Leseprobe Kleines Cottage, großes Glück – Neubeginn am Meer

Prolog

Es war das sanfte Vibrieren ihres Smartphones, was Annie daran erinnerte, dass es Zeit war, ihren Laptop herunterzufahren und endlich den Feierabend einzuläuten. Nachdem sie ihren Schreibtisch sorgsam aufgeräumt und ihre Tasche gepackt hatte, erhob sie sich mit einem Ächzen vom Bürostuhl und streckte sich ausgiebig. So modern das Großraumbüro auch war, die Bürostühle mussten dringend ersetzt werden. Vielleicht hätte man auf den ganzen teuer aussehenden Schnickschnack wie die Designervasen oder den kleinen Erholungstempel für die Mitarbeiter eine Etage über ihr verzichten und das Geld lieber in ordentliche Stühle investieren sollen. Aber je höher die Etage, desto größer der Stress. Jedenfalls waren das immer die Worte von Jeff, Annies Freund und gleichzeitig auch Vorgesetztem.

Einige ihrer Kollegen um sie herum tippten noch fleißig und hatten die Köpfe über ihre Bildschirme gesteckt, um ihre jeweiligen Artikel noch vor Redaktionsschluss abschicken zu können. Sie atmete bei dem Gedanken, dass sie ihr Soll des Tages bereits erfüllt hatte erleichtert durch und lächelte stolz vor sich hin. Der Artikel über die richtige Pflanzzeit von Tulpenzwiebeln war schon gegen Mittag online gegangen und heute Nachmittag hatte sie sich den frühlingshaften Gartentipps für Kleingärten gewidmet. Ja, auch wenn es jedes Jahr dasselbe war, worüber sie schrieb, sie saugte sich doch immer noch wieder etwas Neues aus den Fingern. Ihrer Leserschaft gefiel es jedenfalls, denn die positiven und dankbaren Kommentare unter ihren Artikeln sprachen für sich.

„Annie!“, hörte sie plötzlich die schrille Stimme ihrer Lieblingskollegin und besten Freundin und blickte sich fragend um. Joyce hetzte auf hochhackigen Schuhen an den Schreibtischen des Büros vorbei und grinste breit. Annie bewunderte ihre Freundin dafür, dass sie sich ihre Füße auf diesen meterhohen Dingern nicht brach und beobachtete sie mit erhobenen Brauen.

„Gut dass ich dich noch erwische“, schnaubte Joyce außer Atem und entlockte Annie ein Kichern.

„Was gibt es denn so Dringendes? Sag mir nicht, dass die Kaffeemaschine mal wieder die Kantine geflutet hat.“

Es wäre nicht das erste Mal gewesen und tatsächlich war es eines der wenigen Highlights gewesen, das hier in der Redaktion passiert war. Zumindest auf der Etage, auf der Annie seit etwa fünf Jahren für das Onlinemagazin The Best of Living arbeitete.

Joyce schüttelte ihre schulterlangen blonden Locken und zupfte sich ihren schwarzen Rock zurecht, der ihre schlanken Beine mindestens doppelt so lang wie normal erscheinen ließ. „Nein, ich wollte dich nur an heute Abend erinnern. Louisa feiert doch heute ihren Hochzeitstag und hat uns alle eingeladen. Du hast mir versprochen mitzukommen. Es wird sterbenslangweilig und allein überstehe ich den Abend nicht. Du weißt doch, wie es letztes Mal war.“

„Du meinst bei der Hochzeit? Ich erinnere mich gut daran“, kicherte Annie leise und erinnerte sich, wie sich Louisas Pudel Mr Snuggles auf die Hochzeitstorte gestürzt hatte. „Also langweilig fand ich es nicht gerade.“

„Mal abgesehen von ihrem Pudel Mr Struggel.“

„Mr Snuggles.“

Joyce schüttelte den Kopf. „Wie auch immer. Mich würde interessieren, was er dieses Mal anstellt. Vielleicht vergreift er sich ja am Toupet ihres Großvaters. Das wäre wirklich mal was Aufregendes“, sinnierte sie.

Annie setzte ein entschuldigendes Gesicht auf. „Es tut mir leid, aber ich kann nicht. Ich hatte vor, Jeff gleich oben abzuholen und ihn mit einem Abendessen bei seinem Lieblingsitaliener zu überraschen. Ich habe uns einen Tisch reserviert und vorher wollte ich einen romantischen Spaziergang im Hyde Park machen.“

„Ach, wie süß ihr doch seid. Aber du glaubst doch nicht ernsthaft, dass dein geliebter Jeff sich von seiner Arbeit loseisen wird.“

Annie lächelte zuversichtlich und setzte sich in Richtung Fahrstuhl in Gang, während Joyce ihr folgte.

„Jeff ist völlig überarbeitet und kann eine Pause dringend gebrauchen. In letzter Zeit war er ein wenig nachdenklich und distanziert. Ich denke schon, dass er sich über die kleine Abwechslung freuen wird. Du weißt, er liebt italienisches Essen und Spaziergänge“, entgegnete sie in Richtung ihrer Freundin, die mit ihr durch das überfüllte Büro eilte.

„Und er liebt das viele Geld und seine Arbeit noch ein bisschen mehr“, hörte sie Joyce leise vor sich hin brabbeln. Doch Annie ignorierte sie gekonnt.

Ja, manchmal war es schon etwas nervig, wie Jeff sich auf der Arbeit verhielt. Immerhin machte er kein Geheimnis aus seinem Verdienst in der Redaktion und dass er in seiner Position als Vorgesetzter für die Abteilung, in der Annie arbeitete, komplett aufging, wusste auch jeder. Zu Hause jedoch war Jeff ein ganz anderer Mensch, humorvoll und entspannt.

„Und wenn du nachkommst?“, schlug Joyce schließlich vor.

Annie blieb vor dem geschlossenen Lifteingang stehen. Sie betätigte den Knopf, der sie in die oberste Etage des Hochhauses bringen sollte und schaute ihre Freundin aufmunternd an. „Ja, vielleicht tue ich das sogar. Ich könnte Jeff ja mitbringen.“

Über Joyces Gesicht huschte ein kleiner Schatten. Sie senkte ihre Stimme. „Natürlich könntest du das, aber wenn wir mal ehrlich sind: Jeff ist immer noch der Chef und na ja, würdest du mit deinem Boss feiern wollen? Irgendwie bin ich mir nicht sicher, ob Louisa das wirklich wollen würde. Nachdem er sie neulich vor versammelter Mannschaft so angegiftet hat. Ist ja nicht böse gemeint, aber …“

„Louisa hat auch wirklich wilde Sachen auf dem Drucker getrieben“, rief Annie ihr in Erinnerung und schmunzelte insgeheim über die Situation, in der diese mit ihrem Mann Ernesto im Druckerraum in flagranti erwischt worden war.

