Prolog
Sie waren gekommen, um zu töten.
Am Horizont kämpfte die Dämmerung mit der dunklen Nacht, der Wind vom Meer her war salzig und kühl. Den Wagen hatten sie abgestellt, gingen die letzten Meter zu Fuß. Der Mann war noch nicht da. Sie kannten seine Gewohnheiten. Die hohe Hecke, die den Garten des Grundstücks von der schmalen Uferstraße trennte, bot ihnen Schutz. Am Strand tollte ein Hund herum, der Mensch dazu lief beruhigend weit entfernt am Wasser entlang, nicht mehr als ein dunkler Schatten im Dunst.
Im Haus bewegte sich jemand. Die große Glastür, die zur Terrasse hinausführte, wurde aufgeschoben. Der Mann trat heraus. Er trug eine Tasse in einer Hand. Mit der anderen tastete er in der Tasche des edlen, gemusterten Morgenmantels herum. Darunter sah man die Beine seiner Pyjamahose. Seide, vermutlich. Er zog eine Packung Zigaretten hervor, schüttelte einen Glimmstängel heraus, ließ ein Feuerzeug aufschnappen. Genüsslich sog er den Rauch ein, mit leicht zurückgelegtem Kopf, stieß ihn wieder aus. Einen Moment lang stand er ganz still, wandte sich dann der Meerseite zu. Sein Gesicht war nicht zu erkennen. Ahnte er etwas?
Er nahm zwei, drei weitere Züge, trank dazwischen aus der Tasse. Jede seiner Bewegungen war ruhig. Entspannt. Mit dem Fuß angelte er nach einem Stuhl, stellte die Kaffeetasse auf dem Holzboden der Terrasse ab und setzte sich.
Er hatte keine Ahnung, wie nah der Tod ihm in diesem Moment war.
Kapitel 1
Er stand am Strand und schaute aufs Meer hinaus. Der schmutzigweiße Hund saß zu seinen Füßen. Meistens folgte er dem Blick des Menschen, gelegentlich sah er zu ihm hinauf, als wollte er sagen: »Komm jetzt. Gut is. Lass uns wieder spielen.«
Seit sie hierhergezogen waren, in dieses flache Haus in Norddeich, direkt hinter dem Dünenweg, sah Lena Gerd fast jeden Nachmittag dort draußen, am Saum des Wassers stehen. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, eine Aura von Ruhe um sich. Sie selbst hatte diese Ruhe bisher nicht gefunden. Sie kam ihr aber täglich näher. Immer noch fragte sie sich, wie es kam, dass er diesen Schalter so schnell hatte umlegen können.
»Weil es das ist, was ich mir wünsche. Bei dir zu sein. Hier zu sein, solange wir es wollen.«
Lena ging auf ihn zu. Die Luft war feucht von dem feinen Nieselregen, der vor einer Stunde kurz niedergegangen war. Der Sand knirschte unter ihren Schritten. Gerd drehte sich mit einem Lächeln zu ihr um.
»Hi«, sagte sie und schlang die Arme um seine Hüfte. Er hatte ein bisschen zugelegt, seit er sich nicht mehr die Tage, und vor allen Dingen die Nächte, in einem seiner Frankfurter Clubs im Bahnhofsviertel – SM, Striptease, Tabledance – um die Ohren schlug. Sie fand es sexy, so wie den ganzen Mann. Ihren ersten und bisher einzigen. Noch immer gab es Momente des Erstaunens, wenn sie darüber nachdachte. So viele Dinge hatten sich in ihrem Leben geändert. Dass sie einen Mann liebte, gehörte dazu. Ebenso wie die Tatsache, nicht mehr zu arbeiten. Jeder Tag war lediglich bestimmt von dem, was sie tun wollten. Nicht mehr von dem, was sie tun mussten.
»Ich glaube, dein Freund will wieder spielen.« Der Hund merkte, dass sie zu ihm herübersah. Sein Schwanz wedelte freudig Sand auf. Er fiepte. »Weißt du inzwischen, wem er gehört?«
»Ich glaube, er ist herrenlos.« Gerd schaute ebenfalls auf die Promenadenmischung. Nicht besonders gepflegt, aber anhänglich.
