Freitag, 12. April
Haaglanden Medical Center Antoniushove
Leidschendam
11:58 Uhr
Der Mann, der an zahlreiche Apparate und Schläuche angeschlossen war, schien um Jahre gealtert. Das Blond seiner Haare war verschwunden, einem gespenstischen Weiß gewichen. Die Haut dünn wie Papier, beinahe durchsichtig. Vom einst stattlichen Dänen war nur ein Schatten übrig geblieben.
„Kriminalhauptkommissar Geving“, sagte er, „ich habe mich schon gefragt, wann Sie kommen würden.“
„Ihre Büroleiterin hat sich nach Ihnen erkundigt.“
„Sie sind jetzt Kalif anstelle des Kalifen.“
„Es bereitet mir kein Vergnügen, Sie so wehrlos zu sehen, Pedersen. Immerhin, die Ärzte prognostizieren Ihre schnelle Genesung.“
Laurits Pedersen verzog das Gesicht nur leicht.
„Sie sind kein guter Heuchler.“ Er musste angestrengt schlucken, bevor er weitersprechen konnte. „Natürlich genießen Sie es, mich in der Hand zu haben. Nach allem, was ich Ihnen angetan habe.“
Tinus Geving verneinte kaum merklich. „Mich macht vor allen Dingen wütend, dass sich ein Mann, den ich geachtet und respektiert habe, als Verräter entpuppt. Angesichts der Beweislage habe ich offizielle Ermittlungen gegen Sie eingeleitet.“
Wieder das angedeutete Grinsen. „Sie glauben, etwas zu wissen. In Wahrheit haben Sie nur die Spitze des Eisbergs gesehen.“
Teil I – Der Klang der Kriegstrommeln
Samstag, 22. Juni, zwei Jahre zuvor
Café Jama Michalika
ul. Floriańska 45
Krakau
22:57 Uhr
Manchmal ließ sich die Sommerhitze in Krakau nur schwer ertragen. Die junge Frau, die auf den Decknamen Smilla hörte, war die polnischen Sommer seit den Tagen ihrer Kindheit gewohnt. Ob die heranbrechende Nacht, die kürzeste des Jahres, etwas Abkühlung mit sich bringen würde?
Es war eine besondere Nacht. Johannisnacht. Das Fest der Kränze. Zur Sommersonnenwende waren die Restaurants, Bars und Cafés der Altstadt noch besser besucht als üblich. Eine knisternde Atmosphäre. Die Erwartung eines großen Spektakels. Zahlreiche Open-Air-Konzerte am Flussufer, auf dem Krakauer Ring und den Plätzen der Stadt lockten Tausende Besucher von nah und fern an. Die Weichsel war ein in Kerzenlicht getauchtes Meer aus Blumenkränzen. Alle fieberten dem magischen Moment entgegen. Noch eine Stunde bis Mitternacht. Eine Stunde bis zum imposanten Feuerwerk auf dem Wawel.
Smilla saß im berühmtesten Café der Stadt. Da würde sie am wenigsten auffallen. Für ihre Umgebung sah es so aus, als wäre sie, die Halbpolin, in ein Telefongespräch vertieft. Niemand bemerkte den unauffälligen Knopf, den sie im rechten Ohr trug. Smilla war nicht zum Vergnügen hier.
„Meldung von Team eins. Tinkerbell und Mamba auf Standby. Areal gesichert.“
„Meldung von Team zwei. Sherpa und Lotus auf Standby. Ziel im Visier.“
„Smilla hier“, sagte sie leise und nippte an ihrem Espresso. „Die Luft ist rein, und ich langweile mich zu Tode.“
„War das ein Standby?“ Die Frage kam aus Team eins. Von Tinkerbell, genauer gesagt.
Smilla verdrehte die Augen. „Ja. Deadhead auf Standby. Ich bin immer auf Standby.“
„Oh, die Eiskönigin beschwert sich. Mal wieder.“
Idiot! Sie konnte es nicht ausstehen, wenn sie so genannt wurde. Die anderen ließen sie permanent spüren, dass sie der Schützling des Chefs war und in Krakau eigentlich nichts zu suchen hatte.
„Leute, vertragt euch“, ermahnte sie eine neue Stimme im Kommunikationskanal. Silas Ravn.