„Ja und seitdem sind keine Partnerbesuche der Angestellten mehr erlaubt. Komisch, dass diese Regel für euch beide nicht gilt“, setzte Joyce mit erhobener Braue hinzu. „Jedenfalls … was ich damit sagen möchte, ist, dass der Chef auf einer Feier nicht gern gesehen ist. Schon gar nicht, wenn er dem Mann der Angestellten Hausverbot erteilt hat.“

„Ich weiß, du hast ja recht“, knickte Annie schließlich ein.

„Ein Chef ist eben immer noch ein Chef. Vermutlich ist es keine gute Idee, wenn ich ihn mitbringe. Er wird das schon verstehen. Vermutlich hat er sowieso keine Lust.“ Annie beobachtete, wie der Lift vor ihr zum Stehen kam. „Okay, pass auf: Ich gehe mit Jeff heute Abend nett essen und wenn es nicht zu spät wird, komme ich nach, in Ordnung? Ich schreibe dir dann, wenn ich mich auf den Weg mache, ja?“

Joyces Blick erhellte sich etwas und sie nickte schließlich. „Na gut, dann will ich dich und deinen heißen Boss mal besser in Ruhe lassen. Je früher ihr hier wegkommt, desto eher kannst du nachkommen.“ Sie stieß Annie zwinkernd in die Seite, ehe sie sich abwandte und wieder an ihren Platz am anderen Ende des Stockwerks stolzierte.

Annie schaute ihr noch einen Moment nach, ehe ein schrilles Pling sie daran erinnerte, dass ihr Fahrstuhl bereit für sie war.

Sie freute sich auf den Abend. Allein schon aus dem Grund, weil Jeff und sie in den letzten Monaten wenig Zeit miteinander verbracht hatten. Diese ganzen Überstunden, die er schieben musste … Seitdem sie nun zwei Jahre lang ein Paar waren, damals war sie 27 gewesen, war es für sie noch immer etwas unangenehm, dass ausgerechnet sie die Freundin des Vorgesetzten war, doch inzwischen hatten sich nach ein paar Tuscheleien auch die Kollegen daran gewöhnt. Mochte auch daran liegen, dass Annie aus dieser Beziehung keinen arbeitstechnischen Profit geschlagen hatte und immer wieder betonte, dass sie mit ihrer Stelle als Online-Redakteurin absolut zufrieden war. Sie wollte nicht aufsteigen, sondern verfolgte ganz eigene Ziele. Solche, von denen noch nicht einmal Jeffrey Genaueres wusste. Vielleicht war heute Abend ein guter Zeitpunkt, um mit ihm ein bisschen darüber zu sprechen.

Sie trat in die leere Kabine und hing ihren Gedanken nach. Dabei warf sie einen flüchtigen Blick in die verspiegelte Wand hinter ihr und glättete sich ihre langen braunen Haare und den Bleistiftrock, den Jeffrey ihr vor einigen Wochen geschenkt hatte. Wenn sie ehrlich war, konnte sie dieses graue Stück Stoff nicht ausstehen, da er ihr viel zu eng und zu kurz erschien, aber heute wollte sie ihrem Freund eine kleine Freude machen.

Im obersten Stockwerk angekommen war ihr, als würde sie sich in einem komplett anderen Gebäude befinden. Von dem lauten Tippen auf den Tastaturen und dem Stimmengewirr der Mitarbeiter war hier nicht mehr viel zu hören. Selbst das gedimmte Licht sorgte für eine gemütliche Atmosphäre. Alles war ruhig. Hier hatten die Leute ihre eigenen Büros und einen elegant eingerichteten Speisesaal. Ganz sicher mussten die Mitarbeiter hier oben nicht um einen freien Platz oder eine halbwegs ausreichende Portion kämpfen oder darum, überhaupt noch etwas abzubekommen. Aber all das störte sie nicht, denn sie liebte ihren Job, das Gefühl, dazuzugehören und etwas zu tun, was anderen Menschen Hilfestellung gab. Wie eben das richtige Anlegen von Kleingärten oder Gemüsebeeten. Doch noch mehr liebte sie die Idee, endlich mit ihrem eigenen Blog über Do-it-yourself-Tipps für das Renovieren von Häusern und Gärten zu begeistern. In ihrer Freizeit bereitete sie gerne alte Möbel auf, pflegte den kleinen Garten vor ihrem Reihenhäuschen, in dem sie mit Jeff seit einem Jahr gemeinsam lebte, und probierte immer wieder neue Wandfarben und Ideen aus, die ihre vier Wände gemütlicher erscheinen ließen. Zumal sie wirkliches Talent darin bewiesen hatte, was selbst Jeff, der lieber sämtliche Firmen für die Renovierung beauftragt hätte, lobend anerkennen musste. Und irgendwann, ja irgendwann, würde sie ihren eigenen erfolgreichen Blog haben und ihre Liebe für Möbel und Pflanzen in die Welt hinaustragen und wertvolle Tipps und Tricks an ihre Leserschaft weitergeben. Sie musste nur noch einen guten Einstieg in die Selbstständigkeit finden und … nun ja, alles andere, was man für einen erfolgreichen Blog brauchte. Vielleicht hatte Jeff als Redaktionschef die zündende Idee, ihr bei ihrem Vorhaben zu helfen.

1

„Darf ich reinkommen?“ Annie steckte ihren Kopf durch die Tür und schaute in Jeffs konzentriertes Gesicht. Erst einen Moment später blickte er auf.

„Ach hey, du bist es. Ja, komm doch rein.“

Etwas skeptisch betrat Annie den Raum, in dem große dunkle Bücherregale standen. Es war, im Gegensatz zu der restlichen Aufmachung in diesem Stockwerk, ein altmodischer Raum, doch Jeffrey liebte es so … extravagant. Allerdings entging ihr nicht dieser ernste Ausdruck, der über sein Gesicht huschte, als er sie ansah.

„Ist alles okay? Ich wollte dich zum Essen abholen. Ich habe uns beim Italiener einen Tisch reserviert und …“

„Liebes, setz dich doch“, unterbrach Jeff sie, was Annie einen Moment stocken ließ.

Während sie seiner Aufforderung nachkam, fuhr er sich angespannt durch die dunkelblonden, nach hinten gekämmten Haare und vermied weiteren Blickkontakt. Er wirkte müde.