»Lass uns ein Stück gehen«, schlug sie vor. Hand in Hand, den Hund neben sich, liefen sie den Strand entlang in Richtung Ostermarscher Watt. Es gab nur noch wenige Häuser hier am Rand der Ortschaft, an denen sie schnell vorüber waren. Bisher hatten sie nicht entschieden, ob sie längerfristig bleiben oder nach diesem Sommer woanders hinziehen wollten. Alles geht, sagte er immer. Nichts hat Eile. Wir haben alle Zeit dieser Welt.
Eine halbe Stunde später kehrten sie um. Gerd warf dem Hund Stöckchen zu, denen er eifrig hinterherrannte, um sie zurückzubringen. Lena ließ die beiden irgendwann hinter sich. Sie war als Erste wieder am Haus, betrat das Grundstück durch das halbhohe Gartentor, das in die Sichtschutzhecke eingelassen war. Der Garten war gepflegt, vermisste aber die liebende Hand einer Gärtnerin aus Leidenschaft. Das war Lena gewiss nicht. Die beiden Gestalten am Strand trennten sich. Der Hund blieb immer an einer bestimmten Stelle sitzen, als gäbe es eine unsichtbare Linie, die er nicht überschreiten wollte. Gerd kam herangestapft, ein Leuchten in den Augen, das erst hier gewachsen war.
»Kaffee?«, rief sie ihm zu, bereits an der Terrassentür.
»Unbedingt!«, gab er zurück. Während sie schon ins Haus ging, in der Küche das Fenster kippte und das Kaffeepulver aus dem Schrank nahm, hörte sie, wie er sich mit einem genüsslichen Prusten auf einen der Terrassenstühle plumpsen ließ. Gleich würde der würzige Duft einer der wenigen Zigaretten, die er sich pro Tag gönnte, durchs gekippte Küchenfenster zu ihr hereinziehen. Sie stellte Tassen auf ein Tablett und spürte, wie sich ihre Lippen zu einem Lächeln hoben. Sie war glücklich mit diesem Leben, so fremd es ihr auch immer noch schien. So glücklich wie nie zuvor.
Kapitel 2
Die Schüsse fielen kurz nach vier Uhr am Morgen.
Etwas hatte Lena aus einem angenehmen Traum geweckt. Verschlafen und noch halb in einer Zwischenwelt schob sie die Hand auf die andere Seite des Bettes. Es war leer, das Laken warm. Sie drehte sich um, als sie Glas splittern hörte.
»Gerd?«, rief sie in die Dunkelheit des Schlafzimmers hinein. Niemand antwortete. Von draußen drang das Geräusch eines vorbeifahrenden Wagens an ihr Ohr. Es entfernte sich schnell. Plötzlich fing ihr Herz an, heftig zu schlagen. »Gerd?«, rief sie, dieses Mal lauter. Gleichzeitig hob sie die Beine aus dem Bett, tastete nach ihren Flip-Flops, fand sie nicht und ging, auf einmal beunruhigt, barfuß zur Schlafzimmertür. Sie stand offen, wie immer. Gerd mochte keine geschlossenen Türen im Haus. Mit Ausnahme seines Arbeitszimmers, das er sich auch hier eingerichtet hatte. Der weitläufige Bungalow, in klarem, skandinavisch anmutendem Design, war dunkel. Lena lief durch den Flur ins Wohnzimmer, dessen verglaste Längsseite in den Garten zeigte. Die Solarleuchten warfen ein mattes messingfarbenes Licht auf die Rasenfläche. Lena näherte sich der Tür. Sie wunderte sich, Gerd dort draußen nicht sitzen zu sehen. Sie kannte seine Gewohnheiten inzwischen genau. Er stand fast immer zwischen vier und fünf Uhr morgens auf. Ging auf die Terrasse, um eine Zigarette zu rauchen. Manchmal trank er einen frühen Kaffee dazu, bevor er sich für eine weitere Stunde zu ihr legte.
