KAPITEL 1
„Sachertorte am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen!“
(Samantha Sauer, Privatdetektivin, Spezialgebiet untreue Ehemänner)
„Erwin ist kein Kind von Traurigkeit. Ich bin bereits seine dritte Ehefrau und siebenundzwanzig Jahre jünger als er. Aber hält ihn das davon ab, mich zu betrügen? Nein! Er ist und bleibt ein Windhund. Ein notorischer Jäger und Sammler!“
Lena Buchsbaums Stimme klirrt kalt und eine ganze Nuance zu laut durch das geschichtsträchtige Café Mozart, und die Dame am Nebentisch mit den weißen Pudellöckchen, die eben noch genussvoll ihren Apfelstrudel verputzt hat, mustert uns sichtlich pikiert.
Verlegen zeichne ich mit dem Löffel Muster in meine cremige Melange.
Ich hasse es, Aufsehen zu erregen, noch dazu in meinem geliebten Stammcafé im Herzen der Wiener Innenstadt.
„Ich verstehe ja, dass Sie aufgebracht sind, aber …“, werfe ich mit gedämpfter, hoffentlich deeskalierender Stimme ein.
„Wissen Sie, Frau Sauer, ich habe in den letzten Jahren bei Erwins kleinen Seitensprüngen immer ein Auge, ach was sage ich, beide Augen zugedrückt. Was nicht immer leicht war“, fällt mir Lena Buchsbaum ins Wort.
Zum Glück spricht sie nun eine Spur leiser.
Mitfühlend nicke ich ihr kurz zu. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie weh ein Betrug tun kann, und in ihrem speziellen Fall dürfte das ja auch keine einmalige Sache gewesen sein, sondern vielmehr an der Tagesordnung liegen.
Ich seufze leise. Da bin ich doch lieber Teilzeit-Single, oder wie auch immer man meinen aktuellen Beziehungsstatus nennen mag. Mit aller Kraft schüttele ich den Gedanken an meine eigene verkorkste Beziehung ab und versuche, mich wieder auf das Gespräch und meine potenzielle neue Klientin zu konzentrieren.
„Das tut mir leid, Frau Buchsbaum“, setze ich an und sehe halb beeindruckt, halb geschockt dabei zu, wie Lena ihr Weinglas an die etwas entenschnabeligen Lippen setzt und es mit einem kräftigen Schluck zur Hälfte leert.
Trinkfest scheint das zierliche Persönchen zu sein.
„Was soll ich sagen? Ich bin Kummer gewöhnt, doch diesmal ist die Lage ernst.“ Ihr Blick huscht flatternd durch das Café, während sie weiterspricht: „Mein Mann scheint eine feste Freundin zu haben. Seit drei Monaten verweigert er jede körperliche Interaktion, und dass bei seinem noch immer beachtlichen Hormonstatus. Sie verstehen, Frau Sauer?“
Sie richtet ihre Augen fragend auf mich.
„Ich verstehe, Sie brauchen nicht weiterzureden“, presse ich hervor und nicke bekräftigend.
Immer wieder versuchen mir meine Klientinnen, schmutzige Details zu erzählen, die ich nicht hören will. Das tut nichts zur Sache und keinesfalls wünsche ich mir noch detailliertere Informationen zu Erwin Buchsbaums hohen Testosteronwerten oder seinen speziellen Vorlieben. Die Tatsache, dass er möglicherweise fremdgeht, reicht mir als Basisinformation, damit kann ich arbeiten.
„Haben Sie noch weitere Anhaltspunkte? Verhält er sich anders als sonst, kommt er später nach Hause?“, insistiere ich und lenke das Gespräch geschickt in geordnete Bahnen.
„Das Seltsamste an Erwins Verhalten, außer seinem körperlichen Desinteresse, ist, dass er einmal in der Woche wie vom Erdboden verschluckt ist. Genauer gesagt jeden Donnerstag ab Punkt siebzehn Uhr bis weit in die Morgenstunden. Er hebt nicht am Handy ab und niemand weiß, wo er ist. Nicht mal seine Sekretärin, die seit über vierzig Jahren für die Familie arbeitet und Erwins Termine koordiniert, hat eine Ahnung, wo er sich jeden Donnerstag herumtreibt. Seit drei Monaten! Da ist bestimmt eine andere Frau im Spiel.“ Sie seufzt schwer.
„Und das ist nicht gut, gar nicht gut.“
Lenas Stimme ist nur noch ein Flüstern und sie sackt in sich zusammen, als wäre mit einem Schlag alles Leben aus ihr gewichen.
„Ich verstehe Ihre Sorge, auch wenn es für seine Abwesenheit einen ganz harmlosen Grund geben kann“, werfe ich ein, obwohl ich selbst nicht daran glaube, dass Erwin Buchsbaum jeden Donnerstag von siebzehn Uhr bis Mitternacht töpfert, Karaoke singt, joggt oder sonst einem anderen Hobby nachgeht.
Tröstend will ich nach ihrer feingliedrigen, blassen Hand mit dem riesigen Diamantring tasten, als plötzlich wieder Leben in Lena kommt.
Sie beugt sich über den Tisch und zischt mir zu: „Ich habe nämlich einen Ehevertrag! Verstehen Sie, Frau Sauer? Im Falle einer Scheidung bekomme ich nichts! Niente! Nada!“
Aha, daher weht also der Wind.
Die mögliche Aussicht, bald von Erwin Buchsbaums Vermögen geschieden zu sein, scheint Lena wirklich nahezugehen.
Mit einem finalen, kräftigen Zug leert Lena Buchsbaum das Glas und stellt es mit lautem Klirren auf dem grauen Marmortisch zwischen uns ab, was ihr ein Stirnrunzeln der beiden Männer am Nebentisch einbringt, die bis eben in eine rege Unterhaltung vertieft waren.
Ungeduldig bedeutet sie dem Kellner mit einem Winken, ihr Nachschub zu bringen.
Verstohlen werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Es ist erst elf Uhr, sollte sie nicht etwas langsamer machen?
