Leseprobe Kiss me, Officer!

Prolog

Mit gemischten Gefühlen lief Megan die stark befahrene Hauptstraße entlang. Hupende Autos, rote Doppeldeckerbusse und geschäftige Menschen, die sich an ihr vorbeidrängten, sorgten für ohrenbetäubenden Lärm. Doch das alles zog wie Nebel an ihr vorbei, sodass sie kaum Notiz davon nahm. Sie schlang den Mantel fest um sich, um den peitschenden Herbstwind abzuschirmen. Sie strich sich mit zittrigen Händen einzelne Haarsträhnen aus dem Gesicht, wobei das Zittern nicht der eisigen Kälte an diesem Nachmittag geschuldet war. Vielmehr lag es an dem Besuch beim Arzt, den sie gerade hinter sich gebracht hatte und noch mehr an dem bevorstehenden Gespräch, welches sie gleich mit ihrem Freund Anthony führen würde. Sie hatten in der vergangenen Zeit einige Differenzen gehabt und sie hatte für ihn ihr Studium aufgegeben, nur damit er seinen Job als Anwalt annehmen und Karriere machen konnte. Sie selbst war noch auf der Suche nach einer Universität, an der sie ihr Jurastudium wieder aufnehmen konnte. Doch jetzt, dachte sie, und legte ihre Hand auf ihren noch flachen Bauch, war das ohnehin hinfällig. In ihr wuchs ein neues Leben heran, wenngleich dies nicht geplant gewesen war. Auch der Umstand, wie das Kleine gezeugt wurde, ließ sie erneut erschaudern. Aber sie würde sich nicht gegen ihr Baby entscheiden, das konnte schließlich nichts für seinen Vater. Sie würde es behalten, ob Anthony wollte oder nicht.

Mit langsamen Schritten stieg Megan die Steintreppe empor, die in ihr gemeinsames Reihenhaus führte, und schob vorsichtig den Schlüssel ins Schloss. Kurz dachte sie darüber nach, wieder umzudrehen, aber wegzulaufen würde nichts bringen. Als sie ins Haus trat, hatte sie das Gefühl, als sei irgendetwas anders. Vielleicht war es der neue Umstand, mit dem sie das Haus betrat und nun alles mit anderen Augen betrachtete. Vielleicht lag es aber auch an dem leicht süßlichen Duft, der in der Luft hing und in ihr ein ekelerregendes Gefühl hervorrief. Sie erinnerte sich, dass sie selbst am Morgen kein Parfum aufgetragen hatte, denn sie konnte in letzter Zeit keine süßlichen Düfte ab.

„Anthony?“, rief sie und schälte sich aus ihrem Mantel, den sie anschließend an die Garderobe hing.

Sie bekam keine Antwort. Megan blickte nach links in die alte Landhausküche, auf deren Tresen noch benutztes Geschirr herumstand und anschließend nach rechts ins Wohnzimmer, das allerdings noch so aufgeräumt war, wie sie es am Morgen hinterlassen hatte. Von Anthony war nichts zu sehen. Mit vorsichtigen Schritten trat sie die Treppe hinauf, deren Stufen bei jedem ihrer Schritte ein ächzendes Geräusch von sich gaben. Im oberen Stockwerk, wo sich Schlafzimmer, Badezimmer und Gästezimmer befanden, war es merkwürdig dunkel. Die Dunkelheit rührte daher, dass die Schlafzimmertür geschlossen war. Um mehr Licht in dem dunklen Flur zu bekommen, ließ Megan sie normalerweise offen. Und auch heute Morgen, als sie das Haus verlassen hatte, hatte sie die Tür auf jeden Fall offen gelassen.

Es war das schrille Quieken einer Frau, was sie eigentlich auf das hätte vorbereiten sollen, was sie gleich sehen würde. Doch als sie die Schlafzimmertür öffnete und in ein paar fremde Augen starrte, die sie ebenso erschrocken anblickten, brachte Megan nichts weiter als ein Was zum Teufel hervor. Auf dieser fremden Frau, die sich ausladend in Megans eigens gekaufter Bettwäsche räkelte, lag ihr Freund. Der Vater ihres ungeborenen Kindes!

Überrascht blickte Anthony zu Megan. „Schatz? Verdammte Scheiße, was machst du denn hier? Ich denke, du bist unterwegs.“

„Nur weil ich unterwegs bin, gibt es dir das Recht, irgendeine dahergelaufene Tussi in unserem Bett zu vögeln?“, rief Megan aufgebracht und war unfähig, sich zu bewegen. Wie in Schockstarre stand sie da und konnte den Blick nicht von dieser Frau nehmen, die ihre Beine fest um Anthonys Taille geschlungen hatte.

