Kapitel 1
Kingsdowne Place, Eynsford, Kent
Montag, 9. Juli 1934
Liebes Tagebuch: Das Wetter ist schön, aber es gibt überhaupt nichts zu tun. Ich sterbe vor Langeweile.
Ich saß in einem weißen Korbsessel unter einem ausladenden Kastanienbaum auf einem gepflegten Rasen. Hinter mir spiegelten sich die stattlichen Zinnen von Kingsdowne Place, dem Sitz der Herzöge von Eynsford, in der makellosen Oberfläche des Sees, auf der nur ein Paar vorübergleitender Schwäne leichte Wellen schlugen. Vor mir stand ein Teetisch, der sich unter dem Gewicht von Etageren voller Gurken-Räucherlachs-Sandwiches, Erdbeeren mit Sahne, Eclairs, Victoria-Biskuitkuchen, Petit Fours und Scones mit Clotted Cream bog. Einen perfekteren Nachmittag hätte man sich nicht wünschen können. Es war einer jener seltenen Sommertage in England, an denen die einzigen Geräusche vom Summen der Bienen zwischen den Rosen, dem Brummen eines Rasenmähers in der Ferne und dem Aufprall eines Balls auf einem Schläger beim Kricketspiel unten im Dorf stammten.
Ich seufzte tief auf. Es war kein zufriedenes Seufzen, denn ich langweilte mich fürchterlich. Beinahe zur Königsfamilie zu gehören ist nicht immer ein Zuckerschlecken. Zum einen ist es nicht immer leicht, angesichts von königlichen Verwandten, wahnsinnigen Heiratskandidaten und Leichen die berühmte britische Fassung zu bewahren. Und den ganzen Tag nichts zu tun ist wahrlich keine leichte Aufgabe. Ich weiß, dass unser Müßiggang von den gewöhnlichen Menschen, die jeden Tag die Acht-Zwanzig nach Waterloo nehmen müssen, beneidet wird, aber um ehrlich zu sein besteht unser Leben die meiste Zeit darin, gegen die Langeweile anzukämpfen. Ich würde mich liebend gern nützlich machen. Außerdem würde ich liebend gern Geld verdienen. Aber zu meinem Leidwesen gibt es keine Arbeitsplätze für eine junge Frau, deren Ausbildung sie nur befähigt, mit einem Buch auf dem Kopf zu gehen und einem Bischof den richtigen Sitzplatz bei einer Dinnerparty zuzuweisen. Meine königlichen Verwandten wären nicht amüsiert gewesen, hätten sie erfahren, dass ich an der Kasse bei Woolworths arbeitete oder im Lyons Tee servierte. Und dank dieser schrecklichen Wirtschaftskrise fanden selbst hoch qualifizierte Menschen keine lohnenden Anstellungen.
Ich hätte meine Pflicht tun und irgendeine in die Jahre gekommene Dynastie fortführen sollen, indem ich einen schrulligen Prinzen vom Festland heiratete (und dabei riskierte, von Anarchisten hinterrücks ermordet zu werden). Bisher hatte ich es geschafft, allen schrulligen Prinzen, die mir vorgesetzt wurden, aus dem Weg zu gehen. Nicht, dass ihr glaubt, ich hätte etwas gegen die Ehe einzuwenden. Es gab da einen Heiratskandidaten, aber er war ebenso verarmt wie ich und kam nicht infrage. Eine höchst hoffnungslose Situation.
Und so blieb mir nur das, was alle jungen Ladys von meinem gesellschaftlichen Rang tun, bis sie einen Ehemann finden – ich zählte die ereignislosen Tage, die lediglich von Mahlzeiten unterbrochen wurden, unternahm ertüchtigende Spaziergänge im Grünen und genoss die Jagdausflüge, die aufregende Unterbrechungen des Alltags darstellten. Und da das englische Wetter für gewöhnlich verdammt regnerisch ist, verbrachte ich besonders viel Zeit damit, zu lesen, Briefe zu schreiben, zu puzzeln und die Stunden bis zur nächsten Mahlzeit zu zählen.
