Kapitel 2
Irgendwo im Rheiderländer-Nirgendwo stand einsam, aber nicht verlassen ein alter Bauernhof. Kühe gab es hier schon lange keine mehr. Nur noch ein paar Hühner und ein Hahn lebten dort ihr sorgenfreies Leben, zumindest bis der Kochtopf rief.
Vor dem Haus im Schatten einer Reihe ebenso alter Bäume saßen auf einer Bank zwei Frauen. Die beiden Damen, Schwestern im zarten Alter von vierundsiebzig und fünfundsiebzig, waren nicht eben zierlich. Ihre bunten, ärmellosen Kittelschürzen spannten ein wenig. Die grauen Haare lagen in Wellen und umrahmten die wettergegerbten Gesichter. Schon immer lebten sie in diesem Haus und es hatte sie auch nie woanders hingezogen. Und auch Abwerbungsversuche von Männern hatten die Schwestern nicht trennen können. Dies war ihr Zuhause und hier blieben sie.
Nun saßen sie auf der Bank und blickten über die weiten Felder. Der Nachbarhof war in der Ferne nur schemenhaft zu erkennen. Die Wolken zogen tief über den Horizont.
Vor ihnen auf dem Tisch standen ein Stövchen mit Teekanne, zwei Teetassen, ein Pott mit Kluntje und ein Kännchen mit Rahm. Teezeit. Die beiden hoben ihre Tassen und schlürften den Tee. Ebenso synchron stellten sie die Tassen wieder ab.
»Du, Dini?«
»Jo.«
»Der Klaus, ne, der ist doch jetzt eigentlich wie n Stück totes Fleisch.«
»Jo.«
Schweigend nahmen sie den nächsten Schluck Tee.
»Du, Dini?«
»Hm.«
»Fängt der dann nicht bald an zu stinken?«
»Ich glaub schon.«
»Mist.«
Talea, die jüngere der Schwestern, legte einen neuen Kluntje in die Tassen, goss Tee nach und ließ kunstvoll eine Wolke mit Rahm in das Getränk gleiten. Synchron seufzten beide.
»Du, Dini?«
»Jo.«
»Der Klaus muss wech.«
Veronikas Reiseführer – Stadt Leer
‚Das Tor Ostfrieslands‘.
Die Stadt Leer liegt im südlichen Ostfriesland an den Ufern der Flüsse Ems und Leda. Die beschauliche Stadt mit 34.000 Einwohnern punktet mit der malerischen Altstadt, gemütlich urigen Cafés und Teestuben sowie einem Hafen mitten in der Stadt, der zahlreiche Anlegemöglichkeiten bietet.
Schönheit, Ruhe und Gastfreundlichkeit – nur einige Dinge, die Leer bietet. Auch Burgen und Schlösser gehören dazu, wobei lediglich die Evenburg in Leer-Loga mit ihrem Schlosspark öffentlich zu besichtigen ist.
Bereits seit 200 Jahren besitzt Leer die Stadtrechte. Doch schon länger hat der Ort die Marktrechte inne. Jeweils im Herbst beginnt für einige Tage die fünfte Jahreszeit – der Gallimarkt. Der Vieh- und Jahrmarkt lockt jährlich hunderttausende Besucher in die Stadt.
***
Der Schrei einer Möwe vor ihrem Fenster weckte Veronika. Einen Moment war sie irritiert, aber dann streckte sie sich und gähnte. Urlaub! Ich bin tatsächlich in Leer. Allein! Sie sprang aus dem Bett und schob die Vorhänge zur Seite. Die Sonne lachte ihr ins Gesicht und sie riss das Fenster auf.
Herrlich! Die Luft war so viel besser als in München. So viel frischer.
Veronika stützte die Arme auf die Fensterbank und guckte neugierig umher. Ihr Zimmer lag im ersten Stock der Pension mit Blick auf den Garten. Eine große Hecke begrenzte das Grundstück. Blühende Blumen wechselten sich mit kunstvoll geschnittenen Buchsbäumen ab. Große, alte Bäume standen im hinteren Teil des Gartens. Entzückt entdeckte Veronika Liegen, die darunter standen. Der perfekte Ort zum Lesen.
Sie nahm ihr Smartphone und schoss ein Foto. Dann lud sie es direkt in die Chatgruppe der Mädels hoch.
Erster wundervoller Morgen in Leer. Heute geht es sofort zum Strand.
Veronika überlegte. Die Kombination aus Smartphone und Sandstrand war keine gute Idee. Außerdem wollte sie schwimmen gehen. Und wenn dann jemand das Smartphone klaute? Sie würde noch einmal extra zum Strand fahren, nur um Fotos zu machen.
Veronika: Lass das Smartphone in der Pension, melde mich heute Abend. Bussi!
Gabi: Ich beneide dich!
Ein wenig wehmütig war Veronika schon zumute, dass Brigitte nicht bei ihr war. Doch sie war fest entschlossen, sich auch allein eine schöne Zeit zu machen.
Pfeifend absolvierte sie ihr tägliches Gymnastikprogramm, dann hüpfte sie unter die Dusche.
Es war warm, sie wollte an den Strand. Veronika entschied sich für eine Shorts, die sie dank der täglichen Übungen noch sehr gut tragen konnte, und eine legere Bluse. Dazu die Stoffschuhe. Sie begutachtete sich im großen Spiegel am Kleiderschrank. So konnte sie sich unters Volk mischen.