»Es ist die perfekte Zeit für mich. Die Nacht begibt sich zur Ruhe und der Lärm des Tages hat noch nicht begonnen«, sagte er immer. Es war die Zeit, zu der er früher häufig nach Hause, nach Bad Homburg, gekommen war aus einem seiner Clubs. Seine Entscheidung, sie aufzugeben, war vor wenigen Monaten gefallen. Sie hatte viel mit Lena und seiner Liebe zu ihr zu tun. Auch wenn diese Liebe anfangs kaum Aussicht auf Erfolg gehabt hatte.
Das Licht sickerte grau wie flüssiges Blei durch die große Fensterfront. Die Schiebetür zur Terrasse war halb geöffnet, die kühle Nachtluft drang herein. Lena fröstelte. Nicht nur deswegen. Dort draußen lag etwas. Es hatte die Form eines Körpers. Auf einen Schlag war die Angst da und Lena rannte. Der Stuhl, auf dem Gerd gesessen hatte, war mit ihm umgekippt. Einer seiner Lederslipper war ihm vom Fuß gerutscht. Eine glimmende Zigarette lag auf den Holzplanken. Ein Becher stand daneben, fast noch voll mit schwarzem Kaffee. Gerd lag auf der Seite, unter seinem Kopf hatte sich eine rote Lache gebildet. Auf seiner Brust zerfloss das Paisleymuster seines Morgenmantels und Lena erkannte schockiert, dass es ein schnell größer werdender Blutfleck war. Sie schrie entsetzt auf, bevor sie neben ihrem Freund auf die Knie fiel, sein Gesicht berührte. »Gerd! Gerd! Hörst du mich?« Er antwortete nicht und ihr wurde so kalt, als hätte man sie mit Eis übergossen. Sie sprang auf, rannte zurück ins Haus und wählte den Notruf.
Polizei und Notarzt waren fast gleichzeitig gekommen, und das sonst so behaglich stille Haus hatte sich in einen Ort voller nervöser Anspannung verwandelt, an dem Menschen eilig hin- und herliefen, sich fremd klingende Worte zuriefen oder sich gedämpft unterhielten. Jemand hielt Lena an den Schultern fest, als Gerd auf einer Trage zuerst durch den Raum und dann in den Krankenwagen geschoben wurde.
»Sie dürfen später zu ihm, im Moment können Sie nichts für ihn tun. Aber wir brauchen Sie hier. Wir haben Fragen.« Ein Polizist mit beruhigender Stimme, er war ungefähr in Gerds Alter.
»Sind Sie seine Ehefrau?«
»Lebensgefährtin.«
Ihre Hände wurden auf Schmauchspuren untersucht. Man nahm ihre Fingerabdrücke. Sie ließ es wie in Trance geschehen. Sie wurde gefragt, ob sie jemanden gesehen hatte. Sie schüttelte den Kopf. Die Nachbarn vielleicht? Alle weiter entfernt. Das Haus zu ihrer Linken stand zudem leer. Die Besitzer kamen meist nur am Wochenende. Rechts von ihrem Bungalow lebte ein älteres Ehepaar. Beide so schwerhörig, dass sich Lena gewundert hätte, wenn sie überhaupt die Sirene des Krankenwagens wahrgenommen hätten.
Irgendwann ließen die Beamten von ihr ab. Lena saß zusammengesunken auf der Couch im Wohnzimmer. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie hatte Angst. Sie konnte einfach nicht begreifen, was mit Gerd, diesem starken Mann, passiert war. Sie nahm alles, was um sie herum geschah, wie durch eine Wand aus Watte wahr. Die Männer und Frauen der Spurensicherung, die in ihren weißen Schutzanzügen wie überdimensionierte Maden aussahen, die Fragen, die ein Kripo-Beamter ihr zwischendurch stellte, die Morgenkälte, die durch die von der Kugel zerborstene Glastür ins Haus drang. Jemand drückte ihr eine Tasse in die Hand. »Trinken Sie das.« Sie trank, obwohl der Tee für ihr Empfinden viel zu süß war.