Einige Monate zuvor hatte ich geglaubt, dass sich das Blatt endlich zum Guten gewendet hätte, als ich gebeten wurde, den neu entdeckten Erben des Herzogs von Eynsford in die gehobene Gesellschaft einzuführen. Kingsdowne Place, der Sitz des Herzogs von Eynsford, bot alle Annehmlichkeiten, die ein Herrenhaus bieten sollte – eindrucksvolle Pracht und Eleganz, ein herrliches Anwesen, ein Stall voller erlesener Pferde und Mahlzeiten, die aus einem extravaganten Gang nach dem anderen bestanden. Auf Kingsdowne Place spürte man nicht das Geringste von der Wirtschaftskrise im Rest der Welt. Aber mein Aufenthalt war nicht wie erwartet verlaufen. Es hatte Intrigen und einen Mord gegeben und als die Normalität wieder eingekehrt war, war ich aus Pflichtbewusstsein geblieben, um der Herzoginwitwe Gesellschaft zu leisten. Auf Pflichtbewusstsein hatten mein Kindermädchen und meine Gouvernante immer gepocht. Es war mir eingetrichtert worden, seit ich laufen konnte. Die Rannochs schätzten Pflichtgefühl höher als Diademe. (Hätte ich Diademe besessen, hätte ich diese ehrlich gesagt vorgezogen.) Erwähnte ich bereits, dass ich Lady Georgiana Rannoch bin, die Cousine Seiner Majestät König George?
Ich gebe zu, dass die Anwesenheit von Darcy O’Mara, dem Mann, den ich eines Tages zu heiraten hoffte, meine Aufgabe angenehmer gestaltet hatte. Er war ebenfalls hiergeblieben, aber Darcy hielt sich nie lang am selben Ort auf. Er war durch und durch ein Abenteurer und stets auf geheimnisvollen Missionen in weit entfernten Teilen der Erde. Jedenfalls war er wieder abgereist, die jüngeren Mitglieder des Eynsford-Clans hatten sich in alle Winde zerstreut und ich war allein mit der Herzoginwitwe, ihren beiden wunderlichen Schwestern und mehreren Dutzend Bediensteten in dem großen Haus geblieben. Ich sehnte mich nach jugendlicher Gesellschaft und einem Tapetenwechsel, da eilte mir meine Mutter zu Hilfe.
Denjenigen unter euch, die meine Mutter nicht kennen, sei gesagt, dass ihr mütterlicher Instinkt nicht besonders ausgeprägt ist. Aber an diesem Nachmittag, als ich die Teestunde mit den drei wunderlichen Schwestern auf dem Rasen verbrachte, blieb die Teetasse der Herzoginwitwe Edwina auf halber Strecke zu ihrem Mund in der Luft schweben und sie sagte: „Das klingt wie ein Automobil, das die Einfahrt hinauffährt. Wie ungewöhnlich. Wer könnte das nur sein?“
„Wir erwarten niemanden, oder?“, fragte ihre Schwester Prinzessin Charlotte Orlovski und drehte sich auf ihrem Stuhl um, damit sie die Auffahrt besser überblicken konnte. „Mein geistiger Führer hat mich nicht vor einem Besucher gewarnt.“ (Prinzessin Orlovski war eine überzeugte Spiritistin.)
„Es ist an der Zeit, dass wir Gesellschaft bekommen“, meldete sich die dritte Schwester zu Wort, die einen Hang zur Frivolität hatte und den unpassenden Namen Virginia trug. „Seit alle fortgegangen sind, ist es so langweilig wie die Zeitung von gestern. Ich bin mir sicher, dass die arme junge Georgiana vor Langeweile und Frust beinahe umkommt. Mir geht es jedenfalls so.“
„Oh nein, natürlich nicht“, sagte ich hastig, was nicht der Wahrheit entsprach.
Das Geräusch des näherkommenden Wagens wurde lauter. Edwina setzte ihre Teetasse ab und nahm ihre Lorgnette hoch, um durch die Bäume zu spähen, als der schwarze Umriss eines Automobils auftauchte. Es war ein offener Sportwagen, niedrig und windschnittig, und er fuhr recht schnell.
Mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich ihn näherkommen sah. War es möglich, dass Darcy von seinen Auslandsmissionen zurückgekehrt war, um mich mitzunehmen?
Doch dann wurde mir klar, dass der Fahrer nicht Darcy sein konnte. Die Person war klein, trug keinen Hut und ihr blondes Haar wehte im Fahrtwind. Erst als die Fahrerin uns sah und der Wagen mit quietschenden Reifen auf dem hochspritzenden Kies anhielt, erkannte ich, wer sie war.
„Wer in aller Welt?“, setzte Edwina an.
„Es ist meine Mutter, Euer Gnaden“, sagte ich, als eine schlanke kleine Gestalt in knallroten Hosen und einem weißen Halteroberteil aus dem Wagen stieg. Sie trug eine große Sonnenbrille, die ihr halbes Gesicht verbarg, und ihr Haar saß perfekt, als könnte ihm der Fahrtwind nichts anhaben. Sie winkte, dann stakste sie uns auf Espadrilles mit hohen Plateauabsätzen entgegen.