„Silas! Wie schön, dass du es zu unserer kleinen Vorstellung geschafft hast. Leider bin ich nur in einer Nebenrolle besetzt. Der Alte hat dafür gesorgt. Wie ist die Stimmung bei euch?“
„Ähm … unterkühlt.“
„Unterkühlt, weil der Alte mithört. Und der Alte hat gute Gründe für die Teamaufstellung.“
Erwischt! Sie hatte nicht ahnen können, dass der Chef des PET schon zugeschaltet war. Laurits Pedersen würde ihr vergeben, ganz sicher. „Leute, wenn ich eh nichts zu tun habe, könnte ich auch direkt zu Cocktails übergehen.“
„Tut mir leid, Smilla, du kennst die Einsatzregeln“, sagte Laurits Pedersen. „Betrinken könnt ihr euch, wenn alles vorbei ist.“
Jaja! Sie kannte die Einsatzregeln in- und auswendig. Aber was sie sagte, stimmte. Ihr Job war nahezu erledigt. Für sie gab es nichts mehr zu tun. Als jüngstes Mitglied eines fünfköpfigen Infiltrationsteams befand sie sich seit zwei Wochen in der Stadt. Ihre Teamkollegen waren erst am Vorabend angereist. Per Bahn, mit dem Flugzeug, mit dem Auto, auf unterschiedlichen Routen. Sie kannte die Stadt, sie beherrschte die Sprache fließend. Aus diesem Grund hatte der dänische Inlandsgeheimdienst PET sie für die Position des Deadhead ausgewählt. Smilla war Feldagentin und für das Gelingen der Operation, die etwas martialisch auf den Namen Dreadnought getauft worden war, von entscheidender Bedeutung. Ihre Aufgabe als Deadhead ließ sich in exakt einem Wort zusammenfassen: Desinformation. Smilla war das personifizierte Ablenkungsmanöver. Unter einer Tarnidentität sollte sie den Kongress einer Partei beobachten, die halb Europa Kopfzerbrechen bereitete und sich anschickte, nach der Macht im Land zu greifen. Eine Partei, deren führendes Mitglied ihr Informant war. Es sollte so aussehen, als würde der PET Henryk Tomaszewski beschatten, derzeit Gastprofessor in Kopenhagen. Die eigentliche Operation fand an einem anderen Ort statt.
„Genießt du den lauen Sommerabend?“, fragte Silas Ravn, zuständiger Einsatzleiter in der Zentrale.
„Von wegen, lauer Sommerabend. Sechsunddreißig Grad und es wird noch heißer. Was sagt das Thermometer in Søborg?“ In Søborg, einem Vorort etwa zehn Kilometer von Kopenhagen entfernt, war das Hauptquartier des PET beheimatet.
„Siebzehn Grad bei leicht gehendem Nieselregen. Wie ist die Aussicht?“
„Bestens. Viele Grüße vom Wianki-Festival.“
„Lass dich nicht von einem liebestollen Jüngling abschleppen. Heute Nacht ist alles möglich!“
„Ich denke gar nicht daran.“ Smilla genoss die Aussicht. Sie interessierte sich nicht für junge Männer, sondern für die Bilder, die auf ihr verschlüsseltes Telefon übertragen wurden. Aufnahmen der Überwachungsdrohne, die zeigten, wie beide Einsatzteams auf ein stillgelegtes Werksgelände vorrückten.
Die Glocken schlugen, es war elf Uhr nachts. Das Trompetensignal vom Turm der Marienkirche ertönte, die Menschen auf dem Rynek applaudierten.
Smilla blieb nur noch eine Aufgabe.
Politiets Efterretningstjeneste (PET)
Klausdalsbrovej 1
Søborg
23:01 Uhr
„Alle Schäfchen im Trockenen.“ Smilla bestätigte die volle Einsatzbereitschaft von Dreadnought.
Dreadnought. Fürchtenichts. Die Idee für den Tarnnamen dieser Operation hatten sie Silas Ravns Leidenschaft für die Geschichte der Seekriegsführung zu verdanken. Ravn kam aus einer Familie von stolzen Marineoffizieren, hatte selbst dort gedient, bevor er den Reihen des PET beigetreten war. Dreadnought bezeichnete in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen neuen Typ von Schlachtschiff, der dank überlegener Technik mit einem einzigen gezielten Schlag die Feuerkraft seiner Gegner ausschalten konnte.