„Ein Vögelchen in meiner Yoga-Gruppe hat mir gezwitschert, dass Sie als Privatdetektivin eine hohe Erfolgsquote haben und hat mir Ihre Visitenkarte gegeben. Wie sieht es aus, Frau Sauer, wollen Sie meinen Fall übernehmen und herausfinden, wo mein Göttergatte sich jeden Donnerstag ab siebzehn Uhr aufhält?“ Lenas Blick aus rauchgrauen Augen ist unangenehm stechend, fast hypnotisch, und unmittelbar spüre ich, wie sich meine Nackenmuskeln angstvoll verspannen.
In Gedanken mache ich mir eine Notiz, heute Abend mit dem Singvögelchen ein ernstes Wort zu reden. Endlich habe ich den Beweis, dass meine Mutter ungefragt Neukundinnen für mich in ihrer Yoga-Gruppe akquiriert.
„Bei meiner morgigen Vernissage könnten Sie unauffällig einen ersten Blick auf Erwin werfen. Bitte kommen Sie! Ich muss herausfinden, mit wem er mich betrügt, um Schlimmeres zu verhindern. Sie sollen laut meiner Quelle der beste Spürhund in Sachen untreue Ehemänner sein.“ Lenas Stimme ist schmeichelnd, fast flehend.
Fahrig zieht sie aus ihrer moosgrünen kastenförmigen Hermès-Tasche mit der auffälligen Kroko-Prägung, die bestimmt mehr kostet, als ich in einem halben Jahr verdiene, einen farbenfrohen Flyer und legt ihn vor mir auf den Tisch.
„Wiener Wut – ein Bilderzyklus von Lena Lotte Buchsbaum“, lese ich.
Aufmerksam betrachte ich die neonbunten Klecksbilder, die laut erklärendem Kurztext, die wütende Ohnmacht der Künstlerin über die industrielle Zerstörung der Umwelt ausdrücken sollen. Ein wichtiges Thema natürlich, auch wenn ich glaube, dass Lenas Wut einen ganz anderen Ursprung hat.
Und plötzlich habe ich ein Déjà-vu.
Lena Buchsbaums Bilder erinnern mich frappant an die ersten, wie ich bis gerade eben dachte, talentbefreiten Malversuche meiner Tochter Lisa aus der Kindergartenzeit.
Ein leichter Schauder läuft über meinen Rücken.
Was wenn ich vor vielen Jahren wertvolles Kulturgut in der schnöden Altpapiertonne entsorgt habe?
Oder was noch viel schlimmer wäre: Ein kleines Vermögen?
Wiener Wut, darauf muss man erst mal kommen! Aber wie sagt meine Freundin Cosima immer? Alles ist Marketing. Und recht hat sie. Mit einer knackigen Story kann man wohl wirklich jeden Schrott verkaufen. Sogar hässliche neonfarbene Bilder.
„Frau Sauer? Darf ich also morgen Abend mit Ihnen rechnen?“ Lenas Stimme knarzt wie Fingernägel auf einer Schiefertafel durch meine Gedanken.
Ich halte mich für einen sehr empathischen Menschen und die Schicksale meiner Klientinnen gehen mir normalerweise nahe, aber Lena Buchsbaum macht es mir wirklich schwer, Mitgefühl für ihre missliche Lage zu entwickeln.
Ihr scheint es wirklich nur ums Geld zu gehen.
Ich ringe mir ein, wie ich hoffe, professionelles Lächeln ab und ziehe meine Mundwinkel fest nach oben, wie ich es vor meinem Schlafzimmerspiegel trainiert habe.
„Sehr gern. Ich werde Erwin morgen unauffällig, wie es in der Fachsprache heißt, kurz-observieren“, sage ich und nicke gewichtig.
Klingt doch allemal besser, als zu sagen: „Na gut, dann sehe ich mir morgen mal eben Ihr fremdgehendes Frettchen von Ehemann bei einem Gläschen Prosecco live und in Farbe an.“
„Und dann können wir im Anschluss alle weiteren Details unserer Zusammenarbeit besprechen. Ich freue mich“, setze ich einen obendrauf und ziehe meine Mundwinkel mit aller Konzentration so weit nach oben, dass mein Gesicht schmerzt.
Ich habe die Sätze kaum ausgesprochen, als mein Magen laut und vernehmlich protestiert und wie ein hungriger Wolf knurrt.
Lena Buchsbaum zuckt erschrocken zusammen und betrachtet mich halb angeekelt, halb fasziniert. Beruhigend lege ich eine Hand auf meinen Bauch. Leider meldet sich mich mein Magen immer lautstark zu Wort, wenn ich lüge.
Meine Mutter nennt das Donnergrollen meiner Eingeweide immer „Samantha Sauers Stimme der Wahrheit“, und meint, dass ich wirklich stolz sein kann, dass mein Magen mit mir spricht.
Gerade eben aber wünschte ich nur, mein Bauch würde die Klappe halten. Lena schaut nämlich ziemlich pikiert wegen meiner rumorenden Eingeweide. Bestimmt hat die Frau, die so kerzengerade vor mir sitzt, ihre Köperfunktionen immer unter Kontrolle.
„Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken, ich hatte heute noch kein Frühstück. Ich bin auf Diät. Ich faste nach Intervallart, ich darf bis Mittag nichts essen“, versuche ich mich in einer weiteren Notlüge, lege rasch die zweite Hand auf meinen gegen Lena protestierenden Magen und atme tief in den Bauch hinein und lasse die Luft dreimal so lange wieder hinausströmen.
Ganz so, wie es mir mein guter Freund Toni, seines Zeichens Barkeeper in der Skybar, beigebracht hat, als ich eines Abends nach meiner emotionalen Scheidung einen heftigen Weinkrampf und nicht enden wollenden Schluckauf an seiner Theke bekommen habe.
Ich wiederhole das Ganze noch ein paar Mal und wie immer klappt es und mein Magen beruhigt sich nach wenigen Atemzügen.
Lena räuspert sich laut und ich gebe mir einen Ruck. Als Mutter einer kleidungstechnisch immer markenaffiner werdenden Teenager-Tochter kann ich mir den Luxus, eine zahlungskräftige Klientin abzulehnen, nicht leisten.
Auch wenn mir die attraktive Frau, deren versteinertes Gesicht keinerlei Gefühlsregung verrät, alles andere als sympathisch ist.
