Magdalena
31. Dezember 1913
Wasser plätscherte. Ein Bach glitzerte im Sonnenschein, Schmetterlinge flatterten um Magdalena herum und raschelnde Zweige wisperten ihren Namen. Anfangs leise.
„Lenchen, aufstehen!“
Verschlafen öffnete sie ihre Lider.
„Wird’s bald!“ Die mahnende Stimme der Magd, mit der Magdalena die Kammer teilte, riss sie endgültig aus ihrem Traum. Gähnend schlug sie das dicke Federbett zur Seite und fuhr mit ihren bestrumpften Füßen in die Filzpantoffeln. Ihre Großmutter hatte trotz ihrer schlechten Augen bis zuletzt unermüdlich gesponnen, gestrickt oder Wolle gewalkt. Jeden Morgen war Magdalena ihr im Nachhinein dafür dankbar, sonst würden ihr glatt die Zehen abfrieren, so kalt war es in dem unbeheizten Raum. Hastig stieg sie in den wadenlangen, dunkelbraunen Wollrock, schloss den Knopf am Bündchen und streifte ihre Strickjacke über. Im Schlafzeug nach unten oder gar raus auf den Hof rennen, wo jemand von der Straße sie hätte sehen können, war für ein Mädchen von fast fünfzehn streng verboten.
„Guten Morgen, Berta.“ Die mollige Magd war im Lauf der letzten vier Jahre so etwas wie eine Wahlschwester für sie geworden.
„Guden Morjen, Lenchen. Ausgeschlofn?“ Mit nacktem Oberkörper stand Berta im Zimmer vor dem Waschtisch und seifte sich die Achseln ein.
„Wie denn? Kaum sind die Augen zugefallen, heißt es auch schon raus aus den Federn.“ Magdalena eilte zu der Tür der kleinen Kammer, öffnete sie einen Spalt und lugte hinaus auf den Gang. Zum Glück war kein männliches Wesen in Sicht, das einen Blick auf Bertas blanke Brüste erhaschen konnte.
Magdalena schlüpfte aus dem Zimmer hinaus in den Flur. Fest drückte sie gegen das Türblatt, lauschte auf das Einrasten des Schlosses und die Geräusche im Haus. Die Mutter hatte gewiss schon Feuer im Ofen gemacht und würde das Frühstück vorbereiten, während der Vater mit den beiden Knechten Pferde und Vieh versorgte.
In der Schlafkammer ihrer beiden älteren Brüder rumorte es auch. Da tappte einer bereits durch das Zimmer. Sie hörte ein herzhaftes Gähnen. Rasch lief Magdalena die Stufen hinunter. Auf dem oberen Treppenabsatz stand der Eimer, der vor allem im Winter heiß begehrt war, weil keiner bei Minusgraden hinaus auf den Lokus gehen wollte.
Ein Anflug von Neid auf die reichen Verwandten in Trier erfasste Magdalena. Von einem derartigen Luxus wie einer Wassertoilette mit Spülkasten konnte sie nur träumen. Oh, was für eine Wonne wäre das! Einfach an der Kette des Spülkastens ziehen und alles Lästige verschwand in der Kanalisation. Bei ihnen gab es stattdessen den Misthaufen mit dem Toilettenhäuschen daneben und den Eimer auf dem Treppenabsatz.
Heiner, ihr jüngerer Bruder, würde sie vorlassen. Während Lorenz, der ältere … Schon quietschte oben die Türangel. Rasch raffte sie Rock und Nachtgewand am Saum bis zu den Knien hoch und lüftete den Deckel des Eimers. Puh, wie das stank. Reinschauen würde sie nicht, schlimm genug, dass sie ihn nachher leeren musste. Jemand polterte die Stufen hinunter und drängte sie rüde zur Seite.
„Weg da!“, schnauzte Lorenz sie an.
„Aber ich war zuerst hier!“
„Ja und.“ Breitbeinig und grinsend stand Lorenz da.
„Du Orsch!“, brach es zornig aus ihr heraus und in einer Sprache, die er verstand.