»Guten Morgen, Frau Schwartau!«, begrüßte die Pensionswirtin sie. »Haben Sie gut geschlafen?«
»Wie ein Stein, danke.« Veronika setzte sich an einen kleinen Tisch in den Speisesaal. Alles war in weiß und blau gehalten. Die Salz- und Pfefferstreuer hatten die Form von Leuchttürmen. Veronika nahm einen davon in die Hand und nahm sich vor, genau so einen auch zu kaufen. Zwei Tische weiter saß ein junges Paar und nickte ihr freundlich zu.
Von einem kleinen Buffet holte sie sich Brötchen, Käse und Kaffee. Ihr Plan war es, zuerst zu dem kleinen Hafen von Leer zu laufen und dann direkt weiter an den Strand. Sie hatte sich vor der Abreise extra noch einmal die Filme der ‚Friesenwache‘ angeguckt und demnach war beides gut zu Fuß zu erreichen.
Frisch gestärkt ging sie hoch in ihr Zimmer. Dort bestückte sie ihre große Tasche mit Piccolos und Keksen, setzte den knallroten Sonnenhut auf und klemmte sich den Sonnenschirm unter den Arm. Sie ging wieder nach unten und gab den Schlüssel bei der Pensionswirtin ab. Den seltsamen Gesichtsausdruck konnte sie nicht ganz deuten, aber es war auch irrelevant.
»Wie komme ich denn zum Hafen?«, fragte sie.
»Die Straße hoch, dann links und dann dem Schild in Richtung Rathaus und Waage folgen. Können Sie gar nicht verfehlen.«
»Danke.«
Veronika trat vor die Tür und atmete einmal tief ein. Ab jetzt ist wirklich Urlaub.
Veronikas Reiseführer – Museumshafen an der Alten Waage
Der Museumshafen bietet mit der Waage und dem Rathaus im Hintergrund einen entzückenden Anblick. Die alten Traditionsschiffe werden hingebungsvoll gepflegt und sind voll funktionsfähig. Hier genießt man den Anblick, während die Möwen ihre Kreise ziehen und die Wellen sanft gegen die Kaimauer schlagen. Von hier aus kann man auch eine Hafenrundfahrt antreten.
Die Alte Waage ist ein zweigeschossiger Backsteinbau mit Doppelwalmdach. Auf ihrem Dach prangt ein Türmchen mit Uhr. Ursprünglich zur Nutzung des Wiegerechtes erbaut, ist heute ein Restaurant darin untergebracht – ideal für eine kleine kulinarische Auszeit.
Das Rathaus, nur einen Katzensprung entfernt, ist das Wahrzeichen der Stadt Leer und wurde zwischen 1889 und 1894 erbaut.
***
Sie hielt sich an die Wegbeschreibung und tatsächlich, nach nur fünf Minuten erreichte sie einen großen Parkplatz, von dem aus ein Schild auf den Hafen wies. Nur noch hundert Meter. Veronika beschleunigte den Schritt. Sie lief durch die schmale Königsstraße und stand bald darauf an der Kreuzung, die sie schon aus dem Fernsehen kannte. Linker Hand erhob sich das Rathaus mit seinem majestätischen Eckturm. Ein paar Meter weiter erkannte sie die alte Brücke über den Hafen. Schräg rechts lag die Waage, der zweigeschossige Backsteinbau im niederländisch klassizistischen Barock. Veronika hatte sich schlaugelesen, aber all das interessierte sie in dem Moment nicht.
Da vorne war der Hafen. Sie lief an der Waage vorbei und stand bald darauf freudestrahlend an der Kaimauer. Die Schiffe dümpelten im Wasser. Die Sonne glitzerte auf den Wellen, während die Takelage eines alten Traditionsseglers rhythmisch an den Mast schlug. Auf der Brücke stand ein Kind und warf Brotkrumen ins Wasser, sodass sich die Möwen lautstark stritten. Herrlich!
Veronika blieb stehen und sog das Bild in sich auf. Alles war so friedlich. So entschleunigt. Es war genau so, wie sie sich das vorgestellt hatte. Sie drehte sich um, um die Waage genauer in Augenschein zu nehmen. Tische und Stühle waren davor aufgebaut. Ein herrlicher Geruch wehte aus den offenen Fenstern der Restaurantküche zu ihr. Sie ging zwar nicht gerne allein essen, aber bei dem Gedanken an ein Essen mit Blick auf diesen zauberhaften Hafen lief ihr jetzt schon das Wasser im Mund zusammen. Das würde sie definitiv an einem der Abende in Leer machen.
Doch wo war denn nun der Strand? Sie erklomm ein paar Stufen und stand bald darauf auf der Rathausbrücke. Von hier konnte sie den Hafen gut überblicken. Auf der Seite mit der Waage sah sie den Museumshafen. Dort lag auch ein großes Ausflugsschiff vor Anker. Auf der gegenüberliegenden Seite standen mehrere Büroneubauten, dahinter eine Art Siloturm. Zur anderen Seite der Brücke machte der Hafen eine leichte Kurve. Ein Weg führte am Ufer entlang. Viele Sportboote und schicke Mehrfamilienhäuser reihten sich dort auf, aber es gab keinen Hinweis auf einen Strand. Merkwürdig.
Also sprang sie die Stufen wieder hinunter und steuerte auf eine Bankreihe zu, die direkt am Hafen stand. Dort hatte sie einen Mann entdeckt, der Pfeife rauchend die Tageszeitung las. Das ist bestimmt ein Einheimischer, der mir weiterhelfen kann.