„Da bist du ja, Georgie“, rief sie mit dieser Stimme, die Theaterbesucher auf der ganzen Welt verzaubert hatte. „Ich habe überall nach dir gesucht. Ich habe in Castle Rannoch angerufen, aber dein Bruder schien nicht zu wissen, wo du bist. Du warst nicht in dem Londoner Haus, wo ich dich vor ein paar Monaten zurückgelassen habe. Ich wollte schon die Hoffnung aufgeben, bis ich gestern Abend zufällig deine Freundin Belinda im Crockfords traf, wo sie mir erzählte, dass du bei den Eynsfords zu Gast bist.“ Sie war nun nähergekommen und überquerte vorsichtig den Rasen. Sie schien erst jetzt die drei älteren Ladys zu bemerken, die dasaßen und meine Mutter mit ihren auffälligen modernen Kleidern anstarrten. „Sehr erfreut“, sagte sie. „Tut mir leid, dass ich einfach so hereinplatze.“
Ich schritt eilig ein. „Euer Gnaden, darf ich Euch meine Mutter vorstellen, die frühere Duchess von Rannoch.“ Ich hielt es für klug, Mummy den einzigen akzeptablen Titel zu geben, den sie je besessen hatte. Eigentlich war das nicht gelogen. Sie war früher die Duchess von Rannoch gewesen. Allerdings war sie seither für sehr viele Männer sehr viele verschiedene Dinge gewesen. Möglicherweise wusste die Herzoginwitwe davon, aber ihre Manieren waren wie immer tadellos.
„Sehr erfreut“, sagte sie und streckte eine Hand aus. „Wie reizend, Georgianas Mutter endlich kennenzulernen. Obwohl ich glaube, dass wir uns vor vielen Jahren begegneten, als Ihr lieber Bertie noch lebte. Ich war die Gesellschafterin seiner Mutter, müssen Sie wissen. Er war ein so liebenswerter kleiner Junge, hatte so ein süßes Lächeln. Wie traurig, dass er so früh starb, genau wie meine eigenen Söhne. Man sollte seine Kinder nicht überleben.“
Meine Mutter, die vermutlich nichts vom Ableben der Eynsford-Söhne gehört hatte, hielt klugerweise den Mund.
„Setzen Sie sich doch und trinken Sie eine Tasse Tee“, sagte Edwina und wies das Dienstmädchen, das in der Nähe stand, mit einer Handbewegung an, eine weitere Tasse zu bringen. „Sie müssen Ihre Tochter natürlich vermisst haben. Und wenn Sie uns nur über Ihr Kommen informiert hätten, hätten wir ein angemessenes Zimmer für Sie vorbereiten können.“ Das kam einer Rüge am nächsten, soweit es die guten Manieren zuließen.
„Äußerst freundlich, aber ich habe nicht vor zu bleiben“, sagte Mummy, nahm die Teetasse entgegen und ließ sich in einen Korbstuhl sinken. „Ich bin nur gekommen, um Georgie aufzusammeln.“
„Um mich aufzusammeln?“
„Ja, Schätzchen. Wir beide machen eine Reise.“
„Eine Reise? Wohin?“
„Amerika“, sagte sie, als sei es nicht aufregender als eine Einkaufsexpedition nach London.
„Amerika?“, entfuhr es mir.
„Ja, Liebling, du weißt schon, dieses große Land mit den Wolkenkratzern und Cowboys.“ Sie schenkte den älteren Schwestern ein entnervtes Lächeln, das besagte, wie schwer von Begriff ihr einziges Kind war. „Warum holst du nicht dein Dienstmädchen, um deine Sachen zu packen, während ich mit diesen entzückenden Ladys Tee trinke?“ Sie bediente sich bereits an den Gurkensandwiches.
