Leseprobe Kalte Gischt

1

29. April 2016, Pennack, Cornwall

Sie holten ihn ab, bevor die Sonne hoch genug am Himmel stand, um den Nebel über den Klippen von Land‘s End zu vertreiben. Holz splitterte krachend, als sie die Tür des Bootsschuppens aufbrachen. Travis Sayer erwachte quälend langsam aus einem bleiernen Rausch. Fremde Stimmen drangen in seinen vom Alkohol benebelten Kopf, ein greller Lichtstrahl bohrte sich in seine Augen. Bevor er begriff, was mit ihm geschah, wälzten sie ihn auf den Bauch und drückten ihn auf die Ladefläche des Pick-ups. Jemand faselte etwas von Rechten und dass alles, was er von nun an sagte, gegen ihn verwendet werden könnte.

Aus dem Halbdunkel tauchte das gerötete Gesicht von Jenkins auf, des einzigen Polizisten von Pennack und Liebhabers von Küchenweisheiten und Sprichwörtern.

„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, Sayer. Du bist genauso verdorben wie dein Vater“, sagte er. „Besser, wir entfernen dich aus Pennack, bevor du den ganzen Ort vergiftest.“

Teilnahmslos sah Jenkins zu, wie seine Kollegen Travis auf die Beine stellten. Sie fesselten ihn mit Handschellen und brachten ihn nach Exeter. Über der erwachenden Stadt lag eine Glocke aus milchigem Dunst, aus der nur die Spitzen der ehrwürdigen St.-Peter-Kathedrale ragten wie zwei mahnende Zeigefinger. Travis sah sie nicht, denn er war damit beschäftigt, den Inhalt seines Magens im Fond des Streifenwagens zu verteilen.

Das Nächste, woran er sich später erinnern sollte, war der harte Plastikstuhl unter seinem Hintern und der dumpfe, pochende Schmerz in seinen Schläfen. Jemand stellte einen Becher mit schwarzem Kaffee und ein Wasserglas vor ihn hin, in dem sich sprudelnd eine Tablette auflöste.

Ein Polizeibeamter setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Er trug keine Uniform, sondern Jeans und ein weißes Hemd. Das bedeutete, dass Travis es nicht mit der County-Polizei zu tun hatte. Der Mann mit den kohlschwarzen Augen und der Nase in Form eines Messerrückens war Kriminalbeamter. Es ging nicht darum, dass Travis betrunken randaliert hatte, es ging um … Susan.

„Trinken Sie das aus“, sagte der Polizist.

Travis bekam nach zwei Versuchen das Glas zu fassen. Seine Hand zitterte so heftig, dass Wasser über den Rand schwappte. Er trank es in einem Zug aus. Der saure Geschmack in seinem Mund verschwand, und auch die Watte in seinem Kopf löste sich so weit auf, dass er ein Gefühl tiefer Scham empfand.

Er mied den Alkohol, nur selten ließ er sich in Bills Pub zu einem Guinness einladen. Doch der gestrige Abend war nicht nach dem üblichen Muster verlaufen. Er wusste noch, dass er Steve Perkins auf dem Weg zum Bootsschuppen getroffen hatte. Steve hatte ihn überredet, eine Runde durch die Kneipen am Hafen zu drehen. Alles, was dann geschehen war, war weggewischt wie Kreide von einer Schultafel. Hatte Travis einmal mit dem Trinken angefangen, konnte er nicht mehr aufhören. Das war das furchtbare Erbe der Sayers. Wenn man von einem Erzeuger abstammte, in dessen Adern mehr Gin als Blut floss, ließ man besser die Finger vom Alkohol. Dass er es trotzdem getan hatte, gab den Spöttern recht, die ihm die gleiche Schussfahrt in die Trinkerhölle prophezeiten, auf der ihm sein Vater schon ein gutes Stück voraus war.

Travis versuchte angestrengt, die vergangenen Stunden zu rekonstruieren. Er sah sich selbst auf der Ladefläche des Pick-ups liegen und durch das Oberlicht des Bootsschuppens in den Himmel blicken. In dem kleinen Rechteck funkelten Sterne wie Quecksilbertropfen auf schwarzem Samt.