Was soll’s, ich bin alleinerziehend und brauche das Geld.
„Ich komme morgen zu Ihrer Vernissage, Frau Buchsbaum. Ich würde aber gern eine Begleitung mitnehmen, ich nehme an, das ist möglich“, sage ich entschlossener, als mir zumute ist.
Die linke Augenbraue von Lena Buchsbaum versucht, fragend nach oben zu schnellen, was dank Botox kläglich misslingt und sehr seltsam aussieht, weil sich ihre Stirn keinen Millimeter bewegt und stattdessen nur ihr linkes Auge etwas hervorquillt.
Mit aller Kraft unterdrücke ich das aufkeimende Lachen, huste zur Ablenkung in die Serviette und beschließe einmal mehr, in Würde zu altern.
„Ich dachte, Privatdetektivinnen gehen stets allein auf die Pirsch? Ermitteln Sie immer zu zweit in Sachen untreue Ehemänner, Frau Sauer?“ Lena tippt mit ihren farblich zum Wein passenden rubinroten Fingernägeln ungeduldig auf die Tischplatte.
„Wenn es meiner Tarnung dient, nehme ich zu meinen Observierungen manchmal eine gute Freundin mit. Üblicherweise ermittle ich nachts in Bars oder Hotellobbys, da ist eine allein herumsitzende Frau ziemlich auffällig“, informiere ich sie.
Oder wird selbst mit unsittlichen Angeboten überhäuft, was mir nicht nur einmal passiert ist. Ich schüttele mich innerlich.
„Verstehe“, schnarrt Lena Buchsbaum. „Sie können natürlich gern jemand mitnehmen, für diese zweite Person zahle ich aber keinen Cent.“
Reich und knausrig. Das kenne ich leider zur Genüge.
„Selbstverständlich bezahlen Sie nur mich, Frau Buchsbaum“, versichere ich ihr und bete, dass mein Magen ruhig bleibt.
Ich verrechne immer eine Pauschale und in Lena Buchsbaums Fall habe ich spontan beschlossen, genug Spielraum für Schmerzensgeld einzukalkulieren.
Lena scheint mit meiner Antwort zufrieden zu sein. Und ich bin froh, dass ich die Wiener A und B Promis, die sich gern auf den Feiern der reichen Unternehmerfamilie Buchsbaum tummeln, die neben dem Café Mozart und dem Café Landtmann noch ein weiteres Kaffeehaus in Salzburg und eine Kaffeerösterei am Wiener Stadtrand besitzt, nicht allein verkraften muss.
„Sehr gut, Frau Sauer, dann sehen wir uns also morgen um achtzehn Uhr. Ich setze Sie gleich auf die Gästeliste. Sie und Ihre Begleitperson.“ Lena Buchsbaum richtet wieder ihren durchdringenden Blick auf mich. „Welche weitere Person darf ich denn nun als Ihre Begleitung morgen eintragen, Frau Sauer?“
„Gräfin Cosima von Waldenstein“, sage ich scheinbar beiläufig und wie immer fällt die Reaktion entsprechend aus.
Lenas blasse Wangen überzieht eine plötzlich aufflammende, hektische Röte und sie mustert mich, als sehe sie mich zum ersten Mal.
Wäre ich ein Kunstwerk hätte ich meinen Schätzwert durch die Nennung meiner adeligen Begleitung in der letzten Minute verdoppelt.
„Eine echte Gräfin, auf meiner Vernissage!“ Lenas Augen glitzern und ein verhaltenes Strahlen geht über ihr Gesicht.
Laut dem österreichischen Adelsaufhebungsgesetz darf sich Cosima nicht mehr offiziell Gräfin nennen und muss das von weglassen, aber für viele Österreicher ist auch über einhundert Jahre nach dem Ende der Monarchie in Österreich nichts so attraktiv wie eine adelige Abstammung.
„Hat Frau von Waldenstein nicht auch eine kleine Kunstgalerie hier im Ersten? Vielleicht will sie mich ja ausstellen?“
Ich zucke bewusst vage mit den Schultern, ich will Lena nicht zu viel Hoffnung machen. Cosimas Fokus liegt zwar auf moderner Kunst und der Förderung von talentierten, aufstrebenden Künstlerinnen und Künstlern, aber ob ihr Lenas Bilder gefallen würden?
Ich werfe nochmals einen prüfenden Blick auf den Flyer vor mir und schüttele innerlich den Kopf. Auch wenn ich nicht, wie Cosima, Kunstgeschichte studiert habe oder eine Fachfrau für modernde Kunst bin, so fresse ich einen Besen, wenn sie die seltsam anmutenden Klecksbilder von Lena Lotte Buchsbaum ausstellt.
Doch die Kaffeehausbesitzergattin sieht ihre Chancen wohl ganz anders. Vergessen scheint der Gedanke an ihren untreuen Ehemann, und ihre gefährliche Nebenbuhlerin zu sein. Die zarte Chance, eines Tages ihre bunten Bilder nicht nur dank dem Wohlwollen ihres Mannes in dessen Kaffeehäusern zu präsentieren, sondern eines Tages vielleicht in einer echten Galerie ausstellen zu können, wirkt wie ein extra starkes Aufputschmittel auf Lena Buchsbaum.
Hektisch winkt sie Kellner Franz zu und informiert ihn, dass meine Konsumation aufs Haus geht und steckt ihm einen Fünf Euro Schein als Trinkgeld zu, was ihn kurz aus dem Takt zu bringen scheint.
„Vielen Dank für Ihre Zeit, Frau Sauer.“ In einer fließenden Bewegung schlüpft sie in ihren Mantel. „Dann will ich gleich mal nach Hause fahren und nachsehen, wie weit unsere Mitarbeiter mit dem Verpacken meiner Bilder gekommen sind. Wenn man nicht alles selbst kontrolliert, Sie kennen das sicher. Bis morgen, Frau Sauer, ich freue mich.“
Beschwingt stöckelnd verlässt sie das Café Mozart und mancher Blick folgt der schlanken, attraktiven Frau im bodenlangen Nerzmantel.
Seufzend lehne ich mich zurück und winke meinem Lieblingskellner, der sich diskret zurückgezogen hat, kurz zu.
