Leseprobe Klang der Hoffnung

Prolog

Du bist die Luft, die mich atmen,

der Boden, der mich stehen,
die Hoffnung, die mich leben lässt.
Du zeigst mir, wofür ich dankbar sein darf,
weil es dich gibt, weil es mich gibt.
Solange wir leben. Heute, morgen, übermorgen …

***

Weihnachten 1940

Ein trauriger Blick. Ich sehe dich, vielleicht zum letzten Mal. Ich bleibe hier, und du steigst ein. Der Zug fährt los. In den Krieg. Nähe kann auch Erinnerung sein. Die Erinnerung an dich, das Beste, was mir im Leben je passiert ist. Selbst Distanz schafft Nähe. Denn deine Nähe ist in meinen Gedanken verankert. Sie ist immer hier, die Erinnerung, die in meinem Herzen wohnt. Nähe, das war gemeinsam schweigen und sich doch so viel sagen. Den Sternenhimmel betrachten und uns beide dort oben finden. Du warst wie Sommerwind in meinen Haaren, wie warme Regentropfen auf meiner Haut. Manchmal ist alles fern wie ein Traum, manchmal nah, als wäre es erst gestern geschehen. Für diesen einen Moment hat es sich gelohnt, zu leben, zu kämpfen. Dieser eine Moment, der ein Leben lang halten sollte, was er einst versprach …

Kapitel 1

3. Dezember 1930

Es war um die Mittagsstunde. Vroni hatte Dienstschluss. Noch wusste sie an diesem nasskalten und trüben, vorweihnachtlichen Freitag nicht, dass er ihr gesamtes Leben verändern und bis ins Mark erschüttern sollte. Seit knapp einem Jahr hatte sie ihre Stelle als Kontoristin im Hotel Wolff in der Arnulfstraße in München, die nach dem jüngsten Sohn des Prinzregenten Luitpold benannt war, inne. Dort war sie, zarte 25 Jahre alt, für die Buchhaltung und allgemeine Schreibarbeiten zuständig. Sie hatte sich rasch eingearbeitet und empfand nunmehr große Freude an ihrer Arbeit in dem imposanten sechsstöckigen Hotel, das 1890 von Carl Otto Wolff eröffnet worden war. Nicht zuletzt aber hatte Vroni, die am Stadtrand von Aschaffenburg aufgewachsen war, die Nähe des Hotels zum Münchener Hauptbahnhof zu der Entscheidung, dort zu arbeiten, bewogen.

Besonders liebte sie den wunderschönen Speiseraum im Jugendstil, der mit den Jahren zum beliebten Treffpunkt der eleganten Münchner Gesellschaft geworden war. Aber auch das Rembrandtzimmer mit seinen prunkvollen Kronleuchtern, dem offenen Kamin und den holzvertäfelten Wänden, die mit Porträts des Malers geschmückt waren, hatten es ihr angetan.

Vroni vernahm das Mittagsgeläut der Frauenkirche. Bedachtsam stand sie auf, schob den Stuhl an ihren Schreibtisch und nahm Wollmütze sowie Mantel vom Haken an der Wand und schlüpfte hinein. Zuletzt griff sie nach ihrer schlichten, kleinen Lederhandtasche und verließ gut gelaunt den Büroraum. An der Rezeption saß Fräulein Schöberl. Eine modern gekleidete Dame mittleren Alters, zu der Vroni seit geraumer Zeit ein über das Arbeitsverhältnis hinaus gehendes, freundschaftliches Verhältnis pflegte. Teresia Schöberls Aufgabe war es, den Ankommenden Auskünfte zu erteilen, An- und Abmeldungen zu bearbeiten, Schlüssel auszugeben und Weckrufe entgegenzunehmen.