Irgendwann trat eine große schlanke Frau in einem dunklen Kostüm neben sie.
»Hauptkommissarin Paula May. Können wir irgendwo ungestört reden?«
Lena nickte und ging voran in Gerds Arbeitszimmer. Dort ließen sie sich auf der ledernen Sitzgruppe einander gegenüber nieder. Hier drangen die Laute von draußen nur gedämpft herein.
»Was ist mit Gerd?«, fragte Lena ihr Gegenüber. Die Frau zog ein Brillenetui, einen Rekorder sowie Notizblock und Stift aus ihrer geräumigen Tasche.
»Herr Rohloff lebt. Mehr kann ich Ihnen noch nicht sagen. Er befindet sich bereits im OP des Krankenhauses.« Paula May setzte eine Brille auf, deren breites Gestell genauso dunkel war wie ihr strenger Haarknoten.
»Wir müssen schnell handeln. Es scheint, als ob niemand in Ihrer unmittelbaren Umgebung etwas gehört oder gesehen hat. Wir sind momentan ganz auf Ihre Wahrnehmungen angewiesen. Darf ich?« Sie hob den Rekorder. Lena nickte.
Der Blick aus den tiefbraunen Augen der Frau lag mit seltsamer Ruhe auf ihr.
»Ich habe Ihren Kollegen schon alles gesagt«, antwortete Lena bedauernd. »Ich muss vom Geräusch des splitternden Glases geweckt worden sein. Gerd …«, sie brach ab, weil ein heftiger Schmerz sie durchfuhr. Paula May saß ruhig da, den Block auf den übereinandergeschlagenen Beinen abgelegt.
»Wir schauen jetzt mal, woran Sie sich noch erinnern können. Erfahrungsgemäß ist unsere Wahrnehmung sehr viel feiner, als gemeinhin angenommen wird. Ich bin nicht nur Polizistin, sondern auch Psychologin. Jetzt bin ich hier, um mit Ihnen diese Feinheiten zu finden.« Sie lächelte flüchtig. »Frau Borowski, schließen Sie doch bitte mal die Augen.«
Lena, die sich vor wenigen Minuten noch gefühlt hatte wie von einem Hurrikan in die Luft geschleudert, wurde ruhiger.
»Was machen Sie mit mir?«
»Was meinen Sie?« Paula May hob fragend die Brauen.
»Hypnotisieren Sie mich?«
»Nein, Frau Borowski. Ich versuche, mit Ihnen gemeinsam Zugang zu momentan verschütteten Erinnerungen zu erhalten. Damit wir den oder die Täter schneller finden können.«
Wieder ein schnelles Lächeln.
Lena schloss die Augen.
»Kehren Sie nun bitte zu Ihrer ersten Wahrnehmung zurück.«
»Ich bin von dem Geräusch aufgewacht«, wiederholte Lena das, was sie bereits gesagt hatte. Um sich sofort zu korrigieren. »Nein. Das stimmt nicht. Ich war ja schon wach.« Paula May sagte nichts und Lena fühlte sich merkwürdig geborgen in diesem Schweigen. »Ja. Ich war bereits wach.«
»Warum sind Sie aufgewacht?«
»Möglich, dass ich Gerd gehört habe, als er auf die Terrasse hinausging.«
»Tat er das öfter?«
»Ja. Eigentlich jeden Morgen. Es ist seine Zeit, wie er immer sagt. Die Zeit, die nur ihm alleine gehört. Eine alte Angewohnheit von früher.«
»Gut. Haben Sie ihn an den anderen Tagen gehört?«
Nein, nie. Gerd war sehr leise, wenn er aufstand. Mit Rücksicht auf ihren Schlaf warf er nicht einmal die teure Baristamaschine in der Küche an, sondern goss sich seinen Kaffee von Hand auf.