„Aber ich kann nicht einfach so abreisen, Mummy. Das wäre nicht schicklich. Ihre Gnaden haben eine äußerst schwierige Zeit durchgemacht. Ich kann sie nicht im Stich lassen, wenn sie mich brauchen.“ Doch noch während ich sprach, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf: „Amerika! Ich gehe mit meiner Mutter nach Amerika!“
Edwina streckte den Arm nach mir aus und tätschelte meine Hand. „Du warst mir ein wunderbarer Trost in meiner Stunde der Not, Georgiana. Ein herzensgutes Mädchen. Aber ich würde nicht im Traum daran denken, dich daran zu hindern, mit deiner Mama zu verreisen, vor allem nach Amerika. Transatlantische Überfahrten sind reizvoll und ein junges Ding wie du sollte etwas von der Welt sehen, anstatt hier oben mit drei alten Frauen festzusitzen. Du musst selbstverständlich abreisen.“
„Selbstverständlich muss sie das“, wiederholte Virginia. „New York ist eine so aufregende Stadt. Und man sagt, dass Cowboys vor Manneskraft geradezu strotzen. Tatsächlich fällt mir eine aufregende Episode mit einem Sattel und einer besonders großen Peitsche ein …“
Edwina räusperte sich. Virginias Sexleben übertraf wahrscheinlich sogar das meiner Mutter und sie hatte keine Scheu, jedes Detail lebhaft wiederzugeben.
„Georgiana, du rennst besser nach oben und packst“, sagte Edwina, „wenn deine liebe Mama wirklich darauf besteht, heute Abend abzureisen. Sind Sie sicher, dass Sie nicht über Nacht bleiben und am Morgen abreisen möchten?“
„Sehr freundlich von Euch, Euer Gnaden, aber ich fürchte nicht“, sagte Mummy. „Wir haben eine Überfahrt auf der Berengaria gesichert und sie sticht am Donnerstag von Southampton in See.“
„Die Berengaria.“ Virginia stieß ein eifersüchtiges Seufzen aus. „Sie nannten es das Millionärsschiff.“
„Das tun sie noch immer“, sagte Mummy. „Wer sonst kann sich heutzutage das Reisen leisten? Wie auch immer, sie sticht am Donnerstag in See und es gibt so viel zu tun, dass ich keine Minute entbehren kann. Nur zu, Schätzchen, auf mit dir.“ Sie warf einen Blick auf den Wagen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir dein Dienstmädchen und deinen Koffer unterbringen können. Hast du immer noch dieses scheußliche Mädchen, das aussieht wie ein Nilpferd?“
„Queenie? Ich fürchte, ja.“
„Sie wird niemals auf den Rücksitz passen, Schätzchen, und mit dem Gepäck erst recht nicht. Lass sie mit deinen Sachen im Zug anreisen. Brown’s Hotel natürlich. Ich würde nirgends anders absteigen.“
„Ah, Brown’s Hotel. Welch teure Erinnerungen.“ Dieses Mal war Prinzessin Charlotte diejenige, die ihren Schwestern einen wehmütigen Blick zuwarf.
„Also, geh schon.“ Mummy klatschte ungeduldig in die unbehandschuhten Hände.
„Wenn Ihr Euch sicher seid, Euer Gnaden?“ Ich sah zu Edwina.
„Lass deine Mutter nicht warten, Georgiana“, sagte Edwina. „Wir alten Ladys halten die Ohren steif, wie wir es immer getan haben.“
Ich setzte meine Teetasse ab und versuchte, mich elegant von meiner Sonnenliege zu erheben. Leider trat ich auf meinen Rock, wodurch mein graziöses Aufstehen zu einem Stolpern wurde, das beinahe den Teetisch umstieß. Ich richtete mich auf und ging mit roten Wangen und so viel Würde, wie ich aufbringen konnte, davon.
„Typisch Georgie. Immer ist sie eine wandelnde Katastrophe, fürchte ich“, hörte ich Mummy sagen, bevor ich außer Hörweite war. „Hat sie Euer Haus bereits zerlegt?“
Du liebes bisschen. Bisher hatte ich mich eigentlich ziemlich gut angestellt, nichts zerbrochen und keine älteren Ladys zu Fall gebracht. Aber leider hatte sie recht. Wenn ich nervös bin, neige ich zu Unfällen – wie das eine Mal, als ich bei meiner Debütantinnenvorstellung mit dem Absatz in meiner Schleppe hängen blieb und unter hoher Geschwindigkeit nach vorn in Richtung Ihrer Majestäten befördert wurde, anstatt rückwärts den Raum zu verlassen.
Als ich mein Schlafzimmer betrat, war von Queenie keine Spur zu sehen. Ich zog am Klingelzug neben dem Bett und wartete. Kein Dienstmädchen. Ich zog erneut daran und begann Kleider aus dem Schrank zu nehmen. Nach mehreren Minuten klopfte es an der Tür und Edie, das oberste Dienstmädchen, kam herein.
„Haben Sie geläutet, Mylady?“ Sie knickste.
„Nach meinem Dienstmädchen“, sagte ich. „Haben Sie sie kürzlich gesehen?“
„Sie war beim Tee“, sagte Edie. „Ich fürchte, ich habe sie seitdem nicht gesehen.“
„Dann lassen Sie sie bitte suchen. Ich brauche sie sofort.“
„Das werde ich, Mylady.“ Sie knickste und ging hinaus.
