Leseprobe It has to be you

Kapitel 1

Emma

Mit viel zu wenig Schlaf in den Knochen betrat ich die Küche. Alles sah aus wie immer, obwohl nichts mehr so war und niemals wieder so sein würde. Und dieses wie immer lag erst ein paar Stunden zurück.

Vor ein paar Stunden …

Ein Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Waren sie das? Würden sie jetzt in die Küche kommen? Das Gespräch mit mir suchen?

In meiner Brust begann mein Herz zu galoppieren. Würde es eine Erklärung geben? Eine Entschuldigung? Eine richtige Entschuldigung, kein lieblos abgehacktes, mehr runtergeschlucktes als ausgesprochenes Sorry. Oder würden sie sich weiter versteckt halten?

Das Blut rauschte in meinen Ohren. Unbehaglich spähte ich den Flur hinab zu ihren Türen. Es regte sich nichts. Erleichtert atmete ich aus. Nun reckte ich pseudomutig mein Kinn. Sie hatten sich also für die Feiglingsvariante entschieden. Bitte, mir sollte es recht sein. Es ist ihr Karma, dem sie schaden, nicht meines, dachte ich so selbstbewusst, wie ich es in Wirklichkeit gerne wäre.

Dann dämmerte mir, dass vielmehr etwas mit meinem eigenen Karma nicht stimmte, sonst wäre ich jetzt nicht allein und fürchtete mich davor, meinen Mitbewohnern zu begegnen. Ich biss mir auf die Lippen, stoppte den bebenden Unterkiefer. Bevor ich wilde Hypothesen aufstellte, sollte ich mich intensiver mit Karmatheorie auseinandersetzen.

Mit hängenden Schultern schlurfte ich an der Küchenzeile aus weißen Spanholzplatten vorbei, die wohl einzig nur noch von den unzähligen diversen Aufklebern zusammengehalten wurde, zu unserem einst so coolen Bar-Esstisch. Bis spät in die Nacht hatten wir ihn an unserem Einzugstag aufgebaut und waren dementsprechend stolz darauf. Nun war er lediglich eine Erinnerung an das, was hier nicht mehr stimmte und vielleicht nie gestimmt hatte. Bei diesem Gedanken krampfte sich mein Magen zusammen. Doch ich verbat mir zu weinen, vor allem hier in der Küche. Was würde Weinen auch ändern?

Ich ließ mich auf den Barhocker sinken, legte meine Arme auf den Küchentisch und bettete meinen Kopf darauf. Hunger verspürte ich nicht. Ich war aus reiner morgendlicher Routine hierhergekommen. Routine und Kaffeebedarf. Mit dem kurzen Schreck von gerade eben war allerdings mein Verlangen nach Kaffee ebenfalls verschwunden. Also saß ich nur da. Ich wollte in mein Zimmer gehen, denn hier fühlte ich mich ausgeliefert – ohne Fluchtmöglichkeit sollten Saskia und Danje kommen. Mein Körper weigerte sich jedoch, eine Bewegung auszuführen. Er war von der schlaflosen Nacht zu erschöpft. Ganz im Gegensatz zu meinen Gedanken, die beharrlich zum gestrigen Abend wanderten. Das schrille Klingeln meines Smartphones zerriss die Bilder, ehe sie sich in meinem Kopf weiter ausbreiten konnten. Ich rieb mir über das Gesicht, verscheuchte die aufgekommenen Tränen. Ein Blick auf das Display verriet, dass mich Anne sprechen wollte.

Anne.

Ohne sie wäre das alles nicht passiert. Ohne sie besäße ich noch Würde dort, wo sich jetzt ausschließlich Scham befand. Zumindest hätte ich geglaubt, noch Würde zu besitzen. Das war immer noch besser, als mich so zu fühlen, wie ich mich gerade fühlte.

Ich wollte sie nicht sprechen. Dann seufzte ich.

„Hallo Anne“, murmelte ich inkonsequent in mein Telefon.

„Hey, du bist ja wach!“, kam es derart sanft von ihr, dass ich mich prompt zwanzig Jahre jünger fühlte. „Wie geht es dir heute, Püppi?“

Einfache Frage, extrem aufwühlende Antwort. „Könnte besser sein.“

„Mhm“, sagte Anne. „Verständlich. Möchtest du rüberkommen? Oder soll ich zu dir kommen? Bei der Gelegenheit könnte ich gleich in einige Allerwerteste treten. Müsste nur vorher meine Schuhe ölen. Natürlich müssen es geschlossene Schuhe sein, keine Sandalen. Igitt, stell dir das mal vor …“ Sie kicherte über ihren eigenen Witz.

Beinahe hätte ich mitgelacht. Aber nur beinahe.

„Der war schlecht, ich weiß“, gestand sie. „Also, wonach ist dir?“

„Ich wäre heute lieber allein, glaube ich.“

„Ach, papperlapapp. Du weißt nicht, was du glaubst.“

„Nicht.“ Das war mehr eine Feststellung als eine Frage.

„Nein. Und du weißt auch nicht, was du weißt. Ich aber, und auch, was du fühlst und was du glaubst und tatsächlich brauchst.“

Typisch Anne. „Aha.“ Ich versuchte, ihre Aussage zu entwirren. Das war einer dieser Zustände, die sie gerne für sich nutzte und mich zu etwas überredete, auf das ich eigentlich keine Lust hatte. So wie gestern.

„Mal abgesehen davon, in einer WG bist du nie allein. Das mit dem Alleinsein funktioniert damit schon mal nicht. Und gerade in deiner WG solltest du jetzt nicht allein sein. Überhaupt solltest du nicht in deiner WG sein. Absolut tödlich.“

„Was schlägst du vor?“, fragte ich und fuhr mir resigniert durch die Haare.

Anne überlegte kurz. „Kennst du Tinder?“

No chance!“

„Moar, ich dachte, ein kleinen Betthaserl zu haben, wäre genau die richtige Medizin für dich. Aber ich sehe ein, dass du noch nicht so weit bist. Trotzdem musst du raus. Sofort.“

Sie mochte recht haben, doch der Gedanke behagte mir nicht. „Ich mag nicht raus und unter Menschen.“

„Warum nicht?“

Ich zögerte. Aber wenn ich jemandem ehrlich gegenüber sein konnte, dann Anne. Sie ließ sich ohnehin nichts vormachen. „Sie werden es mir ansehen. Und dann werden sie wissen, dass ich ein kompletter Looser bin.“

Anne schnalzte in den Hörer. „Looserin, Püppi. Wenn du dich schon unnötig zerfleischen willst, dann wenigstens korrekt.“

„Ha. Ha.“

„Außerdem wird es niemand wissen, solange du kein Schild vor der Stirn kleben hast, auf dem steht: Hallo, ich bin Emma und ich bin eine komplette Looserin. Und das hast du nicht. Glaub mir, niemand weiß davon.“

„Der ganze Jahrgang weiß davon!“

„Ein paar, die gestern da waren“, räumte sie ein. „Dann komm einfach hierher und wir gammeln ein wenig rum. Tommy habe ich gerade zu seinen Großeltern gebracht, somit habe ich das ganze Wochenende Zeit für meine aufgelöste Freundin.“

Rumgammeln?“, konterte ich frech.