»Gehen wir davon aus, dass Sie sich bereits daran gewöhnt hatten oder Ihr Lebensgefährte sehr rücksichtsvoll ist. Was könnte Sie dann geweckt haben?«
Lena versuchte, sich zu erinnern. Im Traum war sie an einem Strand entlanggegangen. Das türkisfarbene Wasser hatte ihre Füße benetzt, während auf der anderen Seite die Sanddünen immer höher wurden. So hoch, dass sie den Wagen nicht sah, dessen Motor angelassen worden war.
»Ein Wagen. Ich habe den Motor eines Wagens gehört. Davon bin ich wach geworden.«
»Gut«, sagte Paula May leise. »Weiter.«
»Fast zeitgleich fielen die Schüsse. Also – ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es Schüsse waren. Ich hörte nur das Glas splittern.«
»Gut. Weiter.«
Lena schilderte, wie sie aufgestanden war und Gerd gefunden hatte.
»Haben Sie noch einmal einen Wagen gehört? Oder etwas anderes?«
Hatte sie? Sie wusste es nicht mit Sicherheit.
Die Psychologin ließ ihr Zeit.
»Ja. Doch. Als ich aufstand. Ein Hund. Ich habe einen Hund bellen gehört. Von weitem. Und eine Wagentür wurde zugeschlagen. Bevor sich das Motorengeräusch entfernte.«
»Gut. Weiter.«
Weiter? Sie konnte sich nur noch an die kalte Hand erinnern, die sich um ihr Herz gelegt hatte, als sie Gerd auf der Terrasse hatte liegen sehen. Das Blut. Ihre Hände, rot davon. Sie riss die Augen auf, ihr Herz hatte wieder begonnen, zu rasen.
»Hat Ihr Lebensgefährte noch etwas gesagt? Hat er Sie wahrgenommen?«
»Nein. Gerd war ohne Bewusstsein, als ich auf die Terrasse kam. Er hat nichts gesagt und im ersten Moment glaubte ich, er wäre tot.«
Eine kalte Hand schien sie zu streifen bei der Erinnerung an diesen schrecklichen Moment.
»Haben Sie ihn bewegt? Vielleicht seinen Kopf zu sich gedreht oder die Wunde berührt?«
Hatte sie? Sie wusste es nicht mehr genau. »Ich glaube, ich habe seinen Kopf umfasst, aber dann, als ich das Blut auf meinen Fingern spürte, sofort wieder losgelassen.«
»Wie lange waren Sie bei ihm, bis Sie den Notruf wählten?«
Sekunden. Eine Ewigkeit. Sie schüttelte den Kopf. »Meiner Meinung nach rief ich sofort an. Vermutlich hockte ich aber doch länger neben ihm, als ich dachte.«
»Und es war niemand mehr bei der Hecke?«
»Nein! Ich habe niemanden gesehen oder gehört.«
»Haben Sie zur Hecke hinübergeschaut?«
Lena überlegte. »Nein. Es war wie ein Tunnel. Ich sah Gerd da liegen und habe nichts anderes mehr wahrgenommen.«
»Auch nicht aus den Augenwinkeln? Manchmal streift unser Blick etwas, ohne es direkt wahrzunehmen.«
Lena schloss noch einmal kurz die Augen, obwohl sie es nicht musste. In dem Moment, als sie vom Wohnzimmer aus Gerd auf der Terrasse liegen sah, die Glassplitter am Boden, hatte sich die Welt um sie herum verdichtet. Sie öffnete die Augen.
»Ich weiß nichts mehr. Da war nichts und niemand. Ich will zu Gerd. Sofort.«
Die Psychologin erhob sich, um in einem anderen Bereich des Raumes leise zu telefonieren. Danach wandte sie sich ihr wieder zu.
»Selbstverständlich kann Sie jemand in die Klinik bringen. Vor allen Dingen benötigt man dort noch ein paar Angaben zur Person. Aber Herr Rohloff ist zurzeit nicht ansprechbar. Sie werden ihn nicht sehen können.«
Lena barg aufstöhnend den Kopf in den Händen.