Im vergangenen Sommer hatte er sich mit Susan oft in dem verbotenen Garten getroffen. Dort oben über den Klippen von Pennack hatten sie im Gras gelegen, in die gewaltige dunkle Kuppel der Nacht hinaufgeblickt und Stecknadelköpfe aus Licht gezählt. Susan hatte diese Nächte ebenso geliebt wie Travis, doch mit dem Anbruch des Herbstes waren ihre heimlichen Ausflüge immer seltener geworden und hatten schließlich ganz aufgehört. Susan hatte erklärt, sie brauche Zeit, um eine Entscheidung zu treffen.

Der Polizist stellte ein Aufnahmegerät auf den Tisch und drückte eine Taste. Er sah auf seine Armbanduhr.

„Heute ist der 29. April 2016. Es ist jetzt 8:12 Uhr.“ Er warf Travis einen abschätzenden Blick zu. „Fühlst du dich in der Lage, dem Verhör geistig zu folgen?“

Travis wollte antworten, aber er brachte nur ein Krächzen hervor. Stattdessen nickte er und nippte an dem heißen Kaffee, um den bitteren Geschmack des Aspirins zu vertreiben. Es gelang ihm, sich so weit zu konzentrieren, dass er seine Umgebung bewusst wahrnahm. Sein Blick begegnete dem des Ermittlers. In dessen Augen lag eine triumphierende Gewissheit, die Travis an einen Angler denken ließ, an dessen Haken ein fetter Fisch zappelte.

„Warum bin ich hier?“, fragte er. „Wer sind Sie?“

„Ich bin Detective Chief Inspector Paul Tremaine, Territorial police force Devon & Cornwall, Abteilung für Gewaltverbrechen. Ab jetzt stelle ich die Fragen. Dein Name?“

„Travis Sayer.“

„Adresse?“

„TR 18, Pennack. Harbour St.“

„Wie alt bist du?“

„Dreiundzwanzig.“

„Du sieht jünger aus. Ist es okay, wenn ich dich duze?“

„Kein Problem.“

Tremaine trug die Angaben in ein Formular ein.

„Ich mache dich darauf aufmerksam, dass du das Recht hast, einen Anwalt hinzuziehen.“

„Ich brauche keinen, weil ich nichts Unrechtes getan habe.“

„Wie du willst.“

Ein zweiter Polizist trat ein und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen an die Wand.

„Ich denke, da irrst du dich, mein Junge“, sagte er.

„Bemerkung für das Protokoll“, sagte Tremaine, „Detective Sergeant Collins wird dem Verhör beiwohnen.“

„Was wollen Sie von mir?“, fragte Travis noch einmal.

„Erzähl uns mal, in welchem Verhältnis du zu Susan Prescott stehst“, sagte Collins.

„Sie ist … wir sind befreundet.“

Nur befreundet?“, fragte Tremaine.

„Nein. Mehr als das.“

„Zwischen dir und Susan läuft also etwas.“

„Ja … nein … Susan … ist sich nicht sicher, wie es mit uns weitergehen sollte.“

War es falsch, das zu erwähnen? Wenn er nur nicht so viel getrunken hätte. Er spürte instinktiv, dass jedes Wort wichtig sein könnte und darüber entschied, was mit ihm geschehen würde.

„Und Garreth Wyne?“, fragte Tremaine.

„Wir waren mal Freunde, aber das ist lange her. Den Grund dafür kennt jeder in Pennack. Was unsere Väter angezettelt haben, müssen wir ausbaden. Aber …“

Collins schnitt ihm das Wort ab. „Ziemlich miese Nummer, dem besten Kumpel das Mädchen auszuspannen.“

„Ich hab doch gesagt, wir sind nicht mehr befreundet. Und es war nicht meine Absicht. Es ist eben passiert … außerdem ist Garreth selbst schuld daran.“

„Du hast dich also regelmäßig mit Susan Prescott getroffen“, sagte Tremaine. „Auch gestern Abend?“

Travis dachte an den verwilderten Garten, an die warmen Nächte, in denen man das Meer unterhalb der Klippen rauschen hörte, und an den geheimnisvollen alten Grabstein, der Susan so faszinierte.

„Sie kam zu den Docks, das war so gegen sechs“, antwortete er. „Susan war ziemlich durcheinander und wollte unbedingt mit mir reden, aber nicht vor all den Leuten. Pennack ist ein Nest, in dem jeder über jeden Bescheid weiß. Es gibt schnell Gerede. Also verabredeten wir uns.“

„Hat sie gesagt, was es so Dringendes gab?“

„Nein. Vermutlich ging es um Garreth.“ Immer ging es um Garreth und seine verfluchte Eifersucht.