Warum konnte ich kein solches Dienstmädchen haben, dachte ich. Bereitwillig, effizient und eine wahre Freude im Umgang … Natürlich kannte ich die Antwort. Weil ich es mir nicht leisten konnte eines zu bezahlen. Queenie hatte einen Vorteil. Sie arbeitete beinahe umsonst, da sie wusste, dass keine Adlige, die ihre fünf Sinne beisammen hatte, sie einstellen würde. Die meiste Zeit war diese Situation von Vorteil für uns beide.
Ich hatte gerade den Inhalt der Kommode auf meinem Bett verteilt, als ich ein Geräusch wie von einer trampelnden Elefantenherde vernahm, die über den Flur auf mich zukam. Queenie platzte herein, rot angelaufen und zerzaust.
„Verdammich noch mal“, sagte sie und betrachtete den großen Kleiderberg auf meinem Bett. „Was zum Teufel geht hier vor sich?“
„Wir reisen ab“, sagte ich. „Mein Koffer muss hergebracht und meine Kleider eingepackt werden.“
„Wir reisen ab? Warum sollten Sie abreisen wollen?“, rief sie und stemmte die Hände in ihre ausladenden Hüften. „Seit Monaten haben wir mal wieder vernünftiges Essen.“
„Und wie ich sehe, hast du das sehr ausgenutzt“, gab ich zurück, da mir auffiel, dass ihre Uniform aus den Nähten zu platzen drohte. „Wo bist du gewesen? Ich habe zweimal geläutet.“
„Nun, ich hatte heute beim Tee drei Stücke Mohnkuchen und fühlte mich hinterher ein bisschen schläfrig, also ging ich auf mein Zimmer, um ein kleines Nickerchen zu machen, und bevor ich mich versah, schlief ich tief und fest“, sagte sie. „Wohin reisen wir überhaupt? Nicht zurück zu diesem grauenvollen Schloss in Schottland?“
„Queenie, wie ich dir bereits gesagt habe, solltest du deine Arbeitgeber oder deren Familie nicht kritisieren. Du solltest froh sein, in diesen schweren Zeiten eine Arbeit zu haben.“
„Oh, ich hab’ nichts gegen Sie, Miss“, sagte sie. „Aber gegen die, die in Schottland in diesem Schloss lebt. Die verflixte Duchess. Sie mag mich nich’, was? Hält mich für zu bürgerlich.“
„Nun, das bist du auch. Du hast gesehen, wie sich die anderen Dienstmädchen verhalten, nicht wahr? Du hast noch nicht einmal gelernt, mich mit meinem richtigen Titel anzusprechen.“
Sie seufzte. „Ich weiß, ich sollte Sie ‚Mylady‘ nennen, aber das klingt furchtbar hochnäsig, wenn Sie mich fragen. Und Sie sind so nett und normal und freundlich, dass Sie mir eher wie eine gewöhnliche Miss vorkommen.“
„Queenie, die Gesellschaft verlangt, dass man eine Adlige auf korrekte Weise anspricht. Meine Cousine Elizabeth ist ein liebes kleines Mädchen, aber man muss sie dennoch mit ‚Eure Königliche Hoheit‘ ansprechen. Jetzt beeil dich bitte. Meine Mutter wartet.“
„Ihre Mum? Wir verreisen mit Ihrer Mum? Na, dann ist es in Ordnung. Sie wird sichergehen, dass wir was Ordentliches zu essen bekommen. Wohin fahren wir? Zurück nach London?“
„Nein, wir fahren nach Amerika.“
„Verdammt und zugenäht“, sagte sie.
Kapitel 2
Im Brown’s Hotel, London
9. Juli
Eine Stunde später rasten Mummy und ich über die Landstraßen von Kent Richtung London. Queenie und mein Koffer waren unter viel Murren ihrerseits in den Geländewagen verfrachtet worden, der sie zum Bahnhof bringen sollte. Was, wenn sie einschlief und ihren Halt verpasste? Was, wenn ein Fremder sich Zutritt zu ihrem Abteil verschaffte und sie anpöbelte? Und wie würde sie mit all dem Gepäck zurechtkommen? Ich erklärte ihr, dass die Zugfahrt an der Victoria Station endete und sie ein Frauenabteil aufsuchen sollte. Wenn sie ankam, musste sie lediglich einen Gepäckträger rufen, der sie zu einem Taxi bringen würde. Als ich sie zuletzt gesehen hatte, war sie auf dem Weg zum nächsten Bahnhof gewesen und ich konnte nur hoffen, dass sie schließlich im Brown’s Hotel eintreffen würde.