„Darf’s noch eine Melange sein? Und ein kleines Stückerl Sachertorte zur Stärkung? Frau Buchsbaum war heute etwas emotional, wenn ich das anmerken darf.“ Oberkellner Franz, wie immer im korrekten schwarzen Anzug und dunkler Fliege zum weißen Hemd, zwinkert mir kurz zu und ich frage mich, wie viel er wohl von dem Gespräch zwischen mir und seiner Chefin rein zufällig aufgeschnappt hat.
Ich zwinkere zurück, was ihm ein kurzes Lächeln entlockt. Die Wiener Kaffeehauskellner haben zu Recht den Ruf, manchmal etwas spitzzüngig und unnahbar zu sein, aber wenn man einmal ihr Herz erobert hat, genießt man vollen Service und Ihre charmante Aufmerksamkeit.
„Eine hervorragende Idee, Franz, danke. Das habe ich mir wirklich verdient.“
„Mit einem kleinen Tupfer Schlagobers?“
Ich mag seine leicht sonore Stimme.
„So viel auf den Teller passt“, bestätige ich ihm mit einem Lächeln.
Mein Blick wandert mit leicht schlechtem Gewissen zu der kleinen Speckrolle über meiner Jeans. Aber was soll’s, dann lasse ich heute eben das Mittagessen ausfallen.
Erleichtert lehne ich mich in die graublau-gemusterte weich gepolsterte Sitzbank zurück und beobachte das Treiben um mich herum. Die geschäftliche Besprechung scheint beendet zu sein. Und auch die ältere Dame am Nebentisch lässt sich von Kellner Franz in ihren voluminösen, etwas nach Mottenkugeln riechenden Pelzmantel helfen. Sofort wird ihr Platz von einem Pärchen eingenommen, das sich vom armen Kellner Franz die fünfzehn verschiedenen Kaffee-Zubereitungsarten von Fiaker bis Einspänner auf Englisch erklären lässt. Wien hat nun mal eine reiche Kaffee-Zubereitungs-Tradition.
Ich selbst kann ja Eierlikör im Allgemeinen und als Zutat in meinem Kaffee noch viel weniger abgewinnen. Da halte mich lieber an ganz klassische Sorten wie einen Kleinen Braunen oder eine Melange.
Ich zwinkere Franz, der noch immer eifrig die Fragen der beiden jungen Amerikaner beantwortet, kurz aufmunternd zu und lasse meinen Blick durch das Café huschen.
Die Kronleuchter glitzern und tauchen den wunderschönen historischen Raum mit der fünf Meter hohen Decke in ein warmes Licht, es riecht nach frischem Kuchen und mein Magen meldet sich wieder, diesmal aber voller Vorfreude auf die Torte.
Ich blicke in einen der golden gerahmten etwas altersfleckigen Spiegel an der Wand vis-à-vis. Und wieder einmal frage ich mich, wie viele Menschen in den letzten hundert Jahren hier gesessen und über ihr Leben philosophiert haben und sich dabei nachdenklich, so wie ich gerade, dabei im Spiegel betrachtet haben. War ihnen bewusst, wie kostbar jeder Moment ist, wie vergänglich wir sind, und haben sie sich gefragt, warum wir uns manchmal das Leben so unnötig schwer machen?
Warum müssen Beziehungen so kompliziert sein? Ich versuche die trüben Gedanken abzuschütteln. Normalerweise kann ich mich von den Problemen meiner Klientinnen besser abgrenzen, aber Lena hat etwas in mir berührt und ich frage mich, ob sie wirklich so abgeklärt ist, oder ob sich hinter der Fassade der berechnenden Ehefrau der es auf den ersten Blick nur ums Geld geht, nicht doch eine zutiefst verletzte Frau versteckt. Eine, die nicht versteht, warum ihr Mann sie, die so schön und so viel jünger als er ist, betrügt.
Das Stimmengewirr der Gäste um mich herum wirkt wie ein sanftes Hintergrundrauschen zu meinen wirbelnden Gedanken und legt sich wie eine sanfte, warme Decke auf meine aufgewühlte Seele. Nirgendwo kann man so gut in Gesellschaft und trotzdem allein in Frieden seinen Gedanken und Träumen nachhängen wie in einem Wiener Kaffeehaus.
Die ersten zarten Schneeflocken dieses Winters tanzen vor dem Fenster und wie immer schweift mein Blick von meinem Eckplatz ganz hinten im Café aus dem Fenster über die Straße hinüber zur Wiener Staatsoper. Ist es wirklich schon über ein Jahr her, dass ich mit meiner Mutter und der Gräfin in einem echten Mordfall in der Staatsoper ermittelt habe? Ein eisiges Prickeln wie tausend Nadelstiche läuft über meinen Rücken, beim Gedanken daran, wie nah wir dem Mörder damals gekommen sind.
Ein Sonnenstrahl drängt sich mit aller Kraft durch die bleigrauen Wolken und taucht die Szenerie vor dem Fenster für einen Moment in funkelnd-goldenes Licht. Die Schneeflocken tanzen nun dichter im Sonnenschein und mir wird ganz warm ums Herz. Es muss Jahre her sein, dass es das letzte Mal in Wien noch vor Weihnachten so stark geschneit hat.
Meist überrascht der Schnee Wien immer erst im Jänner, nach den Feiertagen, wenn niemand mehr damit rechnet. In dicken Mänteln und Jacken huschen die Passanten am Fenster entlang, ein Fiaker fährt pferdehufklackernd vorbei und ich bin wieder einmal froh, in der schönsten und lebenswertesten Stadt der Welt zu leben.
Die leider nicht ganz billig ist.
Und darum schlage ich mir, neben meiner Tätigkeit als Sekretärin in einem Immobilienbüro, als nebenberufliche Privatdetektivin die Nächte wegen etwas zu umtriebiger, untreuer Männer wie Erwin Buchsbaum um die Ohren.
Die Wartezeit auf die Torte nutze ich, um eine Nachricht an Cosima zu schreiben, und drücke mir selbst die Daumen, dass sie Zeit und Lust hat, mich morgen zu der Ausstellung zu begleiten.