Er lachte nur. Gegen ihn hatte Magdalena keine Chance, das wusste sie aus bitterer Erfahrung. Er würde mit Absicht trödeln. Wütend drängte sie an ihrem dummen Bruder vorbei, lief die Holztreppe hinab und sah ihre Mutter an dem Emailleherd werkeln. Großmutter Frieda hatte gleich daneben auf dem offenen Feuer gekocht. Töpfe am Dreibein oder zum Wärmen der Speisen mit Haken an die Ketten gehängt, die vom großen Kamin herabhingen. Nach ihrem Tod überlegten Magdalenas Eltern, die Mauern der alten Kochstelle abzureißen und die große gusseiserne Takenplatte, die darüber hing, wegzumachen. Früher hatte sie die Wand vor Fettspritzern bewahrt und zudem Wärme an die dahinter liegende Stube weitergeleitet. Sie war das Reich ihrer Großmutter gewesen. Doch seit das offene Feuer erloschen war, hatte die große Eisenplatte keinen Nutzen mehr. Hübsch wie ein Bild sah sie aber aus mit den üppigen eingearbeiteten Verzierungen und gusseisernen Girlanden.
„Guten Morgen, Mama.“
„Den wünsch ich dir auch.“ Die Mutter wandte kurz den Kopf.
Schnurstracks rannte Magdalena vom mollig warmen Raum durch den Flur, vorbei an Stube und Wohnzimmertür Richtung Hauseingang. Dort tauschte sie ihre Pantoffeln gegen die Schnürschuhe, deren Bändel sie rasch in den Schaft stopfte. Jetzt fehlte nur noch ihre dicke Winterjacke, die an einem der Wandhaken hing.
***
Draußen war es noch dunkel und am Himmel blinkten Sterne. Bitterkalte Luft schlug Magdalena entgegen, aber dank der Straßenlaterne vor dem Haus konnte sie den Weg recht gut erkennen. Die Blaue Forelle, die Gastwirtschaft ihrer Eltern, die an das Wohnhaus angebaut war, lag um die Zeit still und verlassen da.
Magdalena hastete auf den Misthaufen und das gut gelüftete Holzhäuschen bei der Jauchegrube zu. Zu keiner Jahreszeit ein angenehmer Ort. Im Winter war zwar der Geruch besser auszuhalten, dafür musste sie aufpassen, nicht an dem Abtritt festzufrieren.
Ihre Zähne klapperten aufeinander. Zum Glück machte ihr den Platz auf dem Abort keiner streitig. Ungeduldig raffte sie Rock und Nachthemd hoch und entblößte ihre Beine. Eisige Luft strich unangenehm um ihr linkes Knie. Der Strumpf war abgerutscht und eins der Bänder ihres Leibchens baumelte locker herunter. Suchend tastete sie nach dem Befestigungsknopf am Bündchen. So ein Elend, er fehlte.
Mit klammen Fingern versuchte sie, ein Stück Zeitung weichzurubbeln, das zu Vierecken geschnitten an einem Fleischerhacken von der Wand des Örtchens hing. Hier endeten Tageszeitung und Paulinusblatt, die ihr Vater abonniert hatte. Im Sommer dehnte Magdalena die Sitzungen manchmal aus und las einen Abschnitt, bevor sie das Papier zum Abwischen benutzte. Heute nicht. Dafür war es viel zu kalt.
Endlich fertig. Im Winter ging sie nie den Weg zurück durch die Küche, auf dem sie gekommen war. Da zog sie die Strecke über den Stall vor, den sie schneller erreichte und der wärmer war. Rasch umrundete sie den Misthaufen und schlüpfte in das dahinterliegenden Gebäude. Trotz des strengen Geruchs fühlte sie sich wohl bei den Tieren.
Adam, der ältere, und Nikolas, der junge Knecht, nickten ihr zu und führten die Pferde an ihr vorbei zur Tränke beim Dorfbrunnen. Die beiden Wallache, große schwere Tiere, begrüßten sie schnaubend. Bella, Magdalenas sanfte Lieblingskuh, hob den Kopf und musterte sie aus ihren großen braunen Augen, vielleicht drückte sie das Euter.