„Was ist denn los, Jeff?“ Sie nestelte nervös an ihren Nägeln und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl vor seinem Schreibtisch hin und her. Irgendetwas stimmte hier gar nicht. Das hatte sie schon in der ersten Sekunde beim Betreten des Büros erkannt. Und sie kannte Jeff. Wann immer er seinen ernsten Blick aufgesetzt hatte, ging es um das Geschäft.

„Nun …“, begann er und rückte sich die Krawatte zurecht, als würde sie ihm die Luft zum Atmen abschnüren, „… es ist so: Du weißt, dass die da oben …“, er deutete mit einem Kopfnicken an die Decke und meinte damit seine Chefs, „… letzten Endes das letzte Worte haben. Am längeren Hebel sitzen. Die Entscheider sind …“

„Ich weiß schon, was du mir verdeutlichen möchtest“, warf Annie ein und spürte ein unwohles Gefühl in ihrer Brust.

Jeff räusperte sich kurz und begann wahllos ein paar Unterlagen auf seinem Schreibtisch hin und her zu sortieren. „Die Sache ist die: Home and Living soll eingestampft werden. Also dein Bereich.“

Eine Weile sagte niemand etwas. Weder Jeff, der sich immer wieder nervös mit einer Hand seinen Nacken rieb, noch Annie, die die Worte im ersten Moment kaum realisierte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ihr schließlich die Tragweite seiner Offenbarung bewusst wurde. Sie fraß sich in ihren Gehörgang wie ein krank machender Parasit.

„Bitte was?“, fragte sie daher ungläubig, war sich aber tief im Innersten bewusst, dass sie ganz genau verstanden hatte.

Home and Living wird es ab jetzt nicht mehr geben. Die Sparte wirft einfach zu wenig Geld ab. Die Leserschaft ist zurückgegangen und …“

„Die Leserschaft ist nicht zurückgegangen!“, widersprach Annie empört und spürte ihren erhöhten Puls. „Ich kenne die Zahlen besser als jeder andere hier. Immerhin bin ich diejenige, die sich um das Monitoring und die Analyse kümmert. Also das Argument, dass die Leser abspringen, zieht leider nicht. Da muss eine Verwechslung vorliegen. Vielleicht meinst du Food and Living oder Travel and Living …“

Doch Jeffs Gesichtsausdruck machte deutlich, dass es kein Irrtum war. „Schatz, sieh mal, die Leserschaft ist jung und will einfach mehr vom Leben, als einfach nur wissen, wie man Tomaten pflanzt. Sie will reisen, was erleben, Trendfood entdecken zum Beispiel und daher wollen die da oben sich auf was anderes konzentrieren und deine Sparte einstampfen.“

„Und …“, begann sie mit bebendem Herzen, „… was wird meine neue Aufgabe sein?“

Jeff schwieg einen Moment, lehnte sich in seinem Chefsessel zurück und schaute sie traurig an.

Annie wurde übel, da sie bereits ahnte, was er ihr gleich sagen würde. „Es wird für dich keine neue Aufgabe geben, Schatz.“

Mit großen Augen schoss Annie vom Stuhl hoch, der gefährlich ins Wanken geriet. Sie ebenso, konnte sich aber hastig fangen. „Was willst du damit sagen? Bin ich … bin ich etwa gefeuert?“

Wieder ein Schweigen ihres Freundes.

Kopfschüttelnd stand sie da und blickte auf Jeff herab. „Und du lässt es zu? Wieso kann ich nicht einfach in einem anderen Bereich schreiben? Ich habe meine feste Leserschaft und das weißt du. Das wissen auch die da oben.“ Sie deutete mit einer wilden Geste über sich an die Decke. „Ich bin gut in dem, was ich mache.“ Fast schon flehentlich stützte sie sich anschließend mit den Händen auf seinem Schreibtisch ab.

„Ich weiß, dass du gut bist, das musst du mir nicht sagen. Aber was meine Vorgesetzten sagen, ist nun mal Gesetz.“

Kopfschüttelnd trat sie einen Schritt zurück. „Und was ist mit Clarice, die eigentlich auch gehen sollte, für die du dich aber so vehement eingesetzt hast? Sie durfte bleiben“, rief sie ihm in Erinnerung.

„Clarice ist ein ganz anderer Fall“, ereiferte sich Jeff und erhob sich ebenfalls von seinem Platz.

„Clarice hat ein Jahr lang den Snackautomaten geplündert, ohne dass es einer gemerkt hat!“

„Sie hat sich entschuldigt“, nahm Jeff seine Sekretärin weiterhin in Schutz, während Annie sich aufraffte und fassungslos die Stirn rieb. „Also für eine diebische Elster mit schlechter Ernährungsgewohnheit kannst du dich einsetzen, aber nicht für deine eigene Freundin?“

Jeff kam mit langsamen Schritten um den Schreibtisch herum und glättete dabei seinen makellosen grauen Anzug. „Weißt du Schatz, manchmal sind solche Beziehungen, wie wir sie haben, bei der Arbeit gar nicht so sinnvoll. Verstehst du, was ich sagen möchte?“

„Ja, dass du gerade mit mir Schluss machst“, folgerte Annie und trat atemlos einen Schritt zurück.

Jeff lächelte sanft. „Nein, ich denke nur, dass du vielleicht woanders besser aufgehoben wärst. Mr Prescott, mein … unser Vorgesetzter, hat es ein wenig durchklingen lassen, dass es meiner Karriere … ich meine unserer beider Karrieren vermutlich nicht dienlich ist, wenn der Boss mit der Angestellten … na ja, du weißt schon. Gerade nach dem Fall mit Louisa und ihrem Mann … Immerhin gibt es Gerede unter den Kollegen.“

Schnaubend wandte Annie sich ab und blickte sich hilfesuchend um. Dabei fiel ihr Blick aus dem Fenster zu ihrer Rechten, durch das sie einen großen Teil Londons überblicken konnte. Es herrschte geschäftiges Treiben auf den Straßen unter ihr. Jeder war mit sich selbst beschäftigt und niemand nahm Notiz von dem Gespräch, das hier oben, einige Meter über den Köpfen der Menschen, stattfand. Und plötzlich dämmerte es ihr.

„Jetzt verstehe ich“, sagte sie mehr zu sich selbst und nickte wissend.

Jeff atmete erleichtert aus. „Ich wusste, dass du es einsehen würdest. Ich meine … ich habe es schon so weit gebracht und du natürlich auch …“, beeilte er sich noch zu sagen, „… nur wenn Mr Prescott seine Bedenken so durch die Blume äußert, dann besteht für mich natürlich Handlungsbedarf. So schwer es mir auch fällt. Aber wenn du es verstehst, bin ich natürlich umso erleichterter.“ Er wollte gerade auf sie zugehen, doch Annie rückte immer weiter von ihm ab.