Laurits Pedersen, Chef des dänischen Inlandsgeheimdienstes PET, schmunzelte. Nichts anderes würden sie heute Nacht tun. Mit einer einzigen gezielten Aktion zogen sie eine Menge Feuerkraft aus dem Verkehr. Sie würden furchtlos sein. Smilla würde furchtlos sein. Ihr erster Einsatz.
Dank detaillierter Informationen ihrer Quelle hatten sie eine Lieferung von Waffen aus alten NATO-Beständen zurückverfolgen können, die in Dänemark für den Transport über die Ostsee verladen worden war und nun in Polen auf den Weitertransport in die Ukraine wartete. Sie wussten das deshalb so genau, weil im Hafen von Odessa vor wenigen Tagen eine Ladung an Material freigegeben worden war, die in engem Zusammenhang mit der von ihnen verfolgten Lieferung stehen dürfte.
Die Spatzen pfiffen es von den Dächern, die derzeitige Regierung in Kiew hatte Probleme, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Ihre Vermutung war, dass sich irgendwer dort auf einen Bürgerkrieg vorbereitete. Besorgniserregend für Europa, besorgniserregend für Dänemarks Sicherheit. Der Käufer agierte über eine in Kopenhagen aktive Zelle der rechtsextremen Pamięc, einer polnischen Gruppierung, die kaum über Organisation und finanzielle Mittel verfügen konnte, in den internationalen Waffenhandel verstrickt zu sein. Die Missionsparameter von Dreadnought waren simpel. Sie würden die Waffenlieferung stoppen, um so an die Hintermänner des mysteriösen Deals zu gelangen. Es galt als ausgemacht, dass Pamięc in diesem Geschäft nur als Strohmann agierte.
Vor etwa einer Stunde war das Justizministerium vom Büro der Premierministerin über Dreadnought in Kenntnis gesetzt worden. Damit hatte Laurits Pedersen freie Hand.
Mit ihm in der Operationszentrale anwesend waren nur sein Stellvertreter Jonas Nygaard und der Einsatzleiter Silas Ravn. Sie kannten sich seit Jahren, vertrauten einander blind. Den Kreis der Mitwisser hielten sie bewusst klein.
Ravn überzeugte sich ein letztes Mal von der einwandfreien Übertragung der Bilder des alten Industriegeländes in den Vororten von Krakau, die auf die Monitore geworfen wurden. Er gab sein Okay.
Pedersen wollte gerade den Einsatzbefehl erteilen, als die Tür zur Operationszentrale aufflog und Asger Berg, Ständiger Sekretär im Justizministerium, hereinstürmte.
„Was soll das hier werden?“, verlangte er zu erfahren.
„Guten Abend, Berg“, begrüßte Laurits Pedersen den aufgebrachten Eindringling mit nonchalanter Höflichkeit. „Wir haben uns schon gefragt, wie lange es dauern würde, bis Sie hier aufkreuzen.“
„Sind Sie alle jetzt vollkommen wahnsinnig geworden?“ Der Ständige Sekretär war nicht zu Späßen aufgelegt.
Pedersen verneinte. „Das Briefing kennen Sie. Wir stehen kurz vor der Aushebung eines Waffenhändlerrings und sind startklar.“
Man hätte ihn und Berg für Brüder halten können. Die Ähnlichkeiten allerdings beschränkten sich auf das Äußere. Sie hassten einander wie die Pest. Laurits Pedersen hielt den Ständigen Sekretär für einen Bürokraten ohne Fantasie. Berg neidete ihm offensichtlich die Position, die er sich vor einigen Jahren selbst erhofft hatte. Seitdem legte er ihnen bei jeder sich bietenden Gelegenheit Steine in den Weg. Und das war nur eine weitere dieser Gelegenheiten.
Berg musste es besonders eilig gehabt haben. Er setzte sich, rang nach Luft, bevor er weitersprechen konnte. „Ich habe das Briefing gelesen und verstanden. Was ich nicht verstehe, seit wann machen wir uns von Rechtsextremisten abhängig?“
Damit konnte nur ihr Informant Henryk Tomaszewski gemeint sein. Gastdozent an der Universität von Kopenhagen und während seines Studiums für kurze Zeit Mitglied bei Pamięc.