„Was in aller Welt hast du bei diesen schrecklich langweiligen alten Frauen getrieben?“, fragte Mummy, als wir durch das eindrucksvolle Tor hinaus auf eine Landstraße fuhren.
„Der Herzoginwitwe Gesellschaft geleistet. Weißt du, sie hat eine aufwühlende Zeit hinter sich. Du hast in Deutschland wahrscheinlich nichts davon mitbekommen.“
„Oh, jetzt, da du es erwähnst, glaube ich, dass ich etwas davon gehört habe. Irgendetwas mit dem Erben, nicht wahr?“
„Genau. Es war alles wirklich furchtbar.“
„Nun, in diesem Fall bin ich froh, dass ich dich von hier forthole. Da, wo wir hingehen, werden wir uns mehr amüsieren.“
„Wohin genau fahren wir? Und warum nimmst du mich mit?“
„Schätzchen, das ist offensichtlich. Ich wollte nicht allein reisen. Als Frau fühlt man sich so verletzlich und diese Amerikaner können wild und gefährlich sein.“
Es gab auf der ganzen Welt niemanden, der besser auf sich aufpassen konnte als meine Mutter. Sie sah vielleicht zart und zerbrechlich aus, aber sie stammte von waschechten Cockneys ab und war so zäh wie Leder. Auf der Bühne war sie Hauptdarstellerin gewesen, bevor sie meinen Vater, den Enkel von Königin Victoria, kennengelernt und geheiratet hatte. Sie hatte beschlossen, ihre bescheidene Herkunft zu vergessen. Duchess zu sein hatte ihr gut gefallen und sie wäre wahrscheinlich länger eine geblieben, wenn es nicht bedeutet hätte, auf Castle Rannoch zu leben. Ich betrachtete ihr Mienenspiel. Sie gab nun vor, eine schwache und hilflose Frau zu sein – und das wie immer sehr überzeugend. Ich musste lachen. „Es gibt keine Cowboys und Indianer mehr, weißt du.“
„Aber viele Gangster“, sagte sie. „Al Capone zum Beispiel. Ich dachte, es würde dir gefallen und du würdest gern Zeit mit deiner Mutter verbringen.“
„Das tut es und das würde ich gern“, sagte ich. „Es kommt nur ziemlich überraschend. Aber bei unserer letzten Begegnung hast du mich in London den Kochkünsten dieser schrecklichen Frau ausgeliefert und bist mit Max an den Luganer See gefahren. Hast du endlich mit ihm Schluss gemacht?“
„Au contraire, Schätzchen“, sagte sie. „Max besteht darauf, das Ehrenhafte zu tun und zu heiraten. Im Grunde genommen ist er ein Puritaner.“
„Aber wenn ich mich recht erinnere, bist du noch mit einem anderen verheiratet?“
Ich sollte außerdem erwähnen, dass meine Mutter einen Mann nach dem anderen sitzengelassen und sich bereits durch viele Männer auf allen Kontinenten mit Ausnahme der Antarktis gearbeitet hatte.
„Ist er nicht ein texanischer Ölunternehmer?“, fuhr ich fort. „Und hat er sich nicht geweigert, dir eine Scheidung zu erlauben?“
„Woher hätte ich wissen sollen, dass er merkwürdige religiöse Anwandlungen hatte?“, sagte sie gereizt. „Als ich ihn in den Zwanzigern in Paris traf, machte er einen recht freimütigen und lässigen Eindruck, erfrischend naiv und lächerlich reich. Erst nachdem ich ihn geheiratet hatte, stellte ich fest, dass er keinen Alkohol trank und allen Ernstes von mir erwartete, auf einer Ranch in Texas zu leben.“ Sie drehte sich mit entsetzter Miene zu mir um. „Eine Ranch, Liebling. In Texas. Moi? Kannst du dir das vorstellen? All diese Kühe und Ölquellen. Castle Rannoch war bereits schlimm, aber wenigstens konnte man sich regelmäßig Pakete mit Leckereien von Fortnum’s schicken lassen.“
„Fahren wir deshalb nach Amerika? Willst du ihn bitten, dich aus der Ehe zu entlassen?“, fragte ich. „Oder ist er praktischerweise verstorben?“
„Weder noch“, sagte sie. „Aber ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, ihn zu umgehen. Mir wurde gesagt, dass man in Reno, Nevada, wo alles möglich ist, eine schnelle Scheidung bekommen kann.“
„Aber wenn er sich in Texas nicht von dir scheiden lassen wollte, warum sollte er in Nevada damit einverstanden sein?“ Ich schrie beinahe, um das Dröhnen des Motors zu übertönen, da wir nun die London Road erreicht hatten und Mummy aufs Gaspedal drückte.