»Hatte Herr Rohloff Feinde, hier im Ort vielleicht? Jemanden, mit dem er in Streit geraten ist?«
»Nein. Wir kennen hier kaum jemanden. Er traf sich ab und zu mit ein paar anderen Männern zum Boule. Einmal die Woche spielte er Schach in einem Café. Soweit ich weiß, nicht mit einem festen Partner.«
»Und Sie? Haben Sie jemanden kennengelernt?«
Lena musste nicht lange überlegen. »Nur lockere Bekanntschaften. Friseur, ein paar Frauen aus einem Yogakurs, den ich anfangs besucht habe. Die Betreiberin des Naturkostladens, in dem wir häufig einkaufen.«
»Gut. Wir müssen den Personenkreis eingrenzen. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, das ist meistens der Fall, sobald der erste Schock vorüber ist, rufen Sie mich an. Jederzeit.«
»Kann ich jetzt trotzdem ins Krankenhaus?«
Lena schien, als zögere die Frau einen Moment, bevor sie nickte. »Ich begleite Sie, wenn Sie möchten.«
Das Krankenhaus, in das man Gerd gebracht hatte, unterschied sich in nichts von allen anderen Krankenhäusern, die Lena kannte. Viel Glas, ein paar verloren wirkende Grünpflanzen in der Lobby, umherschlendernde Menschen in Bademänteln, manche führten einen Infusionsständer neben sich her. Dazwischen Besucher mit Blumen oder Tüten voller Obst in den Händen, umhereilendes Klinikpersonal. Der Geruch nach Putzmitteln und Desinfektionsgel lag in der Luft. Inzwischen ging es auf elf Uhr zu und Lena wunderte sich, wie schnell die Zeit vergangen war. War ihr doch jede Sekunde seit dem Anschlag unendlich lang vorgekommen. Am Empfang füllte sie ein Formular mit Gerds persönlichen Daten aus und übergab ein kleines Lederetui, das er in der obersten und stets unverschlossenen Schublade seines Schreibtischs aufbewahrt hatte. Es enthielt alles, was gebraucht wurde: die Karte seiner privaten Krankenkasse, die Visitenkarte eines Anwalts mit dem Vermerk »Im Notfall zu benachrichtigen. Patientenverfügung«, sowie einen Organspendeausweis. Sie hatte nicht gewusst, dass Gerd einen solchen Ausweis besaß und ein leichtes Unbehagen verspürt, als sie ihn entdeckt hatte.
»Wer sind die nächsten Angehörigen von Herrn Rohloff?«, wollte die Frau hinter der Glasscheibe wissen.
»Er hat keine«, antwortete Lena. Um sich innerlich sofort zu korrigieren. Gerd hatte einen Bruder. Die beiden standen nicht in Kontakt. Sie waren zerstritten. Soweit sie wusste, lebte der Bruder irgendwo in Südamerika. Sie kannte nicht einmal seinen Namen, geschweige denn eine Kontaktadresse. Sie schwieg.
»Wir benachrichtigen Sie«, versprach die Empfangsmitarbeiterin. Doch Lena hatte nicht vor, sich gleich wieder wegschicken zu lassen.
»Ich will den Arzt sprechen, der meinen Lebensgefährten behandelt.« Ihr war, als wechselte Paula May mit der Klinikangestellten einen Blick, woraufhin die zum Telefon griff.
»Er kommt gleich zu Ihnen. Nehmen Sie doch solange Platz.« Ihre Hand wies auf eine leicht ramponiert wirkende Kunstledergarnitur, die ein paar Meter weiter zwischen kopflastigen Yuccapalmen an der Wand stand.
Paula May nahm Platz, Lena war zu nervös, um sich zu setzen. Sie lief auf und ab und zerrte so fest an der Nagelhaut ihres Daumens, dass es blutete.
»Dr. Köhler. Guten Tag.« Sie fuhr herum. Der Mann war einen halben Kopf größer als sie und leicht gebeugt. Scharfe Falten zogen sich von der Nase zum Mundwinkel. Die blassblauen Augen hinter den Brillengläsern wirkten wach.
»Ich bin der behandelnde Arzt. Herr Rohloff wurde operiert. Er ist jedoch noch nicht ansprechbar.«
»Wie geht es ihm?« Lena hatte auf einmal das Gefühl, sich nicht mehr aufrecht halten zu können und sank neben Paula May auf das Sofa.