Pedersen versuchte, Berg zu beruhigen. „All das liegt Jahre zurück.“
Der Spitzenbeamte sprang auf. Berg war nicht zu beruhigen, denn er wollte sich nicht beruhigen. „Sie waren lange genug bei der Polizei, um zu wissen, dass man sein Schicksal nicht in die Hände einer einzigen Quelle legt!“
„In diesem Fall bleibt uns keine Wahl.“ Laurits Pedersen stand zu seiner Entscheidung. „Wir haben die Autorisierung der Premierministerin.“
„Die Autorisierung der Premierministerin?“, wiederholte Berg spöttisch. „Das Mädchen will nur die nächste Wahl gewinnen, die sie voreilig losgetreten hat.“
Jonas Nygaard ging dazwischen. „Sie sollten aufpassen, wie Sie über die Dame sprechen!“
Laurits Pedersen gab seinem Stellvertreter stumm zu verstehen, dass er die Situation im Griff hatte, bevor er sich Berg widmete. „Die amtierende Premierministerin, die auch Ihre Vorgesetzte ist, hat einen Befehl erteilt!“
„Gegen meinen ausdrücklichen Rat“, betonte der Beamte. „Ich bitte, das festzuhalten.“
Pedersen hatte genug von ihm. „Dann machen Sie sich eine Aktennotiz. Wenn Sie uns jetzt entschuldigen, wir haben zu arbeiten.“
Damit war die Diskussion beendet.
Berg stand noch für einige Sekunden ratlos herum, musterte Ravn und Nygaard. Keiner von beiden wollte sich auf seine Seite schlagen. „Ihr Spiel, Ihr Risiko.“
Er verließ die Zentrale und knallte die Tür hinter sich zu.
Angespannt atmete Nygaard aus. Er trat näher an Laurits Pedersen heran, sprach leise. „Du magst ihn nicht. Ich verstehe das. Aber er hat recht.“
Pedersen wusste, dass sie sich mit Dreadnought auf gefährliches Terrain begaben. Das war definitiv nicht mehr die Zeit für moralische Bedenken. Es hatte sie Monate der Vorbereitung gekostet. So kurz vor dem Ziel würden sie nicht aufgeben.
Ohne weitere Verzögerung aktivierte er sein Headset und gab den Einsatzbefehl. „Laurits Pedersen an Team zwei. Freigabe erteilt. Vorrücken!“
Altes Industriegelände in Branice
Nowa Huta
23:12 Uhr
Team eins lag auf einer leichten Anhöhe. Durchs Fernglas beobachteten sie, wie sich Sherpa und Lotus mit gezogenen Waffen den Transportern näherten.
Sherpa gab einen ersten Statusreport. „Die Fahrzeuge sind unbewacht. Es ist ruhig. Zu ruhig.“
„Mir gefällt das nicht“, sagte Tinkerbell, der mitverfolgte, wie Team zwei die Fahrzeuge auf eventuelle Sprengfallen scannte. „Zwei Transporterladungen im Wert von mehreren Millionen Euro. Vollkommen ungesichert?“
Mamba schien mit demselben Gedanken gespielt zu haben. „Ja, das ist zu einfach.“
„Vielleicht wussten sie, dass wir kommen, und haben sich abgesetzt.“ Eine andere Möglichkeit fiel ihm nicht ein.
Team zwei öffnete die Hecktüren zu den Transportern.
„Alle Waffen scheinen da zu sein“, sagte Sherpa.
Café Jama Michalika
ul. Floriańska 45
Krakau
23:14 Uhr
Smilla hatte dieses ungute Gefühl in der Magengegend seit Sherpas erster Statusmeldung. Sie waren auf minimalen, gut vorbereiteten Widerstand gefasst gewesen. Aber keine Menschenseele vor Ort. Nur die Einsatzteams.
Ihre Ahnung bestätigte sich, als eine Pushnachricht auf dem Telefondisplay erschien. Die Onlinemeldung eines katholischen Fernsehsenders: Polen unter dänischer Kontrolle? – Regierung in Warschau duldet illegale Anti-Terror-Operation.
Die Verfasser des Artikels waren erstaunlich gut informiert, sprachen von Krakau als möglichem Einsatzort einer bevorstehenden Aushebung.
Anscheinend war sie nicht die Einzige, die es schon mitbekommen hatte. Smilla schaute sich um. An den Nachbartischen blickten die Leute irritiert auf ihre Telefone und Tablets. Sie begannen zu tuscheln.
Eilig bezahlte sie die Rechnung und brach auf. Außer Reichweite des Cafés warnte sie die anderen.