„Mama oder Berta kommen bald, um dich zu melken. Jetzt haben sie leider keine Zeit.“ Vom Stall ging Magdalena in einen kleinen Raum mit einem riesigen Kessel im Eck, den Berta und sie jeden Tag, den Gott werden ließ, mit Kartoffeln für die Schweine füllen mussten. Im gemauerten Unterbau heizten sie ein, obenauf kam der Topf, den Magdalena mit ihren Armen nicht umfassen konnte, solch einen Durchmesser hatte er und entsprechend hoch war er außerdem. Dort stand Wasser zum Abschrubben der Knollen und Händewaschen bereit.
Fertig. Eilig verließ sie den Verschlag und durchquerte die Scheune, in der es deutlich besser roch als bei den Tieren. Nicht nur nach Heu. Warme Luft stieg aus dem Keller hoch, wo der Backofen stand, und trug den verführerischen Duft von frisch gebackenem Brot nach oben.
Magdalena strebte schnurstracks auf die nächste Tür zu und trat in die Küche. Im Vergleich zur Scheune kam ihr die Decke immer besonders niedrig vor. Über dem Herd war sie bereits wieder vom Ruß dunkel gefärbt, obwohl der Vater sie erst letztes Jahr frisch getüncht hatte. Eine breite Schiebetür, die bei Hochbetrieb am Wochenende offenstand, führte in die Blaue Forelle.
Berta stand am gemauerten Brunnen, dem Petz. Er lag zum Teil unter der Treppe verborgen, die ins obere Stockwerk führte. Sie hatte zwei Bretter der Schutzabdeckung beiseite geräumt und warf den Holzeimer, bald schon ein kleines Fass, in den Schacht. Lächelnd sah die Magd zu ihr hinüber. Im selben Moment platschte Holz auf Wasser und der Eimer füllte sich gluckernd. Er war mit einem Seil befestigt, das mit einer Winde verbunden war. Gleich darauf ächzte Berta. Sie musste die Kurbel drehen, um ihn hochzuziehen.
„Jetzt aber schnell, Lenchen, und mach die Tür ordentlich hinter dir zu!“, befahl ihr die Mutter.
„Schon geschehen.“ Magdalena rannte vor zum Eingang und legte ab.
„Die Messe fängt bald an, also beeil dich.“
„Ja, Mama.“ Sie flitzte die Treppe hoch in ihre Kammer. Ihre Mutter hing leider der Meinung an, dass kaltes Wasser abhärtete, Krankheiten fernhielt und das beste Schönheitsmittel überhaupt war. Bei ihr war von dieser wundertätigen Wirkung bisher leider nicht viel zu merken. Berta hatte ihr Waschwasser bereits aus dem Fenster gekippt und frisches aus dem Krug eingegossen. Tapfer biss Magdalena die Zähne zusammen und klatschte es sich ins Gesicht. Vielleicht half es ja doch?
Nach dem Waschen und Ankleiden hüpfte sie die Treppe hinunter. Auf dem Ofen stand schon ein Topf Milch. Alles wie an jedem beliebigen Mittwoch, dabei war heute Silvester.
„Kommst du?“, drängte Berta, die zur Haustür vorgegangen war und ihre Stiefel zuschnürte.
Die Kirchenglocken läuteten. Da sie für den Weg zehn Minuten brauchten, war wirklich Eile geboten. So schnell wie möglich schlüpfte Magdalena in ihre derben Halbschuhe und die warme Winterjacke.
„Bis gleich, ihr beiden“, rief die Mutter ihnen hinterher.
Sie hatte es gut. Sie brauchte nur die Sonntagspflicht zu erfüllen und durfte zuhause das Frühstück richten, während Berta und Magdalena tagtäglich zum Gottesdienst geschickt wurden. Etwas zu essen gab es erst, wenn sie zurückkamen: Denn vor einer Messe mussten die Gläubigen wegen der heiligen Kommunion selbstverständlich nüchtern bleiben.
Draußen war es immer noch dunkel. Das Schild der Blauen Forelle, das zur Straßenseite wies und Gäste anziehen sollte, wiegte sachte im eisigen Wind. Ab und zu quietschte es. Gegenüber im Hof der Gronaus krähte der Hahn. Der Beschützer der Scholtes-Hühner, der im Winter sonst eher krähfaul war, hielt dagegen und versuchte ihn zu übertönen.