„Seine Zustimmung ist nicht nötig. Unter gewissen Umständen muss die andere Partei nicht anwesend sein.“
„Allmächtiger. Ist das legal?“
„In Nevada ist es vollkommen legal, wenn man meiner Quelle Glauben schenken darf. Also dachte ich, wir machen zusammen eine nette kleine Reise nach Reno. Du wirst die Überfahrt auf der Berengaria genießen, nicht wahr? Und eine Zugfahrt durch Amerika?“
„Allmächtiger, ja“, sagte ich.
Sie wandte sich mir stirnrunzelnd zu. „Du musst lernen, auf solche schulmädchenhaften Ausdrücke zu verzichten, wenn du je eine Frau von Welt werden möchtest.“
„Tut mir leid“, sagte ich. „Sie rutschen mir in stressigen Momenten einfach heraus.“ Ich räusperte mich. „Danke für deine großzügige Einladung. Es klingt himmlisch.“
„Ausgezeichnet.“ Sie warf mir ein seltenes aufmunterndes Grinsen zu. Ein verschwörerisches Grinsen. „Jetzt haben wir nur zwei Tage, um dich aufzudonnern. Du kannst dich nicht einfach in einem Baumwollkittel wie diesem auf der Berengaria blicken lassen. Du siehst wie eine Waise aus einer Erziehungsanstalt aus.“
„Das liegt daran, dass ich ihn seit meinen Schulmädchentagen besitze“, sagte ich. „Wenn man kein Geld hat, kauft man keine Kleider.“
„Du musst dir wirklich einen reichen Mann suchen, Schätzchen. Ich weiß, dass Darcy ein wahrer Leckerbissen ist, und ich bin mir sicher, dass er im Bett wundervoll ist, aber er ist kein passendes Heiratsmaterial, oder? Er wird nie für einen angemessenen Unterhalt sorgen können.“
„Ich würde lieber mit Darcy in Armut leben als mit einem reichen Mann, den ich nicht liebe“, sagte ich leidenschaftlich.
Sie lächelte. „So jung. So romantisch. Du wirst es lernen. Und wenn du klug bist, schnappst du dir auf dem Schiff einen amerikanischen Millionär.“
„Gibt es heutzutage Millionäre in Amerika?“, sagte ich und lächelte über die Absurdität ihres Vorschlags.
„Natürlich gibt es welche. Leb ein Jahr mit ihm zusammen, lass dich wieder scheiden und du hast für den Rest deines Lebens ausgesorgt.“
„So wie du es getan hast, meinst du? Um dann bei dem Versuch, mich von ihm scheiden zu lassen, den ganzen Ärger zu haben? Das ist nichts für mich, danke“, sagte ich.
„Du bist genau wie mein Vater“, sagte Mummy und runzelte die Stirn. „So verdammt stolz und ehrenhaft.“
„Du warst bei Großvater?“ Mein Herz hüpfte bei der Erwähnung des Mannes, den ich fast so sehr liebte wie Darcy. Der Vater meiner Mutter war ein pensionierter Londoner Bobby, der jetzt in einem Reihenhaus in Essex lebte, das Mummy ihm auf dem ersten Höhepunkt ihres Ruhms gekauft hatte.
„Das war ich, und er nimmt keinen einzigen Penny von mir an. Er behauptet, es sei deutsches Geld, und er würde den Deutschen den Großen Krieg niemals verzeihen.“ Ich hatte ihn dasselbe sagen hören.
„Wie geht es ihm?“, fragte ich und verspürte eine Welle der Sehnsucht nach meinem Großvater.
„Ehrlich gesagt nicht so gut. Ich bot ihm an, uns nach Amerika zu begleiten, da ich dachte, eine Seereise würde ihm guttun, aber er lehnte ab.“
„Ich muss ihn besuchen, bevor wir auslaufen“, sagte ich. „Wie lange, glaubst du, werden wir weg sein?“
„Nicht allzu lange, hoffe ich. Ein paar Tage in New York - immerhin haben sie Alkohol wieder legalisiert. Diese Flüsterkneipen waren so langweilig. Und dann eine Zugfahrt quer durchs Land nach Reno. Hoffen wir, dass wir innerhalb eines Monats alles geregelt haben und zurück sind. Max schmachtet so, wenn ich ihn zu lange allein lasse.“
Ich drehte mich um und sah sie an. „Willst du Max wirklich heiraten und in Deutschland leben?“
„Liebling, er ist reicher als Gott, und der Sex ist himmlisch. Er ist wie ein zügelloser Zuchtbulle und will es mehrmals pro Nacht.“
Ich fühlte, wie mein Gesicht bei der Erwähnung solcher Dinge knallrot anlief, da ich bislang ein behütetes Leben geführt hatte.