Sie stellte sich vor ihn. »Grüß Gott! Können Sie mir bitte sagen, wo der Strand ist?«
Der Mann in einem blauen Troyer verdrehte die Augen. »Auf Norderney«, brummte er.
»Norderney? Guter Mann, ich möchte nicht auf die Insel. Ich möchte zum Leeraner Strand.« Wenn das ein Scherz sein soll, dann war das aber ein ganz schlechter.
Der Mann, der sie mit den zotteligen grauen Haaren, dem Bart und der Pfeife an einen alten Seebären erinnerte, blickte von seiner Zeitung auf und musterte sie. »Der Leeraner Strand ist auf Norderney, gute Frau.« Er schob seine Pfeife von dem rechten in den linken Mundwinkel.
Veronika schüttelte den Kopf. »Sie verstehen mich nicht. Im Fernsehen ist der Strand doch direkt hier irgendwo.« Sie deutete auf den Leeraner Hafen und sah wieder zu dem alten Kauz. War er doch nur ein Tourist?
»Im Fernsehen gibt es auch Dinosaurier.« Er widmete sich wieder dem Sportteil der Zeitung.
»Und die Kutter? Sind die auch auf Norderney?« Vielleicht wusste er wenigstens das.
»Nö, die sind in Ditzum.«
Veronika seufzte. Musste sie dem Kerl echt jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen? »Und wo ist bitte dieses Ditzum?«, fragte sie möglichst höflich.
Der Seebär faltete die Zeitung zusammen und sah zu ihr auf. »Im Rheiderland. Einmal über die Ems und rechts n Stück über den Deich. Können Sie gar nicht verfehlen.«
Das war doch schon mal ein Anfang. Veronika hob fragend die Hände.
»Da lang.« Er zeigte schräg hinter sich. »Ist aber n Stück.«
»Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Ich bin gut zu Fuß.«
Und damit drehte Veronika sich um und marschierte erhobenen Hauptes in die angegebene Richtung.
Diese Ostfriesen! Hoffentlich waren die nicht alle solche Stinkstiefel wie dieser alte Seebär auf der Bank. Komischer Kauz war das. Und warum sitzt der bei über zwanzig Grad mit dickem Troyer in der prallen Sonne?
»Reg dich nicht auf, Veronika. Du machst dir ein paar schöne Tage in Leer. Wenn nicht mit Strand, dann wenigstens mit den malerischen Kuttern.« Veronika schritt energisch weiter. «Gut zu Fuß bist du auch. Immerhin gehst du jedes zweite Wochenende wandern, jawohl. Das hier ist Flachland. Da braucht es kaum eine gesonderte Ausrüstung, um ein paar Meter zu laufen.«
Veronika packte den Sonnenschirm fester und pfiff auf dem Weg durch die Altstadt in Richtung Ems.
***
Fiete Jacobsen saß wie jeden Tag auf seiner Stammbank am Leeraner Hafen vor der Waage. Seit er nicht mehr zur See fuhr, war das hier Morgen für Morgen sein Platz. Er brauchte den Ruf der Möwen, die ihn sonst bei Fahrten mit seinem Kutter ‚Heike‘ begleitet hatten.
In den frühen Morgenstunden lag eine wohltuende Stille über dem Hafen, bevor die Touristen alles bevölkerten.
Er musste lachen, als er an die zierliche Dame dachte, die mit Sonnenschirm und riesiger Tasche nach dem Weg zum Strand gefragt hatte.
»Na, Vadder, du hast ja gute Laune!« Klaas Jacobsen klopfte seinem Vater auf die Schulter und setzte sich neben ihn auf die Bank.
Fiete lachte. »Jo. Da wollte wieder eine Touristin an den Strand. Die hatte sogar einen Sonnenschirm dabei.«
Klaas schloss die Augen und lehnte sich zurück. »Tja, wär schön, wenn wir wirklich einen hätten.«
»Musst du kein Verbrechen aufklären?«
»Nö, alles ruhig.«
Auf den ersten Blick hätte man sie nicht für Vater und Sohn gehalten. Fiete Jacobsen war ein alter Seebär, wie er im Buche stand. Graue zottelige Haare, Bart und ein wenig Bauch. Egal bei welchem Wetter – er trug seinen blauen Troyer und die Pfeife im Mund. Bis zur Rente vor ein paar Jahren war er auf einem Fischkutter gefahren.
Klaas Jacobsen war mit seinen 1,90 m nur wenig größer als sein Vater. Doch er war schlank, durchtrainiert und hatte die blonden Haare immer frisch frisiert. Statt aufs Meer hatte es ihn zur Polizei gezogen. Er arbeitete als Hauptkommissar der Leeraner Wache.
Eine Weile saßen die beiden Männer schweigend nebeneinander auf der Bank. Trotz der frühen Stunde war es schon warm. Am Nachmittag sollte es gewittern.
Klaas streckte sich und seufzte. »Ich muss wieder. Die Arbeit ruft.«
»Ich hör nichts.« Fiete grinste.
Klaas klopfte seinem Vater freundschaftlich auf die Schulter. »Jemand muss ja ein Auge auf Leer haben. Dann bis später.«
Klaas stand auf und ging langsam in Richtung Rathaus.
Fiete sah ihm nach. Auch wenn sein Sohn nicht zur See gefahren war, weil er schon beim Anblick von Wellen seekrank wurde, war aus ihm etwas Ordentliches geworden. Und seine Schwiegertochter Anja war sowieso ein Schatz. Hm, es wird Zeit, dass sie mich mal wieder zu ihren weltbesten Rouladen einlädt.