„Ja, Jeff, ich verstehe tatsächlich. Ich verstehe, dass du deinen eigenen Hintern retten möchtest und lieber deine Freundin aus dem Unternehmen wirfst, damit du besser in deinem Job dastehst. Das ist nämlich das, was hier vor sich geht. Und nicht, dass meine Leserzahlen zurückgegangen sind.“ Tränen traten Annie in die Augen, aber sie würde sich hüten, ihnen freien Lauf zu lassen.

„Schatz, nein! Das verstehst du völlig falsch.“

„Nein“, blockte sie ab. „Ich habe begriffen, dass dir deine Karriere wichtiger ist als unsere Beziehung und vor allem auch wichtiger als mein Wohlergehen. Dass die Leute darüber reden, dass wir zusammen sind, das war einmal. Keine meiner Kolleginnen und Kollegen verliert noch ein Wort darüber.“

„Aber meine Kollegen schon. In der Chefetage sieht man das nicht gerne. Ach komm schon, du findest ganz schnell was Neues. Außerdem schau doch mal, wie hart ich für all das hier gearbeitet habe.“ Er breitete die Arme aus und schloss somit sein mit dunklen Möbeln überfülltes Büro ein.

„Stimmt. Da gebe ich dir recht. Währenddessen habe ich für das hier …“, sie deutete mit dem Finger zwischen Jeff und sich hin und her, „… hart gearbeitet. Aber ich sehe schon, meine Arbeit war umsonst.“ Mit bebendem Herzen wandte sie sich um und marschierte zur Tür.

„Nun sei nicht so, Schatz. Du wusstest doch, dass mein Herz so sehr für die Arbeit brennt. Ich will es mal nach ganz oben schaffen …“

„Und dabei werde ich dir nicht mehr im Weg stehen, Jeffrey“, unterbrach sie ihn, öffnete die schwere Bürotür und ließ sie mit einem lauten Knallen hinter sich ins Schloss fallen.

Als sie schließlich mit tränennassen Augen auf dem Flur stand und sich hilflos umblickte, rang sie nach Atem. Was sollte sie jetzt tun? Noch einmal über Jeffreys Worte nachdenken und mit ihm reden? Nein, er hatte sie verletzt. Er hatte sie mit seinem Handeln so sehr gekränkt, dass sie sich deutlich bewusst war, dass er nur seine Arbeit liebte – und nicht sie. Ihre Gedanken rasten und ihr schwirrte der Kopf. Alles wirbelte durcheinander und überhaupt fühlte sich der Moment völlig unreal an. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, in dem sich zu allem Übel ein übermächtiger Kloß breitmachte, der ihr die Luft zum Atmen nahm. Noch einmal blickte sie sich im menschenleeren Korridor um und tat, was sie in diesem Moment für richtig hielt: Sie ergriff die Flucht.

2

„Bitte? Was sagst du da?“ Joyce sah ihre beste Freundin ungläubig an, die mit tränenverschmiertem Mascara und bebenden Schultern vor ihr stand und laut schluchzte.

Annie war nach dem Gespräch mit Jeff schnellstmöglich in die ihr vertraute Etage gefahren, in der sie nach ihrer Freundin gesucht, diese geradezu panisch am Arm gepackt und mit sich gezogen hatte. Joyce war ihr auf den hohen Schuhen meisterhaft gefolgt. Jetzt standen sie draußen auf dem Parkplatz des riesigen Gebäudes und schüttelten sprachlos die Köpfe.

Annie zitterte am ganzen Körper, hatte ihren leichten Frühlingsmantel eng um sich geschlungen und starrte betreten zu Boden. Die Gedanken an Jeff, der sie einfach für seinen Job hatte gehen lassen, machten sie fassungslos.

Joyce blickte ihre Freundin an, fing immer wieder an zu reden, beendete aber keinen einzigen Satz, da ihr die Worte dazu fehlten. „Aber was … wie kann er … bist du sicher?“

„Natürlich bin ich sicher“, schniefte Annie und wischte sich wenig damenhaft über die Nase. „Er hat mich einfach rausgeschmissen. Mir meinen Job genommen, den ich so sehr liebe. Und gleichzeitig hat er mich gehen lassen. Er hätte mich aufhalten können, aber das hat er nicht. Ihm ist seine blöde Arbeit einfach wichtiger als unsere Beziehung.“

Joyce schaute ihre Freundin mitfühlend an und reichte ihr ein Taschentuch. „Und deine Sparte soll einfach geschlossen werden?“

Schulterzuckend schaute Annie sich um und vergewisserte sich, dass sie allein auf dem Parkplatz waren. Gar nicht auszudenken, wenn jemand ihr Gespräch mitbekam. Immerhin arbeiteten sie in einer Redaktion mit zahlreichen Mitarbeitern, die von Natur aus ein übertriebenes Gespür für Klatsch und Tratsch hatten.

„Scheinbar schon. Angeblich sind die Leserzahlen zurückgegangen. Was gar nicht stimmt. Weißt du, was ich glaube? Dass er von Mr Prescott angesprochen wurde, dass es nicht gut für die Firma ist, wenn er mit seiner Angestellten zusammen ist. Und diesen Grund hat er nur vorgeschoben, um besser dazustehen. Verdammt, das kann doch alles nicht wahr sein!“

Traurig und mit bebenden Lippen sah sie ihre Freundin an und wünschte sich, dass sie sich das alles nur eingebildet hatte. Ein schlechter Traum vielleicht oder ein dummes Missverständnis, das sich auf ganz natürliche Art wieder aufklären ließe. Doch sie wusste es besser. Tief in ihrem Herzen war in dieser Sekunde der Teil in tausend Scherben zersplittert, der für Jeff so sehr geschlagen hatte. Und jetzt stand sie da, mitten auf einem Parkplatz, und weinte sich vor lauter Kummer die Augen aus. In einem hässlichen Rock, den sie nicht leiden konnte und nur ihm zuliebe angezogen hatte. Nur wenige Meter von dem Büro entfernt, in dem ihr Jeff sich gerade wieder ganz normal an die Arbeit machte. Vielleicht hakte er sie gerade in seinem Aufgabenprogramm als erledigt ab.

Joyce zog sie in ihre Arme und drückte sie fest. „Ganz ruhig, Annie. Das bekommen wir schon wieder hin.“ Zärtlich strich sie ihr über den Rücken. Endlich begann Annie wieder zu einer normalen Atmung zu finden. Sie schloss fest die Augen und ließ sich von ihrer Freundin beruhigen, die mit sanfter Stimme auf sie einredete.