Ein paar eisglatte Schollen auf der Straße, an denen der Schnee zu einer grauen Masse festgetreten war, behinderten ein schnelles Fortkommen. Da es einen Hang hinunterging, stiegen sie vorsichtig darüber. Sie folgten der Straße, die einen leichten Bogen schlug, und liefen bergab, am Dorfplatz vorbei.
Schließlich traten sie in die Kirche, wo sie während der Morgenmesse genügend Zeit zum Verschnaufen hatten. Die Jahresabschlussvesper am Abend würde die ganze Familie gemeinsam besuchen. Leider herrschten im Inneren des Gotteshauses nur unwesentlich wärmere Temperaturen als draußen und je länger sie stillsitzen mussten, umso mehr würden sie frieren.
Das Bild des heiligen Michaels in einer der Nischen betrachtete Magdalena immer wieder gerne. Vielleicht, weil sein Äußeres sie an den Nachbarssohn erinnerte, der ihr heimlicher Schwarm war. Zumindest der Teil des Gesichts, das der Ritter in silberner Rüstung auf dem beinahe lebensgroßen Gemälde der Welt präsentierte. Er trug zwar einen Helm, hatte das Visier aber hochgeklappt und jedermann konnte seine gerade schmale Nase, den fein geschnittenen Mund und die entschlossenen braungoldenen Augen bewundern. Der Drache lag tot zu seinen Füßen von einem Speer durchbohrt. Teuflisch böse sah das Untier nicht aus, eher erbarmungswürdig, aber was verstand Magdalena schon davon. Sie mochte das Bild und hatte als Kind viel Zeit damit verbracht, den heiligen Michael in Gedanken auf Abenteuer und Drachenjagd zu begleiten.
Berta und sie nahmen auf der linken Seite Platz, die Frauen vorbehalten war, und saßen dicht beieinander. Gähnend ließ Magdalena ihren Blick über die Reihen wandern. Immer die gleichen Gesichter, fast nur alte Frauen und Schulkinder hatten sich eingefunden. Weiter vorne entdeckte sie ihre Freundin Constanze, die eine weinrote Pudelmütze trug. Schade, heute konnten sie nicht miteinander tuscheln. Vielleicht auf dem Heimweg? Wieder einmal nahm der Gottesdienst kein Ende. Statt andächtig stillzusitzen, schaukelte Magdalena mit den Beinen vor und zurück, bis Berta ihr den Ellenbogen in die Seite stupste und warnend den Kopf schüttelte.
„Lass dat lieber, wenn dat einer sieht.“
Magdalena setzte sich aufrecht hin, faltete die Hände und wackelte mit den Zehen. Ihre kalten Füße wurden während der Morgenandacht nicht wärmer. Der Pfarrer, ein betagter Herr, hörte sich gar zu gerne reden. Irgendwann musste er seine Gemeinde schließlich doch entlassen. Berta und sie knieten im Mittelgang nieder, schlugen ein Kreuzzeichen und verließen die Kirche.
„Kann ich noch auf Conni warten?“, fragte Magdalena ihre Begleiterin draußen vor dem Portal.
„Na, dat geht nit, Lenchen. Heut is zu viel zu tun.“
Der Älteren musste Magdalena gehorchen, wenn sie zu zweit unterwegs waren, das hatte die Mutter von Anfang an bestimmt. Also gab sie keine Widerworte und eilte neben Berta nach Hause.
Als sie zurückkamen, duftete der Kaffee und ein Korb mit Brot stand auf dem Holztisch bereit. Auf feine Tafeldecken zum Bekleckern und so einen Firlefanz verzichtete die Mutter unter der Woche und sogar an Silvester. Erst Neujahr würde eine aufgedeckt. Den Männern war es ohnehin gleich. Hauptsache, es gab genug Platz für die Speisen auf dem Tisch: Neben dem Brot standen Geräuchertes und Wurst sowie Butter, dazu kamen mit Sahne angemachter Quark, Zuckerrübensirup und selbstgekochte Marmelade. Ihre Mutter hatte alles Nötige aus der Speisekammer geholt, während die Brüder und ihr Vater schon auf ihren Plätzen warteten. Berta und sie gesellten sich dazu. Als alle saßen, sprach ihr Vater das Tischgebet. „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.“
„Nun greift zu.“ Ihre Mutter schenkte Kaffee aus. Magdalena reichte sie eine Tasse mit lauwarmer Milch, von der sie die eklige Haut abgeschöpft hatte, gesüßt mit ein wenig Honig. Alle langten ordentlich zu. Magdalena gab noch einen Klecks Heidelbeermarmelade auf ihre Schmeer, wie Berta die gebutterte Brotscheibe nannte, und ließ es sich schmecken. Das Frühstück beendete der Vater mit: „Herr, wir danken dir für deine Gaben.“ Danach hieß es Schlafstuben ausfegen, Staubwischen und Kartoffelschälen: Silvester 1913 konnte beginnen.