Doch schon nach wenigen Sekunden raffte sich Anthony auf und die Fremde rollte sich unter ihm weg ‒ die Bettdecke fest an sich gezogen, um ihre Blöße zu verdecken. Am liebsten hätte Megan ihr die Bettdecke aus den Händen gerissen, da es sich schließlich um ihre Decke handelte, aber den Anblick von den fremden und zudem noch aufgespritzten Brüsten konnte sie ebenso wenig ertragen.

Anthony zog sich in Windeseile seine Jeans an, die er achtlos neben den Kleiderschrank geschleudert haben musste und hob unschuldig die Hände. „Süße, es tut mir leid. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.“ Bei dem Wort das deutete er mit einem Kopfnicken auf die vollbusige Frau, deren lange schwarze Haare ganz zerzaust waren.

„Bitte was?“, schrie diese mit starkem russischem Akzent und schoss vom Bett hoch. „Du weißt sehr wohl, wie das passieren konnte! Immerhin hast du mich doch angerufen!“

„Natalia, ich bitte dich, zisch einfach ab“, wiegelte Anthony sie augenrollend ab und widmete sich wieder Megan, die das Theater mit offenem Mund verfolgte. Das Ganze wirkte so surreal, dass sie gar nicht glauben konnte, dass das hier wirklich passierte.

„Du bist ein mieses Schwein, Anthony!“, schimpfte Natalia lauthals und drängelte sich mit ihren üppigen Brüsten und ihren Klamotten in den Armen an Megan vorbei. Kurz darauf hörte Megan das laute Knallen der Haustür. Sie überlegte, woher sie den Namen Natalia kannte. Und plötzlich wurde ihr klar, wo sie ihn schon einmal gehört hatte: Natalia war Anthonys Sekretärin!

Anthony sah Megan schuldbewusst an, doch darauf würde sie nicht hereinfallen. „Weißt du, Anthony, da muss ich deinem kleinen Flittchen von Sekretärin doch tatsächlich recht geben. Du bist wirklich ein mieses Schwein!“ Mit wild klopfendem Herzen schoss sie an ihm vorbei, öffnete die Kleiderschranktür und zog sich einen Koffer heraus.

„Meggy, Süße, lass uns doch reden“, jammerte Anthony und fasste Megan, die wie wild ihre Klamotten in den Koffer stopfte, an der Schulter.

Ruckartig drehte sie sich um und stieß ihn von sich. „Fass mich bloß nicht an!“, schrie Megan mit tränenerstickter Stimme.

Anthonys Augen blitzten auf und sein Gesicht wurde ernst. Immer noch besser als dieser gespielt jämmerliche Ausdruck auf seinem Gesicht, dachte Megan.

„Es tut mir leid, okay?“ Anthony hob entschuldigend die Hände. „Was soll ich sagen? Es ist einfach so passiert. Keine Gefühle, nichts. Sie ist nur irgendeine Frau, die in der Kanzlei die Zuarbeit für mich macht und sonst nichts. Es war nur Sex. Ich fühle für diese Frau nichts.“

Bei jedem seiner Worte, die er kaum unpassender hätte wählen können, zuckte Megan innerlich zusammen. „Glaubst du, das macht es weniger schlimm? Du liebst sie nicht, na da habe ich aber Glück gehabt, dann bleibt ja alles beim Alten!“ Wütend verschränkte Megan die Arme vor der Brust. „Aber soll ich dir was verraten? Beim Alten bleibt ohnehin nichts mehr, denn ich bin schwanger.“

Mit Mühe hielt Megan die Tränen zurück und eine unnatürliche Stille senkte sich über die beiden. Jetzt war es raus. Anthony wusste Bescheid und das alles würde nichts an ihrem Entschluss, ihn zu verlassen, ändern.

„Du bist was?“, fragte er und sie bemerkte ein Zucken in seinem Kiefer.

„Schwanger, du Idiot!“

„Von wem? Von mir? Das kann nicht sein, wir haben doch immer aufgepasst.“

Megan sah, wie Anthonys Körper vor Anspannung bebte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Sie wusste, wie Anthony ausflippen konnte. Immerhin hatte sie es schon einige Male miterlebt. Er war ihr gegenüber zwar noch nie handgreiflich geworden, sie würde aber ihre Hand nicht dafür ins Feuer legen wollen, dass es auch so bleiben würde.