„Das alles ist echt verdammt großer Mist, wenn du mich fragst. Aber wir bekommen das wieder hin. Ich bin für dich da. So ein Schwein hat dich ganz sicher nicht verdient, hörst du?“ Langsam ließ Joyce von ihrer Freundin ab, legte ihr die Hände auf die Schultern und lächelte mitfühlend.

Annie nickte schließlich und wischte sich mit ihrem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. „Wieso habe ich nichts geahnt?“

Joyce verzog ihren rot geschminkten Mund zu einem schmalen Strich. „Manchmal will man manche Dinge einfach nicht wahrhaben, obwohl sie vor der eigenen Nase passieren. Gib dir bloß nicht die Schuld daran.“ Sie reichte Annie eine Packung Taschentücher.

Wie benommen nahm sie diese entgegen und starrte drauf, ehe sie Joyce wieder mit großen Augen anblickte. „Was soll ich denn jetzt machen? Soll ich wieder zurückgehen und ihn zur Rede stellen? Was mache ich jetzt, Joyce?“

„Ich würde sagen, dass wir zu mir fahren. Du bleibst erst mal bei mir. Ich habe genug Wein für die nächsten fünf Tage.“

„Und was mache ich, wenn Jeff mich sucht?“

Joyce überlegte einen Moment und schaute sich um, als könnte sie die Antwort irgendwo auf dem Parkplatz finden. „Ich lasse mir was einfallen. Am besten, du wartest hier und ich hole eben von oben meine Tasche. Wenn ich zurück bin, habe ich eine Idee, in Ordnung?“

Annie nickte lahm und schniefte in ihr Taschentuch.

„Keine Sorge“, beruhigte Joyce ihre Freundin und legte ihr eine Hand auf den Arm. „Ich bin für meine guten Ideen bekannt. Gib mir fünf Minuten.“

Erneut nickte Annie und dachte daran, wie schlecht Joyces Vorschläge in Wirklichkeit immer waren. Immerhin hatte sie ihrem damaligen Freund eine Detektivin an den Hals gehängt, als dieser fremdgegangen war. Dumm nur, dass besagte Detektivin eine Bekannte von Joyce war, die auch Lawrence, ihren Ex-Freund, gut kannte. Jedenfalls hatte die Beziehung in einem großen Streit geendet und sie hatten bis heute kein Wort mehr miteinander gesprochen. Betrogen hatte er sie allerdings nie. Und von der Idee, sich einen streunenden Straßenhund anzuschaffen, der es auf ihren Kanarienvogel abgesehen hatte, wollte Annie lieber gar nicht erst sprechen. Dennoch war sie gespannt, was Joyce sich jetzt überlegte, um ihr in dieser Situation zu helfen. Alles war jedenfalls besser, als mit Jeff zu sprechen. Geschweige denn ihm in die Augen zu sehen.

Nur wenige Minuten und etwa drei vollgeschnäuzte Taschentücher später war Joyce wieder bei ihr. Auf ihren Lippen lag ein gewinnendes Lächeln, als sie an dem Hochhaus hinaufschaute, wo sie das Büro von Jeff vermutete.

„Und?“, hakte Annie unsicher nach.

„Wir hinterlassen ihm einen Brief.“

Fragend zog Annie eine Braue in die Höhe. „Einen Brief? Und was soll ich da reinschreiben? Ein Gedicht? Rosen sind rot, Veilchen sind blau, mein Freund steht nicht zu seiner Frau?“

Joyce versuchte sich ein Lachen zu verkneifen und schüttelte den Kopf. „Nein, nicht so einen Brief. Wir hinterlassen ihm einfach eine Nachricht, in der du ihm schreibst, dass du nicht mehr nach Hause kommst. Soll sich der Idiot doch den Kopf zerbrechen, was er getan hat. Dann schaltest du dein Handy aus und bleibst vorerst bei mir.“

Annie überlegte einen Moment, starrte über den Parkplatz, über den sie von Weiten ein paar ihrer Kollegen aus dem Gebäude marschieren sah, und nickte schließlich. „Hast du Zettel und Stift in deinem Auto?“

3

„Wie fühlst du dich jetzt?“ Joyce reichte Annie ein Glas eiskalten Weißweins und setzte sich ihr gegenüber auf die cremeweiße Couch.

Diese nahm es dankend entgegen und leerte in nur wenigen Zügen bereits die Hälfte. „Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht.“

Joyce seufzte und hörte ihrer Freundin genau zu, als sie wieder zum Sprechen ansetzte.

„Es ist einfach alles so unwirklich. Ich meine … eben noch renne ich mit dem Gedanken durch die Gegend, dass alles in bester Ordnung ist und dann schmeißt mein eigener Freund mich aus der Firma, nur um seinen eigenen Hintern zu retten. Aber ich frage mich einfach die ganze Zeit, was genau ich übersehen habe. Ich dachte, wir lieben uns. Habe ich ihn irgendwie von mir gestoßen, ohne es zu wissen?“

„Oh Süße“, seufzte Joyce, während sie sich von ihrem Platz erhob und sich neben sie setzte. Vorsichtig legte sie ihren Arm um ihre bebenden Schultern und reichte ihr erneut ein Taschentuch. „Du darfst dich auf keinen Fall verrückt machen. Das ist Jeff nicht wert! Wer seine Freundin so verletzt, dem sollte keine Träne nachgeweint werden.“

Betreten schaute Annie auf ihr Tuch, an dem sie nervös zupfte. „Ob er den Brief schon gelesen hat?“

„Wenn er inzwischen Feierabend gemacht hat, dann wird er ihn zu Hause wohl schon entdeckt haben“, mutmaßte Joyce und band sich ihre Haare zu einem unordentlichen Knoten.

Annie malte sich inzwischen aus, wie er auf diese wenigen Zeilen, die sie ihm auf einem Zettel auf dem Küchentresen hinterlassen hatte, reagieren würde.

Danke, dass du mir die Augen geöffnet hast, Jeff. Du brauchst mich nicht zu suchen, denn ich werde nicht mehr nach Hause kommen.

Mehr hatte sie nicht geschrieben. Es waren nur wenige Worte nach den beiden Jahren Beziehung, die sie als so stabil wahrgenommen hatte. Wie blind sie gewesen war!