»Sie sind nicht verheiratet?«
»Wir leben zusammen.«
Der Arzt fuhr sich mit einer müden Geste übers Gesicht. »Ihr Lebensgefährte wurde angeschossen, aber das wissen Sie ja. Eine Kugel hat den Kopf oberhalb des Ohrs gestreift. Eine zweite sollte wohl das Herz treffen, drang aber neben der Schulter ein. Wir haben sie operativ entfernt.«
»Wird er … wird er wieder gesund?«
Dr. Köhler sog die Oberlippe zwischen seine Zähne. »Das steht zumindest zu hoffen. Wir müssen warten, bis er aus der Narkose erwacht.«
»Wann darf ich zu ihm?«
Wieder wurde ein Blick gewechselt, Lena nahm ein leichtes Nicken neben sich wahr. »Sobald er ansprechbar ist.«
»Wir haben einen Polizisten vor seinem Zimmer postiert«, ergänzte Paula May. »Das Krankenhaus ist angewiesen, nur Personen zu Herrn Rohloff zu lassen, deren Identität von uns bestätigt ist.«
Natürlich. Gerd musste bewacht werden. Jemand hatte versucht, ihn zu töten. Würde es vielleicht erneut tun.
Irgendwann hatte die Spurensicherung ihre Arbeit beendet. Als Lena ins Haus zurückkehrte, waren alle gegangen. Zurück ließen sie ein Durcheinander im Raum und auf der Terrasse, das angesichts dessen, was geschehen war, jedoch unerheblich war. Lena sammelte Reste von Klebebändern, Verpackungen von Einmalhandschuhen und ein Stück Kreide ein und warf alles in den Müll. Sie betrachtete den Schrank, in dem die Patrone des Streifschusses gesteckt hatte. Jetzt war da ein größeres Loch. Beim Gedanken, dass die Kugel für Gerd bestimmt gewesen war, schauderte es sie. Sie ließ den Rollladen vor der zerstörten Terrassentür herab; am nächsten Tag würde sie eine Glaserei beauftragen, alles wieder herzurichten. Paula May hatte ihr empfohlen, ein paar Sachen zu packen und in ein Hotel zu ziehen. »Nur für ein paar Tage.« Aber Lena wollte nicht. Etwas hielt sie fest in dem Haus, an das sie sich vor ein paar Monaten so schwer gewöhnt hatte. So anders war hier alles als in der ihr vertrauten Umgebung. Was ihr abging, war natürlich nicht der Fluglärm, es war auch nicht die vergleichsweise schlechte Luft des Rhein-Main-Gebiets. Eher die Tatsache, dass ihr zum ersten Mal in ihrem Leben das Korsett eines Arbeitsalltags fehlte. Sie hatte ihren Job als Sozialarbeiterin geliebt. Die Frage, ob sie sich hier eine Stelle suchen sollte, hatte sie in den ersten Wochen dennoch auf unbestimmte Zeit verschoben. Es war, als ob jedes Mal eine kleine warnende Stimme in ihrem Hinterkopf angeschlagen hätte, sobald sie darüber nachdachte. Wer wusste schon, ob sie bleiben wollte? Ob ihre Beziehung hielt? Doch dann, eines Tages, hatte sie morgens die Augen aufgeschlagen und festgestellt, dass sie angekommen war. Sie hatte eine unbändige Lebenslust verspürt und damit verbunden die Gewissheit, mit Gerd fortan hier an diesem Ort leben zu wollen.
Er hatte sein altes Leben leichter hinter sich gelassen. Seine Clubs im Frankfurter Bahnhofsviertel, sein Haus in Bad Homburg, das er zwar noch besaß, aber ebenfalls verkaufen wollte.
»Ich will mir dir zusammen sein, für den Rest meines Lebens. Das ist alles, was für mich wichtig ist.« So klar, so einfach. Nur dass der Rest seines Lebens an diesem Morgen für einen Moment sehr überschaubar gewirkt hatte.