Mit einem tiefen Atemzug schlug Fiete die Zeitung wieder auf und widmete sich dem Sportteil.
***
Veronika Schwartau kochte. Wegen der Hitze. Und vor Wut. Dieser vermaledeite Halunke von Seebär! Sie hatte eine Ewigkeit gebraucht, um endlich diese Jann-Berghaus-Brücke zu erreichen. Der Anblick der Ems war atemberaubend gewesen und hatte sie für den Moment versöhnt. Irgendwann war sie rechts auf den Deich gewechselt. Hier lief sie schon seit einer weiteren Ewigkeit, rechts die Ems und links ganz viel freies Land, und von diesem Ditzum war immer noch nichts zu sehen.
Schnaufend ließ sie die Tasche fallen, steckte den Sonnenschirm in den Deichboden und spannte ihn auf. Mit einem Bums setzte sie sich darunter und suchte nach ihrer Wasserflasche. Sie nahm einen großen Schluck von dem lauwarmen Nass und wartete, dass sich ihr Puls beruhigte.
Schöne Bescherung ist das. »Kein Strand, keine Kutter, nur Vollpfosten. Und überhaupt: Warum versetzen die im Fernsehen Leer an einen Strand, obwohl es keinen gibt? Woher hätte ich das denn wissen sollen? Vielleicht aus dem Internet?«, gab sie sich direkt selbst die Antwort. Veronika nahm einen zweiten Schluck und schüttelte über sich selbst den Kopf. Sonst glaubte sie doch auch nicht alles, was sie auf dem Bildschirm sah. Wahrscheinlich hatte sie sich von den wundervollen Bildern der ‚Friesenwache‘ verführen lassen.
Sie sah sich um. Vor ihr die Ems, hinter ihr die unendliche Weite aus grünem Gras und tiefziehenden Wolken. Es ist schon schön!
Sie folgte mit dem Blick der Deichlinie. Etwas entfernt entdeckte sie eine Kirchturmspitze. Na also, da ist es doch. Sie schraubte die Flasche wieder zu und steckte sie zurück in die Tasche. Ich laufe jetzt weiter nach Ditzum und mache mir einen schönen Tag. Punkt.
Veronikas Reiseführer – Das Rheiderland
Das Rheiderland ist eine südwestlich im Landkreis Leer gelegene Halbinsel und durch Ems und Dollart vom übrigen Ostfriesland getrennt. Erst seit 1948 gibt es eine feste Brücke von Leer über die Ems dorthin. In den achtziger Jahren entstand der Emstunnel als Teilstück der Autobahn 31.
Wie an einer Schnur reihen sich entlang der Ems die Stadt Weener sowie die Gemeinden Jemgum, Ditzum und Pogum bis hinauf zum Dollart auf. Das Rheiderland ist ansonsten eher dünn besiedelt und wird überwiegend landwirtschaftlich genutzt. Man sagt, man könne heute schon sehen, wer morgen zu Besuch kommt, so weitläufig und eben ist dieser Landstrich. Man findet hier malerische Landschaften in einer ruhigen, reizvollen Umgebung und hat immer eine salzige Brise in der Nase.
***
Jemgum? Auf diesem dämlichen Schild stand tatsächlich Jemgum. Sapperlot noch mal! Hier war ein Hafen, aber keine Kutter und kein Ditzum. Am liebsten hätte Veronika einmal laut geschrien, aber das verbot ihr ihre gute Erziehung. Der Seebär hatte sie ins Bockshorn gejagt.
Sie ließ Tasche und Sonnenschirm fallen und sich auf die Bank, die dort auf dem Deich stand. Veronika blickte sich um. Das Wasser war weg, glänzender brauner Schlick bedeckte den ganzen Hafengrund. Der Hafen war nicht groß. Die wenigen kleinen Boote, die hier angelegt hatten, saßen tief im Schlick und warteten auf die nächste Flut.
Super! Nicht mal Wasser hatten die Ostfriesen.
Ein Café lag an der Einmündung zum Hafen, aber es war geschlossen. Die Stühle lehnten schräg an den Tischen, die Rollladen waren heruntergelassen. Sonst war hier nichts.
Es wurde immer heißer und schwüler. Erste Schweißperlen rannen Veronika über die Stirn. Sie zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und tupfte sie weg. Sie war durchtrainiert. Von so einem kleinen Fußmarsch würde sie sich nicht aus der Fassung bringen lassen. Gute zwei Stunden war sie schon unterwegs. Doch dann konnte Ditzum nicht mehr so weit entfernt sein. Oder gab es diesen Ort überhaupt nicht?
Veronika sah sich um und entdeckte am Bootsanleger eine Infotafel. Sie warf sich die Tasche über die Schulter, griff den Schirm und marschierte den Deich hinunter.
Ah, eine Karte vom Rheiderland. Ein roter Punkt markierte ihren Standort am Hafen von Jemgum. Mit dem Finger fuhr Veronika auf der Karte die Ems entlang. Da! Da war dieses Ditzum. Doch wie weit war das noch? Hm, ich kann natürlich auch eine Abkürzung nehmen und über Land laufen. Dazu müsste sie nur vom Deich runter und der Straße folgen. Sie griff den Sonnenschirm wie einen Gehstock. Ditzum, ich komme!
Veronika erklomm erneut den Deich und marschierte weiter. Sie würde diesem blöden Seebären schon beweisen, dass sie Ditzum auch zu Fuß erreichen konnte.