Mit einem verächtlichen Schnauben warf sie ihr Taschentuch auf den Couchtisch. Es gesellte sich zu einer bereits ansehnlichen Sammlung. Sie trank ihr Glas leer. „Ich weiß nicht, auf wen ich mehr wütend bin … auf ihn oder auf mich, weil ich nicht bemerkt habe, dass er so egoistisch ist. Außerdem hat er dafür gesorgt, dass meine Nase vom vielen Heulen schon ganz wund ist!“

„Du solltest definitiv wütend auf ihn sein. Wir alle kennen ihn, Ann. Jeff ist ein unnahbarer Mann. Dir kam er vielleicht nicht so vor, aber wir anderen haben schon immer gesehen, dass er jemand ist, der auf Karriere versessen ist und nach außen hin immer das perfekte Bild abgeben will.“

Annie schwieg einen Moment und versuchte sich immer wieder gewisse Anhaltspunkte vor Augen zu rufen, dass sie womöglich etwas übersehen haben könnte. Aber da war nichts. Außer dem Glauben, dass sie dachte, Jeff würde sie genauso lieben wie sie ihn. Aber wenn man jemanden liebte, dann tat man so etwas nicht. Man hinterging den Partner nicht und tat zu Hause so, als wäre alles in bester Ordnung. Dieses verdammte Schwein!

„Diese Beziehung ist sowas von vorbei!“, schimpfte Annie schließlich laut und schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein. Joyce beobachtete das mit großen Augen. Sie war sich bewusst, dass das am nächsten Morgen in einem übermächtigen Kater enden würde, wollte ihrer Freundin aber nicht noch den letzten Trosttropfen nehmen.

„Wenn du mit ihm sprichst, dann aber bitte nicht mehr heute. Du solltest dieses Glas noch austrinken und dich dann ein bisschen schlafen legen. Morgen siehst du vielleicht einiges schon ein bisschen klarer.“

„Und es ist wirklich in Ordnung, dass ich hierbleibe?“

„Also das ist wohl eine ziemlich dumme Frage! Natürlich, du bist meine Freundin und ich werde dir bei allem helfen, hörst du?“

Annie lächelte dankbar und lehnte sich auf der Couch etwas zurück. „Ob er schon versucht hat, mich anzurufen?“

„Vielleicht findest du es lieber morgen heraus. Lass das Handy aus und ihn schön zappeln.“

„Und wenn er hier auftaucht? Er könnte sich sicherlich denken, dass ich bei dir bin.“

„Dann machen wir ihm einfach nicht auf“, flötete Joyce und entlockte ihrer Freundin ein Lächeln.

Deren Augen waren rot unterlaufen, funkelten durch die Tränen, die darin standen und drohten sich jeden Moment erneut über ihrem Gesicht zu verteilen. Für jede Träne hasste Annie ihn mehr und mehr.

„Danke dir. Ich weiß das wirklich zu schätzen.“

„Weißt du, was ich zu schätzen weiß?“

„Na?“

Joyce grinste hinterhältig und setzte ihr Glas an die Lippen. „Wenn du diesem verdammten Mistkerl noch einmal so richtig in den Hintern trittst.“

 

Der nächste Morgen versprach einen herrlichen Frühlingstag. Die Sonne schien durch die heruntergelassenen Jalousien in Joyces schickes Wohnzimmer und strahlte schadenfroh auf Annies Gesicht. Völlig übermüdet rappelte sie sich auf der Couch auf und wischte sich die wirren Haare aus dem Gesicht. Sie hatte einen faden Geschmack im Mund und überhaupt brummte ihr Schädel, als wäre jemand mit einem Lastwagen darübergefahren. Stöhnend rieb sie sich die Augen und versuchte ihre Umgebung zu erfassen. Es dauerte einen quälenden Moment, ehe sie realisierte, was eigentlich am Abend zuvor passiert war. Und plötzlich übermannte sie alles wie eine eiskalte und schwere Lawine. Jeff hatte sie rausgeworfen. Ihr Freund. Ihre große Liebe. Mit klopfendem Herzen suchte sie die Couch nach ihrem Smartphone ab und schaltete es ein. Kurz horchte sie, ob sie ihre Freundin schon irgendwo in der Wohnung hörte, doch diese schien noch zu schlafen. Nachdem sie ihr Telefon angeschaltet hatte, ploppten auch schon unzählige Nachrichten auf ihrem Bildschirm auf.

Wo bist du, Schatz? Was ist das für ein lächerlicher Brief?

Ist das ein Scherz?

Jetzt übertreibst du es aber ganz schön, findest du nicht?

Denk doch auch mal an meine Karriere und nicht nur an deine!

Geh bitte ans Telefon!

Beklommen starrte sie auf die Nachrichten und spürte eine aufkeimende Wut in sich. Neben dem Kater, den sie dummerweise selbst verschuldet hatte, war da ein Gefühl von ungeheurer Wut, die sich nach all den gestrigen Tränen nun Bahn brach. Was bitte konnte man an ihrem Brief nicht verstehen? Er wusste doch, was er falsch gemacht hatte und jetzt noch das Unschuldslamm zu mimen, machte sie einfach nur noch wütender. Etwas wackelig auf den Beinen erhob sie sich von der Couch, hielt sich ein paar Sekunden an der Lehne fest und drückte sich stöhnend eine Hand auf die schmerzende Stirn. Dann wankte sie zum Badezimmer, um sich eine ausgiebige heiße Dusche zu gönnen, nur um eine Stunde später bei ihrem Ex-Freund aufzuschlagen und ihn endlich zur Rede zu stellen.

4

Die Augen von Jeff waren weit aufgerissen, als Annie plötzlich im Wohnzimmer ihres gemeinsamen Reihenhäuschens stand und ihn finster anfunkelte. Jeff war gerade dabei, seinen Anzug zuzuknöpfen und auf dem Weg zur Arbeit. Ganz der Geschäftsmann, dachte Annie verärgert. Na immerhin hatte er seinen Job noch. Während sie die Nacht kaum geschlafen und nun auch noch einen mordsmäßigen Kater hatte, hatte der Verursacher für ihren Frust nicht die geringste Falte oder auch nur den kleinsten Augenring vorzuweisen, was sie nur noch wütender machte.

„Annie, Schatz, da bist du ja! Wo warst du und mein Gott, warum siehst du so mitgenommen aus? Doch nicht etwa wegen des kleinen blöden Streits gestern? Ich dachte, du verstehst mich.“

Er marschierte auf sie zu, doch Annie wich einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hände. „Wage es nicht, mir zu nahe zu kommen.“

„Aber Schatz.“ Jeff legte die Stirn in Falten und machte sich wieder daran, den letzten Knopf seines Anzugs zu schließen.