„Natürlich ist es von dir! Immerhin warst du nicht immer so achtsam. Erinnerst du dich an die Nacht, in der du dich nach einer Party betrunken hier im Bett über mich hergemacht hast? In der Nacht, in der ich dich mehrmals gebeten hatte, das zu unterlassen? In der ich um Hilfe gerufen habe?“

Tränen brannten Megan in den Augen und ihr wurde schlecht, als ihr einzelne Bilder aus der Nacht in den Sinn kamen. Er hatte sie einfach gepackt und sich in sie gedrängt. Er hatte ihre Schreie, ihr Flehen, ihr Betteln ignoriert und sie rabiat an den Handgelenken festgehalten, bis er nach ein paar Minuten endlich von ihr abgelassen und sich müde zur Seite gerollt hatte. Schon da hätte Megan ihre Sachen nehmen und gehen sollen. Aber sie hatte es nicht geschafft. Sie hatte sich mit der Ausrede getröstet, dass er betrunken gewesen war und nicht gewusst hatte, was er tat. So eine bescheuerte Ausrede und sie hasste sich in diesem Moment nur noch mehr dafür, dass sie nicht genügend Rückgrat gehabt hatte, um ihn zu verlassen. Doch jetzt hatte sie es und würde ihr Vorhaben auch durchziehen.

Es dauerte eine Weile, ehe Anthony verstand und er trat einen Schritt auf sie zu. Megan wich zurück und spürte den Kleiderschrank in ihrem Rücken.

„Dann wirst du es wegmachen lassen“, presste er eisig hervor und seine blauen Augen fixierten sie. Trotzig reckte Megan das Kinn hervor. „Das werde ich nicht tun und du kannst mich auch nicht dazu zwingen!“

Anthonys Gesicht verzog sich zu einer wütenden Fratze. „So eine Scheiße!“, schrie er plötzlich und schlug mit der Faust gegen den Kleiderschrank. Es krachte laut und die Tür bekam einen Riss. Schreiend duckte Megan sich weg, griff hastig nach ihrem Koffer und verließ fluchtartig das Schlafzimmer. Als sie am Badezimmer vorbeikam, sammelte sie mit zittrigen Händen die wichtigsten Utensilien zusammen und stürmte zur Treppe. Ihr Herz raste und das Zittern ihrer Hände ließ sich nicht mehr bändigen.

„Megan!“ Aufgebracht schrie Anthony hinter ihr her und folgte ihr die Treppe hinunter. „Du wirst dieses Ding in deinem Bauch wegmachen lassen, hast du mich verstanden? Ein verdammtes Kind ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann!“

Megan blieb stehen, noch bevor sie die letzten Stufen erreicht hatte, und starrte ihn schockiert an. „Was bist du bloß für ein Arschloch geworden? Keine Sorge, ich werde das Kind auch ohne dich großziehen.“

Anthony lachte spöttisch. „Ja genau, am besten noch mit einem anderen Mann. Dass ich nicht lache! Niemand wird mein Kind großziehen. Ich oder sonst keiner und da ich das nicht will, wirst du es verdammt nochmal abtreiben lassen!“ Er machte einen weiteren Schritt auf Megan zu, doch sie wollte ihm die Stirn bieten. Er hatte sie lange genug eingeschüchtert, das würde jetzt ein Ende haben.

Den Koffer fest in der Hand, drehte sie sich auf der Stufe zu ihm um und straffte ihre Schultern. „Du hast mir gar nichts mehr zu sagen, Anthony. Die Sache mit uns ist vorbei. Das hätte ich schon lange tun sollen und ich werde nur deinetwegen ganz sicher nicht mein Kind abtreiben. Da hast du dich geschnitten!“

Mit wutverzerrtem Gesicht trat Anthony auf Megan zu und packte sie an den Schultern. „Ich entscheide, wann es vorbei ist, hast du verstanden?“ Sein Druck auf ihren Schultern wurde fester und Megan verlor das Gleichgewicht. Sie spürte, wie sie den Halt verlor und versuchte sich noch an Anthony festzuhalten, doch sie hinterließ mit ihren Fingernägeln lediglich ein paar Kratzspuren an seinem Arm, ehe sie mit einem lauten Schrei die letzten Stufen hinunterstürzte.

Anthony stellte sich vor sie und sah sie mit einem verächtlichen Blick von oben herab an. Mit einer Hand auf dem Bauch lag Megan am Boden und spürte einen stechenden Schmerz im Unterleib. Anthony half ihr nicht. Das war gar nicht in seinem Sinne. Ihm wäre es nur recht, wenn sie das Kind verlöre.