„Wiedersehen, Teresia. Schönes Wochenende!“ Vroni winkte der braunhaarigen Kollegin mit der gepflegten Wasserwellenfrisur im Vorbeigehen zu, die ihrerseits wohlwollend die Hand zum Gruß hob. Dann huschte Vroni am Paternoster vorbei in Richtung der Eingangshalle und verließ das Hotel über einen Nebeneingang. In heiterer Gesinnung summte sie dabei ein Lied aus ihrer Kindheit vor sich hin. Es war für einen Freitagmittag ruhig draußen auf der Straße. Während sie noch in Gedanken bei der Frage weilte, ob sie die nächste Trambahn in die Dachauer Straße, in der sie zu Hause war, noch erreichen würde, stand er plötzlich vor ihr. Um Haaresbreite hätte sie ihn umgerannt.

„Karl?“ Vroni traute ihren Augen nicht. Es fühlte sich an wie ein Traum. Ein wunderbarer, kleiner Traum, verpackt in rosa Watte. Ihr Herz begann wild zu pochen, und sie spürte, wie sich eine peinliche Röte über ihre Wangen ergoss. Wenn Karl es nur nicht bemerkte! Doch ihm schien es nicht anders zu ergehen. Er blieb, wie vom Blitz getroffen, auf dem Trottoir stehen, und im Bruchteil einer Sekunde war vor Vronis geistigem Auge die Erinnerung wieder gänzlich da – die Erinnerung an wunderbare Tage, die sie gemeinsam in und um Aschaffenburg herum verbracht hatten. Die Spaziergänge im Mondschein, die lauen Sommerabende, die sie nebeneinander im Gras sitzend, genossen hatten. Das alles geschah ohne viele Worte, ohne Fragen oder große Erwartungen. Wusste sie doch, dass Karl nicht allzu lange bleiben konnte, denn er befand sich zu dieser Zeit in der Ausbildung zum Baureferendar und würde früher oder später wieder an einen anderen Ort versetzt werden. Das war beiden von Anfang an klar. Seine erste Station für gut anderthalb Jahre war die Reichsbahndirektion in Regensburg gewesen. Im direkten Anschluss daran folgte eine Anstellung im Neubauamt Aschaffenburg im Bereich der Großschifffahrtsstraße Rhein-Main-Donau, wo sie den damals 26-jährigen Karl zu ihrem Bedauern erst im vorletzten Monat seines neunmonatigen Aufenthalts kennengelernt hatte. Und so war die Zeit bis zu seiner Abreise Ende August 1928 viel zu schnell verronnen. Nun waren inzwischen mehr als zwei Jahre vergangen, seitdem sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte.

Karls kräftige Stimme riss Vroni aus ihren Gedanken und katapultierte sie zurück in die Gegenwart. „Vroni, du? Ich glaub es nicht! Was machst du denn hier?“

„Ich arbeite hier.“ Krampfhaft versuchte sie, ihre Aufregung zu verbergen und deutete schnell mit dem Kopf zum Hotel. Die Überlegung aber, ob sie die nächste Trambahn noch erreichen würde, war ihr vorerst völlig gleichgültig geworden.

„Im Hotel Wolff?“, hakte Karl mit ungläubigem Blick nach. „Was für ein Zufall! Ich verweile derzeit in diesem Hotel, aber nur wegen einer dienstlichen Besprechung. Ich arbeite beim Straßen- und Flussbauamt in Deggendorf. Mein Bereich dort ist der Hochwasserdammbau an der Donau zwischen Pfelling und Sommersdorf. Dort bin ich Bauleiter. Aber nun sag, wie geht es dir, meine Liebe? Wir haben uns so lange nicht gesehen!“ Sein Blick traf den ihren. Hatte Vroni darin einen Hauch von Wehmut erkennen können? Sie senkte verlegen die Lider.