Chillen“, korrigierte Anne genervt. „Potato – potato. Was ist jetzt, kommst du freiwillig her oder muss ich dich holen? Dann bring ich aber meine Schuhe mit.“

„Ich glaube nicht. Wirklich nicht.“

„Du weißt nicht, was du glaubst. Glaub mir“, erklärte sie erneut. „Halt dich einfach bereit.“

„Nein, warte, ich …“ Doch meine Freundin hatte den Anruf bereits beendet.

Das sich verdunkelnde Display meines Smartphones spiegelte mein Lächeln. Tatsächlich war es ihr irgendwie gelungen, mein Stimmungsbarometer steigen zu lassen. Jetzt fühlte ich mich zumindest gut genug für einen Kaffee.

Während die Maschine fleißig brühte und sich der herrlich kräftige Duft ausbreitete, fiel mein Blick auf ein Paket, das auf der Anrichte stand. Es war gestern gekommen. Ich hatte es extra stehen lassen, damit wir drei es gemeinsam öffnen konnten. Es war ein Carepaket meiner Eltern. Sie sorgten sich und mussten wenigstens einmal im Monat sichergehen, dass ich nicht vergaß, einzukaufen und elendig vor einem leeren Teller verhungerte oder so. Sie besaßen eine äußerst lebhafte Fantasie, was mögliche Todesursachen aufgrund mangelnder Selbstversorgerfähigkeiten anging.

Für meine Mitbewohner und mich war es ein Fresspaket oder, wie wir es nannten, Hello Fress gewesen, über das wir uns nach dem Auspacken hergemacht und bis zum Ende des Tages restlos verputzt hatten. Das war immer der beste Tag im Monat.

Aber jetzt nicht mehr. Heute würde ich es allein öffnen und den Inhalt auch allein essen.

Ein eigenartiger Gedanke.

Mit meinem Kaffeebecher in der Hand und dem Paket unterm Arm schlich ich über den schmalen dunklen Flur zurück in mein Zimmer, dessen Schlafmuff mich fröhlich in Empfang nahm. „Puh.“ Rasch stellte ich alles ab und eilte zum Fenster, zog die Gardinen zur Seite und riss das Fenster auf. Ich atmete die frostige Morgenluft tief ein. Der Duft des Winters in meinen Lungen tat gut und belebte mich.

Ein wenig genoss ich dieses Gefühl, bevor ich mich dem Päckchen widmete. Etwas Liebevolles hatte ich gerade mehr als nötig. Mit einer Schere durchtrennte ich vorsichtig das Klebeband, klappte die Deckel auf und wurde als Erstes vom Vaddicle begrüßt. Der Vaddicle – eine bemitleidenswerte Wortneuschöpfung aus Vater – Vaddi und article – war die eigene Zeitung meines Dads. Er war ein ambitionierter Hobbyreporter, der im richtigen Leben Notar war und mit Leidenschaft über die Begebenheiten in unserem Dorf und meiner Familie berichtete. Zweimal im Jahr erschien seine ‚Zeitung‘, die er höchstselbst zusammenkopierte und im Dorf austrug.

Nun lag das druckfrische Exemplar zusammengeklappt vor mir und ich glaubte, noch die Tinte riechen zu können. Das übergroße Titelbild unter dem Wort Vaddicle sprang mir schmerzlich ins Auge. Ein Foto von uns dreien, Saskia, Danje und mir. Es war eines der einhundertzweiundzwanzig Fotos, die mein Vater am Tag meines Auszugs geschossen hatte. Wenigstens hatte er sich nicht für das Foto entschieden, das mich beim Aufwachen mit verwuschelten Haaren und zerknautschtem Gesicht zeigte. Das wäre nicht überraschend gewesen, hatten bereits einige peinliche Ablichtungen von mir ihren Weg in diese Zeitung gefunden. Zu allem Überfluss erlangte der Vaddicle in unserem Dörfchen inzwischen Kultstatus und so war der ganze Ort über mein Leben stets bestens informiert.

Auf der Zeitung klebte ein kleiner gelber Zettel. In der Schuljungenhandschrift meines Vaters stand darauf:

Wollte ich gerade archivieren, dann dachte ich, dass ihr euch darüber freuen würdet.

Liebe Grüße an alle.

Ich lachte bitter. Euch. Es gab kein euch mehr. Das würde ich meinen Eltern irgendwann erklären müssen. Ob diese Neuigkeit später auch im Vaddicle erscheinen würde?

Unsicher, ob ich es wirklich sehen wollte, schaute ich genauer auf das Bild. In purem Glück lachte ich mit meinen damaligen Freunden in die Kamera. Ein Witz war es gewesen, der uns derart zum Lachen gebracht hatte. Weitere Erinnerungsmassen versuchten sich in mein Bewusstsein zu drängen. Die Gefühle nahmen überhand, durchzuckten mich wie ein Blitz und ehe ich wusste, was ich tat, hatte ich die Zeitung meines Vaters aus dem Päckchen gerissen und gegen die Wand gefeuert. Sie fiel zu Boden hinter mein kleines Sideboard.

Von dieser einzigen Reaktion unendlich müde schaute ich in das Paket. Der Inhalt interessierte mich nicht mehr. Achtlos ließ ich die Fressbox stehen und schleppte mich Richtung Badezimmer, um zu duschen. Plötzlich ließ mich ein Geräusch mitten auf dem Flur erstarren. Dieses Mal war es real. Eine der Zimmertüren wurde geöffnet.

Wie eingefroren stand ich da, während meine Gedanken zu rasen begannen. Es war so weit. Die erste Begegnung. Was würde geschehen? Wie würden sie reagieren und wie ich?

All das sollte ich nicht erfahren, denn mit einem Mal setzte sich mein Körper von allein in Bewegung und flüchtete panisch, aber geräuschlos in den Hausflur. Mit Bedacht ließ ich die Wohnungstür ins Schloss gleiten. Okay, save.

Ich lehnte mich an die Tür und atmete durch, versuchte, mein klopfendes Herz zu beruhigen.

Erst jetzt kam ich wieder zur Besinnung. Ich stand im Flur. Außerhalb meiner Wohnung. In meinen Schlafklamotten. Unnötig zu sagen, dass ich weder Schlüssel noch Handy oder Portemonnaie dabeihatte. Mit der flachen Hand schlug ich mir vor die Stirn. Mann Emma. Die Blöße an meiner Tür zu klingeln, konnte und wollte ich mir nicht geben. Ich war genug gedemütigt worden. Ich musste die Situation logisch analysieren, dann würde mir schon etwas einfallen. Angestrengt nachdenkend betrachtete ich die Wohnungstür. Dann senkte ich den Blick auf meine Füße, die in grünen Flauschisocken steckten. „Na, Lust auf einen kleinen Ausflug?“, fragte ich sie.