Smilla hatte als Deadhead noch eine andere Aufgabe. Im Notfall würde sie die Evakuierung und Extraktion der ganzen Gruppe einleiten müssen. Binnen Minuten nach Beginn von Dreadnought hatten sie sich dem Notfall mit atemberaubender Schnelligkeit genähert.
Politiets Efterretningstjeneste (PET)
Klausdalsbrovej 1
Søborg
23:15 Uhr
So weit, so gut, dachte Laurits Pedersen. Jonas Nygaard und Silas Ravn gingen ihrer Arbeit nach. Ruhig und routiniert. Sie blieben selbst dann ruhig, als der erste Zwischenbericht eintraf. Sie hatten zumindest mit schwachem Widerstand gerechnet. Dass die Waffentransporte vollkommen unbewacht waren, erforderte zwar ihr Augenmerk, mehr aber auch nicht. Wenn sich Pamięc derart unvorsichtig verhielt, konnte er damit leben. Aus seiner Sicht war etwaiger Alarmismus unangebracht. Pedersen mischte sich nicht in die Arbeit seiner Feldagenten vor Ort ein. Die kannten die Lage besser als jeder von ihnen. Als Chef des PET führte er so viel wie nötig und so wenig wie möglich. Das war schon immer seine Devise gewesen. Er hatte seine besten Leute entsandt und vertraute ihnen. Und wann verlief eine Operation jemals wie geplant?
Von einer Sekunde auf die andere wurde ihre Routine erschüttert, als sich Smilla einschaltete. „Leute, die verarschen uns hier.“
Jonas Nygaard runzelte die Stirn.
„Was meinst du?“, fragte Ravn.
Smilla klang etwas außer Atem, sie schien es eilig zu haben. „Es gibt ein Problem. Ich habe dir gerade einen Link geschickt.“
Der Einsatzleiter öffnete einen Online-Artikel, den er umgehend durch die Übersetzungsmatrix laufen ließ.
Nygaard schüttelte ungläubig den Kopf. „Das kann nicht sein.“
Sprachlos lasen sie die Überschrift.
Polen unter dänischer Kontrolle? – Regierung in Warschau duldet illegale Anti-Terror-Operation.
Ravn fand als Erster die Sprache wieder und sah nicht glücklich aus. „Das ist eine Falle!“
Sein Stellvertreter reagierte schnell. „Nygaard an Team eins und zwei. Irgendwelche ungewöhnlichen Aktivitäten? Report!“
Lotus von Team zwei erstattete sofort Meldung. „Keine Aktivitäten.“
Dann zwei kurze Geräusche, die wie schallgedämpfte Schüsse klangen.
„Team eins, euer Status?“, rief Pedersen.
Team eins antwortete nicht. Nygaard und Ravn sahen ihn entsetzt an.
Altes Industriegelände in Branice
Nowa Huta
23:17 Uhr
Tinkerbell und Mamba hatten die Kommunikation zwischen Smilla und der Zentrale mit angehört. Hier blieb jedoch alles ruhig.
„Na, Leute. Wie geht’s denn so?“
Tinkerbell und Mamba fuhren erschrocken herum. Sie waren so auf das vor ihnen liegende Einsatzgebiet fixiert gewesen, dass sie ihre Rücken außer Acht gelassen hatten. Zwei Männer standen plötzlich hinter ihnen. Ein langer hagerer Typ mit dem Gesichtsausdruck eines Psychopathen und ein kleinerer untersetzter mit Schlägervisage.
„Wer seid ihr?“ Tinkerbell tastete für die Neuankömmlinge nicht sichtbar nach seiner Pistole.
„Euer … Back-up-Team“, antwortete der lange Dürre auf Dänisch mit starkem Akzent. „Schöne Grüße von Laurits Pedersen …“
Tinkerbell und Mamba waren schnell, aber nicht schnell genug.
„Team eins, euer Status?“ Laurits Pedersen bekam auf seine Frage keine Antwort mehr.
Sherpa und Lotus wussten sofort, dass Team eins ausgeschaltet worden war. Keine Zeit für emotionale Reaktionen, sie agierten automatisch.
„Wir bringen die Ladung in Sicherheit“, schlug Sherpa vor.