Die Landschaft blieb gleich, aber immer mehr braune Köttel lagen auf dem Deichkamm. Veronika lief mittlerweile Slalom. Was war das für ein Zeug? Sie rümpfte die Nase. Sonderlich gut roch es auch nicht. Reintreten wollte sie da auf keinen Fall.
Ein paar hundert Meter weiter wartete die Erklärung auf sie: Schafe! Wo kamen denn auf einmal diese ganzen wilden Schafe her?
Eine große Herde stand oder lag auf dem Deich verteilt vor ihren Füßen. Die Tiere sahen sie aus dunklen Augen an, grasten unbeirrt weiter.
»Geht weg!« Veronika fuchtelte mit den Händen. Ihr war gar nicht wohl. »Geht doch weg!«
»Mäh!«
»Ja, mäh! Husch, husch, geh schön zur Seite.«
Sollte nicht ein Schäfer in der Nähe sein, der die Tiere in Zaum hielt? Nervös drängte sie sich an ihnen vorbei. Patsch.
»O nein! Nicht das auch noch.« Veronika schnaufte. Sie sah zu ihren weißen … ehemals weißen Stoffschuhen hinunter.
»Mäh?« Zwei Schafe näherten sich ihr auf schnellen Klauen.
Veronika sprang einen Schritt zurück, stolperte und fiel auf den Allerwertesten. »Geht doch weg!« Sie rappelte sich auf, griff sich ihren Sonnenschirm und ließ ihn aufspringen. Hektisch sah sie sich um. Warum war hier denn keiner und half ihr?
Die Schafe blökten, wichen dann zurück und trotteten den Deich hinunter.
Veronika atmete auf. Unten am Deich verlief ein geteerter Radweg. Ein Stückchen weiter entdeckte sie einen Holztritt. Mit dem aufgespannten Sonnenschirm in der Hand rannte Veronika dorthin und stieg eilig hinüber. Puh, das war knapp gewesen. Auch wenn Schafe allgemein als friedlich eingestuft wurden, konnte man bei so einer Menge nie wissen, was sie mit einem tun würden.
Sie zerrte an dem Sonnenschirm, der sich mit einem Quietschen verhakte und die Mitarbeit verweigerte. »Dann eben nicht!« Veronika rammte ihn in den Boden und lief weiter.
Die Wolken wurden dichter und dunkler. Sie jagten immer schneller über den Himmel. Ein Donnergrollen kündigte ein Gewitter an. Auch das noch! Da vorne verlief die Straße. Sie würde den nächsten Bus nehmen und zurück nach Leer fahren. Von Ostfriesland hatte sie die Nase voll.
Kapitel 3
Talea und Dini schlurften die Treppen hinunter in den Keller. Eine Kühle empfing sie hier. Nach der schwülen Hitze des Tages war es eine reine Wohltat. Zwischenzeitlich hatte es zwar ein wenig gedonnert, aber das Gewitter und somit die Abkühlung war über die Niederlande an ihnen vorbeigezogen.
Unten im Keller lagerten sie ihren Wein. Der Raum hatte die perfekte Temperatur dafür.
Hier unten lagerte auch Klaus vor einem der Weinregale auf dem Boden und rührte sich nicht mehr. Was angesichts des Loches im Kopf und der großen Blutlache drumherum auch seltsam gewesen wäre. Oder war es Wein?
»Was für eine Schande um den guten Tropfen.« Talea stieg die letzte Stufe hinunter und stemmte die Hände in die Hüften.
Dini stellte sich neben sie.
»Mist«, grummelte Talea.
»Jo.«
Eine Weile standen sie schweigend da und begutachteten den alten Klaus.
»Und nu?«, fragte Dini.
»Der muss hier wech. Am besten zurück auf seinen Hof.« Talea beugte sich hinunter und hob einen Arm des Toten an. »Bisschen steif war er ja schon immer.« Sie ließ den Arm wieder fallen und rollte Klaus auf den Rücken.
»Fass mal das rechte Bein an, dann ziehen wir ihn nach oben.«
Dini griff das genannte Bein, Talea das linke. Ächzend zogen sie ihn bis zur Treppe. Auf dem Boden folgte ihm ein roter Streifen des Wein-Blut-Gemischs.
»Immer Ärger mit de Mannlü!«, schimpfte Dini.
Die beiden Damen kämpften sich die ersten Stufen hinauf.
Dong. Dong. Bei jeder neuen Stufe schlug Klaus mit dem Kopf auf. Dong.
»Du, Dini?«
»Hm.«
»So geht das nicht. Der macht uns die Treppe dreckig mit dem Kopf.«
»Das ist nicht gut. Und nu?«, erwiderte Dini.
»Du, wo ist der alte Fahrradhelm? Den setzen wir dem Klaus auf.«
»Oben.«
Gleichzeitig ließen die Schwestern die Beine los.
Dongdongdongdong. Rums!
»Mist.«
***
Ich. Geh. Keinen. Schritt. Weiter. Veronika ließ sich da, wo sie gerade war, einfach rückwärts ins Gras fallen. Sie schnaufte, sog die Luft tief in sich ein. Dieses verflixte Rheiderland! Sie hatte eine Bushaltestelle gefunden. Mit der kleinen Einschränkung, dass der Bus nur während der Schulzeiten und dann auch nur dreimal am Tag fuhr. Es sind verdammt noch mal Sommerferien! Genervt war sie einfach weitergelaufen und hatte irgendwann völlig die Orientierung verloren.