 

In Ermangelung besserer Einfälle machte ich mich auf den Weg zu Anne. Eigentlich wohnte sie nur etwa zwei Kilometer von mir entfernt. Zu Fuß, im Winter und in meiner Aufmachung würde dies allerdings ein langer Weg werden. Ich trug besagte Flauschisocken, Männerboxershorts und einen Kuschelhoodie, der mir mindestens einen Kilometer zu groß war. Als mein Vater mir stolz und freudestrahlend einen Pulli von seiner Uni schenkte, hatte er vermutlich meine Statur mit der von Chrissy Metz verwechselt. Dennoch, oder gerade deswegen liebte ich meinen Vater. Und den Pulli.

 

„Was zum Geysir auf Aladdins gezwirbeltem Schnauzbart machst du denn hier und wie siehst du aus?“, fragte mich Anne, ihre hellgrünen Augen weit aufgerissen, als ich zähneklappernd und mit blauen Händen und Lippen vor ihrer Tür stand.

Meine nassen Füße spürte ich gar nicht mehr. Ich starrte sie ebenso fassungslos an. Zu achtzig Prozent, weil ich mich auch nach einem Jahr nicht an diese Art von Sprüchen gewöhnt hatte und zu zwanzig Prozent, weil die Tränenflüssigkeit in meinen Augen gefroren war und ich meine Lider deswegen nicht schließen konnte.

„W-warum sagst d-du nicht what the f-f-uck …?“, fragte ich meine Freundin bibbernd, während ich ihrer Geste zügig hineinzukommen Folge leistete.

„Das kann doch jeder“, gab sie ungerührt zurück.

Ich zog meine Socken aus, um zu kontrollieren, ob sich noch alle Zehen an meinen Füßen befanden. No toe left behind!, dachte ich und richtete mich wieder auf. „W-wie viele Kinder, sagtest du, hattest du?“ Ich deutete auf den sich vor mir ausbreitenden Hindernisparcours aus Spielsachen, Kleidungsstücken und Fahrzeugen.

„Ja, sorry, es ist nicht sehr aufgeräumt. Ich dachte nach deiner Absage, dass ich den ganzen Tag Zeit hätte, klar Schiff zu machen, bevor ich dich holen komme.“

Ohne einen weiteren Kommentar trat ich die nächste Etappe meiner Tour de miserable an und begann steif und staksig die Hindernisse zu überwinden. Eine ziemlich wackelige Angelegenheit.

„Was machst du da?“, fragte Anne verständnislos.

„Hä?“ Ich wollte mich zu ihr drehen, verlor dabei jedoch das Gleichgewicht. Hilfesuchend griff ich nach einer der Jacken von der Garderobe, die ich durch den unverhofften Ruck runterriss, sodass ich mitsamt der Jacke auf den Boden knallte.

„Baaaahhhh“, machte es dumpf unter mir. Ich war auf einem Stoffschaf gelandet.

„Du hast wirklich keine Kinder, oder?“ Anne ging an mir vorbei und schob mit einem Fuß das ganze Zeug nach rechts und links an die Wände, sodass ein gangbarer Weg in der Mitte entstand. „Und sie teilte die Unordnung und sah, dass es gut war.“ Sie grinste.

 

Eingemummelt in Annes Bettdecke und mit drei Wärmflaschen bestückt, hielt ich eine dampfende Tasse heißer Schokolade in meinen kalten Händen und erzählte, was vorgefallen war.

„Püppi, ich hab dich lieb und habe Verständnis für deinen desolaten psychischen Zustand, aber da hättest du bestimmt mal schwarzfahren dürfen.“ Sie schüttelte ihre dunklen Locken. „Das ist definitiv eine Ausnahmesituation. Und – wir haben Winter.“

„Ich glaube kaum, dass die Kontrolleure Verständnis hätten. Die hören die kuriosesten Geschichten, warum die Leute ohne Ticket fahren, und sind megaabgebrüht. Mal abgesehen davon war ich ohne Hose, Schuhe und Jacke unterwegs. Nicht gerade vertrauenerweckend.“

„Dann wärst du mit ihnen bei mir rumgekommen.“

„Mit dem Bus?“

„Nein, mit den Kontrolleuren. Dann hätte ich ihnen das Geld gegeben.“

„Das für die Fahrkarte oder für die Strafe fürs Schwarzfahren?“

„Wenn es sein muss, beides.“ Sie seufzte. „Egal. Jetzt musst du aus deiner WG raus. Und wir fangen gleich damit an, das umzusetzen.“ Mit diesen Worten stieß sie sich ab, rollte auf dem Stuhl rückwärts an den Schreibtisch und vollführte eine beinahe einstudiert wirkende Hundertachtziggraddrehung. Dann klappte sie ihren Riesenlaptop auf und begann sogleich zu tippen und zu klicken.

Trübselig beobachtete ich den aus meinem Becher aufsteigenden Dampf und versuchte, nicht an Thermodynamik zu denken.

Genau in diesem Augenblick stoppte abrupt das Hintergrundgeräusch und Anne drehte sich mit prüfendem Blick zu mir. „Also dafür, dass das Ganze nicht einmal vierundzwanzig Stunden her ist, bist du erstaunlich gefasst, weißt du das eigentlich? Ich wäre ein Vollwrack an deiner Stelle.“

„Hm.“ Erst jetzt, wo sie es angesprochen hatte, wurde mir bewusst, dass sie recht hatte. Es war überraschend, dass es mir nicht so dramatisch schlecht ging, wie es mir gehen müsste. „Vermutlich habe ich es noch nicht realisiert“, folgerte ich, während ich gedankenverloren an meine Tasse tippte.

Anne gab sich mit meiner Antwort offenbar zufrieden und widmete sich wieder dem Bildschirm. Ich rief mir unterdessen die letzte Nacht in Erinnerung. Meine Gedanken waren unentwegt Karussell gefahren, waren den Abend zig Mal durchgegangen, waren in die Vergangenheit gereist, hatten überall nach Hinweisen oder Erklärungen gesucht. Nun schwiegen sie. Vermutlich waren sie ebenfalls zu erschöpft. Oder ich hatte mir auf dem Weg hierher schlicht den Kopf unterkühlt. Funktionierte brainfreeze auch durch das Einatmen kalter Luft? Unwahrscheinlich.

Hier bei Anne fühlte ich mich nicht so traurig, nur seltsam apathisch. Die Welt wirkte dumpf, als säße ich in einer von Mums Tupperdosen.