„Und weiter?“

„Ich hab dann von sieben bis kurz vor acht auf sie gewartet, aber sie kam nicht.“

„Wo wolltet ihr euch treffen?“

Travis zögerte. Plötzlich glaubte er zu wissen, was geschehen war. Wenn Garreth herausgefunden hatte, dass Susan ihn ausgerechnet mit ihm betrog, musste das seiner Eitelkeit einen ungeheuren Schlag versetzt haben. War er ihr gefolgt und hatte sie auf dem Weg zum Maugham-Garten abgefangen? Aber was war dann geschehen? Eine schreckliche Ahnung beschlich Travis. Wenn Garreth nicht bekam, was er wollte, konnte er schnell aufbrausend und jähzornig reagieren.

„Sagen Sie mir erst, was passiert ist.“

„Genau das wollen wir von dir wissen“, sagte Collins. „Also noch mal: Wo wolltet ihr euch treffen?“

„Ich sage nichts mehr, bevor ich nicht weiß, warum Sie mich mit einer ganzen Armee aus dem Bootshaus geholt haben.“

„Spiel hier keine Spielchen mit uns“, sagte Tremaine. „Wir haben genug gegen dich in der Hand, um dich für die nächsten fünfzehn Jahre aus dem Verkehr zu ziehen. Du solltest besser mit uns zusammenarbeiten. Das kann sich strafmildernd auswirken.“

„Ich habe nichts Unrechtes getan“, wiederholte Travis.

Collins grinste. „Das hat dein Alter auch immer behauptet.“

„Mein Vater ist kein Mörder! Niemand weiß, was damals an Bord der Eloise passiert ist.“

„Natürlich nicht. Dein Alter war zu betrunken, um sich daran erinnern zu können, dass er deine Mutter über Bord gestoßen hat.“

Travis sprang auf und ballte die Fäuste. „Nur weil die Leute eine Lüge dauernd wiederholen, wird sie nicht wahr.“

„Schluss jetzt“, rief Tremaine. „Collins, halten Sie sich zurück. Setz dich wieder hin, Travis.“

Kraftlos sank er auf den Stuhl, alles drehte sich um ihn. Allmählich wurde ihm klar, dass er in größeren Schwierigkeiten steckte, als er befürchtet hatte. Sie hatten ihn nicht zum Spaß hochgenommen wie einen Schwerverbrecher. Kalte Furcht kroch in sein Herz. Würde Garreth so weit gehen, ihm die Schuld für eine Tat in die Schuhe zu schieben, die er selbst begangen hatte? Wenn es so war, standen Travis‘ Chancen schlecht. Schließlich war er der Sohn eines stadtbekannten Säufers, von dem die Leute behaupteten, er habe seine Frau ermordet. Ein Rumtreiber, der sich auf dem vergammelten Kutter seines Vaters die Finger blutig schuftete, damit der Alte sich Gin kaufen konnte. Dessen schlechter Ruf färbte unwillkürlich auf Travis ab. Die Leute machten da keinen Unterschied. Er war der Sohn eines Versagers, und nun stand sein Wort gegen das von Garreth Wyne, der in Exeter studierte und bald die Leitung des Hotels seines Vaters übernehmen würde – einem angesehenen Bürger Pennacks, der im Stadtrat saß, Macht und Einfluss hatte und die Taschen voller Geld. Die Wynes konnten sich Anwälte leisten, die jede Spur eines Verdachts vom Tisch wischen würden. Und was hatte er vorzuweisen? Den Ruf eines faulen Apfels, der das ganze Fass anzustecken drohte, hätte Jenkins gesagt.

Travis spürte, dass etwas Schreckliches geschehen war. Er hatte Angst, Angst um Susan. Was um Gottes willen hatte Garreth getan?

„Wir wollten uns hinter dem Maugham-Haus treffen, im alten Garten oberhalb der Klippen“, sagte er. „Dort waren wir oft zusammen.“

„Aber Susan kam nicht?“

„Nein.“

Collins schüttelte den Kopf und lachte.

„Was hast du dann gemacht?“, fragte Tremaine.