Ich blicke auf die Uhr, hoffentlich kommt die Torte bald, meine vorgezogene Mittagspause ist in einer halben Stunde vorbei und eine Wohnungsbesichtigung gleich um die Ecke in der Mahlerstraße steht an.
Und als hätte er meine Gedanken gelesen, stellt Kellner Franz in diesem Moment die Sachertorte mit einer wirklich gigantischen Schlagoberswolke sowie eine weitere Melange mit einer angedeuteten Verbeugung vor mir ab.
„Guten Appetit wünsche ich.“
Dankbar lächele ich ihn an und nehme sofort einen Bissen, gefolgt von einer großen Gabel voller weißer wattiger Extra-Kalorien und schließe genießerisch die Augen.
Vergessen sind all meine Sorgen und mein Stress. Es gibt wohl keinen Kummer, den eine wirklich gute Sachertorte nicht sofort heilen kann.
KAPITEL 2
„Ich sterbe lieber aus Leidenschaft als aus Langeweile.“
(Vincent van Gogh, Maler, und Erwin Buchsbaum, Kaffeehausbesitzer)
„Wo ist denn nun Erwin, der elende Ehebrecher?“
Wie immer ist Cosimas leicht nasale Stimme klar, deutlich und leider auch etwas zu laut.
„Pst, Cosima! Ich hatte dich doch gebeten, ihn nicht so zu nennen“, zische ich. Hektisch blicke ich mich um, doch der allgemeine Lärmpegel, der bestimmt zweihundert Vernissage-Gäste hat Cosimas Worte zum Glück gedämpft.
Das Café Mozart, das heute Abend nur für geladene Vernissage-Gäste geöffnet ist, platzt aus allen Nähten und neugierig betrachte ich das hektische Treiben um mich herum.
Über den plüschigen blau-grauen Sitzgruppen wurden mit Spezialkonstruktionen aus Plexiglas Lenas Bilder mittig auf den Spiegeln drapiert und mit Halogenspots angestrahlt. Die kitschigen, neonbunten Klecksbilder scheinen im grellen Licht förmlich zu glühen und bilden einen harten Kontrast zum stilvollen Interieur des Cafés.
„Die Bilder sollten mit einem Warnhinweis versehen sein. Ich hoffe sehr, dass keine Epileptiker anwesend sind.“ Cosima verzieht abschätzig ihre vollen Lippen.
Ich gehe auf ihren spöttischen Kommentar nicht ein und lasse meinen Blick weiter durch das Café wandern. Ein Großteil der Sitzmöbel und Tische in der Raummitte wurde entfernt und bietet nun der ausgelassen feiernden Menge genügend Platz zum Trinken, Tanzen, Essen und natürlich Fachsimpeln.
Neben der ausladenden Kuchen- und Tortenvitrine spielt eine Jazzband und die junge Sängerin im kurzen silbernen Glitzerkleid versucht verzweifelt, mit ihrer rauchig-schönen Stimme gegen den stetig anwachsenden Lärmpegel im Raum anzusingen. Die schwarz-befrackten Catering-Mitarbeiter balancieren auf Silbertabletts kleine appetitlich aussehende Canapés und Champagnergläser die ihnen aber sofort von der laut feiernden Meute aus den Händen gerissen werden. Die Kristalllüster funkeln, Gelächter klingt durch den Raum, Gläser klirren, die Stimmung ist ausgelassen und der Lärmpegel entsprechend hoch.
Also wie man eine gute Party feiert, wissen die Buchbaums.
„Keine Ahnung, wo Erwin ist, ich kann mit dem blöden Ding nicht richtig sehen“, beantworte ich endlich Cosimas Frage.
Ungeduldig schiebe ich die Stirnfransen meiner Tarnung, einer etwas filzigen schwarzen Langhaarperücke zurück, und nehme für einen Moment die rotumrandete Brille ab, die meiner Mutter vor ihrer Augenlaser-OP als Brille diente und immerhin zwei Dioptrien hat. Schon besser, mir war schon etwas schwummrig und endlich kann ich wieder richtig klarsehen.
Aber Tarnung ist alles.
Wenn ich Erwin Buchsbaum in Zukunft beschatten soll, ist es besser, wenn er sich nicht an meine blonden Locken und großen grünen Augen erinnert.
„Was für ein Zoo“, zische ich in Richtung Cosima und betrachte fasziniert, wie eine Frau im buntgemusterten Kleid sich wie ein Raubtier mit einem gekonnten Satz ein volles Sandwich-Tablett von einem vorbeiflitzenden Kellner schnappt.
Cosima wirkt sichtlich indigniert. „Schrecklich vulgär diese Szenerie, und offensichtlich bekommen wir hier nicht einmal etwas zu trinken.“ Ihre Mundwinkel sind ärgerlich verzogen. Die Stimmung kippt.
Cosima ist es gewohnt, hofiert zu werden, aber seit wir vor zehn Minuten im Mozart eingetroffen sind, haben wir zwar einen guten Aussichtspunkt beim Flügel ergattert, sitzen aber leider auf dem Trockenen.
Ich fächele mir mit einem Notenblatt Luft zu. Noch immer strömen neue Gäste herein und es wird zunehmend stickiger. Eine kleine Erfrischung, zumindest ein Glas Mineralwasser wäre jetzt wirklich gut, ehe mein Kreislauf schlapp macht.
Und als hätte sie uns gehört, taucht plötzlich Lena Buchsbaum mit zwei Gläsern Champagner auf. Hoffentlich von der guten Sorte. Billigsprudel würde Cosimas Laune nämlich in Rekordzeit endgültig in den Keller fallen lassen. Da ist sie leider etwas eigen.
„Frau Sauer, fast hätte ich sie nicht erkannt, interessante Perücke, Modell Ulrike Meinhof? Sie werden doch nichts anstellen?“, raunt sie mir zwinkernd zu, ehe sie sich an die eigentliche Person ihres Interesses wendet. „Und ich nehme an Frau von Waldenstein?“ Lenas Stimme ist vor Aufregung eine Oktave nach oben gerutscht und klingt unnatürlich hell. „Darf ich den Damen eine kleine Erfrischung reichen?“
„Sie dürfen.“ Cosima nickt ihr zu, nimmt mit spitzen Fingern das Glas entgegen und mustert Lena Lotte Buchsbaum dabei aus schmalen Augen wie ein interessantes Objekt.