Nie hatte ich mir überlegt, wie ich reagieren würde, wenn dieser Fall einträte. Nie hätte ich gedacht, dass es mal so kommen würde. Erst recht nicht so.

Ich fuhr mir mit meiner vom Becher angewärmten Hand über das Gesicht. Meine komplizierten Gedankengänge nervten mich. Ich versuchte, sie zu verdrängen, bevor ich wie letzte Nacht die vergangenen Stunden und Jahre noch einmal durchleben würde, und zwar jede einzelne Szene, die mir einfiel, mit meinem eigenen Voiceover. Annoying.

„Aaaalso“, begann Anne endlich. „Bei WG-Gesucht gibt es ein paar Angebote, von denen ehrlich gesagt keines wirklich verlockend klingt.“ Sie studierte nochmals, was sie zusammengetragen hatte. „Ein, zwei WGs könnte man sich eventuell anschauen. Vom Studentenwerk gibt es etwas zur Zwischenmiete, aber das bringt’s nicht wirklich. Du brauchst ja etwas Dauerhaftes. Und ich habe ein paar Anzeigen für einen Zimmertausch gefunden. Allerdings ist auch hier nichts Brauchbares dabei.“ Nachdenklich betrachtete sie den Bildschirm. „Wir sind mitten im Semester und die Midterms stehen vor der Tür, da geht nicht viel.“ Sie schwieg kurz, dann sah sie auf und seufzte. „Wir könnten in der Uni einen Aushang machen und es auf der Plattform posten, aber das wird nicht sehr vielversprechend sein. Ich würde dir ja raten, die Kündigung schon mal beim Studentenwerk einzureichen, aber wie ich dich kenne, willst du zuerst eine neue WG, bevor du kündigst und … Warum guckst du mich so an?“

„Ach nichts.“ Schnell wollte ich einen Schluck Schoki trinken, doch bereits der heiße Dampf brannte in meinem Gesicht. Darum machte ich nur ein alibimäßiges Schlürfgeräusch.

Meine Freundin verschränkte die Arme vor der Brust. „Raus damit.“ Ihr bohrender Blick ließ mir wie immer keine Wahl.

„Ich möchte eigentlich nicht in eine WG“, gestand ich meinem Becher und sah dann erst zu Anne auf.

Diese holte Luft, öffnete den Mund, schloss ihn, atmete geräuschvoll aus, zog ihre dunklen Augenbrauen zusammen, holte wieder Luft, öffnete wieder den Mund, stockte. Es war faszinierend, Annes Gedankengänge in ihrem Gesicht beobachten zu können. „Aber jetzt nicht wegen denen, oder? Ich meine nicht ernsthaft, oder? Ich meine …“ Sie gestikulierte etwas. „Nä?“

Das brachte mich kurzzeitig zum Schmunzeln. „Nein. Ich möchte nur nicht gerne mit völlig fremden Menschen zusammenzuwohnen. Was ist, wenn sie mich kennenlernen und seltsam finden oder seltsam finden, bevor sie mich kennenlernen? Ich würde mich unwohl fühlen und …“ Ich seufzte. „Ich bin nicht der WG-Typ, fürchte ich.“

„Du wohnst in einer WG.“

„Das war die absolute Ausnahme und ging nur, weil wir uns schon so lange kennen. Ich meine, sie sind … sie waren …“, verbesserte ich mich, brach ab und schaute traurig zurück in meinen Becher.

„Okay“, sagte Anne sanft. „Dann eine Einzimmerwohnung. Hm.“ Routiniert scrollte sie durch die Anzeigen und klickte sich durch unzählige Webseiten. Sie tippte etwas ein, veränderte die Angabe, klopfte mit dem Zeigefinger auf den Tisch, bis sie zu ihrem Schluss kam. „Ja, das kannst du vergessen, Püppi. Die Chancen dafür stehen noch schlechter.“ Mitleidig wandte sie ihren Blick zu mir. „Zumindest bis zu den Semesterferien wirst du es in deiner Wohnung aushalten müssen.“

„Vorlesungsfreien Zeit“, verbesserte ich automatisch. „Sorry.“

Sie schnaubte. „Wie dem auch sei. Nach dem Semester wird es bestimmt einfacher.“

„Ja mal sehen.“

„Bist du sicher, dass du in der WG bleiben willst? Ich nehm’ kein Blatt vor den Mund, das wird hart.“

„Du nimmst nie ein Blatt vor den Mund.“

„Wäre ich ohne Kind, hätten wir tauschen können. Obwohl ich nicht garantieren könnte, diesen Stinktieren nicht hin und wieder etwas an den Kopf zu tackern. Wörtlich gesprochen.“

Ich glaubte ihr aufs Wort. Anne überlegte, dann nickte sie. „Aber wir könnten sie ärgern. Was hältst du davon, wenn ich dich öfter mit Tommy besuchen komme? Am besten, nachdem wir in der Stadt waren, dann ist er nämlich immer schön unleidlich. Die perfekte Stimmung, um unliebsame Mitbewohner in den Wahnsinn zu treiben.“ Sie zwinkerte mir zu.

Ich lächelte, lehnte jedoch ab. Rache würde es nur schlimmer machen.

 

Den Rest des Wochenendes verbrachte ich bei Anne und mit Netflix. Wir aßen tonnenweise Eis, rohen Keksteig und Nachos, die wir in alles eintunkten, was man schmieren konnte – außer Zahnpasta – darunter Frischkäse, Marmelade, Nutella oder Mayo. Als meine verrückte Freundin jedoch anfing, Salami auf ihren Nachos zu drapieren, stieg ich aus. Als warme Mahlzeit gab es, was Tommys Babygläschenschrank hergab, da wir beide keine Lust zu kochen hatten. Kurz gesagt, es war eine kulinarische Katastrophe. Gut, dass ich jung war, sonst, so behauptete Anne, würde mich mein Magen-Darm-Trakt für diese Sünden büßen lassen.

Die Zeit, die sie mit ihrem Sohn im Videochat verbrachte, nutzte ich, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, vorerst in meiner WG bleiben zu müssen. Erstaunlicherweise fühlte es sich heftig, aber nicht grausam an. Stimmte etwas nicht mit mir?

Am Sonntag kam Anne auf die Idee, einige Situationen nachzustellen, die mich in der WG erwarten könnten. Sie erklärte, dass einen nichts schockieren konnte, wenn man auf alles vorbereitet war. Damit traf sie bei mir ins Schwarze, denn ich liebte es, mich vorzubereiten. Tatsächlich halfen mir unsere überzogen dargestellten Szenen. Als ich Sonntagabend meinen Kopf für eine letzte Nacht auf Annes Ersatzkissen bettete, fühlte ich mich halbwegs gewappnet für das, was mich erwarten könnte. Wie ein Mantra sagte ich mir, dass ich lediglich so tun musste, als gäbe es unsere gemeinsame Vergangenheit nicht. Außerdem durfte ich nicht zu viel nachdenken. Das wiederum ging am besten durch Ablenkung. Und welche Ablenkung war besser als ein Mathestudium? Das erforderte wahrlich genug Aufmerksamkeit.