„Ich hab bis Viertel vor acht gewartet, dann bin ich runter zum Bootshaus. Ich hab den Pick-up geholt und bin herumgefahren, um Susan zu suchen.“

„Du hast nicht versucht, sie anzurufen?“

„Doch, natürlich. Aber sie hat sich nicht gemeldet.“

„Wir checken gerade sein Handy“, sagte Collins.

Tremaine nickte. „Und dann?“

„Unterwegs hab ich Steve Perkins getroffen. Er hat mich überredet, mit ihm ein, zwei Bier zu trinken.“

„Und du bist einfach mitgegangen? Du sorgst dich um deine Freundin und fährst durch die Nacht, um sie zu suchen, aber dann beschließt du plötzlich, durch die Pubs zu ziehen?“

Travis brauchte nicht lange darüber nachzudenken, warum er Steves Einladung gefolgt war. Er hatte Vergessen gesucht, weil die Wirklichkeit zu schmerzhaft war, um sie ertragen zu können. Er hatte es wegen Susan getan. Wegen Garreth und seinem verfluchten Jähzorn. Wegen des Alten, der ihn mit dem Bootshaken jagte, weil er ihn im Delirium für den Leibhaftigen hielt, der gekommen war, um ihn in die Hölle mitzunehmen. Er hatte getrunken, weil er wenigstens eine Zeit lang vergessen wollte, dass er dieses öde Kaff und seine einfältigen und starrsinnigen Bewohner niemals hinter sich lassen konnte, bevor er seine Schulden abbezahlt hatte. Seine einzige Chance war Susan gewesen. Als sie nicht kam, war ihm klar geworden, was das bedeutete. Er war raus aus dem Spiel und Garreth drin. Erst nachdem er den Garten verlassen hatte und mit düsteren Gedanken beladen nach Pennack hinunterging, war in ihm der Verdacht gekeimt, Garreth könnte das Treffen gewaltsam verhindert haben.

„Ich war vorher in der Wache und habe Susan als vermisst gemeldet“, sagte er. „Aber Jenkins hat mich nicht ernst genommen. Er weigerte sich, etwas zu unternehmen.“

„Verständlich“, sagte Collins. „Warum sollte er eine Suchaktion einleiten, nur weil Susan nicht zu eurer Verabredung erschienen ist?“

„Weil ich ihm sagte, ich hätte Grund anzunehmen, dass Garreth ihr etwas angetan hat. Es wäre nicht das erste Mal, dass er gewalttätig wird. Ich habe Susan nie zuvor so ängstlich erlebt. Es musste etwas Schlimmes passiert sein, sonst wäre sie nicht derartig in Panik geraten.“

„Du glaubtest also, Garreth sei dahintergekommen, dass du ein Verhältnis mit ihr hast?“, fragte Collins.

„Ja, es gab keine andere Erklärung.“

„Wann bist du auf der Wache gewesen?“, fragte Tremaine.

„Hab ich doch gesagt. So gegen acht.“

Collins verließ den Raum. Travis sah durch die gläserne Trennscheibe, dass er telefonierte. Wahrscheinlich würden sie jetzt den Maugham-Garten absuchen und mit Jenkins reden, um die Angaben zu überprüfen.

„Weiter“, sagte Tremaine.

„Ich hab den Wagen im Bootshaus abgestellt. Kurz darauf lief mir Steve über den Weg. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und brauchte jemanden zum Reden. Steve lud mich zu einem Bier ein, aber dann …“, er senkte beschämt den Kopf, „… hab ich die Kontrolle verloren. Wie ich in den Schuppen zurückgekommen bin, weiß ich nicht mehr.“

Er beugte sich vor und barg das Gesicht in den Händen. Der verfluchte Alkohol! Warum nur hatte er Steves Drängen nachgegeben? Er wusste doch, wie es endete, wenn er in einen Pub ging.

„Sagen Sie mir jetzt endlich, was passiert ist.“

Tremaine lehnte sich zurück. „Ich werde dir mal erklären, wie ich die Sache sehe. Du fängst ein Techtelmechtel mit der Freundin deines ehemals besten Kumpels an, aber sie bekommt Gewissensbisse. Sie muss sich zwischen euch entscheiden, und das tat sie gestern Abend. Sie bestellt dich in den Maugham-Garten und macht dir klar, dass es aus ist. Ihr streitet euch, und du verlierst die Beherrschung. Du willst nicht wahrhaben, dass sie sich für Garreth entschieden hat. Ausgerechnet für ihn, der es zu etwas gebracht hat, während du ihr nichts zu bieten hast außer einem schrottreifen Fischkutter und einen Haufen Schulden.“

„Das ist nicht wahr.“

Travis ballte die Fäuste und grub die Fingernägel in die Handflächen, bis der Schmerz unerträglich wurde. Tremaine stieß ihm ein Messer ins Herz und drehte es in der Wunde herum.