„Negativ, ihr seid kompromittiert“, entgegnete ein hörbar aufgebrachter Silas Ravn. „Mission abbrechen. Ich wiederhole: Mission abbrechen!“
Sherpa saß im Cockpit eines der beiden Transporter. Erst jetzt fiel ihm das kleine Gerät auf, das an der Mittelkonsole befestigt war. Nicht größer als ein Kugelschreiber. Plötzlich aktivierte es sich mit einem grünen Lichtimpuls.
„O verdammt …“, war das Letzte, was er noch sagen konnte.
Dann wurde alles um ihn herum schwarz.
Politiets Efterretningstjeneste (PET)
Klausdalsbrovej 1
Søborg
23:17 Uhr
Die Ereignisse überstürzten sich. Ein lauter Burst ließ sie zusammenzucken. Die Kommunikation brach zusammen, die Bildschirme übermittelten nur noch ein Rauschen.
Frustriert schlug Silas Ravn auf die Kontrollpulte ein. „Ich bekomme nichts mehr rein! Weder von Team eins noch von Team zwei!“
„Was ist mit der Überwachungsdrohne?“, erkundigte sich Jonas Nygaard.
„Keine Kontrolle mehr!“ Ravn fuhr sich durchs Haar.
Laurits Pedersen stand wie betäubt da. Was passierte hier?
Ravns Finger rasten in atemberaubender Schnelligkeit über die Tastaturen. Er überflog Statusmeldungen und Codezeilen. „Keine Kommunikation, kein Netz, kein Signal in einem Radius von einem halben Kilometer um das Einsatzareal.“
„Eine EMP-Bombe?“, fragte Laurits Pedersen.
Der Einsatzleiter konnte das mit ziemlicher Sicherheit ausschließen. „Der hätte auch alle Stromrelais in Mitleidenschaft gezogen. Ich vermute, es war ein Blink.“
Pedersen war über die neueste Entwicklung auf dem Gebiet der Cyberabwehr im Bild. Sogenannte Blinks stießen Störimpulse aus, die sich auf alle Frequenzen von Mobilfunk und GPS legten, diese unterdrückten. Keine Kommunikation, keine Navigation. Die Überwachungsdrohne war damit unbrauchbar. Dänemark arbeitete an solchen Geräten, bisher mit begrenztem Erfolg.
Silas Ravn hatte weitere üble Neuigkeiten. „Nachricht aus der Kommunikationszentrale. Die polnische Polizei hat einen Notruf erhalten. Die haben ihn zu uns zurückverfolgt.“
„Zu uns?“, fragte Nygaard. „Ich kapier überhaupt nichts mehr.“
Al. Adama Mickiewicza
Krakau
23:18 Uhr
Smilla vernahm die beiden Schüsse, während sie durch die Fußgängerzone der Altstadt lief. Tinkerbell und Mamba waren tot. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Sie kämpfte mit den Tränen.
Sie bekam noch mit, wie Team zwei wenigstens die Transporter in Sicherheit zu bringen versuchte, als die Kommunikation zusammenbrach und mit ihr fast Smilla. Das schmerzhafte Kreischen der Rückkopplung traf sie unvorbereitet, erschütterte ihren Gleichgewichtssinn. Sie strauchelte, beinahe wäre sie gefallen.
Ein älterer Passant fing sie gerade noch rechtzeitig auf. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“
„Geht schon. Danke.“ Smilla machte sich los, lief schleunigst weiter. Keine Zeit für Erklärungen. Wahrscheinlich dachte er, sie wäre betrunken. Als sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, erkundigte sie sich bei der Operationszentrale. „Was, verdammt noch mal, ist los? Bin jetzt noch halb taub von dem Burst!“
Sie hoffte inständig, dass ihr noch jemand zuhörte. Ein Stoßseufzer der Erleichterung entfuhr ihr, als Ravn tatsächlich antwortete. „Mit unseren Systemen ist alles in Ordnung.“
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Smilla hatte Angst. Ihre Kritiker hatten recht gehabt, sie war noch nicht so weit.
Laurits Pedersens Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Smilla, leite umgehende Evakuierung ein!“
Sie versuchte sich zu konzentrieren, versuchte, ihre Fassung wiederzufinden. Evakuierung. Die Einsatzbestimmungen sahen dieses Protokoll vor. Keine Nachricht von Team zwei. Was war mit Sherpa und Lotus? Sie konnte sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen.