Sollte ich doch in Grübeleien oder übermäßige Trauer verfallen, versprach mir Anne, schnellstmöglich mit Nachos und Netflix zur Hilfe zu eilen.

Kapitel 2

Emma

In Annes Klamotten ging ich am Montagmorgen als Erstes zum Hausmeister des Studentenwohnheims. Die erste Vorlesung hatte gerade begonnen, so konnte ich sicher sein, dass niemand in der Wohnung war.

Mit traurigen Augen erklärte ich dem brummigen Mann im ehrfurchterbietenden Schrankformat, dass ich mich ausgeschlossen hatte. Dabei war es in meiner Verfassung nicht allzu schwer, weinerlich zu klingen. Allein die furchtbare Vorstellung, an meiner Tür klingeln zu müssen, verhalf mir zur richtigen Dramatik. Alternativ hatte Anne mir angeboten, meinen Finger an den Tauchsieder zu halten, mit dem sie sich in den Veranstaltungen heimlich ihr Teewasser erhitzte.

Der Mann, dessen Gesicht unter viel Behaarung verborgen lag, war wenig begeistert von meinem Auftauchen und noch weniger von meinem Anliegen. Er nahm meine Personalien auf, währenddessen ich mir einen Vortrag über die unverantwortlichen Neuerwachsenden anhören durfte. Letzten Endes gewährte er mir ausnahmsweise Zutritt zu meiner Wohnung.

Ich war froh, dass ich keine Zeit hatte, den Eindruck der Wohnung auf mich wirken zu lassen, denn für die zweite Vorlesung musste ich mich bereits sputen. Ich eilte in mein Zimmer und zog mich um. Dann stopfte ich Laptop, Block, Kugelschreiber und Portemonnaie in meinen Rucksack. Mein Smartphone warf ich achtlos dazu. Mal abgesehen von meinen Eltern hatte sich an diesem Wochenende niemand gemeldet, auch keine schuldbewussten Mitbewohner. Es war niederschmetternd, doch im Augenblick gab es Wichtigeres.

Nachdem das Nötigste gepackt war, hechtete ich in die Küche, um mir einen Coffee to go zu machen, blieb jedoch wie angewurzelt in der Tür stehen. Durch den Schwung musste ich mich am Türrahmen festhalten, um nicht vornüber zu kippen.

An die Anrichte gelehnt stand, mit einem Becher in der Hand, eine zarte, elfengleiche Gestalt mit langen blonden Haaren bis zum Po. Meine ehemalige beste Freundin. Saskia.

Schweigend sahen wir uns an. Ihr Blick war undurchdringlich. Meine Fortschritte des Wochenendes in Sachen Seelenheilung zerbröckelten binnen Sekunden wie eine Sandburg in der Mittagssonne. Mein Herz klopfte noch lauter als durch die Hektik ohnehin schon und mein Hals wurde staubtrocken.

Sollte ich etwas sagen? Würde sie etwas sagen? Sie war allein. Würde sie sich unserer Freundschaft besinnen, die so lange währte? Oder sich endlich entschuldigen und erklären? Sie war mir so viel schuldig. Bei diesen Gedanken spürte ich, wie meine Augen zu brennen begannen. Eisern zwang ich mich, die Trauer, die Wut, die Enttäuschung, die Erniedrigung, die Beleidigung und den Verrat hinunterzuschlucken, um meine ganze Aufmerksamkeit im Augenblick zu haben, damit mir nicht entging, wie ihre erste Reaktion auf mich sein würde.

Nachdem quälend lange Sekunden verstrichen waren, senkte Saskia den Blick und kam auf mich zu. Eine Umarmung? Mein Herz raste noch schneller, mir wurde heiß und kalt zugleich. Kurz bevor sie bei mir war, drehte sie ihren Körper allerdings von mir weg, als wolle sie durch die Tür. Irritiert machte ich ihr Platz und durfte miterleben, wie sie sich still an mir vorbei schob, in das Zimmer ging, das nicht ihres war und leise die Tür hinter sich schloss.

Ich blieb zurück, japste nach Luft, versuchte erneut zu verstehen – und verstand wieder nichts. Unendlich enttäuscht glitt ich am Türrahmen hinunter, um auf dem Boden gekauert meinen Tränen nun doch in Stille ihren Lauf zu lassen.

 

So blieb es auch die folgenden Wochen. Wann immer wir uns in der WG begegneten, gingen sie mir aus dem Weg. Ich spielte dieses Spiel mit, ließ sie ausweichen, doch es ärgerte mich. Es war mein Recht, ihnen aus dem Weg zu gehen, nicht ihres.

„Das geht so nicht mehr weiter mit dir, Püppi“, erklärte Anne neben mir besorgt, als ich mal wieder mit dem Kopf auf dem Tisch im Vorlesungssaal saß und darauf wartete, dass die Veranstaltung begann.

Ich gab ein brummendes Geräusch von mir. Ein beherzter Rippenstoß ließ mich schnell wieder Haltung einnehmen. Das war unser Signal, wenn Saskia und Danje, die praktischerweise dasselbe studierten wie ich, in der Nähe waren. Den Großteil der Vorlesungen und Seminare musste ich mit ihnen in einem Raum sein. Sie sollten nicht sehen, wie sehr sie mich getroffen hatten und wie sehr sie mich quälten. Diese Genugtuung wollte ich ihnen nicht auch noch verschaffen.

Ich bewahrte Contenance, so gut es ging und gab mir Mühe, nicht zu bemerken, dass sich die beiden wie immer nach ganz hinten setzten, wo sie in meinem Rücken und damit ungesehen waren.

„Jetzt mal im Ernst. Du musst raus. Wenn schon nicht aus der WG, dann lass uns wenigstens feiern und Typen aufreißen. Es wird höchste Zeit.“

Mit übersteifem Rücken kramte ich meinen Laptop hervor. „Das geht nicht, wir sind kurz vor der Prüfungsphase. Da habe ich keine Zeit …“

„Keine Zeit wofür?“

„Für … ähm … ähm … Feiern und Typen aufreißen“, stammelte ich unbeholfen, fand jedoch meine Bestimmtheit wieder. „Ich muss lernen, Anne.“

„Ach, du meinst, du hast keine Zeit dafür, etwas für dich zu tun, den ganzen Ärger mal rauszutanzen, etwas zu trinken und deine Probleme und den Lernstress für einen Abend zu vergessen? Du hast keine Zeit dafür, dich zur Abwechslung mal gut zu fühlen?“ Mit hochgezogener Augenbraue sah sie mich abwartend an.