„Es hat sich ausgeschatzt!“, herrschte sie ihn an. „Glaubst du etwa, ich bleibe noch mit dir zusammen, wo du mir deutlich gezeigt hast, was du von unserer Beziehung hältst?“

Augenblicklich hielt Jeff inne und ließ endlich von seinem dämlichen Knopf ab. Er seufzte schuldbewusst und schaute Annie durch seine vollen Wimpern hindurch an. „Ach Schatz, es tut mir so leid. Ich wusste nicht, dass dich das so mitnimmt. Aber ich bin nun mal derjenige, der das Geld mit nach Hause bringt und wenn Mr Prescott …“

„Ja ja, wenn er furzt, kriechst du auf ihn zu und wenn er pfeift, dann wirfst du einfach deine Freundin aus dem Unternehmen. Mit vorgeschobenen Gründen, die gar nicht stimmen. Wie hinterhältig bist du eigentlich?“

Mit einer unwirschen Handbewegung tat Jeffrey das Ganze ab, als wäre es nichts weiter als ein kleiner ärgerlicher Fleck auf seinem Anzug.

In Annie stieg Übelkeit auf. Sie funkelte ihn mit zornverhangenem Gesicht an, aber er räusperte sich bloß.

„Annie, ich muss jetzt erst einmal los. Im Büro geht heute alles drunter und drüber. Lass uns bitte heute Abend darüber reden, ja? Es tut mir wirklich leid. Ich helfe dir auch gerne bei der Jobsuche. Wir kriegen das hin.“ Er wollte gerade auf sie zugehen und ihr einen Kuss geben, so wie er es jeden Morgen getan hatte, doch Annie wich kopfschüttelnd zurück. „Wir werden über gar nichts mehr sprechen, Jeff. Außer vielleicht über die Aufteilung der Möbel unseres Hauses.“

Jeff wollte sich gerade zum Gehen aufmachen, als er stutzig innehielt. „Wie meinst du das? Du kannst nicht einfach gehen.“

„Oh und wie ich das kann“, beharrte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.

Er wollte etwas sagen, hielt aber inne, überlegte kurz und wandte sich dann kopfschüttelnd ab. „Du weißt ja nicht, was du da anrichtest, Annie. Schmeiß wegen so einer Kleinigkeit doch nicht alles hin.“ Dann öffnete er, ohne noch etwas zu sagen, die Tür, nur um sie kurz darauf lautstark zuknallen zu lassen.

 

„Es war genau richtig, was du gemacht hast.“ Joyce starrte auf die Taschen und Rucksäcke, die sich in ihrem Wohnzimmer türmten.

„Ich habe keine Ahnung, wer dieser Mann vorhin war“, seufzte Annie, die sich unter dem Berg der Reisetaschen befand und sich müde übers Gesicht wischte. Dann fummelte sie an mehreren Reißverschlüssen herum und warf immer wieder einen suchenden Blick in ihre Taschen.

„Wie meinst du das? Was genau hat er denn gesagt und wonach suchst du da überhaupt?“ Joyce setzte sich zu Annie auf den Boden und versuchte zu erschließen, was sie da trieb.

Diese pustete sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich suche mein Tablet, damit ich mir eine Wohnung suchen kann. Immerhin kann ich dein Wohnzimmer hier nicht ewig einnehmen … schon gar nicht mit meinen ganzen Sachen. Am liebsten wäre mir, ich finde etwas weit weg von London“, murmelte sie.

Kurz darauf atmete sie erleichtert auf, als sie ihr kleines Tablet aus dem Nebenfach ihrer gelben Reisetasche zog. Sie hatte, nachdem Jeff sie allein gelassen hatte, alle Taschen zusammengesucht, die sie im Haus hatte finden können, und alles hineingestopft, was ihr gehörte und ihr wichtig war. Anschließend hatte sie ihr Auto mit allen Dingen beladen, an denen ihr Herz hing. Das war unter anderem das Besteck ihrer Großmutter – sollte Jeff sein Luxussteak doch mit Plastikbesteck essen – und die antike Uhr, die auf dem Kaminsims einen Platz hatte. Zudem war da noch ein kleiner Beistelltisch, ihr erstes DIY-Projekt, den sie eigenhändig restauriert hatte, nachdem sie ihn auf einem Trödelmarkt für ein paar Pfund erstanden hatte. Ferner ein paar Bilder in antiken Rahmen – ebenfalls von einem Trödelmarkt. Dann war sie ins Schlafzimmer geeilt und hatte ihren gesamten Kleiderschrank leergeräumt und akribisch darauf geachtet, dass sie keine Sachen einpackte, die Jeff ihr einst geschenkt hatte. Den kurzen grauen Bleistiftrock hatte sie extra auf das Bett geworfen, von dem sie noch ihr Kuschelkissen genommen hatte. Dann hatte sie das Schlafzimmer hastig wieder verlassen, ohne noch einmal einen Blick auf das gemeinsame Bett zu werfen. Anschließend war sie aus dem Haus geflüchtet und in ihrem vollbeladenen dunkelblauen Peugeot mit etwas überhöhter Geschwindigkeit zu Joyces Wohnung gefahren.

„Aber Annie, du kannst so lange hier wohnen, wie du willst, das weißt du hoffentlich.“ Joyce erhob sich vom Boden und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Ach Mist, ich muss los. Aber bitte, tue nichts Überstürztes, ja? Bleib einfach hier, schaue in Ruhe nach Wohnungen und wenn du nichts findest, dann ist das eben so. Ich bringe dir nachher deine Sachen aus dem Büro mit. Dann musst du nicht mehr hinfahren.“

Auch Annie erhob sich und nickte dankbar. „Du bist die Beste, Joyce, weißt du das eigentlich?“

„Ja“, entgegnete sie und entlockte ihrer Freundin doch tatsächlich ein Lachen. Dann ging sie auf Annie zu und zog sie in ihre Arme. „Ich sehe zu, dass ich heute früher Feierabend mache, in Ordnung?“

„Ich koche uns was. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, jetzt, wo ich keinen Job mehr habe.“

5

Lonely, I’m Mr. Lonely, I have nobody for my own, trällerte das Radio in Joyces Küche, als diese gerade die Wohnung betrat. Annie war dabei, Gemüse zu schnippeln, in eine zischende Pfanne zu geben und schniefte gelegentlich.

Als Joyce jedoch das Radio kommentarlos ausschaltete, sah diese erschrocken auf.

„Oh, du bist schon da?“

„Ja, und ich glaube, dass ich genau richtig komme, bevor hier noch die große Selbstmitleidsparty startet.“ Joyce trat auf Annie zu und beäugte sie akribisch.

Die hatte ihre langen Haare fahrig zu einem Knoten gebunden und trug ein schlabbriges graues T-Shirt und eine schwarze Jogginghose. Normalerweise war das Annies Standardoutfit, wenn sie krank war. Doch Jeff sollte nicht so eine Macht über sie haben, dass sie sich derart krank fühlte, dachte Joyce traurig.