„Nein, nein, nein“, sagte er, „so war das nicht.“

„Dann sag mir, was passiert ist.“

„Ich kann mich an nichts erinnern.“

„Okay, Travis. Vielleicht war es keine Absicht, sondern ein Unfall. Du hast Susan gestoßen, und sie ist unglücklich gestürzt. Plötzlich liegt sie da und rührt sich nicht mehr. Überall ist Blut. Du gerätst in Panik und handelst kopflos.“

„Nein. Das stimmt nicht. Mir ist übel.“

„Kotz uns bloß nicht das Büro voll!“, sagte Tremaine.

Er klopfte an die Scheibe. Zwei uniformierte Beamte kamen und begleiteten Travis zu den Toiletten. Er stolperte in eine der Kabinen und erbrach sich in die Toilettenschüssel, bis sich sein leerer Magen krampfhaft zusammenzog. Erst jetzt wurde ihm die Bedeutung dessen, was Tremaine sich zusammenreimte, klar. Er war davon überzeugt, dass Susan einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, und hielt ihn für den Täter. Aber … irgendetwas stimmte nicht an dem, was er sagte. Etwas Wichtiges fehlte.

„Komm jetzt! Weiter geht‘s.“

Die Beamten zogen ihn hoch. Travis steckte den Kopf ins Waschbecken und spülte sich den Mund aus. Dann brachten sie ihn zurück in den Verhörraum und drückten ihn auf den Stuhl.

„Okay“, sagte Tremaine, „hast du ein bisschen nachgedacht?“

„In der Kloschüssel? Ich kam gerade nicht dazu.“

„Dann muss ich das für dich machen. Du warst in Panik. Die Leiche musste verschwinden, denn du wusstest genau, dass wir dir den Mord sonst leicht nachweisen würden. Also hast du sie mit deinem Wagen zum Bootsschuppen gebracht. Aber da konnte sie nicht bleiben. Du schaffst sie fort und triffst kurz darauf deinen Kumpel Steve. Obwohl du normalerweise keinen Tropfen anrührst, ziehst du sofort mit ihm los und betrinkst dich bis zur Besinnungslosigkeit. Warum hast du das getan? Ich werd‘s dir sagen: um dein Gewissen zum Schweigen zu bringen. Die verdammte Stimme in deinem Kopf, die nicht aufhören wollte, dich anzuklagen. Wie konntest du so etwas Böses tun, Travis? Was hast du dir dabei gedacht? Warum ausgerechnet Susan, die du doch geliebt hast? Du hast sie totgeschlagen und verbuddelt wie einen Hundekadaver.“

„Hören Sie auf.“

„Nein, Travis. Ich fange gerade erst an. Also?“

„Also was?“

„Wo hast du die Leiche versteckt?“

„Leiche?“

Die Erkenntnis traf ihn mit der Wucht einer stumpfen Axt. Susan war tot. Alles, was Tremaine vermutete, entsprach der Wahrheit – mit einem Unterschied. Nicht er, Travis, hatte Susan umgebracht, sondern Garreth. Er kämpfte gegen die schwarze Woge der Trauer an, die über ihm zusammenschlug. Die quälende Vorstellung, dass es Susan nicht mehr geben sollte, brachte ihn fast um den Verstand.

„Sie könnte noch leben, wenn Jenkins etwas unternommen hätte!“, schrie Travis unter Tränen.

Collins kehrte zurück, er hatte die letzten Worte offenbar gehört.

„Demnach ist Susan Prescott tot?”, fragte er.

„Das habe ich nicht behauptet. Sie haben von einer Leiche geredet.“

Travis biss sich auf die Unterlippe. Er war nicht ausgekocht genug, um es mit zwei erfahrenen Mordermittlern aufnehmen zu können, die ihm jedes Wort im Mund herumdrehten. Schon gar nicht in seinem Zustand. Es war ohnehin sinnlos. Sie hatten einen Schuldigen gefunden, einen Kerl aus den Docks, der sich an die Tochter eines der reichsten Bürger Pennacks herangemacht hatte, um Zutritt zu einer Welt zu erlangen, die ihm auf anderem Weg verschlossen war.