„Genau. Ich muss lernen.“

„Püppi, außer atmen und sterben musst du überhaupt nichts.“

Prompt dachte ich Dinge wie Essen, Trinken und Schlafen, die in Annes Aufzählung eindeutig fehlten. Dadurch kam ich auf die Grundbedürfnisse, Neurophysiologie, den Hypothalamus und damit wiederum unbeabsichtigt auf den Sexualtrieb. Er lag genauso in unserer Natur. Möglich, dass meine Freundin nicht völlig daneben lag.

Anne lehnte sich weiter zu mir und senkte die Stimme. „Hast du dir schon mal überlegt, dass es dem ganzen Lernen und deinem Studium guttun könnte, wenn du dich mal etwas vergnügst?“

Ja, vor drei Sekunden.

„Denk mal nach. Du krallst dir einen Typ und ihr habt etwas Spaß. Das macht dich glücklicher und du kannst dich im Umkehrschluss wieder besser auf dein Studium konzentrieren, weil du weniger Gedanken an deine Mitbewohner verschwendest.“

Lag es an mir oder klang diese Argumentation wirklich logisch? Oder hatte sich mein Hypothalamus gerade eingeschaltet? Ich überlegte.

„Dir gefällt die Idee“, grinste Anne zufrieden. „Das sehe ich dir an der Nasenspitze an.“ Damit stupste sie auf meine Nase.

Vielleicht. „Aber erst nach den Prüfungen, okay? Vorher kann ich echt nicht.“ Ich schaltete den Laptop ein, um die Vorlesungsfolien runterzuladen.

„Weißt du, es heißt, sie haben Asbest in einigen Wänden gefunden.“

Zögerlich sah ich wieder zu meiner Kommilitonin.

„Der Boden hier ist auch noch so ein alter Teppich aus den Siebzigern oder so.“ Mit krausgezogener Nase ließ sie ihren Blick über den Fußbodenbelag gleiten, der in der Tat eine fragwürdige Farbe besaß.

„Was möchtest du mir damit sagen?“

„Das ganze Dauerlernen hier in der Bib ist mit Sicherheit gesundheitsschädigend.“ Anne nickte wissend.

„Lass mich raten. Ein Grund mehr, auf Männerfang zu gehen, anstatt zu lernen und sich um seine Zukunft zu kümmern?“

„Exakt.“ Zufrieden lehnte sie sich an die unbequeme Holzlehne der Sitzbank. „Sieh es einfach als anthropologisches Experiment.“

„Das ich mit den Männern durchführe oder das du mit mir durchführst?“

Gespielt schockiert sah sie mich an. „Wie kannst du glauben, dass ich so etwas mit dir tun würde?“

Ich kicherte. „Du wirst nicht nachgeben, oder?“

„Niemals.“

Um Zeit zu schinden, sah ich mich im Saal um. Es nervte mich, dass ich den Blick hinter mich vermeiden musste. „Gut, wie lautet dein Vorschlag?“

„Einen Abend in der Woche kommst du zu mir und wir gehen feiern. Auch jetzt schon. Du bist mit dem Lernen so weit voraus, das kannst du dir leisten. Ich bestimme die Location und helfe dir mit den Männern.“

Bei ihren letzten Worten zog sich mein Magen zusammen.

Anne hatte mir mein Unbehagen sofort im Gesicht abgelesen und legte eine Hand auf meinen Arm. „Keine Sorge, Püppi. Das wird schon werden. Du wirst sehen. Ich werde dir bei allem helfen.“

„Na, wenn das so ist …“

Zum Glück betrat gerade unser Mathe-Prof Herr Dinknagel den Vorlesungssaal, sodass es mir zumindest für den Augenblick erspart blieb, Anne mein mangelndes Flirtgeschick zu beichten.

„Der wäre natürlich auch was“, raunte sie mir zu und nickte Richtung Prof. In der Tat war der noch recht junge Matheprofessor erstaunlich gut aussehend. Nicht grundsätzlich erstaunlich gut aussehend, aber im Mathekontext auf jeden Fall.

„Also dem würde ich nur zu gerne mit Sprühsahne seine ollen Formeln auf seinen nackten Körper schreiben und sie dann wieder von ihm ablecken“, murmelte meine Freundin, während sie, ihr Kinn auf ihre Handfläche gestützt, mit verträumtem Blick jede von Herrn Dinknagels Bewegungen studierte.

Ich hingegen hatte jetzt zu viele ungebetene Bilder in meinem Kopf und schüttelte mich ausgiebig.

„Warum nicht?“, wollte Anne wissen. „Er ist doch süß.“

„Schon, aber …“

„Stehst wohl nicht so auf blond, was?“ Die Herzen in ihren Augen waren verschwunden.

„Ja, also ich meine nein, also eigentlich ist es mir egal. Auf jeden Fall möchte ich nichts von seinem nackten Körper und schon gar nichts von Schokosoße und lecken hören.“

„Von Schokosoße hatte ich zwar nichts gesagt, aber das ist auch eine ausgezeichnete Idee.“ Sie grinste breit. „Außerdem ist es doch nicht verwerflich, sich sexy Szenen mit einem sexy Mann vorzustellen. Solltest du auch mal versuchen. Du bist sowieso zu verbohrt für dein Alter. Himmel, wäre ich so prüde, hätte ich jetzt …“

„… kein Kind?“, beendete ich ihren Satz aufmüpfig.

Einen Augenblick schwieg sie. Ich wollte mich gerade entschuldigen, als sich ein Lächeln den Weg durch ihre weichen Gesichtszüge bahnte. „So proud of you.“

Wir sahen wieder nach vorne und mussten erschrocken feststellen, dass Herr Dinknagel mit dem Beginn seiner Vorlesung gewartet hatte, bis Anne und ich das Plappern eingestellt hatten. Leider hatte damit der gesamte Saal unsere Unterhaltung mitbekommen.

Mit brennend heißem Gesicht zog ich den Kopf zwischen die Schultern und versuchte mich hinter meinem Bildschirm zu verstecken. Der Prof bedachte uns mit einem mahnenden Blick und begann kommentarlos die Vorlesung.

„Heiliger Pfeifenreiniger, wenn er so autoritär ist, muss ich wirklich einen Brunftschrei zurückhalten“, wisperte Anne mir zu.

„Du bist kein guter Umgang für mich“, flüsterte ich zurück und blendete sie für den Rest der Veranstaltung so gut es ging aus.

 

„Also ich weiß ja nicht.“ Unbehaglich stand ich bei Anne vor dem Spiegel und zupfte an dem Oberteil, das sie mir ausgeliehen hatte.