Auch ich greife nach dem Glas und nehme durstig einen etwas zu großen Schluck.
„Frau von Waldenstein, es ist mir wirklich eine große Ehre Ihre Bekanntschaft zu machen. Konnten Sie schon einen ersten Blick auf meine Bilder werfen? Ihre Fachmeinung interessiert mich brennend“, fällt Lena mit der Tür ins Haus.
Nervös betrachte ich die schöne Gräfin die mit ihrem weißen figurbetonten Designer-Kleid, ihren klassischen Zügen mit den hohen, wie gemeißelt wirkenden Wangenknochen und ihrer schlanken Gestalt wie ein edler Lipizzaner in einer Box voll lärmender Zirkusponys wirkt.
„Ich finde es ebenfalls interessant, Ihre Bekanntschaft zu machen, Frau Buchsbaum. Danke für die Einladung.“ Huldvoll nickt die Gräfin Lena zu, ohne auf ihre Frage einzugehen, was diese extrem zu verstören scheint, da ihr linkes Auge schon wieder seltsam zuckt.
Kann Cosima nicht irgendetwas Nettes sagen? Eine kleine Höflichkeitsfloskel wäre jetzt angebracht, schließlich will ich meine neue potenzielle Klientin nicht verärgern.
Ich räuspere mich und stupse Cosima leicht an, doch ich ernte keinerlei Reaktion. Sie hat ihren unergründlichen Blick aufgelegt, der Lena Buchsbaum noch nervöser zu machen scheint, doch zum Glück werden wir unterbrochen.
„Na, wen haben wir denn da? Meine schöne Frau, umringt von zwei ebenso hübschen Damen!“ Eine kräftige Männerhand mit goldenem Siegelring am linken kleinen Finger legt sich plump um Lenas schlanke Taille.
Unauffällig mustere ich den hageren Mann, der der hochgewachsenen Gräfin nur knapp bis zur Nasenspitze reicht.
„Darf ich vorstellen, Erwin, mein Mann. Und das sind Gräfin Cosima Cäcilia von Waldenstein und ähm … Frau Bauer aus meiner Yogagruppe“, stellt uns Lena vor.
Da hat wohl jemand Cosimas zweiten Vornamen gegoogelt. Gegen meinen Willen bin ich beeindruckt und auch erleichtert, dass sie so geistesgegenwärtig war und wie wir es besprochen hatten, Erwin nicht meinen richtigen Nachnamen genannt hat.
Mein Blick huscht, jedes Detail aufnehmend, über Erwin Buchsbaums sonnengebräuntes Gesicht. Seine fünfundsechzig Lebensjahre sieht man ihm zwar an, sogar jedes einzelne davon, aber den vielen Lachfältchen um seinen blitzblauen Augen nach, waren es überwiegend gute Jahre.
Sein kantiges Gesicht wird von einer kräftigen, leicht krummen Römernase dominiert und das bereits schüttere, für sein Alter aber eindeutig zu blauschwarze Haar ist streng zurückgelt und glänzt im Licht der Kronleuchter.
An wen erinnert er mich nur? Vage blitzt das Bild eines nicht mehr taufrischen kleinwüchsigen, italienischen Filmschauspielers auf, den meine Mutter sehr verehrt.
Doch stopp, ich sollte aufhören, ihn unnötig lange direkt anzustarren. Perücke hin oder her, wenn ich ihn zukünftig beschatten soll, soll er sich nicht an mich erinnern.
Rasch beende ich meine Musterung, rücke meine Brille zurecht, die mir immer auf die Nasenspitze rutscht, und drehe den Kopf leicht zur Seite. Dabei bemerke ich, dass ich gar keine Angst um meine Tarnung haben muss.
Ich könnte mich genauso gut nackt auf dem Klavier rekeln, Volkslieder jodeln oder einen rituellen Regentanz aufführen, Erwin Buchsbaum würde mich ohnehin nicht bemerken. Fasziniert taxiert sein Blick die schöne Gräfin, die das Geglotze von Erwin mit stoischer Miene erträgt. Ganz im Gegensatz zu seiner Frau.
„Mund zu, es zieht, Erwin.“ Lena gibt Erwin einen etwas unsanften Stups in die Rippen.
Cosima schenkt Erwin in seinem etwas zu stramm sitzenden, schwarzen Nadelstreifen-Anzug, Marke Mafia Pate, einen abschätzigen Blick aus katzenschmalen Augen. Einen Blick, der mir immer etwas Angst macht und mich zum Glück nur selten streift.
„Sehr erfreut.“ Cosima nickt Erwin kurz zu und wendet sich dann Lena zu. „Aber jetzt entschuldigen Sie uns bitte. Ich wollte Ihrer Gattin gerade ein Feedback zu ihren Bildern geben. Frau Buchsbaum, wollen wir nicht ein paar Schritte gehen? Mich interessiert dieses Werk neben der Kuchenvitrine in Gelb besonders. Das sieht gefährlich aus. Was darf ich mir darunter vorstellen? Lassen sie mich raten: Ein explodiertes Kernkraftwerk?“
Lena Buchsbaum heftet sich sofort erfreut an die Fersen von Cosima, die sich einen sicheren Weg durch die feiernde Menge bahnt.
Mist, jetzt bin ich mit dem Pseudo-Italo-Gockel allein, so war das nicht geplant. Mit gesenktem Blick zähle ich die Blubberbläschen in meinem Champagnerglas. Smalltalk ist leider überhaupt nicht meine Stärke. Ich bin vom Typ her eher die aufmerksame, aber stille Beobachterin und überlasse gern den anderen das Wort. Außerdem sollte ich jegliches Gespräch und weiteren Kontakt mit meinem zukünftigen Observierungsobjekt vermeiden. Auch das hatte ich doch mit Lena im Vorfeld so besprochen.