Collins legte zwei durchsichtige Plastikbeutel auf den Tisch. Travis wurde schlagartig nüchtern. In dem ersten Beutel steckte ein Bootshaken. Es war keiner der modernen aus Aluminium oder Kunststoff, sondern ein schwerer, eiserner Haken mit einer konischen Tülle, in die man eine Holzstange stecken konnte. Es war einer von denen, wie sein Vater sie benutzte. Im Bootshaus und auf der Eloise gab es mehrere davon. An diesem klebten Blut und Haare.

Der zweite Beutel enthielt ein zerfetztes, orangefarbenes T-Shirt mit dem Aufdruck Sunny seaside.

„Kommt dir bekannt vor, oder?“, fragte Tremaine.

Travis nickte. Leugnen machte keinen Sinn. Es war das T-Shirt, das Susan gestern Abend getragen hatte.

„Okay. Wo ist sie?“

„Ich weiß es nicht.“

Tremaine seufzte. „Begreifst du nicht, dass wir dir gerade eine Brücke bauen? Wenn du gestehst, kommst du mit Totschlag im Affekt davon und bist nach ein paar Jahren wieder draußen. Für einen Mord wanderst du für den Rest deines Lebens ins Gefängnis. Denk darüber nach.“

„Ich schwöre bei Gott, ich habe ihr nichts getan.“ Travis wollte nicht weinen, aber er tat es doch. Nicht um seinetwillen, sondern um Susan.

„Es war Garreth“, sagte er, „er hat sie umgebracht.“

„Wir haben heute Morgen mit ihm gesprochen. Er hat für die Tatzeit ein Alibi“, sagte Collins. „Er ging mit seinem Vater zusammen Abrechnungen durch. Eine Angestellte des Hotels hat das bestätigt.“

Travis schüttelte den Kopf und lachte. „Na klar, was sonst? Haben Sie sie auch gefragt, wie viel der Alte ihr für die Aussage bezahlt hat?“

Tremaine faltete die Hände auf dem Tisch. „Wir wollen dir helfen, Travis. Aber dazu musst du uns die Wahrheit sagen. Wo ist Susan Prescott?“

„I C H  W E I ß  E S  N I C H T !”

Collins begann, auf und ab zu laufen. „Fassen wir mal zusammen. Du hattest ein Motiv, die Gelegenheit und das passende Mordwerkzeug zur Hand.“

„Wozu hätte ich denn einen Bootshaken in den Maugham-Garten mitnehmen sollen?“

„Vielleicht lag er ja auf der Ladefläche des Pick-ups. Dein Vater und du, ihr benutzt den Wagen doch zum Fischtransport, oder?“

„Warum hast du ihr das Shirt ausgezogen?“, fragte Tremaine. „Wolltest du ein Andenken?“

„Sie sind ja krank!“

„Okay, wir machen eine Pause.“

Sie steckten ihn in eine Zelle, in der nur ein Eimer und eine schmale Pritsche standen. Nach einer Stunde holten sie ihn wieder ab und begannen von vorn. Sie stellten ihm die gleichen Fragen, und er gab die gleichen Antworten. Das Spiel wiederholte sich bis zum Abend des folgenden Tages.

Travis brach zusammen, aber er sagte ihnen nicht, wo Susan war. Er wusste es nicht. Sie analysierten die Blutspuren am Bootshaken und auf dem T-Shirt und verglichen die DNA mit Haaren, die sie einer Bürste entnahmen, die Susan Prescott gehört hatte. Das Ergebnis war eindeutig. Auf der Tatwaffe identifizierten sie Travis‘ Fingerabdrücke. Das war nicht weiter verwunderlich, denn auf der Eloise hantierte er ständig damit. Doch das interessierte niemanden.

Achtundvierzig Stunden später wurde er dem Haftrichter vorgeführt. Er konnte sich keinen Anwalt leisten, also stellte man ihm einen Pflichtverteidiger. Victor Penrose war kaum älter als Travis, es war zudem sein erster Mordfall. Er kannte die Verfahrensabläufe, gab sich aber keine Mühe, ihn ernsthaft zu verteidigen. Die Beweislast war erdrückend.