Unwirsch sprang sie mit hüpfenden Locken vom Bett und stellte ihr halb geleertes Sektglas beiseite. „Nun hör endlich auf, an dem Ausschnitt zu ziehen. Das soll so offenherzig sein. So kommen deine Brüste richtig schön zur Geltung.“

„Aber ich möchte gar nicht, dass meine Brüste zur Geltung kommen. Meine Augen vielleicht oder … Nee, eigentlich nur meine Augen.“

„Damit wirst du aber niemanden ins Bett bekommen.“

Ich fuhr mir aufgewühlt durch die Haare. „Wer sagt denn, dass ich das will?“

„Das ist keine Frage des Wollens, das ist eine Frage der Notwendigkeit.“ Obwohl ich nicht verstand, was sie damit meinte, nickte Anne überlegen. „Du bist frei und ungebunden. Und du bist jung. Jetzt ist die richtige Zeit, Fehler zu machen, sich unüberlegt in Abenteuer zu stürzen und sie gegebenenfalls zu bereuen. Es ist Zeit für Dummheiten!“

„Und was ist mit dir? Du machst doch mit, oder?“

„Ich habe Tommy. Meine Zeit der Dummheiten ist vorbei.“

„War Tommy eine Dummheit?“, fragte ich möglichst salopp. Ich wusste mittlerweile so gut wie alles über sie. Nur die Geschichte rund um Tommy hatte sie mir nie erzählen wollen. Und ich hatte bislang keinen Weg gefunden, ihr diesen Teil ihres Lebens geschickt zu entlocken.

„Er ist das Resultat einer Dummheit. Aber er ist das Beste, was mir je passiert ist.“ Fröhlich griff sie wieder nach ihrem Sektglas, doch ich spürte, dass ich in ihr etwas angestoßen hatte. Beklommen betrachtete ich mein aufgebrezeltes Ich im Spiegel. Ich brachte es nicht über mich, Anne nach Tommys Vater zu fragen. „Aber du darfst trotzdem Spaß haben“, sagte ich stattdessen.

„Den habe ich doch, mit dir.“ Noch immer scheinfröhlich exte sie ihren Sekt und schenkte sich großzügig nach.

„Ich meine aber … mit Männern.“

Meine Freundin erstarrte in ihrer Gießbewegung. Ich war froh, dass die Flasche leer war, bevor ihr Glas voll war. Sie seufzte.

„Glaubst du, irgendwer ist scharf drauf, was mit ner Mutti anzufangen?“, fragte sie mit Grabesstimme.

„Warum nicht?“

„Nein, Püppi.“

„Muttis sind die Besten, das weiß jeder.“

„So einfach ist das nicht.“

„Natürlich ist es das.“

„Ist es nicht. Ich kann nicht normal daten“, fuhr sie mich an. „Wann immer ich ein bisschen mein eigenes Leben haben möchte, muss ich Tommy bei meinen Eltern parken, so wie heute. Es ist nicht so, dass ich …“ Sie wurde ruhiger. „Ich … Ich hätte gerne eine Beziehung, einen weiteren Elternteil. Für Tommy, aber auch für mich jemanden, mit dem ich dieses Leben teilen kann, nicht alle Verantwortung und Sorge allein tragen muss.“

Ich presste die Lippen aufeinander. Noch nie hatte ich sie verletzlich erlebt. Anne war mein Fels in der Brandung, immer optimistisch und immer stark. Mit meiner überflüssigen Frage hatte ich ihr Gerüst ins Wanken gebracht.

Anne lächelte ein bitteres Lächeln. „Es ist schlicht nicht möglich. An der Uni bin ich mit Abstand die Älteste, die Eltern in Tommys Kindergarten sind alle verheiratet. Anfangs habe ich es noch versucht, aber den meisten ist es zu ernst, wenn ein Kind im Spiel ist.“ Sie versuchte zu lächeln. „Ich kann es verstehen. Darauf hätte ich auch keinen Bock.“

„Anne …“, begann ich und wollte sie in den Arm nehmen, doch sie wedelte mich hastig weg.

„Schwipp schwapp, genug von mir. Heute konzentrieren wir uns auf dich.“ Sie atmete tief durch und setzte dann einen professionellen Blick auf, der meinen Körper hinunter und wieder hinauf wanderte.

„Du kannst mir alles erzählen, das weißt du, oder?“

Annes Blick blieb schließlich an meinem Schopf hängen. „Also deine Haare sind eine Katastrophe. Da kann ich nicht viel retten.“ Sie zupfte darin herum und steckte einige der extrem kurzen Strähnen unter die langen Haarpartien.

Ich gab auf. „Ja, das kommt davon, wenn man eine Strähnchenblondierung zu lange drin lässt. Dann fallen die Haare irgendwann ab und man sieht so aus.“ Ich deutete anklagend auf meinen Kopf.

„Bist du immer so nachtragend? Da unterläuft einem Mal so ein winziges Fehlerchen …“

„Das war vor zwei Tagen.“

„Kümmern wir uns nicht weiter drum. Ändern können wir es ohnehin nicht. Weiter.“ Als Nächstes fiel ihr Blick auf mein Dekolleté. „Da können wir aber noch etwas optimieren. Darf ich?“

„Klar“, sagte ich ahnungslos. Ich ging davon aus, dass sie einfach den Ausschnitt des Tops geraderücken wollte. Stattdessen … griff sie hinein!

Im Spiegel konnte ich meine weit aufgerissenen Augen sehen, als sie sich an meinen Brüsten zu schaffen machte. Dennoch war ich zu perplex, um etwas zu sagen.

„Ziehen, drücken, schieben“, kommentierte sie, während sie fachmännisch genau das tat. „So. Voilà.“ Zufrieden betrachtete sie ihr Werk und gab die Sicht auf den Spiegel frei.

„Das ist zu viel!“, entfuhr es mir direkt.

„Das ist genau richtig. Wenn überhaupt, ist es eher zu wenig.“

„Die fallen mir da gleich raus!“

„Nein, sie fallen nur beinahe raus“, korrigierte sie seelenruhig. „Und das ist genau der Effekt, den wir erzielen wollen.“

„Welchen Effekt? Dass ich in der Bar unfreiwillig blankziehe?“

„Nein, dass Mann sie auffangen will, wenn sie rausfallen oder noch besser festhalten möchte, damit sie nicht rausfallen. Schlau, oder?“ Zwinkernd tippte sie sich an die Stirn. „Somit lenkst du also nicht nur die visuelle, sondern auch die haptische Aufmerksamkeit auf deine schönen Brüste. Jeder Kerl wird regelrecht dagegen ankämpfen müssen, sie nicht anzufassen und wenn ein wenig Alkohol im Spiel ist, wird ihm das nicht lange gelingen.“ Sie grinste wie ein Teufelchen.

Darauf fiel mir beim besten Willen nichts ein.

 

Die Bar, die Anne für diesen Abend ausgesucht hatte, kannte ich. Im ersten Semester war ich mit meinen Mitbewohnern ein paar Mal hier gewesen, bevor mich das Studium gänzlich eingenommen hatte.