Innerlich betend, dass Erwin endlich geht, lasse ich meinen Kopf gesenkt und atme tief ein. Was ein Fehler war. Denn nun habe ich eine ganze Nase von Erwins penetranten, süßlichen Parfum Marke Macho inhaliert. Meine Nase kitzelt und juckt unangenehm. Ich krame in meiner Tasche nach einem Taschentuch, um mir die Nase zu putzen, und sehe kurz auf. Moment, hat Erwin gerade versucht, der vorbeieilenden Kellnerin einen Klaps auf den Po zu geben? In welchem Jahrhundert lebt der Macho? Ein unsympathischer Zeitgenosse, wie seine Gattin.
Eigentlich haben sich die beiden verdient, sinniere ich vor mich hin, während mir tausend Fragen durch den Kopf schwirren, die ich Erwin nur allzu gern stellen würde. Aber leider ist es wohl besser, zu schweigen, um meine Tarnung nicht zu gefährden. Und endlich werden meine Gebete erhört.
Nachdem Erwin mich ein letztes Mal kurzobserviert und offensichtlich für nicht beutewürdig oder in irgendeiner Form spannend befunden hat, wendet er sich gelangweilt ab und entdeckt prompt neues weibliches Flirtpotential, das er sofort begockeln muss.
„Entschuldigen Sie Frau Bauer. Ich muss mal eben kurz einige Bekannte begrüßen. Viel Spaß noch, wir sehen uns später.“
Mit einem breiten Lächeln eilt er auf eine hübsche blonde Dame im kurzen roten Kleid und ihre Freundin zu und drückt sie überschwänglich an seine schmale Brust, was die beiden zu meiner Verwunderung zu freuen scheint.
Erleichtert, Erwin Buchsbaum und seinem aufdringlichen Parfum entkommen zu sein, beobachte ich ihn aus sicherer Entfernung aufmerksam weiter. Und es gibt viel zu sehen. Zwei Gläser Champagner später notiere ich gedanklich, dass Erwin Buchsbaum jede attraktive blonde Frau in seinem Café näher zu kennen scheint, beziehungsweise wenn nicht, alles Menschenmögliche unternimmt, um sie näher kennenzulernen. Ich verstehe die Bedenken von Lena genau. Diese Charme-Offensive würde wohl jede Frau misstrauisch machen.
Doch die gefährliche Nebenbuhlerin scheint nicht hier zu sein.
Erwins Aufmerksamkeit konzentriert sich nämlich, soweit ich es von meinem Beobachtungsposten aus sehe, nicht auf eine Einzelperson, sondern gleichmäßig auf alle anwesenden Blondinen im Raum, außer auf seine Gattin.
„Ich hoffe, das ist etwas Hochprozentiges.“ Cosima ist neben mir aufgetaucht, schnappt sich ein Glas vom Tablett eines vorbeieilenden Kellners und kippt die klare Flüssigkeit auf ex hinunter. „Was für eine redselige Frau und diese schrille Stimme. Ich glaube, ich bekomme Migräne.“
Die Gräfin sieht wirklich blass um die Nase aus.
Entschlossen stoppe ich einen weiteren Kellner, drücke Cosima ein Glas kalten Champagner in die Hand und schaffe es sogar, zwei Brötchen für uns zu ergattern.
„Bitte sehr, wohl bekomm’s.“ Ich proste ihr zu. „Iss erst mal eine Kleinigkeit, dann geht es dir bestimmt gleich besser.“
Ich blicke auf die Uhr, es ist neunzehn Uhr. Sind wir wirklich erst eine Stunde hier? Gefühlt stehe ich hier seit Tagen herum. Doch wie Einstein schon sagte, Zeit ist relativ, und nie vergeht sie langsamer, als wenn man sich langweilt.
Geduldig warte ich ein paar Minuten, bis Cosimas Wangen wieder etwas Farbe haben und sie das Brötchen verputzt hat, aber dann kann ich meine Neugier nicht mehr bremsen.
„Sag schon, was meinst du als Fachfrau zu Lenas Bildern, hat sie Talent?“ Gespannt halte ich die Luft an.
Die Gräfin zieht die linke Oberlippe nach oben, was ich immer heimlich ihr halbes, verächtliches, Lächeln nenne.
Cosima seufzt schwer. „Du kennst mich, ich finde im Prinzip ja jede künstlerische Ausdrucksform charmant. Kunst liegt im Auge des Betrachters.“ Cosima macht eine kurze Pause und beugt sich näher an mein Ohr. „Aber in diesem Fall kann ich leider nur sagen, ein Affe kann besser malen als unsere liebe Lena Lotte Buchsbaum.“ Sie hickst verstohlen hinter vorgehaltener Hand.
Erleichtert atme ich auf. In Lisa schlummert also wohl doch kein verborgenes Talent und ich habe vor Jahren nicht ein kleines Vermögen im Altpapier-Container entsorgt. Außerdem wäre die Chance, meine Tochter dazu zu bringen, mal eben für Mami ein neues Bild zu malen, um uns alle reich zu machen, momentan ohnehin gleich null. Denn mein bis vor einem Jahr noch pflegeleichtes Kind, ist mit beiden Fohlenbeinchen und dem einen oder anderen Pickel in ihrem hübschen Gesicht hormonell und stimmungstechnisch mitten in der Pubertät angekommen und hadert mit der Welt im Allgemeinen und mir, ihrer Mutter, im Besonderen.
„Also ich weiß nicht, wie es dir geht Cosima, aber ich habe genug gesehen.“ Ein letztes Mal lasse ich meinen Blick über die feiernde Menschenmenge schweifen.
Lena hält vor einer interessiert wirkenden Menschentraube Hof und Wortfetzen wie „Die Kraft der industriellen Zerstörung …“, wehen zu uns herüber.
„Ich habe auch genug von dieser Veranstaltung. Nichts wie weg hier, ehe Lena Lotte mich wieder in eines ihrer, wie sie es nennt, Expertinnen-Gespräche verwickelt.“ Cosimas Stimme duldet keinen Widerspruch.
Energisch leert sie ihr Glas und wendet sich zum Gehen.
„Ich muss aber vorher noch kurz auf die Toilette. Dringend!“ Die drei Gläser Champagner drücken auf meine Blase.
„Ich warte draußen auf dich, Samantha. In diesem Irrenhaus halte ich es keine Minute länger aus.“ Cosima schreitet mit weitausholenden Schritten durch die ausgelassen feiernde Menschenmenge, die sich vor der schönen Gräfin wie das Rote Meer vor Moses teilt, Richtung Ausgang. Cosima hat eine wahnsinnige Präsenz, um die ich sie sehr beneide.