Jetzt lag sie mitten im Nichts im noch größeren Nichts und hatte den restlichen Schluck Wasser vor einer Stunde getrunken. Ihre Schuhe waren schwarz-grün so wie das Hinterteil ihrer Shorts.
Seit Stunden war sie immer weitergelaufen, ohne dass sich die Landschaft wesentlich verändert hatte. Weide folgte auf Weide, getrennt durch unendlich lange und breite Gräben. Hin und wieder ein windschiefer Baum, ein verrostetes Gatter. In der Ferne ab und an schwarz-weiße Flecken, die sich träge bewegten. Die Kühe hatten die Ruhe weg. Sie nicht mehr.
Während der letzten zwei Stunden war kein einziges Auto an ihr vorbeigefahren. In Worten: Null. Nada. Keins.
Veronika schloss die Augen. Wo war sie hier nur gelandet? Fahr mal an die See, hatten sie gesagt. Da ist es schön. Dieses Leer sieht im Fernsehen immer so idyllisch aus, hatten sie gesagt. Von den Grantlern, die hier lebten, hatte keiner etwas gesagt.
Wenn sie jetzt in München wäre, würde sie sich einfach ein Taxi rufen oder die nächste Straßenbahn nehmen. Hier gab es nicht einmal einen Bus und ihr Smartphone lag wo? Sicher vor dem feinen Sand des Leeraner Strandes geschützt in der Pension.
Ein seltsamer Laut entfuhr ihrer Kehle. Es wandelte sich in ein Glucksen, dann lachte sie schallend auf. Gleichzeitig liefen ihr die Tränen über die Wangen. Sie saß verdammt nochmal richtig in der Tinte!
Veronika setzte sich auf und kramte in ihrer Tasche. Ein paar Kekse waren noch darin versteckt. Verhungern würde sie bis morgen also nicht. Und da war es.
Mit einem Lächeln zog sie die kleine Sektflasche hervor und drehte den Schraubverschluss auf. Wie gut, dass sie dafür immer eine kleine Kühltasche dabeihatte.
»Auf Ostfriesland. Prost!«, rief sie in die einbrechende Dämmerung. Dann trank sie die halbe Flasche in einem Zug leer.
***
Mit dem Fahrradhelm bewaffnet stiegen Dini und Talea zurück in den Keller. Klaus lag noch an Ort und Stelle und hatte sich nicht gerührt.
Talea hob seinen Kopf ein wenig an, damit Dini ihm den Helm aufsetzen konnte. Sie verschloss den Gurt unterm Kinn und klopfte auf den Kopf.
»Passt.«
Gemeinsam griffen die Schwestern wieder nach den Beinen und zerrten Klaus die Treppe hinauf. Dong. Dong. Diesmal gab es keine unschönen Blutflecken auf den Treppenstufen. Als sie ihren ehemaligen Nachbarn bis in den Hausflur gezogen hatten, ließen die beiden Damen los.
»Ich brauch n Schnaps«, meinte Dini und wischte sich die Hände an ihrer Kittelschürze ab.
Talea tat es ihr gleich. Die Kittelschürze gehörte bei ihnen dazu. Am liebsten hatten sie die bunten aus den siebziger Jahren. Für die Feiertage hatten sie aber extra gute zurückgelegt, das gehörte sich schließlich so.
Sie ließen Klaus im Flur liegen und gingen in die Küche. Dini holte die Gläser aus dem alten Buffetschrank, Talea die Flasche Schnaps aus der Abstellkammer. Etwas zittrig füllte sie die klare Flüssigkeit in die beiden Gläser. Beide Schwestern griffen danach und kippten den Schnaps hinunter.
Talea füllte die Gläser vorsichtshalber noch ein zweites Mal. »Wie bringen wir den Klaus nun nach Hause? Ich schlepp den nicht die ganze Strecke.«
»Hm.«
Eine Weile schwiegen sie und kippten hin und wieder einen Schnaps nach. Anscheinend half der beim Denken, denn Talea hatte eine Idee. »Aufsitzmäher.«
»Wat?«
»Wir fahren Klaus mit dem Aufsitzmäher nach Hause.«
»Der ist zu steif.« Dini schenkte den nächsten Schnaps ein.
»Schubkarre.«
»Wat?«
»Kannst du auch noch was anderes sagen?« Talea schüttelte den Kopf. »Wir hängen die Schubkarre hinter den Aufsitzmäher.«
»Der hat keine Anhängerkupplung.«
»Mist.«
Noch einen Schnaps.
»Ich fahr. Du setzt dich andersrum mit drauf und hältst die Schubkarre fest. So geht das.« Talea wollte noch einen Schnaps einschenken, aber Dini hielt die Hand über ihr Glas.
»Ich muss noch fahren. Du kannst den viel besser festhalten. Bist schließlich jünger als ich.«
Talea überlegte kurz, dann nickte sie. »Und ich hab die längeren Arme.«
Dini streckte ihren linken Arm aus und hielt ihn neben Taleas. »Jo.«
»Dann man los.«
Talea stand auf. »Ui, das war vielleicht doch n Schnäpschen zu viel?« Sie schwankte leicht. »Ich hol dann mal die Schubkarre. Dini, hol du den Wagen.« Sie lachte über ihren eigenen Witz und wankte hinaus.