***
In der Wohnküche roch es nach Sauerkraut und Kaffee. Magdalena saß auf einem Schemel und schälte Kartoffeln. Wie jedes Mal bei dieser Arbeit, hatte sie das Gefühl, dass nichts voranging. Dabei war schon eine der Schüsseln randvoll gefüllt mit den Grumpern, wie Kartoffeln hier in der Gegend genannt wurden.
Linda, Trudchen und Marie Ferber, drei ältere Frauen aus dem Dorf, die etwas dazuverdienen wollten, traten grüßend ein. Die ledigen Schwestern, alle drei mollig und klein, halfen der Mutter in der Gastwirtschaft und beim Kochen. Wie die Hühner an der Stange saßen sie auf der langen Bank und schwatzten miteinander, während eine um die andere abgeschälte Knolle im Wasser landete. Küken wie Magdalena beachteten sie nicht weiter.
Die Mutter erledigte den Abwasch in zwei Spülsteinen, deren Abfluss in den Garten führte. Berta oder Magdalena mussten allerdings das Wasser dazu aus dem Brunnen schöpfen. Anderenorts floss es mir nichts, dir nichts aus einem Hahn an der Wand. Einmal in Trier bei den entfernten Verwandten des Vaters, die in einer prächtigen Stadtvilla wohnten, durfte Magdalena das Wunder anstaunen und im Badezimmer mit eigenen Händen den Wasserhahn aufdrehen. Lorenz hatte prompt seine Hand in den Strahl gehalten und sie nassgespritzt.
Schade, dass es so etwas Herrliches wie fließendes Wasser bei ihnen nicht gab. Aber wenn sie Glück hatten, zog der Fortschritt noch in diesem Sommer bei ihnen ein. Im August sollte ihr Haus an die Wasserversorgung angeschlossen werden und der Petz, wie die drei Ferber-Schwestern den Brunnen nannten, wäre Vergangenheit. Magdalena lächelte unwillkürlich und schaute zum Fenster hinaus. Der letzte Tag des Jahres präsentierte ihnen seine graue, trübe Seite. Hoffentlich stellte das kein schlechtes Omen für das neue Jahr dar. Kalte Luft strich von hinten unangenehm über Magdalenas Nacken, aber darüber zu klagen war müßig. Sie zog lediglich ihre Jacke zurecht.
„Es noch genug Wasser für die Grumpern do? Oder soll ich eppes holle göhn“, fragte Berta in die Runde.
„Et reicht“, antwortete Linda ihr freundlich, die älteste und molligste der Schwestern, die ihre dunklen, krausen Haare kaum bändigen konnte.
Leider würde Magdalena bald mit einer anderen Magd als Berta die Stube teilen müssen, die vielleicht nicht so verträglich und fleißig war. Unglücklich sah sie zu ihr hin. Sie wollte nicht, dass ihre Wahlschwester im neuen Jahr fortging. Obwohl es ein kleiner Trost war, dass sie im Ort bleiben würde. Vor vier Jahren hatte sie sich mit ihrem Johann verlobt und jetzt, mit ihren vierundzwanzig, genug von der Warterei. Magdalena konnte ihr den Wunsch, den Liebsten endlich zu heiraten, nicht verdenken. Aber der Verlust von Berta stimmte sie trotzdem traurig.