„Du wirst es wegmachen lassen, hast du verstanden?“

Stöhnend raffte Megan sich etwas auf und sah ihn mit feuchten Augen an. Ihr war schwindelig und Übelkeit stieg in ihr hoch. Zudem war sie im Schock nicht in der Lage, etwas zu sagen. Anthony ging in die Hocke und nahm ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. Mit heftigem Druck zog er ihr Gesicht näher an seines und sie spürte seinen heißen Atem. „Ich habe Kontakte und ich finde heraus, ob du es weggemacht hast oder nicht. Glaub mir, Meggy, ich bin ein einflussreicher Mann und ich kann dir das Leben schwer machen, wenn ich das möchte.“ Seine Augen verzogen sich zu Schlitzen. „Möchtest du, dass ich dir das Leben zur Hölle mache, Süße?“

Kaum merklich schüttelte Megan mit dem Kopf. Anthonys ernstes Gesicht hellte sich auf. „Gut. Dann wird diese Sache hier zwischen uns bleiben, hast du mich verstanden? Niemand wird hiervon erfahren. Und vergiss nicht, ich finde heraus, ob du beim Arzt warst oder nicht. Du weißt, ich hasse es, wenn man mich belügt.“ Er erhob sich und ließ Megan mit einem lauten Türknallen und zitterndem Körper zurück.

1

„Verdammt noch mal!“, fluchte Megan, als ihr der Karton mit Servietten aus der Hand fiel und sich der Inhalt auf dem nassen Boden verteilte. Natürlich saugten sie sich sofort mit dem schmutzigen Regenwasser voll, welches daran erinnerte, dass es in der Nacht wie aus Eimern geschüttet hatte. Entsetzt starrte Megan auf die Papierservietten, die nun alles andere als cremeweiß waren, sondern vielmehr fleckig und hellbraun. In einer Hand den Schlüssel, den sie schon halb ins Schloss geschoben hatte, fluchte sie erneut. „Verdammt, verdammt!“

Eilig bückte sie sich, um die noch zu rettenden Servietten aufzuheben und stopfte sie sich unter den Arm. Gehetzt öffnete sie endlich die Tür und stieg über den nassen Karton zu ihren Füßen hinweg.

Drinnen angekommen wehte ihr muffige Luft entgegen, weshalb sie die Eingangstür zum Café sperrangelweit offenstehen ließ. Durch die einfallenden Sonnenstrahlen konnte man kleine Staubpartikel in der Luft erkennen. Megan seufzte, als sie die paar trockenen Servietten auf den Tresen fallen ließ und das Malheur genauer betrachtete. Sie hatten allesamt den Boden berührt und somit konnte sie die Tücher unmöglich ihren Gästen vorsetzen. Sie taugten lediglich für die Mülltonne.

„Der Tag fängt ja super an!“, klagte sie, als hinter ihr eine Stimme ertönte.

„Ist hier ein Überfall passiert?“ Es war Ella, die fragend in der Tür zum Café stand.

Megan lächelte schwach und deutete mit dem Kopf auf den Karton zu Ellas in schicken Riemchensandalen gekleideten Füßen. „Du erinnerst dich an die Servietten, die ich gestern Abend noch schnell aufgetrieben habe?“

Ella nickte und schaute sich den Schlamassel an. „Ich nehme an, es handelt sich dabei um das da?“ Sie deutete mit dem Zeigefinger skeptisch auf den traurigen nassen Haufen.

Megan nickte matt. „Genau um die. Na ja, ich schätze, das ist Karma. Als ich gestern meinen Einkaufswagen mit allen Servietten vollgestopft habe, die der Großmarkt hergab, hätte ich damit rechnen sollen, dass mich das schlechte Karma einholt. Denn direkt hinter mir kam eine Mutter mit ihren Drillingen um die Ecke, die einen Kindergeburtstag auszurichten hatte, aber jetzt ohne Servietten dasteht.“ Sie dachte an die drei traurig schauenden Kinder und stellte sich einen tristen Kindergeburtstag vor. Augenblicklich fühlte sie sich noch schlechter.

„Mal ehrlich, wer nimmt für einen Kindergeburtstag schon cremefarbene Servietten? Da ist sie selbst schuld. Soll sie doch was Buntes nehmen mit kleinen rosa Elefanten oder besser noch mit Lamas, die sind ohnehin viel cooler“, grinste Ella und sammelte die nun vollständig triefnassen Tücher vom Boden auf.