Dini nahm die Tür zur Scheune. Dort hatten sie einst ihre Landmaschinen geparkt. Doch seit sie nur noch Hühner hatten und das Land verpachtet war, brauchten sie die nicht mehr. Ein Nachbar hatte ihnen geholfen, die großen Maschinen zu verkaufen. Nun stand dort nur noch ein Aufsitzmäher. Den liebten die Schwestern heiß und innig. Wer brauchte schon ein Auto, wenn man auch mit dem Aufsitzmäher einkaufen fahren konnte.
Benzin war noch genug drin, also startete Dini den Motor und fuhr vor zum Scheunentor. Sie öffnete es, brauste nach draußen und mit Schwung ging es um die Hausecke. Dabei hätte sie fast ihre Schwester umgefahren.
»Pass doch auf!«
»Entschuldige.« Dini kurvte an ihr vorbei zur Haustür.
Talea schob die Schubkarre vor sich her, die laut über den unebenen Weg rumpelte. Dini hatte die Haustür geöffnet. Gemeinsam zogen sie Klaus nach draußen. Sicher, Klaus war nicht dick gewesen, man könnte ihn schon fast dürr nennen. Doch gerade jetzt in seinem Zustand war er eher unhandlich.
Es kostete sie einige Mühen, den Leichnam in die Schubkarre zu hieven. Er war zu groß dafür. Die Beine ragten ab den Knien über den Rand hinaus.
Talea tupfte sich mit der Kittelschürze den Schweiß von der Stirn. »Nur Scherereien mit de Mannlü.« Sie musterte Klaus und die Schubkarre, dann den Aufsitzmäher. »Geht. Setz dich drauf, Dini.«
Ihre Schwester tat wie geheißen. Talea dirigierte sie ein Stück zurück. Dann quetschte sie sich selbst rittlings auf den schmalen Sitz. Sie zog die Schubkarre ganz zu sich – so hatte sie die Griffe der Karre fest an ihren Hüften sitzen. Beherzt packte sie Klaus unter die Achseln. »Fahr los, Dini!«
***
Mittlerweile war es fast dunkel und Veronika hatte es aufgegeben, auf ein Auto zu hoffen. Sie würde die Nacht wohl oder übel hier auf dieser Wiese im absoluten Nichts verbringen müssen. Aus ihrer Strandmatte und dem Badehandtuch hatte sie sich ein provisorisches Nachtlager gebaut und sich hingelegt. Das kribbelnde Gefühl vom Sekt wandelte sich immer mehr in ein mulmiges Gefühl von Angst. Ob jemand sie vermissen würde? Oder gar suchen? Ihre Mädels würden denken, sie machte sich einen schönen Abend. Und die Pensionswirtin hatte doch keine Ahnung, wo sie hingegangen war. Und wo sie sich dank dieses Halunken auch noch völlig verlaufen hatte. Falls sie hier je lebend wegkam, würde sie dem Kerl aber ganz gewaltig die Leviten lesen. Wenn …
Ein wenig verloren blickte sie hinauf in den Himmel. Erste Sterne zeigten sich, spendeten ein wenig Trost. Später würde sie den Sternenhimmel sicherlich gut sehen können, schließlich gab es hier keine Lichtquelle, die den Blick stören würde. Veronika schluckte. Keine Lichtquelle bedeutete absolute Finsternis. Ach du … Sie hatte doch weder Smartphone noch Taschenlampe dabei.
Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Kam da jemand? Ein Motor röhrte durch die Nacht. Sie sprang auf und rannte die paar Meter zur Straße. Egal wer da kam – alles war besser als eine Nacht hier draußen zu schlafen.
In der Ferne entdeckte sie ein Licht, das im Slalom immer näher kam. Hm, ist der Fahrer betrunken? Vielleicht sollte sie die Nacht doch lieber im Gras verbringen.
Veronika trat ein wenig zurück. Mit einem betrunkenen Fahrer war sicher nicht zu spaßen. Nachher war das ein Lüstling oder er setzte den Wagen gegen einen Baum! Angespannt knetete Veronika ihre Hände und blickte sich um. Einige Meter entfernt machte die Straße eine neunzig Grad Kurve, wo sie im letzten Dämmerlicht ein Fahrzeug erkennen konnte. Oder was auch immer das war, was da auf sie zukam. Veronika kniff die Augen zusammen. Jetzt hörte sie auch eine Stimme.
»Halt an. Ich verlier den Klaus!«
Was? Das war die Stimme einer älteren Frau. Wen verliert sie da? Veronika schlich wieder ein Stück näher an die Straße.
»Dass der auch so steif sein muss!«
Hatte sie das gerade richtig gehört? Oha. Veronika ging am Rande eines Grabens in die Knie. Bei den seltsamen Damen wollte sie lieber nicht mitfahren.
Das Gefährt setzte sich wieder in Bewegung und Veronika drückte sich tiefer ins Gras. Die grellen Scheinwerfen blendeten sie und sie schirmte die Augen mit der Hand ab. Dann erkannte sie es. Ein großer Aufsitzmäher fuhr an ihr vorbei und zog eine Schubkarre hinter sich her. Veronika blieb der Mund offen stehen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Den Umrissen nach hatten zwei dicke Frauen darauf gesessen und dieser Klaus in der Schubkarre gelegen. Zumindest hatten zwei Beine hinten aus der Karre gehangen. Und Klaus hatte einen … Nein, weiter wollte Veronika nicht denken. Es reichte!