„Wasser haben wir noch genug. Lauf rasch in den Hühnerstall und sammele die Eier ein“, befahl die Mutter der Magd. „In der Blauen Forelle wollen wir Suppe mit Eierstich reichen.“
Auf die Mutter und sie warteten die nächsten Eimer voller Kartoffeln, die sie verarbeiten mussten. Aber Magdalena wollte nicht klagen. Salzkartoffeln waren ein kleines Übel verglichen mit der Zubereitung von Kartoffelpuffern oder Knödeln. Das Reiben! Hinterher taten ihr wie nach dem Buttern tagelang die Arme weh. Natürlich musste man froh und dankbar sein, dass die Gäste in der Blauen Forelle so viel verzehrten. Aber sie aßen nicht, fand Magdalena: Sie fraßen.
Schaufelten Braten, Fisch und Beilagen in ihre Mägen, als ob es für sie kein Morgen gäbe, tranken Viez, Wein, Schnaps oder Bier dazu und zogen sie nur aus Spaß an ihren langen Zöpfen. Während sie der drallen Berta und ihrer Mutter Annegret beim Servieren unverhohlen auf die Rundungen starrten.
Bei Magdalena gab es da nichts zu sehen, rein gar nichts. Selbst, wenn sie noch so viel hinschaute und hoffte, da wuchs trotzdem nichts. Jedes Mal schluckte sie enttäuscht. Fast fünfzehn und platt wie eine Flunder. Alle hielten sie noch für ein Kind. Dabei dauerte es nur noch ein paar Wochen, bis sie aus der Schule kam und noch einmal zwei Jahre drauf …
Hier im Dorf hieß es, ‚ein Jahr gewart, en Kind gespart’. Wegen der vielen Mäuler, die sie in absehbarer Zeit stopfen mussten, hatten es manche Pärchen wie Berta und Johann nicht gar so eilig, in den heiligen Stand der Ehe zu treten. Während viele Mädchen aus den Bergarbeitersiedlungen im Saargebiet schon mit sechzehn heirateten. Magdalena spürte ihr Herz bei dem Gedanken klopfen und merkte, dass ihr das Blut heiß ins Gesicht schoss. Aber was konnte sie dafür, dass sie bei dem Thema an Matthias Gronau denken musste und ein klein wenig weiter in die Zukunft? Er war nun einmal ihr Schwarm und Magdalena Gronau klang eindeutig besser als Magdalena Scholtes.
„Nicht träumen, Lenchen.“
„Ich habe nicht geträumt“, stritt Magdalena vehement ab. „Und schon gar nicht von einem Jungem, falls du das glaubst.“
„Na, wenn das eine Brücke ist, werde ich nicht darüber gehen. Bei dem versonnenen Lächeln und so prompt, wie deine Antwort kam.“ Die Mutter schmunzelte. „Ich kann mir schon denken, wen du im Auge hast. Schlag ihn dir aus dem Kopf, Dummerchen. Jetzt, wo er studiert, wird er kein unscheinbares Mädchen vom Land zur Frau nehmen. Und bis du einmal unter die Haube kommst, fließt ohnehin noch sehr viel Wasser die Mosel hinunter.“
„Mama! Das kannst du gar nicht wissen.“ Magdalena bohrte die Messerspitze in die Kartoffel und stach einen Triebansatz aus.
„Wenn du da nicht enttäuscht wirst.“ Die Mutter legte ihr Küchenmesser lächelnd auf den blankpolierten Holztisch.
Was sollte das denn bedeuten? Nachzufragen wagte Magdalena nicht. Während sie noch grübelte, kam Annegret, wie sie ihre Mutter bei sich manchmal nannte, leichtfüßig auf die Beine und trat an den Herd. Er war ihr ganzer Stolz. Aus weißem Emaille mit einer schwarzen Herdplatte aus Eisen und nach über zwanzig Jahren Ehe noch kein größerer Makel daran. Annegret griff zum Korb mit dem Holz und legte ein dickes Scheit nach. Seit Magdalena denken konnte, standen Kessel, Pfannen oder Töpfe auf der Platte, in denen irgendetwas köchelte, garte oder brutzelte. Sauerkraut schmorte in einem großen Tiegel. Ihre Mutter hob den Deckel, und rührte es um. Ein würziger Duft erfüllte den Raum und lenkte Magdalenas Gedanken von höheren Sphären auf den Magen.
„Hast du wieder so viel Griebenschmalz daran gemacht wie letztes Mal?“, wollte sie wissen.