„Es ist viel Zeit vergangen …“, entgegnete sie nur und schluckte. Wie gerne hätte sie Karl einfach in die Arme genommen und ihm gesagt, wie sehr sie ihn vermisste und wie leer ihr Leben ohne ihn war. Doch sie hatte nicht den Mut dazu. Zudem wusste sie nicht, wie er reagieren würde. In den knapp acht Wochen, die sie in Aschaffenburg zusammen verbracht hatten, hatte sie sich unsterblich in ihn verliebt. Aber dass sie ihn nun hier und heute wiedersehen würde, grenzte schon fast an ein Wunder. Sie hatte die ganze Zeit über versucht, ihn zu vergessen, aber es war ihr nicht gelungen. Vielleicht aber war er ja ohnehin inzwischen verheiratet und hatte womöglich schon ein Kind? Bei diesem Gedanken wurde ihr leicht übel. Sie sah gedankenverloren einem Fahrradfahrer nach, der tief vermummt auf seinem Drahtesel über das Kopfsteinpflaster ratterte und zog ihre Mütze zum Schutz vor der Kälte tiefer ins Gesicht. Dann entsann sie sich seiner Frage. „Ja, Karl, es geht mir gut, und ich hoffe doch, dir auch?“ Mit dieser Gegenfrage wollte sie versuchen, ihm mehr über seine derzeitigen Verhältnisse zu entlocken.

Er winkte ab. „Derzeit sieht es nicht gut aus mit meiner Anstellung. Die Firma aus München, mit der wir zusammenarbeiten und wegen der ich heute hier bin, ist zahlungsunfähig.“ Er presste kurz die Lippen aufeinander. „Und mir steht die Entlassung bevor.“

„Oh, das tut mir leid. Das sind keine guten Nachrichten!“, erwiderte Vroni und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.

„Es sind keine leichten Zeiten, doch es wird weitergehen. Irgendwie.“ Karls Nasenflügel bebten, während er tief Luft einsog und seine Hände in den Manteltaschen versenkte. Anschließend zog er seine Taschenuhr heraus und warf einen Blick darauf. „Ich muss nun leider wieder zurück zur Besprechung. Meine Pause ist fast vorbei. Aber wir können unsere Konversation gerne später fortsetzen.“ Sein Blick sprach Bände.

„Sehr gerne!“, antwortete Vroni prompt. „Wir könnten in ein Café gehen. Und wenn du möchtest, kannst du mich auch zu Hause abholen. Ich wohne in der Dachauer Straße, ganz in der Nähe der Gaststätte Zum Deutschen Reich. Du kannst mit der Trambahn direkt hinfahren. Von dort sind es nur ein paar Meter bis zu dem Haus, in dem ich wohne.“

Der junge Mann strahlte. „Und wie gerne ich dich abhole! Meine Unterredung dürfte in ein bis zwei Stunden beendet sein. Danach mache ich mich sofort auf den Weg.“

Vroni zwinkerte ihm wohlwollend zu. „Ich werde auf dich warten. Bis später, Karl!“ In ihren Augen spiegelten sich Glückseligkeit und Vorfreude wider. Dass dieser Tag, der so nüchtern und eintönig begonnen hatte, eine derartige Wendung erfahren durfte, konnte sie noch immer nicht glauben.

***

„Ich werde den letzten Zug nach Deggendorf um einundzwanzig Uhr nehmen“, erklärte Karl gut zwei Stunden später, nachdem er in Vronis Unterkunft, die sich in einem Hinterhaus im Erdgeschoss befand, angekommen war. Die Wohnung war spärlich eingerichtet. Sie bestand aus einer kleinen Wohnküche und einer Kammer. Die Wasserleitung befand sich auf dem Flur, der Abort auf halber Treppe.

„Dann können wir uns ja nun ohne Zeitdruck ein wenig unterhalten“, entgegnete Vroni erfreut und ging hinüber zum Küchenbuffet. Mit sanftem Griff zog sie eine der beiden Schubladen auf und holte ihre Bahlsen Express – Keksdose heraus.

„Möchtest du welche?“ Sie öffnete die Dose, die sie erst vor wenigen Tagen für eine Reichsmark erstanden hatte. Vroni hatte zuvor noch schnell eine Tischdecke aus weißem Leinen, ein Geschenk ihrer Mutter, über den kleinen Esstisch gebreitet. Karls Augen wurden groß. „Sehr gerne, das sind sogar meine Lieblingskekse!“ Herzhaft griff er danach. Vroni beobachtete jede seiner Bewegungen, während er den Keks genüsslich zum Mund führte.