Sobald sie morgen in der Pension war, würde sie ihre Koffer packen. »Wenn ich diesen Seemann in die Finger bekomme, drehe ich ihm eigenhändig den Hals um.«
Es wurde schlagartig dunkel. Veronika stolperte eilig zu ihrem Lager und kroch unter das Badehandtuch. Trotz der schwülen Luft war ihr auf einmal ziemlich kalt. Die Angst legte sich wie eine zweite Decke über sie und schnürte ihr den Hals zu.
***
Nachdem sie die Schubkarre und damit auch Klaus zweimal fast verloren hätten, erreichten Talea und Dini endlich das Feld in der Nähe seines Hofes. Das Gras war kurz gemäht und stoppelig. Mühelos fuhren sie auf die andere Seite und hielten vor einem Graben an. Wenn sie ihn dort ablegten, würde ihn so schnell keiner finden. Das war eindeutig ein Vorteil des Rheiderlandes: Man konnte Leichen gut verstecken.
Dini hielt an. Talea ließ erleichtert die Griffe der Schubkarre los und streckte die schmerzenden Finger. Dini fuhr wieder los und Talea ruderte mit den Armen, weil sie fast vom Sitz gefallen wäre.
»Du olle Kuh!«, schimpfte sie. »Sach doch was!«
»Was.« Dini kicherte und fuhr jetzt langsam mit dem Aufsitzmäher im Kreis. Das Licht der Lampe fiel auf Klaus.
»Du, Talea? Der hat n Schuh wech.«
Talea kletterte vom Sitz und trat an die Schubkarre. »Tatsächlich. Na, er braucht ihn ja nicht mehr, oder? Fass mal mit an.«
Sie packte einen Griff, Dini den anderen und zusammen kippten sie die Karre so weit, dass Klaus hinausrutschte. Rums. Die beiden Damen zogen die Schubkarre noch ein Stück zurück und Klaus schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf.
»Gut, dass er den Helm aufhat.« Dini ließ die Karre los und trippelte zu ihm. Eifrig nestelte sie an dem Gurt und zog ihm den Helm vom Kopf. »Ich glaube, ich brauch noch n Schnaps.«
»Klaus hat einen guten im Haus.«
»Er schuldet uns sowieso noch eine Flasche Wein, nicht wahr?«
»So isses.«
Dini stieg auf den Aufsitzmäher, Talea tat es ihr gleich. Dieses Mal konnte sie die Schubkarre viel leichter festhalten, so ohne den Klaus. Um diese Last befreit, pfiff sie ein Lied.
Der Hof von Klaus war ganz in der Nähe. Die Straßen waren nicht beleuchtet. Doch die beiden Schwestern hatten den Aufsitzmäher mit einem extra starken Scheinwerfer ausgestattet und sie kannten sich aus. Schon oft waren sie hier auf dem Hof gewesen und es war noch genauso wie früher. Das große Gebäude erkannten sie gegen den Sternenhimmel nur schemenhaft. Im Haus war alles dunkel, denn der Klaus lebte allein.
Dini und Talea hielten vor der seitlichen Scheunentür. Talea drückte die Türklinke – die Tür war offen. Was anderes hatten sie auch nicht erwartet. Hier schloss man nicht ab. Hier sah man schon einen Tag vorher, wenn jemand zu Besuch kam, so weitläufig und einsam lagen die Höfe im Rheiderland.
Sie tasteten sich durch die Scheune in die Küche und von dort in den Flur. Klaus hatte in seinem Hof ebenfalls einen kühlen Keller, der perfekt für seinen Wein war. Und da wollten sie hin.
Langsam kletterten sie die Treppe hinunter. Dini ächzte.
»Du brauchst doch ein neues Knie, meine Liebe.« Talea nahm die letzte Stufe und ging zu einem der Regale. Sie zog eine Flasche Rotwein hervor und hielt sie weit von sich.
»Und du ne neue Brille.« Dini nahm ihrer Schwester die Flasche ab. »Jo, der is gut. Hat er noch mehr davon?«
Sie fanden noch fünf Flaschen des guten Rotweins und eine Flasche Schnaps. Stöhnend ließen die Schwestern sich auf der Treppe nieder. Dini gähnte, während Talea die erste Weinflasche öffnete. Klaus zu entsorgen, war ganz schön anstrengend gewesen. Und sie waren ja nicht mehr die Jüngsten.
»Auf Klaus!«
»Auf Klaus!«
Abwechselnd tranken die beiden aus der Flasche und es dauerte nicht lange, da war sie leer.
»Nanu.« Dini hielt sie ins Licht und schüttelte sie leicht. »Nichts mehr drin.« Sie hickste und lachte.
Talea lehnte sich an sie. »Isch glaub, isch musch insch Bett.«
»Gute Idee.« Dini stellte die Flasche auf den Boden und versuchte, aufzustehen. »Der Boden wackelt aber ganz schön. Den muss Klaus mal reparieren.«
»Kanner nich mehr.« Talea zog sich am Treppengeländer hoch und half dann ihrer Schwester auf.
»Stimmt.«
Dini nahm eine Flasche Wein und steckte sie in die rechte Tasche ihrer Kittelschürze. Der Schnaps wanderte in die linke. Zwei weitere steckte sie in Taleas Kittel.
Aufeinander gestützt erklommen die beiden die Stufen hinauf in den Flur und wankten zurück in die Scheune. Draußen schwang Dini sich mehr oder weniger elegant auf den Sitz des Rasenmähers. Talea guckte nachdenklich auf die Schubkarre, dann schüttelte sie den Kopf, stieg hinter Dini auf den Aufsitzmäher und hielt sich an ihr fest.
»Schubskarre hollen mir morgen. Ahoi!«