„Lass liegen, ich mach das gleich“, wandte Megan eilig ein, doch Ella fuhr unbeirrt fort und warf die Servietten in den ebenfalls triefenden Karton. „Die sind hin und der Karton auch. Ich bringe sie eben in den Müllcontainer“, rief sie über die Schulter, während sie sich schon auf den Weg um das Gebäude machte.

Währenddessen warf Megan die paar Servietten, die noch immer vor ihr auf dem Tresen lagen, ebenfalls in den Müll und wischte diesen mit einem feuchten Lappen ab. Kurz darauf trat ihre Freundin neben sie und schaute sie mit gerunzelter Stirn von der Seite an. „Ist alles in Ordnung bei dir?“

Fragend erwiderte Megan ihren Blick. „Natürlich, ich habe nur einen miesen Start in den Tag.“ Zur Besänftigung lächelte sie.

„Aber du machst ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter“, stellte Ella fest und brachte Megan zum Schmunzeln.

„Nun, wir hatten drei Tage lang typisches englisches Regenwetter. Was auch die überdimensional große Pfütze direkt vor dem Eingang erklärt.“ Mit ihrem Kopf deutete sie in Richtung Eingangstür. „Aber die ist nun beseitigt. Die Servietten haben ganze Arbeit geleistet.“

Immerhin musste Megan sich nun nicht mehr darum kümmern, die Pfütze vor dem Öffnen zu entfernen. Ein Blick auf die Straße versprach allerdings gutes Wetter. Auch wenn es noch früh am Morgen und die Luft jetzt schon drückend war, so gab es einige Menschen auf den Gehwegen, die entweder auf dem Weg zum Fischmarkt waren oder aber zur Arbeit hetzten. Sie liebte diese Morgen, an denen sie hier in Leansborrow ein Teil der Leben anderer sein konnte. Entweder würde sie für die arbeitenden Menschen später noch einen Nachmittagstee zubereiten, vielleicht mit ein paar Scones und Clotted Cream oder aber sie würde einem Fischmarktbesucher auf seinem Rückweg einen Coffee to go mit auf den Weg geben. Ella schnaubte und band sich ihre rotbraunen Haare zu einem Zopf. „Liebste Megan, wir haben noch nicht einmal zehn Uhr am Morgen und deine Mundwinkel hängen so weit auf dem Fußboden, dass du darüber stolpern könntest, wenn du nicht aufpasst!“

„Du hast vollkommen recht“, bestätigte Megan sie und lehnte sich mit dem Rücken an den Tresen. „Nicht nur, dass ich jetzt noch mal los muss, um neue Servietten zu holen ‒ meine Kaffeemaschine hat mich heute Morgen auch noch im Stich gelassen. Vielmehr die Kaffeefilter, die ich vergessen habe zu kaufen. Vielleicht sollte ich doch noch mal Teetrinkerin werden, dann habe ich dieses Problem mit den Filtern nicht.“

Ella schüttelte den Kopf. „Eine englische Cafébesitzerin, die keinen Tee trinkt!“ Verächtlich zog sie die Nase kraus. „An manchen Tagen kann ich es noch immer nicht fassen. Aber ich mache dir wohl besser mal einen Kaffee, sonst fliegen hier gleich noch Stühle durch die Luft.“

Sie wusste, was es bedeutete, wenn Megan morgens keinen Kaffee bekam und raste geradewegs zur Kaffeemaschine. Dabei machte ihr langer weißer Faltenrock flatternde Bewegungen.

Wieder lachte Megan, als sie ihre Freundin dabei beobachtete, wie sie die Maschine mit frisch gemahlenem Kaffee befüllte. Allein das Pulver verströmte einen angenehmen Duft, der ihre Vorfreude auf einen Becher nur mehr bekräftigte.

„Es ist ja nicht so, dass ich keinen Tee mag. Ich bevorzuge einfach einen großen Becher mit dem schwarzen Allheilmittel am Morgen.“

Ella werkelte mit geschickten Handgriffen hinterm Tresen herum und schaute kurz über ihre Schulter zu Megan. Ihre Freundin wirkte tatsächlich nicht glücklich und Ella wusste, dass es ein Tag war, an dem Megan voller Sorgen aufgewacht war und mit ihnen wieder ins Bett gehen würde. Alle paar Wochen gab es diese Art von Tagen, doch Ella wurde nicht müde, ihrer Freundin ins Gewissen zu reden und ihr zu sagen, dass alles in bester Ordnung war.