Ob Karl sie während der letzten zwei Jahre auch so vermisst hatte?, fragte sich Vroni, als beide kurz darauf auf dem Weg ins Café waren.

„Wollen wir uns dort drüben ans Fenster setzen?“, fragte Karl in angemessen höflichem Tonfall, als sie das Café Luitpold in der Brienner Straße betraten. Dieses befand sich nicht allzu weit von Vronis Unterkunft entfernt. Er deutete mit der Hand zu einem kleinen, runden Tisch. Vroni nickte zustimmend. Sie ließ sich auf einem der Bugholz-Stühle nieder, nachdem Karl ihr aus dem Mantel geholfen und ihn sowie seinen eigenen an der Garderobe aufgehängt hatte. Er betrachtete sie anerkennend. Vroni trug eines ihrer Lieblingsstücke, ein in dezenten Brauntönen gemustertes Tageskleid mit glockenförmigem Saum, das mit einem eng gebundenen Ledergürtel ihre schlanke Taille noch mehr zur Geltung brachte. Sie achtete bei jedem wichtigen Anlass stets auf eine passende, elegante Garderobe. Schließlich wollte sie nicht aussehen wie eine Frau der Arbeiterklasse, der man ihre einfache Herkunft bereits anhand ihrer Garderobe ansah.

„War dein Gespräch erfolgreich?“, begann sie zaghaft.

„So könnte man es gewissermaßen bezeichnen“, antwortete Karl süßsauer. „Aber meinen Posten als Bauleiter bin ich los. Ich hatte vormals die Bauleitung Waltendorf inne, doch die Bauarbeiten mussten wegen Geldmangels eingestellt werden. Es kam alles ziemlich plötzlich. Nachdem ich im Oktober 1928 die Staatsprüfung zum Regierungsbaumeister absolviert hatte, bekam ich, wie schon erwähnt, eine Arbeitsstelle beim Straßen- und Flussbauamt Deggendorf. Dort war ich bis dato auch beschäftigt. Aber nun …“ Karl seufzte tief. Vroni griff mitfühlend nach seiner Hand und sah ihm tief in die Augen. „Die derzeitige wirtschaftliche Situation macht es einem nicht gerade einfach, eine neue Arbeit zu finden. Ich kenne einige Leute, die ihre Stellung in diesem Jahr verloren haben und noch immer auf der Suche sind. Wie ich unlängst gehört habe, soll es in Deutschland inzwischen drei Millionen Arbeitslose geben!“

Karl nickte zustimmend. „Das ist wirklich beunruhigend. Da in meinem Fall jedoch der Staat als Arbeitgeber fungiert, wurde mir bereits mitgeteilt, dass man mich nach meiner Ausstellung nach München zurückversetzen und auf eine Warteliste setzen wird. Sobald ich ein Zimmer gefunden habe, werde ich mich also hier in München aufhalten.“

Bei dieser Nachricht begann Vronis Herz freudig in ihrer Brust zu hüpfen. Wenn Karl sich nur auch so närrisch darauf freute, dass sie beide wohl bald in derselben Stadt wohnen würden, dann … dann musste das Schicksal es so gewollt haben!

„Aber nun erzähl mir ein bisschen von dir. Wie waren deine letzten Jahre? Leider waren uns während meiner Zeit in Aschaffenburg ja nur wenige Wochen vergönnt.“ Karl hatte die Hände in den Schoß gelegt und sah Vroni erwartungsvoll und mit geradem Blick an.

„Es hat sich viel verändert, seitdem wir uns kennengelernt haben. Damals, im Juli 1928, hatte ich, wie du vielleicht noch weißt, eine Stellung als Dienstmädchen in der Pension Burgblick.“

„Ich erinnere mich noch sehr gut daran, als ich dich das erste Mal in dieser Pension gesehen habe: Das schönste Mädchen, das mir je in meinem Leben begegnet ist!“, bekräftigte Karl, und seine Gesichtszüge entspannten sich zunehmend. Vroni blickte verschämt zur Seite, doch seine Worte waren wie Öl auf Feuer. Sie seufzte, und Stück für Stück kehrten die Erinnerung und ihre Vertrautheit zurück.