„So wird Sauerkraut nun einmal gekocht und unsere Gäste lieben es.“
„Mir verleidest du es aber damit.“ Magdalena mochte die wabbelig gekochten Grieben nicht, die in ihren Augen wie zu fett geratene Maden oder gekochte Nacktschnecken aussahen – diese Vorstellung war noch schlimmer und sie konnte sie nicht aus ihrem Kopf verbannen. Sie würgte schon bei dem Gedanken daran, obwohl sie genau wusste, dass die ekligen Brocken im Mittagessen weder das eine noch das andere waren.
„Außerdem gibt es Würste und Kesselfleisch dazu. Die Kartoffeln müssen jedenfalls Punkt zwölf auf dem Tisch stehen.“
Jede Mengen Schalen landeten in einem Eimer und halfen den Kessel beim Stall zu füllen. Magdalena warf eine fertige Kartoffel zu den anderen ins Wasser. Es platschte leise.
„Zum Glück brauchen wir die für die Schweine nicht auch noch zu schälen“, überlegte sie laut. „Meine Hände sind jetzt schon ganz schrumpelig.“
„Na, dann beeile dich, dass du fertig wirst und schmiere dir die Haut später mit Melkfett ein. Stopfarbeiten haben wir auch noch zu erledigen.“
„Doch nicht heute, Mama! Wir feiern Silvester.“
„Das war ein Scherz.“
Magdalena zog die Stirn kraus. „Was meinst du, was das neue Jahr uns bringen wird – 1914?“
„Hauptsache keine unangenehmen Überraschungen, mehr wünsche ich mir gar nicht.“
„Du bist aber bescheiden, Mama. Ich möchte so vieles: ein fesches Sonntagskleid, feine Seidenstrümpfe und richtige Damenschuhe, keine genagelten.“ Unweigerlich ging ihr Blick zu der Mutter, die bereits die nächste Kartoffel in Angriff nahm und sie in Windeseile von der Schale befreite.
„Du willst wohl schnell großwerden?“ Ihre Mutter hatte kurz innegehalten, setzte die Arbeit aber ohne tadelnde Bemerkungen fort.
„Ja, gewiss, das wollen alle meine Freundinnen.“ So flink und geschickt wie ihre Mutter würde Magdalena wohl nie mit dem Kneipchen, dem scharfen Küchenmesser hantieren, dabei half sie ihr schon seit Jahren bei den anfallenden Küchenarbeiten.
„Wir werden sehen. Ich denke, über feine Strümpfe und Sonntagsschuhe reden wir noch einmal, wenn du aus der Schule kommst.“
Nach der Entlassungsfeier sollte Magdalena noch weit mehr in der Blauen Forelle aushelfen als bisher. Schade, dass sie dann nicht mehr zur Schule durfte. Sie lernte gerne und war froh, wenn nach den Feiertagen der Alltag wieder anfing. Dann musste Berta vormittags die dummen Kartoffeln schälen. Sie würde die Zeit bis Ostern genießen.
Als ob die Magd geahnt hätte, dass Magdalena gerade an sie dachte, trat das Mädchen durch die Tür zum Garten ein und stellte den Korb mit Eiern auf den Tisch, die sie den Hühnern aus ihren Verstecken stibitzt hatte. Lorenz folgte ihr auf den Fuß. Dieses Mal hatte er nicht vergessen, seine schmutzigen Stiefel mit sauberen Schnürschuhen zu tauschen. Einen Rüffel würde Magdalenas ältester Bruder von der Mutter demnach nicht einstecken müssen.
„Hast du noch einen Kaffee für mich, Mutter?“ Lorenz zog die Nase kraus und schnüffelte. „Außerdem habe ich Hunger.“
„Setz dich, mein Lieber.“
Lorenz tat wie ihm geheißen, nahm auf der Bank Platz und griff zur Zeitung des Vortags, die Berta oder eine der ältlichen Schwestern zu Vierecken zerschneiden würde. Ihre Mutter hastete zur Vorratskammer und der köstliche Duft von frischem Brot erfüllte die Küche. Nach dem Frühstück hatte sie sechzehn frisch gebackene Laibe aus dem Backofen im Keller herausgeholt und zum Abkühlen in das dafür vorgesehene Regal gestellt. Sie kehrte mit Brot und der Butterdose aus Keramik wieder.
