätte er sie geschlagen. Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln, und als sie antwortete, konnte sie das Zittern in ihrer Stimme nicht ganz überspielen. »Ja, ich … sollen wir dann zurück zum Haus gehen?«
Er stieß den Atem aus, und als er wieder sprach, klang seine Stimme sanfter. Er tätschelte ihr die Hand, als wäre sie ein trostbedürftiges Kind. »Ja, das wäre am besten.«
Er versuchte, seine Erleichterung zu verbergen, als sie den Weg zurück zum Haus einschlugen, aber Iris sah sie trotzdem, und ihre Brust füllte sich mit Trauer und dem Gefühl der Erniedrigung.
Was war nur geschehen? Hatte sie etwas Schlimmes getan? Violet schien ja nicht zu denken, dass ein Kuss zwischen Verlobten etwas derart Skandalöses wäre, aber sie waren in Surrey aufgewachsen, nicht in der feinen Gesellschaft, dem sogenannten Ton. Lady Honora hatte zwar gezögert, aber selbst sie hatte zugegeben, dass Lord Harley sie geküsst hatte. Lord Huntington hingegen …
Er schien ärgerlich zu sein, als hätte sie etwas Unverzeihliches getan.
Iris warf ihm einen Blick zu, aber er sah sie nicht an. Er konzentrierte sich auf den Weg vor sich, als hätte er vergessen, dass sie überhaupt anwesend war. Als sie näher zum Haus kamen, blieb er stehen. »Ihr seid so still, Miss Somerset. Ich fürchte, Ihr seid doch erschöpft.«
Iris sah in sein attraktives Antlitz hinauf. Er lächelte ihr zu, aber seine Augen blieben davon unberührt, und sie konnte erkennen, dass er nur auf den Augenblick wartete, in dem er ihrer Gesellschaft entfliehen konnte. »Ja, ich … ich glaube, das bin ich.«
»Dann kommt. Ich geleite Euch zur Terrasse.«
»Nein, danke sehr, Mylord.« Sie entzog ihm ihren Arm und trat einen Schritt von ihm weg. Die Sonne war warm, aber Iris rieb sich mit den Händen über die Arme, um ein plötzliches Frösteln zu vertreiben. »Das heißt, ich komme, sobald ich mein Schultertuch aus dem Haus geholt habe.«
»Ich hole es für Euch. Wo ist es?«
Sie bewegte die Schultern in einer lustlosen Bewegung. »Ich weiß nicht. Vielleicht im kleinen Salon oder …«
»Keine Sorge, ich werde es finden.« Er zögerte, dann streckte er überraschenderweise die Hand vor und umfasste mit seinen warmen Fingern kurz ihren Ellbogen. »Ich geselle mich gleich auf der Terrasse zu Euch.«
Er dienerte und wandte sich zum Haus um.
Auf der Terrasse hielt sich eine große Gruppe junger Menschen auf. Lady Fairchild servierte Tee, und Violet und Lady Honora blickten erwartungsvoll auf, als Iris zu ihnen kam. Doch als sie ihren Ausdruck sahen, zogen beide ein langes Gesicht.
»Da seid Ihr ja, Miss Somerset.« Honoras Mutter, Lady Fairchild, lächelte auf ihre liebenswürdigste Art. »Tee?«
»Ja, danke sehr, Mylady.« Iris nahm die Tasse entgegen, aber ihre Hände zitterten, und die Tasse klapperte auf der Untertasse. Sie achtete darauf, Violet und Honora nicht anzusehen, spürte aber ihre mitleidigen Blicke, und ihr Antlitz wurde rot vor Scham.
»Was ist aus der restlichen Gesellschaft geworden, frage ich mich.« Lady Fairchild stellte ihre Teetasse zur Seite. »Lord Wrexley ist schon eine Ewigkeit verschwunden. Hast du deinen Vetter gesehen, Honora?«
Iris blickte zur Tür, die auf die Terrasse herausführte, und die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Lord Huntington würde jeden Augenblick zurück sein, und sie müsste hier sitzen und so tun, als hätte er nicht gerade all ihre Hoffnungen zerstört …
»Nein, Mama, aber ich nehme an, er ist irgendwo im Garten, mit den anderen Gentlemen.«
»Na, ärgerlich. Wir werden nicht auf sie warten, oder? Wie seid ihr alle mit der Schnitzeljagd zurechtgekommen? Wollen wir mal sehen, was Ihr mir alle mitgebracht habt.«
Iris sprang so plötzlich auf, dass ihr Tee über den Tassenrand schwappte. »Ach je, ich habe meine Rosenknospen verloren und die roten Blütenblätter vergessen. Ich laufe rasch zurück in den Garten und sammle sie ein, einverstanden, Lady Fairchild?«
»Ja, meine Liebe, aber kommt rasch zurück.«
»Ja, Mylady.«
Iris stolperte in den Garten, halb besorgt, sie könnte in Lord Huntington hineinlaufen, aber sie gelangte zur Rosenlaube, ohne einer Menschenseele zu begegnen, und ließ sich auf die Bank sinken. Sie musste sich zusammenreißen, bevor sie Lord Huntington erneut gegenübertreten musste. Sie wollte nur wenige Augenblicke bleiben, gerade lange genug, damit ihre Knie aufhören konnten zu zittern. Dann würde sie ein freundliches Lächeln auflegen und ihr Bestes tun, um es so lange aufrechtzuerhalten, bis dieser vermaledeite Nachmittag zu Ende war, und dann …
»Guten Tag, Mylady. Was tut Ihr denn hier?«
Einen kurzen Augenblick dachte Iris, sie hätte sich seine Stimme nur eingebildet, aber nur ein Gentleman hatte solch eine tiefe Stimme und sprach so gedehnt und leicht spöttisch. Was tat Lord Huntington denn im Garten? Sie hatte ihn vor nicht einmal zehn Minuten ins Haus hineingehen sehen.
»Oh, Huntington!«
Iris erstarrte. Die zweite Stimme war hoch, weiblich und klang verzweifelt.
Lord Huntington war nicht mehr im Haus. Er war hier im Garten, auf der anderen Seite der Laube. Und er war nicht allein.
Iris rappelte sich auf. Ihr Instinkt drängte sie zur Flucht, bevor sie noch mehr hören konnte. Aber sie bewegte sich bereits vorwärts, ihre Schläppchen machten keine Geräusche auf dem Kiespfad. Zwischen den dicken, dornigen Rosenästen war eine Lücke, gerade groß genug, dass sie hindurchblicken konnte. Sie näherte sich und erhaschte einen Blick auf die Falten eines dunkelroten Gewands, die sich im Wind bewegten, sowie auf lange, schwarze Locken, die auf anmutigen weißen Schultern lagen.
Lady Beaumont.
Iris erkannte sie sogleich, und das Herz hüpfte ihr in der Brust, jedoch nicht auf die angenehme Art, wie sonst, wenn sie Lord Huntingtons Lippen betrachtet hatte.
Nein, dieses Mal verriet es Angst.
Woher war denn bloß Lady Beaumont gekommen? Und was tat Lord Huntington allein mit ihr im Garten?
Kurz darauf kannte sie die Antwort.
Iris beobachtete durch die Lücke zwischen den Zweigen, wie Lady Beaumont sich zu Lord Huntington umdrehte und er die Arme um sie schlang.