„Es war eine harte Zeit. Ich musste jeden Morgen um kurz nach fünf Uhr aufstehen, die Öfen anheizen und das Frühstück zubereiten. Später dann das Mittag- und Nachtessen kochen, ganz zu schweigen vom Abspülen, Putzen, Waschen und Bügeln. Eigentlich war ich fast den ganzen Tag im Dienst.“ Vroni wandte ihren Kopf zum Fenster. „Ich hatte nur am Sonntagnachmittag zwischen drei und sieben Uhr frei und alle zwei Wochen Ausgang bis zehn Uhr. Dass dies jedoch nicht meinen Vorstellungen entsprach, habe ich sehr schnell gemerkt. Meine Mutter aber wollte unbedingt, dass ich dort hauswirtschaftliche Fähigkeiten erlerne, um, wie sie meinte, künftig den Hausstand aufs Beste und zum Wohle der Angehörigen führen zu können. Aber mir war klar, dass diese Arbeit für mich nur vorübergehend sein konnte und nicht meine Auffassung vom Leben widerspiegelte. Also habe ich, entgegen ihrem Willen, in einer renommierten Aschaffenburger Firma eine Ausbildung zur Kontoristin absolviert. Ich konnte im Anschluss daran auch einige Zeit dort arbeiten, bis die Firma Ende 1929 zahlungsunfähig geworden war und man mir kündigte.“ Vroni atmete tief durch. „Doch angesichts der derzeitigen Arbeitslosigkeit in der Bevölkerung habe ich großes Glück gehabt, die Stelle im Hotel Wolff hier in München zu bekommen.“

Soeben kam die Bedienung an den Tisch und servierte ein Kännchen Schwarztee, das Karl kurz zuvor geordert hatte.

„Du bist wahrlich zu beneiden!“, erwiderte er nickend. Nach einer Weile nahm er das Tee-Ei aus der Kanne und schenkte Vroni und sich eine Tasse des köstlich duftenden und dampfend-heißen Getränks ein. „Welche Aufgaben obliegen dir denn in deiner Stellung?“, wollte er genauer wissen.

„Ich bin für die Buchhaltung, Gästekorrespondenz und andere Schreibarbeiten zuständig“, erklärte Vroni mit unüberhörbarem Stolz. „Ich habe auch Kurzschrift und Maschinenschreiben gelernt. Und ich bin auf der Mittelschule drei Jahre in Französisch unterrichtet worden.“

„Dann bist du wahrlich eine Meisterin deines Fachs!“, fasste Karl beeindruckt zusammen.

„So ist es“, bekräftigte Vroni lachend und gab eine Kostprobe ihres Wissens zum Besten.
„Mon cœur bat la chamade dès que je te vois.“ Dieser Satz, der so viel bedeutet wie: Mein Herz schlägt wie wild, sobald ich dich sehe, ging ihr dabei flüssig und wie von selbst über die Lippen.

Karl, der kein Wort Französisch verstand, sah sie verständnislos an.

„Warst du denn auf der Lateinschule, Karl?“, fragte sie im Anschluss und bekam vor Übereifer rote Ohren.

„So ist es. Ich habe das Humanistische Gymnasium in Regensburg besucht und dieses im Frühjahr 1921 mit dem Reifezeugnis abgeschlossen“, erklärte er selbstbewusst. „Wenn ich jedoch bedenke, was für ein Hänfling ich am Anfang meines Lebens war …“ Er schüttelte bedächtig den Kopf. „Aber dann ist ja doch noch etwas aus mir geworden“.

„Was war denn los mit dir?“ Vroni blickte ihn zweifelnd an. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieser stramme junge Mann mit den mittelbraunen Haaren, den klaren, blaugrauen Augen, der enganliegenden Nickelbrille und den sanften Gesichtszügen ein gesundheitliches Problem gehabt haben konnte.