„Dann solltest du heute wieder ein bisschen früher losfahren, damit du noch rechtzeitig neue Servietten auftreiben kannst. Für heute sollten die, die wir haben, noch reichen, aber dann wird es wirklich knapp. Vorausgesetzt, der Laden hat nach deiner Serviettenkauforgie noch welche.“

Seufzend nickte Megan. „Verdammt! Und das bedeutet auch, dass ich dich wieder einmal alleinlassen muss, um den Laden dichtzumachen.“ Ihr fiel auf, wie oft sie an diesem Morgen schon geflucht hatte. Wenn sie für jeden Fluch, den sie ausgestoßen hatte, einen Pfund in ein Sparschwein geworfen hätte, dann hätte sie sich am Ende des Tages bestimmt etwas Großartiges kaufen können.

„Und was bitte ist daran so schlimm?“, fragte Ella mit erhobenen Augenbrauen und hielt in der Bewegung inne. Unbehaglich trat Megan von einem Fuß auf den anderen und stützte die Arme auf dem Tresen ab. „Na ja, ich kann dich nicht immer mit der ganzen Arbeit alleinlassen.“

„Aber es ist nun einmal wichtig. Außerdem ist das mein Job“, scherzte sie und betätigte den Startknopf der Kaffeemaschine, die sofort geschäftig zu rattern begann. Es war wie Musik in Megans Ohren.

„Dein Job, das Café alleine zu schmeißen?“

„Mein Job, mich mit der miesesten Chefin auseinanderzusetzen, die ich jemals hatte.“ Ella schaute sie neckisch an und begann zu lachen.

Auch Megan musste kichern und schüttelte den Kopf. Dabei lösten sich ein paar braune Haare aus ihrem geflochtenen Zopf, für den sie am Morgen viel zu lange gebraucht hatte. Und das Ergebnis war noch nicht einmal unbedingt vorzeigbar gewesen.

„Was würde ich nur ohne dich machen, Ella?“

„Tja, vermutlich würde der Laden den Bach runtergehen. Du würdest alles verkaufen müssen und in ein mickriges Apartment ziehen, in der miesesten Ecke von Leansborrow.“

„Vermutlich schon“, seufzte Megan und überlegte krampfhaft, welche Ecke von Leansborrow wohl mies genug wäre, um sich dort unwohl zu fühlen. Spontan fiel ihr keine ein. Leansborrow war allein schon für die kleine verträumte Küste Grund genug, um hierherzuziehen. Kreischende Möwen, Krabbenkutter, die auf dem Wasser am Pier leicht vor sich hin- und herschwankten und der immerwährende Duft nach frischem Fisch und salziger Luft prägten den Ort. Auch wenn es einiges gab, was Megan in ihrem Leben bereute, so war es definitiv nicht die Rückkehr in ihre geliebte Kleinstadt.

„Ach, nun hör schon auf! Eigentlich hatte heute Morgen nicht auf meiner To-Do-Liste gestanden, dass ich dich zurechtweisen muss“, rief Ella und warf ein Geschirrtuch nach ihr.

Megan fing es im Flug auf und streckte ihr die Zunge heraus. „Dann kannst du deine Liste noch ein bisschen erweitern, denn ich kann mir denken, dass wir heute einen ordentlichen Ansturm zu erwarten haben. Bei den angesagten Temperaturen kommen die Menschen wieder aus ihren Wohnungen geströmt, als würde es etwas umsonst auf den Straßen geben. Zu schade, dass Isabell heute keine Zeit hat, um uns auszuhelfen.“

Ella nickte wissend. „So ist das nun mal mit den Aushilfsstudenten. Haben immer den Kopf voll mit unwichtigeren Dingen und Jungs.“

„Nur weil das bei dir so war …“, warf Megan ein, doch Ella ignorierte ihren Kommentar und wollte lieber nicht über ihre wilde Zeit als Studentin sprechen, die mehr aus Party machen bestand als aus fleißigem Lernen.

„Auf den Ansturm habe ich mich heute Morgen jedenfalls eingestellt, indem ich etwa einen Liter Earl Grey getrunken habe. Ich bin also fit wie ein Turnschuh und kann dir sagen, dass wir das meistern werden.“

Sie grinste breit und wirkte wieder einmal so, als könne sie nichts erschüttern. Ellas nussbraune Augen leuchteten und gaben Megan Anlass dazu, ein bisschen von der Ausgeglichenheit ihrer Freundin abzugreifen und runterzukommen. Megan konnte sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, ihr Leben ohne sie zu führen.