Die Hauptverhandlung endete mit einem klaren Schuldspruch. Der Richter verurteilte Travis wegen Totschlags zu fünfzehn Jahren Haft. Sie brachten ihn nach Exeter zurück. Wieder lag die Stadt im Nebel. Die Tore der Haftanstalt schlossen sich hinter Travis. Susan Prescotts Leiche wurde nie gefunden.

2

Fünf Jahre später, Deutschland

Jennifer Nowak schlug die Augen auf und begriff augenblicklich, dass sie in tödlicher Gefahr schwebte. Die Berghütte, in der sie das Wochenende verbringen wollte, brannte wie eine Pechfackel.

„Miro!“

Ein qualvolles Husten erstickte ihren Schrei. Sie versuchte sich aufzurichten, sank aber kraftlos auf das Bett zurück. Etwas hielt sie fest und bemühte sich, ihren Überlebenswillen zu brechen. Die Stimme flüsterte ihr ein, dass es sinnlos wäre, sich zu wehren, und so viel leichter, sich der Dunkelheit hinzugeben. Dort war es kühl und friedlich, und es gab keine Schmerzen mehr.

Verzweifelt kämpfte sie gegen die drohende Ohnmacht an. Wenn sie das Bewusstsein verlor, würde sie nie wieder aufwachen. In der schrecklichen Erkenntnis, dass ihr nur Sekunden blieben, um sich zu retten, versuchte sie zu verstehen, was geschehen war. Beißender Qualm sammelte sich unter dem Hüttendach und nahm ihr die Sicht. In der fremden Umgebung verloren Dimensionen ihre Bedeutung, oben und unten, nah und fern tauschten ihre Plätze. Jennifer tastete orientierungslos auf der Bettdecke umher, bis ihr klar wurde, dass der Platz neben ihr leer war. Miro war nicht da, wo er sein sollte.

„Miro! Wo bist du?“

Jeder Atemzug wurde zur Qual, Panik überflutete sie wie eine heiße, schwarze Woge. Jennifer kroch aus dem Bett, legte sich bäuchlings auf den Fußboden und atmete so flach wie möglich. Die Dielen unter ihr waren so heiß, dass jede Berührung schmerzte. Sie zog die karierte Daunendecke vom Bett und schlang sie über Kopf und Oberkörper. Immerhin bot sie ihr einen gewissen Schutz vor den giftigen Rauchgasen, die sich unter dem Hüttendach sammelten. Vielleicht gerade lange genug, um die Panik niederzuringen und einen klaren Gedanken zu fassen. Sie musste einen Weg aus diesem Inferno finden, bevor sie wieder die Besinnung verlor, doch die Kraft, die ihr noch blieb, wehte der Feuersturm davon wie Ascheflocken. In der sauerstoffarmen, rauchgeschwängerten Luft wurde ihr schwindelig, alles drehte sich um sie.

„Miro!“

Es sollte ein kraftvoller Ruf nach Hilfe werden, doch ihrer Kehle entrang sich nur ein staubtrockenes Krächzen. Miro antwortete nicht. Selbst wenn er sich in unmittelbarer Nähe aufhielt, würde er sie dennoch nicht hören können. Das Prasseln und Knistern brennender Balken übertönte jedes andere Geräusch.

Die Hütte bestand aus einem einzigen, großen Raum im Erdgeschoss. Eine steile Stiege führte zu einem Schlafzimmer hinauf, dessen vorderer Teil in einer offenen Empore mündete. Hier hatten sie sich noch vor Kurzem mit einer Hingabe und Leidenschaft geliebt, die Jennifer überrascht hatte. Niemals zuvor hatte sie sich einem Mann so bedingungslos und offen hingegeben wie Miro.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit seitdem vergangen war und was in der Zwischenzeit geschehen war. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann sie eingeschlafen war. In der wohligen Entspanntheit ihres Liebesnests hatte sie in seinen Armen gelegen, geredet und gelacht, Zärtlichkeiten ausgetauscht und dann … sie wusste es nicht mehr. Und sie würde auch keine Gelegenheit mehr bekommen, sich zu erinnern, wenn sie nicht sehr schnell einen Fluchtweg fand.