„Meine Mutter erzählte mir, dass ich in den ersten Jahren zwischen Leben und Tod gestanden habe. Genaueres habe ich jedoch nie erfahren. Ich weiß nur, dass ich ausschließlich Ziegenmilch vertragen habe.“

Vroni sah Karl betroffen an, fragte jedoch nicht näher nach. Sie wollte nicht neugierig oder unsensibel erscheinen. Doch der junge Mann hatte offensichtlich das Bedürfnis, ihr ausführlicher über seinen Werdegang zu berichten.

„Nachdem ich Ende April meinen Abschluss in der Tasche hatte, ging es im Mai weiter zur Technischen Hochschule in München. Anschließend war ich im Sommer 1922 als Werkstudent für fünf Wochen beim Rindenschäpsen im Kreuzlinger Forst bei Planegg. Der liegt etwa fünfzehn Kilometer südlich von München. Ich musste jedoch täglich mit dem Zug von München nach Planegg und wieder zurückfahren.“

Vroni stutzte. „Was bedeutet denn Rindenschäpsen? Davon habe ich noch nie etwas gehört.“ Sie zog die Stirn in Falten.

„Das ist auch kein Wunder. Diese Tätigkeit fällt schließlich nicht in dein berufliches Ressort. Aber in der Tat ist es so, dass der Borkenkäfer in jenem Jahr große Bestände an Nadelwald vernichtet hatte und wir Studenten deshalb die Bäume entrinden mussten.“ Er grinste verschmitzt, und Vronis Herz schmolz wie lauwarmer Honig dahin.

„Das war längst noch nicht alles“, fügte Karl voll Enthusiasmus hinzu. Ein gutes halbes Jahr später bin ich wiederum fünf Wochen bei der Pfreimdtal-Sperre nahe Vohenstrauß in der Oberpfalz bei Erd-, Zimmerer- und Maurerarbeiten eingesetzt worden. Aber die interessanteste Tätigkeit folgte gut ein Jahr später in den Sommerferien, in denen ich für drei Wochen am Bahnhof München nahe der Hackerbrücke beim Bau eines neuen Ellok-Schuppens für elektrische Lokomotiven mithelfen durfte.“

„Das klingt sehr spannend!“, merkte Vroni, die gebannt an seinen Lippen hing, an.

„Das war es auch“, bestätigte Karl. „Ich konnte in diesem Bereich eine ganze Menge dazulernen.“

Nachdem Vroni von all diesen Neuigkeiten Kenntnis erlangt hatte, war sie in ihrer Brust nur noch erfüllt von einem Gefühl von Stolz. Karl war ein so rechtschaffener, fleißiger und kluger Mann, der trotz seiner Jugend schon so viel erfahren und erleben durfte. Ganz nebenbei registrierte Vroni sein äußeres Erscheinungsbild, das auf einen Menschen mit Stil und Geschmack schließen ließ. Sicher aber hatte er sich für die geschäftliche Zusammenkunft heute im Hotel Wolff noch besonders in Schale geworfen, vermutete sie. Er hatte einen modern geschnittenen Anzug aus braunem Tweed an. Unter dem Jackett trug er eine farblich passende Weste, ein weißes Hemd und eine gestreifte Krawatte. Seinen schwarzen Filzhut hatte er auf den Stuhl neben sich gelegt.

Sie plauderten noch eine Weile angeregt miteinander, bis Karl sie unterbrach. „Leider wird es allmählich Zeit, mich auf den Weg zum Bahnhof zu machen, damit ich den Zug nach Hause nicht verpasse.“

Eine der elektrischen Bogenlampen, die in unmittelbarer Nähe am Straßenrand standen, warf ihren fahlen Schein durchs Fenster. Draußen war es längst dunkel geworden.

„Dann spute dich! Ich muss ebenfalls zusehen, dass ich ins Bett komme. Morgen steht mir ein neuer Arbeitstag bevor“, stimmte Vroni mit einem Anflug von Wehmut zu.