In Gedanken versunken schaute Megan sich um. Dieses Café. Dieser kleine Laden mit den bunt zusammengewürfelten Stühlen und dem alten Mobiliar, was sie zum Teil von ihrem Onkel, der vor drei Jahren an einem Herzinfarkt gestorben war, übernommen oder auf verschiedenen Trödelmärkten erstanden hatte. Tagelang hatte sie ihre Zeit damit totgeschlagen, die alten Möbelstücke wieder aufzubereiten und herzurichten. Wie viele Nägel waren ihr dabei abgebrochen, wie viele Stunden hatte sie bis tief in die Nacht daran gearbeitet, um dem Café ihre eigene Note zu verpassen. Sie war stolz darauf, denn das alles gehörte nun ihr. Und das alles würde sie bitterböse in den Sand setzen, würde sie diese wunderbare Person, die ihr in diesem Moment einen Kaffee reichte, nicht an ihrer Seite haben. Ella und Megan ‒ ein Dream-Team der ersten Stunde. Vielmehr der ersten Klasse. Vermutlich hätte Megan es ohne sie nicht einmal bis hierher geschafft, denn als die Sache mit dem Café aufkam, war Ella es gewesen, die Megan in ihrem Entschluss bestärkt hatte, diesen Schritt zu gehen. Und nun standen sie hier, im Café White Chocolate: ihre beste Freundin mit einem feixenden Grinsen im Gesicht und Megan, wie immer bitterernst und kurz vor der absoluten Verzweiflung.

Nachdem Ella Megan mit Kaffee versorgt hatte, widmete sie sich der Zubereitung eines weiteren Schwarztees. Megan wollte lieber nicht wissen, wie viele Liter ihre Freundin bis zu dieser Stunde tatsächlich schon konsumiert hatte. Doch Ella war die Ruhe selbst, was Megan schon immer an ihrer Freundin bewundert hatte. Auch mit zu viel Koffein im Blut konnte sie schlafen wie ein Murmeltier, wovon sich Megan nur allzu gerne eine Scheibe abgeschnitten hätte. Aber im gänzlichen Gegensatz dazu konnte Ella auch nächtelang durchfeiern und am nächsten Morgen mit strahlendem Teint und perfekt sitzendem Haar auftrumpfen.

„Du bist schon wieder viel zu gestresst“, stellte Ella schließlich fest und musterte sie wie ein Arzt seinen Patienten. Megan trank einen Schluck Kaffee und schaute sie über den Rand des Bechers hinweg an.

„Was meinst du?“

Schnaubend stellte Ella ihren Becher vor sich. Sie musterte Megan intensiv und allmählich fühlte diese sich, als wäre sie eine kostbare Handtasche in einem Schaufenster. Immerhin wusste Megan jetzt wie sich Handtaschen in Ellas Nähe fühlen mussten – gnadenlos ausgeliefert.

„Du weißt, dass mich das alles sehr einspannt und dass ich Angst habe, etwas falsch zu machen.“

Ella legte den Kopf schief. „Das tust du schon dein Leben lang“, stellte sie fest und schaute Megan eindringlich an. „Aber nicht alles und jeder hat mit Anthony zu tun, verstehst du?“

Natürlich wusste Megan, worauf sie anspielte. Auf all die Dinge, die damals passiert waren. Und egal, wie Megan es drehte und wendete, es hatte immer etwas mit ihrem Exfreund Anthony zu tun. Der wohl schlimmste Augenblick war nicht der gewesen, in dem sie Anthony mit dieser Natalia im Bett erwischt hatte. Nein, es war der Moment, in dem sie die Treppe hinuntergestürzt war. Sie erinnerte sich tagein tagaus an diesen Moment. Erst jetzt hatte Megan wieder zu Atem gefunden und an was sie sich noch erinnern konnte, und das war wohl das Schmerzvollste an dem Ganzen, war die einsetzende Blutung und das Ende ihrer Schwangerschaft. Natürlich hatte sie sich Ella und ihrem besten Freund Matty anvertraut und beide mussten ihr hoch und heilig schwören, dass sie nie ein Wort darüber verlören. Auch wenn Matty und Ella damit kein bisschen einverstanden waren, nicht die Polizei zu kontaktieren, so hatten sie es letzten Endes missmutig akzeptieren müssen. Es war Megans Wunsch und ihre Entscheidung. Schnell wischte sie die Gedanken an all das beiseite. Damit konnte sie sich heute Morgen nun wirklich nicht auseinandersetzen.