Sie kroch auf die Empore zu, tastete sich am Geländer entlang und stieß auf die oberste Treppenstufe. Ein Blick hinab reichte aus, um ihr jede Hoffnung zu nehmen. Sie hätte ebenso gut in einen brodelnden Vulkan springen können. Die Flammen leckten an den Holzwänden empor und würden in wenigen Minuten die Empore erfassen. Die Höllenglut, die ihr entgegenschlug, versengte ihre Haare und brannte wie ätzende Lauge in ihren Lungen.

Jennifer schlang die Decke fester um die Schultern und kroch ins Schlafzimmer zurück. In der hinteren Giebelwand befand sich ein Fenster, gerade groß genug, um sich hindurchwinden zu können. Wahrscheinlich würde sie den Brand zusätzlich anheizen, wenn frischer Sauerstoff hineinströmte, aber ihr blieb keine Wahl. Sie öffnete das Fenster, streckte den Kopf ins Freie und sog gierig die kalte Luft in die Lungen. Jeder Atemzug schmerzte wie ein Messerstich, aber allmählich klarte sich ihr Verstand.

Der Boden lag etwa fünf Meter unter ihr, ein schmaler Streifen Wiese mündete in einen steil abfallenden, mit Fichten bewachsenen Hang. Die Bäume standen zu weit entfernt, um sie erreichen zu können. Aus der Wiese ragten Felsbrocken, die in der Dunkelheit kaum auszumachen waren. Wenn sie sprang, würde sie sich vermutlich mehr als nur die Beine brechen. Doch selbst diese Aussicht erschien ihr verlockender, als bei lebendigem Leib zu verbrennen.

Die Berghütte war in Blockbauweise erstellt worden und ruhte auf einem Sockel aus Bruchsteinen. In regelmäßigen Abständen ragten die Enden kräftiger Stämme aus der Außenwand, auf denen sie Halt finden würde. Zwar bedeutete der Abstieg eine lebensgefährliche Kletterei, aber hinter ihr lauerte der Tod.

Ein dumpfer Knall aus dem Innern der Hütte schreckte sie auf und bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. In einer Kammer hinter dem offenen Küchenbereich lagerten Propangasflaschen, mit denen der Kochherd betrieben wurde. Wenn die Hitze eine kritische Schwelle überschritt, würde die Hütte in die Luft fliegen wie eine Streichholzschachtel, die man mit Benzin übergossen und angezündet hatte.

Jennifer streifte die Decke ab und schwang ein Bein über die Fensterbrüstung. Es gelang ihr, den Oberkörper durch die Öffnung zu zwängen, sich am Rahmen abzustützen und das andere Bein nachzuziehen. Sie tastete mit den nackten Füßen nach Halt und schöpfte Hoffnung. Ihr Schutzengel hatte sie bestimmt nicht aufgeweckt, nur um sie jetzt im Stich zu lassen. Aber wo war Miro? War er mitten in der Nacht aufgestanden, um zur Toilette zu gehen? Warum hatte er das Feuer nicht bemerkt? Oder hatte er die Besinnung verloren und war längst zu Asche verbrannt? Jennifers Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen bei der Vorstellung, ihn zu verlieren. Sie kannte ihn erst seit drei Monaten, aber sie liebte ihn mit jeder Faser ihres Herzens. Endlich war sie sicher gewesen, dass das Schicksal sie nach den Pleiten und Enttäuschungen der vergangenen Jahre in die richtige Bahn lenkte. Sie klammerte sich verzweifelt an die Hoffnung, dass er die Hütte rechtzeitig hatte verlassen können.

Jennifer umklammerte das Fensterbrett und ließ sich langsam in die Tiefe herab. Erschrocken stellte sie fest, wie schwach sie war. Sie rutschte mit den Zehen von einem nassen Balkenvorsprung ab und hing ein, zwei Sekunden nur an einer Hand, bevor sie wieder Halt fand. Sie grub ihre Finger in das nasse Holz und kletterte nach unten, bis sich ihr Kopf auf Höhe des vergitterten Fensters der Vorratskammer befand. In diesem Augenblick explodierten die Gasflaschen. Ein kochend heißer Sturm aus Feuer und Glassplittern traf sie im Gesicht und fegte sie davon wie eine Stoffpuppe. Mit einem erstickten Schrei auf den Lippen stürzte sie der Dunkelheit entgegen. Gegen diese Gewalt war auch ihr Schutzengel machtlos.