„Habt ihr es schon gehört? Es soll Überflutungen in Hamburg geben und Berlin versinkt im Schnee“, warf der Bruder ein.
„Diese Meldung ist den Zeitungen eine Überschrift wert?“ Missbilligend schüttelte die Mutter den Kopf und schnitt eine dicke Scheibe von dem letzten der Laibe ab, die sie vorgestern gebacken hatte. Tja, wenn Lorenz etwas wünschte und ‚Hü’ sagte, sprang Annegret und machte hott. Die Mutter drapierte ihrem Liebling eine Schnitte auf einem Brettchen, butterte sie dick und füllte einen Henkelbecher mit Kaffee und Milch. Alles zusammen kredenzte sie dem Bruder, der das für selbstverständlich nahm.
„Na, hör mal, Berlin ist die Hauptstadt“, tadelte Lorenz die Mutter grinsend und biss ab. „Offensichtlich sind sie dort sonst nicht mit solchen Schneemengen gesegnet. Sogar ein Auto soll in den Massen versunken sein und einen Sturm hat es wohl auch gegeben.“
„Oh, haben sie eine Aufnahme von dem Wagen gebracht?“, fragte Magdalena, denn das wollte sie sehen. Das letzte Automobil war vor ein paar Wochen durch das Dorf getuckert und alle Kinder des Ortes, zumindest die schon auf eigenen Beinen laufen konnten, waren johlend hinterher gerannt.
„Nein.“ Lorenz strich mit den Fingern durch seine kurzen braunen Haare und zwirbelte seinen Schnauzbart zurecht, der im Gegensatz zu dem seines Bruders keinen Rotschimmer aufwies. „Sind Vater und Heiner immer noch nicht aus dem Keller zurück?“
„Nein“, antwortete Magdalena.
„Na ja, das Weinverköstigen dauert halt seine Zeit.“
„Wo de Jong recht hat …“, warf die älteste Ferber-Schwester schmunzelnd ein.
„… hat er recht“, ergänzte die jüngste.
„Sei nicht so vorlaut, du unnützer Bengel!“ Mutter stemmte die Fäuste in die Hüften. „Die sind nicht zu ihrem Vergnügen da unten. Sie prüfen die Temperatur und die Hefen.“
„Wegen dem kleinen Scherz brauchst du dich nicht so zu ereifern, Mutter. Es war doch nur ein Witz“, wiegelte Lorenz ab.
Eigentlich hatte der Vater ihn als Erbe für das Weingut vorgesehen, aber Öchslezahlen, Hefen, und Restzucker interessierten Magdalenas ältesten Bruder nicht. Er liebte sein Vieh, bestellte das Land und war Bauer mit Leib und Seele. Vom Aussehen her schlug er eindeutig nach seinem Vater. Wem Heiner ähnelte, war dagegen viel schwerer zu sagen.
Und Magdalena? Sie klagte nicht darüber, dass sie hinter den Brüdern zurückstehen musste. Zu klein und schmächtig. Für ein Mädchen nicht einmal besonders hübsch. Mit ihrer etwas kurzen Nase und dem runden Kindergesicht sah sie zum Glück nicht wie eine Vogelscheuche aus, aber ihre Beine kamen ihr wie Stelzen vor – viel zu dünn. Unzufrieden nagte sie an ihrer Unterlippe.
Von Lorenz hatte ein Maler, der im Gasthaus Rast gemacht hatte, gesagt, dass er den Kopf eines römischen Apoll habe. Ihren Bruder hatte er malen wollen. Magdalena nicht. Das sagte ja wohl alles, was es über ihr Aussehen zu berichten gab. Ihre großen grauen Augen waren vermutlich noch das Beste an ihr.
„Hat eine von euch es schon gehört?“, fragte Lorenz.
Alle Damen spitzten die Ohren.
„Wat denn?“, fragte Trudchen, die mittlere Ferber-Schwester, deren Haare nicht besonders kraus waren, dafür aber grau meliert.
„Lenchen, die Kartoffeln!“, tadelte die Mutter milde, sah aber Lorenz an. „Mach es nicht so spannend, worum geht es?“
Weiterreden konnte er nicht. Es klopfte laut an der Tür.