„Ich hätte mich gerne noch länger mit dir ausgetauscht, und am liebsten gleich morgen wieder“, entgegnete Karl beinahe euphorisch. „Leider muss ich jedoch zeitig aus den Federn. Ich habe zu Hause noch einiges zu erledigen. Bezüglich meiner Arbeit habe ich jetzt zwar Gewissheit, aber ich werde mir nun Gedanken machen müssen, welche Schritte ich als nächstes tun werde. Einer dieser Schritte wird sein, dass ich mir eine neue Unterkunft suche.“ Karl wirkte mit einem Mal leicht zerknirscht. Er nahm einen tiefen Atemzug. „Da hast du ja Glück gehabt, dass deine Wohnung im Erdgeschoss liegt. So brauchst du auch die Kohlen nicht so weit hinaufschleppen.“

„Ich schätze diesen Vorteil sehr“, konstatierte Vroni. „Morgen wäre es auch für mich nicht passend. Ich bin seit einigen Monaten beim Bund Deutscher Mädel Mitglied, und morgen treffen wir uns gegen Abend zu einer kleinen Weihnachtsfeier im Augustiner Keller. Es gibt Stollen und Tee, und ich werde ein bisschen auf meiner Zither spielen. Mir gefällt es ausgesprochen gut in dieser Mädchengruppe. Wir unternehmen viel. Wir basteln, singen, wandern, treiben Sport oder betätigen uns an Handarbeiten. Trotzdem ist es unübersehbar, dass die jüdischen Mädchen dabei hintangestellt und wir deutschen Mädel besonders hervorgehoben werden.“

„Es ist inzwischen leider bereits überall so und nicht mehr zu übersehen …“ Karl senkte nachdenklich den Blick.

„Bist du denn auch Mitglied in der Hitlerjugend?“, hakte Vroni spontan nach.

„Nein. Ich mag diese Vereinsmeierei nicht. Aber nimm es bitte nicht persönlich, Vroni. Jeder soll nach seiner Fasson leben.“

„Du hättest sicher Vorteile. Besonders, wenn ich daran denke, dass du dringend eine neue Arbeit und eine Wohnung brauchst …“

„Ich weiß. Aber ich habe mich nun mal entschieden, dieser Gruppe nicht beizutreten. Ich werde es auch ohne deren Vergünstigungen schaffen.“ Karl lächelte optimistisch, und dies gab Vroni ein kleines Gefühl der Sicherheit, denn die war in diesen Zeiten zu einem Fremdwort geworden. Arbeitslosigkeit und Inflation stiegen, und Adolf Hitler war ein Mann, bei dem man nicht wusste, ob man ihm trauen konnte. „Ich werde es schaffen!“, wiederholte er bestimmt.

Kurz darauf umarmten sich die beiden zum Abschied, und Vroni flüsterte: „Versprich mir, dass wir uns im neuen Jahr wiedersehen!“

Karl drückte ihr einen zarten Kuss auf die Stirn. „Natürlich werden wir das! Sobald ich meine Angelegenheiten erledigt habe, werde ich mich bei dir melden.“

Vroni nickte glücklich und versuchte dennoch mit Macht, sich ein Tränchen zu verdrücken. „Ja, Karl. Darauf freue ich mich sehr. Aber nun sieh zu, dass du deinen Zug erwischst!“

„Ich werde dich noch nach Hause begleiten!“

„Das ist nicht nötig. Es sind doch nur ein paar Meter“, beschwichtigte Vroni.

„Ich möchte trotzdem sichergehen, dass du wohlbehalten ankommst. So viel Zeit habe ich“, widersprach Karl energisch. „Zudem möchte ich so lange wie möglich mit dir sein können, denn zu Hause bin ich ja wieder ganz allein.“ Vroni gab nach und lächelte dankbar. Und nun war sie auch ziemlich sicher, dass es keine andere Frau gab, die auf ihn wartete.

Untergehakt verließen sie kurz darauf das Café, während die ersten Schneeflocken vom Himmel fielen.