„Negativ“, antwortete sie grimmig. „Ich gehe nicht ohne meine Kollegen!“
Endlich! Smilla war bei ihrem Wagen angelangt, den sie am Ring abgestellt hatte. Sie öffnete die Heckklappe des Kofferraums, schaute sich um. Kein Mensch in Sicht. Ravn erzählte irgendwas von einem Notruf, als sie die Bodenabdeckung öffnete, hinter der man ein Reserverad vermuten könnte, die in diesem Fall jedoch eine Drohne freigab, ähnlich derjenigen, die nicht mehr sendete. Sie hob das Gerät aus dem Kofferraum, stellte es auf dem Asphalt ab. Hektisch atmend, mit zitternden Händen, gab sie per Telefon den Aktivierungsbefehl ein, die Drohne erhob sich in die Luft.
Zum Glück hatte sie auf die Cocktails verzichtet. Eine der Regeln im Konspirativen Fahrsicherheitstraining lautete: Kein Alkohol am Steuer!
Smilla stieg in den BMW.
„Einsatzdrohne aktiviert. Übertragung folgt“, bestätigte sie. „Wir sind wieder im Spiel, und ich bin auf dem Weg.“
„Nimm doch Vernunft an!“, beschwor Pedersen sie.
Smilla wollte das jetzt nicht mit ihm diskutieren. Sie war die einzig verbliebene Feldagentin. Sie traf die Entscheidungen. „Silas, lotse mich durch den Verkehr, verstanden?“
Politiets Efterretningstjeneste (PET)
Klausdalsbrovej 1
Søborg
23:26 Uhr
Die Drohne war mit der Steuerung von Smillas Wagen verbunden und übertrug einwandfrei. Gebannt verfolgten sie auf den Monitoren, wie ihre einzig verbliebene Feldagentin – die einzige Überlebende, wie Laurits Pedersen zu ahnen begann – durch die Straßen Krakaus raste. Direkt hinein in die Lebensgefahr. Silas Ravn lenkte sie an zahlreichen Polizeikontrollen vorbei. Manchmal nur haarscharf, auf Ausweichrouten. Nach dem Blackout waren alle verfügbaren Einsatzkräfte auf den Beinen.
Zumindest für den Moment hatte sich die Lage etwas entspannt, aber als Chef des PET musste er bereits an die Folgen denken. Er war verantwortlich für dieses Desaster.
Pedersen griff zum Telefon, ließ sich mit der Sommerresidenz in Marienborg verbinden. Der diensthabende Beamte des Personenschutzes nahm seinen Anruf entgegen.
„Laurits Pedersen hier. Geben Sie mir die Premierministerin.“ Er wusste, dass sie seit der Scheidung von ihrem Mann die meisten Wochenenden mit den beiden Kindern dort verbrachte.
„Die Premierministerin ist erst am späten Abend von einer Wahlkampfveranstaltung zurückgekehrt und sofort zu Bett gegangen“, bedauerte der Sicherheitsbeamte.
„Dann wecken Sie sie halt auf!“
Altes Industriegelände in Branice
Nowa Huta
23:56 Uhr
Smilla kam zu spät. Sie fand Tinkerbells und Mambas Leichen in einer Böschung. Sherpa und Lotus hatte man im Staub liegen lassen, dort wo vorher die Transporter gestanden haben mochten.
„Die sind mit den Waffen über alle Berge!“ Ihre Tränen konnte sie nicht länger unterdrücken. „Sie sind tot. Alle. Sie sind alle tot!“
Plötzliche Explosionen, der Schreck fuhr ihr durch die Glieder. Nein, Knallkörpergeräusche. Das Feuerwerk … Sie erhob sich. Hatte jemand etwas gesagt?
„Du musst da sofort verschwinden!“ Es war Ravn.
Er lebte noch. Ravn war in Søborg. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie starrte in die leeren, vorwurfsvollen Augen von Sherpa und Lotus.
„Ihre Leichen“, schluchzte sie. „Wir können sie nicht hier liegen lassen.“
Von irgendwoher ertönten Polizeisirenen.
„Rückzug und sofortige Evakuierung. Ich befehle es!“ Diesmal Laurits Pedersen.
Sie nahm ihn nur wie durch Watte wahr, sah in die erstarrten Gesichter der Toten. „Ich verstehe nicht … Ich kann nicht …“
Die Polizeisirenen wurden lauter.
„Verschwinde, jetzt sofort!“ Er schrie sie förmlich an. „Jadwiga, raus da!“