„Du musst dich einfach ein bisschen entspannen und davon mal absehen, was damals passiert ist: Anthony lebt hunderte von Meilen entfernt und kann dir nichts tun. Das Ganze ist einige Jahre her. Du musst das endlich hinter dir lassen, Megs. Auch wenn es schwer ist. Und wegen des Cafés ‒ was bitte soll denn passieren? Das White Chocolate läuft, du hast das Beste rausgeholt und die Gäste lieben deinen kleinen Laden. Denkst du, ein paar matschige Servietten treiben dich in den Ruin?“

Megan lachte, als sie sich die Worte ihrer Freundin durch den Kopf gehen ließ. „Nein, vermutlich nicht. Es ist nur das Gefühl, dass ich manchmal so kurz davor bin, etwas Falsches zu tun und damit alles kaputtzumachen. Schon wieder. Ich kann es selbst nicht erklären“, murmelte sie und schob den Becher zwischen ihren Händen hin und her, sodass die dunkle Brühe beinahe über den Rand schwappte.

„Du solltest dich hören“, lächelte Ella kopfschüttelnd und griff über den Tresen hinweg nach Megans Händen. Der Kaffee schlug kleine Wellen, die nur langsam abebbten. „Wichtig ist, dass du dich mal locker machst und das genießt, was du tust. Denn du machst deinen Job als Cafébesitzerin wirklich gut.“

„Ich würde ihn ohne dich nicht so gut machen“, seufzte Megan und erwiderte ihr Lächeln.

„Deshalb hast du mich ja auch eingestellt.“ Ella klimperte mit den Wimpern und raffte sich auf, um einen Schluck Tee zu trinken. „Hmm“, machte sie und schaute Megan mit schwärmenden Augen an, „und ich mache den besten Schwarztee in der ganzen Stadt.“

Megan musste lachen, als Ella sich selbst auf die Schulter klopfte.

„Also los, machen wir uns an die Arbeit, sonst stehen die ersten Gäste auf der Matte und wir sitzen immer noch hier und führen diese Unterhaltung.“

„Nur wenn du mir versprichst, nicht so frustriert auszusehen wie eine vierzigjährige Witwe! Himmelherrgott, du bist gerade mal achtundzwanzig Jahre alt und ich meine schon die ersten Falten um die Augen herum zu sehen“, betonte Ella und deutete mit dem Finger auf Megans Gesicht.

Laut lachend schüttelte diese den Kopf, hoffte aber insgeheim, dass Ella bezüglich der Falten danebenlag. Das würde sie in einer ruhigen Minute dringend kontrollieren müssen.

„Ernsthaft, das ist kein Witz, Megs! Betrink dich mal wieder, rauche meinetwegen einen Joint oder besser noch“, sie holte tief Luft, „hab mal wieder Sex!“

„Ella!“, rief Megan aufgebracht und schaute sie entgeistert an.

„Ist doch so“, verteidigte Ella sich und begann, sich endlich an die Arbeit zu machen.

„Das lass bitte meine Sorge sein. Außerdem“, sagte Megan, während sie sich hinter dem Tresen an die Arbeit machte und die Getränke im Kühlschrank überprüfte, „habe ich sehr wohl Sex. Viel Sex sogar, du würdest dich wundern.“

„Mit wem oder vielmehr noch ‒ mit was?“, fragte Ella und zog ungläubig die Augenbrauen in die Höhe.

„Na mit Männern“, murmelte Megan kleinlaut und tat so geschäftig, wie es nur möglich war. Ihre Worte ersticken im Kühlfach.

„Also, wenn ich mich recht erinnere, dann waren da allerhöchstens zwei Männer nach Anthony und wer weiß, ob mit denen überhaupt etwas gelaufen ist“, bemerkte Ella und kam ihrer Freundin näher, um noch tiefer in dieses Gespräch einzutauchen.

„Spar dir deine Gemeinheiten! Erstens möchte ich nicht über Anthony sprechen und zweitens bin ich eine Person, die sich, im Gegensatz zu dir, bezüglich ihrer Liebschaften auch mal in Schweigen hüllen kann. Täte dir auch mal ganz gut und nun mach dich lieber an die Arbeit oder willst du, dass ich dich durch eine Schülerin mit Zahnspange und Pickeln ersetze?“

Ella drehte sich auf dem Absatz um und verließ mit wehendem Rock den Tresenbereich. „Das würdest du niemals tun. Keine pickelige Zahnspangen-Schülerin kann mir das Wasser reichen“, tönte sie über die Schulter hinweg.

Megan schmunzelte breit, als sie mit der Bestandsaufnahme begann. Dennoch war da etwas, das sie nicht in Ruhe ließ. War sie vielleicht wirklich frustriert?