Es war eine kleine Bar: dunkles Holz, schummriges Licht, winzige Tische, auf denen in Flaschen gesteckte Kerzen brannten. An den Wänden hingen massenweise Blechschilder und Bilder.

Als Erstes gingen wir an die Theke und bestellten uns einen Sekt. Auch wenn ich normalerweise keinen oder kaum Alkohol trank, brauchte ich ihn für dieses Vorhaben dringender denn je. Eigentlich wäre mir ein Bier lieber gewesen, aber Sekt passte vermutlich besser zu diesem glänzenden Oberteil.

Wir setzten uns an einen der wenigen freien Tische und sahen uns in der Bar um. Tatsächlich kannte ich einige der Gäste aus der Uni.

„Gut, dann wollen wir mal. Ähm …“ Fachkundig scannte meine Freundin die Männer nach brauchbarem Material ab.

„Hältst du das wirklich für eine gute Idee?“ Ich fühlte mich mit einem Mal enorm beklommen. Auch der Sekt half nicht.

„Püppi, du musst dir im Klaren darüber sein, dass Danje der letzte Kerl war, mit dem du geschlafen hast. Je länger du wartest, umso länger wird er das sein. Und damit ehrst du diesen Bock auch noch, der sein Schwänzchen nicht bei sich behalten konnte. Willst du das? Er vögelt diese verräterische Kuh weiter und du bist abstinent?“

„Er ist auf jeden Fall nicht mehr der Letzte, der an meinen Brüsten war“, murrte ich. „Aber danke für die Tierbilder.“

Anne grinste. Dann stieß sie mich an und deutete auf einen hübschen, blonden Typ an der Theke. „Apropos Tier. Der da. Los. Ran an den Speck.“

„Außerhalb meiner Liga“, gab ich zurück. Undenkbar, dass der mich überhaupt ein zweites Mal ansehen würde. Nicht einmal, wenn ich stolperte und auf ihn fiel.

„Wer hat eigentlich diesen Blödsinn mit der Liga erfunden?“, empörte sie sich. „Erstens ist es zum Brechen, jeden Vergleich als Sportmetapher zu verpacken und zweitens ist das total oberflächlicher Bullshit. Er mag glauben, dass er besser aussieht als du – und scheinbar glaubst du das auch – aber dafür ist er vielleicht ein Bettnässer, ein Muttersöhnchen, hat quadratische Eier oder überhaupt keine. Oder einen winzigen Schniedel – weißt schon, solche, die so groß sind wie der kleine Finger. Vielleicht trägt er ein Toupet oder eine Windel oder er …“

„Okay, stopp, das reicht“, fuhr ich vehement dazwischen, bevor sie sich noch mehr verstörende Beispiele ausdachte. „Ich habe schon verstanden, was du meinst.“

„Und was meine ich?“ Prüfend sah sie mich an.

Ich ließ die Schultern sinken. „Dass ich jetzt zu ihm gehen und ihn anflirten soll“, leierte ich runter.

„Genau.“

Ich schaute noch einmal zu dem Typen herüber. Er stand allein an der Theke und unterhielt sich hin und wieder mit dem Barkeeper, wenn der mal Zeit hatte. Wahrscheinlich wartete er auf jemanden. Eigentlich war das eine passende Chance. Auf diese Weise konnte ich in einem guten Licht dastehen, falls er gerade versetzt wurde.

„Worauf wartest du noch?“, fragte Anne ungeduldig.

„Ich weiß nicht, was ich zu ihm sagen soll.“

„Wie wäre es mit hallo. Oder hi, wenn es etwas lässiger klingen soll.“

„Sehr witzig! Du wolltest mir doch helfen!“

„Okay, Püppi, pass auf. Du gehst hin, stellst dich einfach neben ihn an die Theke und bestellst dir einen Cocktail. Der Barkeeper ist dann eine Weile beschäftigt. Das gibt dir Zeit, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.“

„Und wie?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Du könntest ihm sagen, dass er dir bekannt vorkommt, ob ihr zufällig in derselben Mathevorlesung beim Dinknagel seid. Dann weiß er auch gleich, dass du schlau bist.“

„Wohl eher, dass ich ein Nerd bin.“

„Wenn du das denkst, sieh an dir herunter. Solange du so aussiehst, machst du zumindest nicht den ersten Eindruck eines Nerds, sondern den einer heißen Studentin.“

„Aber das ist eine Lüge.“

„Schnurzpiepe. Am Anfang nimmt es niemand mit der Ehrlichkeit so genau. Du musst ja nicht gleich den Mann fürs Leben finden. Heute geht es um Spaß und dabei ist es erlaubt, die Wahrheit zu seinem Vorteil auszulegen.“

Entschlossen stürzte ich meinen Sekt hinunter und wo ich schon dabei war, den von Anne auch. Der Alkohol füllte meinen Körper mit einer wohligen inneren Wärme. „Bestell uns schon mal Neuen. Ich bin gleich wieder zurück.“

„Na mit der Einstellung auf jeden Fall.“

Ich überhörte das gekonnt.

Der geniale Plan meiner Kommilitonin versagte bereits bei der Bestellung. Denn wie mich der Barkeeper mit einer Geste auf das Getränkeplakat über ihm hinwies, gab es hier keine Cocktails.

„Äh, dann nehme ich einen Sekt“, improvisierte ich.

Der Barkeeper hatte sich gerade umgedreht, da quatschte ich schon den blonden Typen an, ohne so getan zu haben, als würde ich ihn jetzt erst bemerken. „Hi! Kennen wir uns nicht?“

Er warf mir einen flüchtigen Blick zu, der es nicht einmal zu meinem aufgemotzten Dekolleté schaffte, und wandte sich wieder ab. „Nein, tun wir nicht.“

„Doch. Aus der Vorlesung von Herrn Dinknagel.“

„Kenn’ ich nicht.“

Verzweifelt überlegte ich, was ich noch sagen könnte. Ich hatte einen totalen Blackout. Dieser wurde von dem herannahenden Barkeeper nicht verbessert. „Ich bin übrigens Emma.“

Er nickte, ohne mich anzusehen, und nippte an seinem Bier.

„Na, wirst wieder angebaggert, was?“ Er zwinkerte dem Blondi zu.

„Sieht so aus“, gab der zurück. In meiner Anwesenheit wohlgemerkt.

„Das kommt davon, wenn du hier allein rumstehst. Dann denken die Mädels, sie könnten es versuchen“, erklärte Barkeeper ungerührt, während er mir achtlos mein Glas Sekt vor die Nase stellte.

Ich wollte etwas sagen, doch meine Kehle war wie zugeschnürt. Den Tränen nah sah ich hinüber zu Anne, die sofort zu mir kam, das Geld auf den Tresen knallte und mich fortzog. Fort von dieser niederschmetternden Situation, raus aus der Bar.

„Ach Püppi“, sagte sie tröstend. „Beim nächsten Mal lassen wir die Brille am besten auch weg.“