Aber jetzt sollte ich mich wirklich beeilen.
Mit flinken Schritten mache ich mich auf den Weg Richtung Toiletten und da sehe ich ihn. Erwin Buchsbaum scheint wohl auch ein dringendes Bedürfnis zu haben, denn er eilt flott vor mir den Gang entlang. Doch zu meinem Erstaunen biegt er am Ende des Ganges nicht Richtung der Sanitäranlagen, sondern nach rechts ab.
Ob ich ihm folgen soll?
Vielleicht versteckt er hier im hinteren Trakt des Cafés in einem der zahlreichen Räume seine Geliebte? Doch sofort verwerfe ich den Gedanken. Das wäre sogar für einen Frauenheld wie ihn sehr geschmacklos.
Meine Blase ist zwar bis zum Zerreißen gespannt, aber meine Neugier ist größer, ich werde den alten Schwerenöter kurz-observieren. Erwin, der zum Glück nicht bemerkt, dass ich ihn verfolge, öffnet schwungvoll eine Tür am Ende des Ganges und erstarrt.
„Was machen Sie hier? Hatten wir einen Termin? Ich habe Ihnen schon das letzte Mal gesagt, ich verkaufe nicht!“ Seine Stimme klingt wütend und gepresst.
Ich pirsche mich leise ein paar Schritte heran und bleibe seitlich versetzt an der offenen Tür stehen und riskiere einen neugieren Blick.
Vor mir liegt ein großzügig geschnittener, quadratischer Raum mit schweren, antiken Möbeln und geschmackvollen Gemälden. Der Raum wird von einem mächtigen Schreibtisch dominiert und an diesem lehnt, mit dem Rücken zur Tür, ein blonder Mann in hellem Leinensakko.
„Brauchen Sie eine Sondereinladung? Raus hier!“ Erwin Buchsbaums wütende Stimme bricht. Doch noch immer bewegt sich der Mann keinen Millimeter. Ist er taub?
Neugierig halte ich die Luft an. Und endlich erhebt sich der Stein des Anstoßes langsam und dreht sich fast in Zeitlupe zu uns herum.
Ich schnappe nach Luft. Wow, so schöne Augen habe ich noch nie gesehen. Was ist das bitte für eine unbeschreibliche Farbe? Saphirblau? Meeresblau? Türkisgrün? Mir fehlen die Worte.
Nein, jetzt habe ich es: Himmelwolkenblau! Ja, Himmelwolkenblau trifft es gut.
Moment, was denke ich da?
Reiß dich zusammen Samantha, du bist eine monogame Frau in einer Teilzeit-Wochenend-was-auch-immer-Beziehung, rufe ich mich selbst zur Ordnung. Und bestimmt sind das ohnehin nur farbige Kontaktlinsen. So eine Augenfarbe gibt es nur in Chemielaboren.
„Suchen Sie etwas?“ Die unbeschreiblichen Augen schweifen über Erwins Kopf in Richtung Türe und richten sich nun fragend auf mich.
Ich starre ihn an wie ein Kaninchen die Schlange und bringe keinen Ton heraus. Seine Stimme ist warm und angenehm weich mit leichtem Akzent, den ich nicht zuordnen kann. Sogar seine Stimme ist schön.
Erwin Buchsbaum fährt erschrocken zu mir herum. „Frau … ähh … Bauer? Was machen Sie denn hier? Stehen Sie schon länger da? Kann ich Ihnen helfen, gnädige Frau?“
Er eilt beflissen auf mich zu.
Hat er mich jetzt vor dem Blauauge gnädige Frau genannt? Wie peinlich, das klingt, als wäre ich einhundert Jahre alt. Obwohl … viel jünger sehe ich in meiner seltsamen Verkleidung auch nicht aus.
„Ich suche die Toiletten und bin wohl falsch abgebogen“, sage ich mit belegter Stimme. Hastig schiebe ich meine Brille, die mir zur Nasenspitze hinuntergerutscht ist, wieder an ihren Platz und versuche, mich wie eine erwachsene Frau und nicht wie ein schwärmender Teenager zu verhalten.
„Kein Problem. Den Gang wieder hinunter und dann links. Es ist ausgeschildert, aber ich kann Ihnen gern den Weg weisen, Gnädigste.“
Erstaunt mustere ich Erwin. Was ist denn mit dem los? Warum ist er plötzlich so zuvorkommend zu mir? Irgendwie habe ich den Eindruck, dass es ihm peinlich ist, dass ich seinen emotionalen Auftritt mitbekommen habe, und er mich nun schnellstmöglich loswerden möchte.
„Danke, sehr nett. Diesmal finde ich bestimmt den Weg.“ Meine Stimme ist eisig.
Glaubt er, ich bin senil? Ich biege diesmal an der richtigen Stelle am Gang ab. Schade, dass ich aufgeflogen bin. Zu gern hätte ich das weitere Gespräch zwischen den beiden ungleichen Männern belauscht.
Zum Glück ist die Schlange vor der Toilette nicht sehr lang, denn mittlerweile bin ich mir sicher, dass es mindestens vier Gläschen Blubberwasser waren.
Ich beeile mich danach mit dem Händewaschen, nehme die Brille ab, tupfe etwas verlaufene Wimperntusche mit einem Taschentuch von den Augenlidern ab und ziehe meine Lippen nach. Dabei rede ich mir ein, dass es keinen Grund gibt, ein schlechtes Gewissen zu haben, mich für eine potenziell weitere Begegnung mit Blauauge aufzuhübschen, obwohl das mit der hässlichen Perücke und der altmodischen Brille ohnehin vergebliche Liebesmühe ist. Aber einen kurzen Blick in Erwins Büro kann ich ja trotzdem auf dem Rückweg riskieren.
Doch als ich wenige Minuten später wieder rein zufällig falsch abbiege und an Erwin Buchsbaums Büro vorbeihusche, ist zu meinem grenzenlosen Bedauern die Türe fest verschlossen und nur gedämpft dringen die Stimmen der beiden Männer nach außen.