„Aber du sprichst kein Deutsch und magst kein deutsches Essen.“
Sie zuckte die Achseln. „Ich kann es, wenn nötig, ein oder zwei Wochen in Berlin aushalten. Es ist eigentlich recht zivilisiert, vorausgesetzt dieser fiese kleine Hitler hält nicht mehr lange durch. Außerdem hat mir Max die Villa in Lugano gekauft, als er merkte, dass ich sie ins Herz geschlossen hatte. Jetzt habe ich also einen Rückzugsort in der Schweiz. Er ist so großzügig. Vielleicht lerne ich eines Tages sogar, mich mit ihm zu unterhalten. Ich habe versprochen, Deutschunterricht zu nehmen.“
„Das wird Großvater nicht gefallen“, sagte ich.
„Dann muss er sich damit abfinden“, antwortete sie mit echter Cockney-Attitüde.
***
Das Brown’s Hotel bereitete Mummy die Art Empfang, die sie gewohnt war.
„Willkommen zurück, Euer Gnaden“, sagte der Portier.
„Willkommen zurück, Euer Gnaden“, sagte der hochmütige junge Mann hinter der Rezeption und verbeugte sich vor ihr. „Champagner auf Eis steht für Euch bereit.“
Ich folgte Mummy die Treppe hinauf und fühlte mich in meinem inzwischen verknitterten Baumwollkleid furchtbar unsicher. Sie hatte ein bezauberndes Zimmer mit Fenstertüren im ersten Stock, die die Albemarle Street überblickten. Ich hatte mich gefragt, warum sie immer das Brown’s wählte anstatt des Ritz oder des Claridge’s, aber nun verstand ich, warum sie hier abstieg. Hier vergaß man bequemerweise, dass sie nicht länger „Euer Gnaden“ war, sondern Mrs Homer Clegg, wenn ich mich recht erinnerte. Und bald würde sie Frau von Strohheim sein. Ich fragte mich, wie das Brown’s damit umgehen würde.
Ich hatte ein kleines, aber charmantes Zimmer bekommen, das nicht zur Straße hinausging. Mir fiel gerade auf, dass ich keine Kleider hatte, die ich zum Dinner anziehen konnte, als Queenie schnaufend und mit erhitztem Gesicht ankam.
„Irgendein Kerl bringt Ihren Koffer hoch“, sagte sie. „War eine verdammt unangenehme Angelegenheit, das vermaledeite Ding selbst aus dem Zug zu schaffen. Meinen Sie, ich hätte einen verfluchten Gepäckträger auftreiben können? Nein, das konnte ich verflucht noch mal nich’. Musste den Wachmann beim Gepäck lassen und nach einem suchen. ‚Lassen Sie das bloß nich’ jemanden stehlen‘, hab’ ich ihm gesagt und der unverschämte Kerl wollte ein Trinkgeld, als ich zurückkam. Eine Frechheit. ‚Lassen Sie sich gesagt sein, dass diese Taschen einer gehören, die ist die Cousine des Königs‘, hab’ ich ihm gesagt. ‚Sie sollten sich geehrt fühlen, auf sie aufpassen zu dürfen‘.“
„Queenie, bitte beeil dich mit dem Auspacken“, unterbrach ich ihren Redefluss. „Ich muss bald zum Dinner und habe nichts anzuziehen.“
„Und wo soll ich dann mein Dinner essen?“, fragte sie, öffnete den Koffer und warf Kleidungsstücke auf das Bett. „Ich hab’ einen Mordshunger nach all der Rennerei.“
„Ich werde Mummy fragen, wo die Bediensteten zu Abend essen“, sagte ich. „Ich denke, ich ziehe das rote Kleid an. Wir haben auf Kingsdowne zu lang Trauer getragen. Ich brauche eine Aufmunterung.“
Als ich das sagte, wurde mir klar, dass sich meine Laune besserte. Morgen ein Einkaufsbummel mit Mummy und dann ein Luxusdampfer über den Atlantik. Was konnte sich ein Mädchen noch wünschen?