„Geht’s dir gut?“

„Ja“, entgegnete Annie ein wenig zu schrill und Joyce wusste genau, dass das nicht stimmte. Natürlich nicht, denn wer wäre an ihrer Stelle nicht auch so am Boden. Daher freute Joyce sich darauf, ihrer Freundin ein paar gute Neuigkeiten zu übermitteln, nachdem sie das Radio ausgeschaltet hatte.

„Okay, ich glaube dir zwar nicht, aber ich habe trotzdem gute Nachrichten.“

„Hat sich Jeff aus dem Hochhaus gestürzt?“ Annie schlug sich mit einer Hand erschrocken auf den Mund. „Entschuldige bitte, so was hat selbst er nicht verdient. Gott, Joyce, ich stehe komplett neben mir.“ Sie rührte in der Pfanne herum, als hegte sie einen Riesenhass auf die armen Zucchinistückchen.

Joyce legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm. „Ist doch klar, dass du dich schlecht fühlst und Jeff die Pest an den Hals wünschst.“

„Hast … hast du ihn auf der Arbeit gesehen?“, hakte Annie leise nach.

„Nein. Das ist vermutlich auch besser so, sonst hätte ich ihm meine Meinung gegeigt und wäre nun ebenfalls arbeitslos. Apropos arbeitslos, Ann. Ich habe da eine supergute Idee.“

 

„Und? Erzählst du mir von deiner guten Idee?“ Die beiden Frauen saßen am Esstisch, der in Joyces kleinem Wohnzimmer stand, vor jeder von ihnen ein volles Glas Weißwein, welches Annie immer wieder missmutig beäugte. Immerhin hatte sie ihren Kater gerade erst hinter sich gelassen und fühlte sich, zumindest körperlich, ein wenig besser.

„Also …“, begann Joyce und malträtierte gerade ein Stück Zucchini mit der Gabel, welches ziemlich bissfest war und gab den Kampf kurzerhand auf, „… habe ich dir jemals von meiner Tante erzählt?“

Annie stocherte ebenfalls lieblos in ihrem Essen herum, seufzte kurz und ließ das Besteck auf den Teller sinken. Joyce wusste, dass sie eigentlich ausgezeichnete Kochkünste besaß, doch an diesem Gericht hatte sie mehr oder weniger ihren Frust ausgelassen, anstatt Liebe ins Essen zu stecken.

„Du hast mir vor ein paar Monaten erzählt, dass sie gestorben sei. Oder hast du noch eine andere Tante?“

Joyce schüttelte den Kopf und widmete sich lieber dem Wein vor ihrer Nase. „Nein, genau die meine ich. Tante Rosemary. Wir hatten gar nicht viel Kontakt gehabt, nur als ich ein Kind war, aber ich war ihre einzige Nichte und Kinder hatte sie keine. Jedenfalls hat sie mir nach ihrem Tod ein kleines Cottage vermacht. Es steht schon seit Ewigkeiten leer und soweit ich weiß, hatte sie es auch schon lange nicht mehr bewohnt, da sie vor Jahren in einem Heim untergekommen war.“

Annie machte große Augen. „Soll das heißen, dass du Eigentümerin eines eigenen Cottage bist?“

„Sozusagen, ja.“

„Warum hast du mir das nie erzählt?“, fragte Annie und schob ihren Teller ein Stück von sich. Das Essen würde an diesem Abend niemanden mehr glücklich machen.

Joyce spielte an ihrem Weinglas und zuckte nachdenklich mit den Schultern. „Gute Frage. Irgendwie war das Thema in meinem Kopf nicht richtig präsent. Ich meine … ich habe mir das Haus einmal angesehen, kurz nachdem ich davon erfahren hatte … letzten Winter. Es ist ziemlich heruntergekommen und renovierungsbedürftig. Ich werde dort ohnehin nicht einziehen und durch die Renovierungsarbeiten dauert es sicherlich noch eine ganze Weile, bis überhaupt jemand darin wohnen kann. Ich hatte es mir immer wieder vorgenommen, mich darum zu kümmern, aber schiebe es seitdem ständig vor mir her. Außerdem liegt es in Shanty Coast.“

„In Shanty Coast?“ Interessiert schaute Annie ihre Freundin an. „Davon habe ich noch nie gehört.“

Joyce lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. „Das glaube ich dir gerne. Immerhin ist das so ein kleines verträumtes Fischerdörfchen mit wenigen Einwohnern, dass es kaum nennenswert ist. Ich war als Kind ein paarmal da, aber es gab dazu nie einen richtigen Bezug für mich … bis auf die wenigen Besuche bei meiner Tante.“

„Und was hat das Ganze jetzt mit deiner Idee zu tun?“, hakte Annie nach und griff nach ihrem Wein. Er schmeckte tatsächlich wieder.

Joyce räusperte sich und beugte sich ein wenig vor. Ein breites Lächeln legte sich auf ihre Lippen, denn sie empfand ihre Idee nicht nur als perfekt für Annie, sondern ebenso für sich. „Also, wie du nun weißt, steht das kleine Cottage in Shanty Coast leer und braucht unbedingt eine Renovierung. Und wer kennt sich besser mit Möbeln und Modernisierungen aus als du?“

„Als ich?“ Annie deutete mit einem Finger auf sich selbst. „Lass mich überlegen. Jeder Handwerker, Klempner, Dachdecker, Schreiner, Innenarchitekt … soll ich weiter machen?“

„Okay, schon gut, schon gut“, schlichtete Joyce und überlegte, wie sie am besten anfangen sollte. „Gut, noch einmal von vorne: Ich habe es mir ganz genau überlegt. Du liebst doch das Restaurieren von Möbeln, die Handarbeit und das Anlegen von Gärten. Außerdem liebst du das Schreiben und träumst doch schon lange davon, eines Tages deinen eigenen DIY-Blog zu launchen.“

„Ja natürlich, das stimmt. Aber was hat das mit deinem Haus zu tun? Ich kann das doch unmöglich renovieren. Es ist viel zu weit weg und ich kenne mich zwar mit kleinen Möbeln und so weiter aus, aber doch nicht mit dem Sanieren.“

„Weißt du, meine Idee ist folgende: Du gehst für eine Weile nach Shanty Coast und schaust dir das Cottage genauer an. Für alle größeren Reparaturen ziehst du dir natürlich einen Fachmann hinzu. Aber alles andere kannst du mindestens genauso gut. Ich weiß doch, wie du deine Wohnung …“ Joyce räusperte sich kurz und warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. „Tut mir leid, ich meine Jeffs Wohnung …“

Doch Annie wiegelte es mit einem Handbewegung ab. „Schon gut, es war ja mal meine Wohnung und ja, sie war traumhaft schön.“

„Genau und das hast alles du allein gemacht. Das Gleiche schaffst du auch in dem Cottage. Und nebenbei kannst du das alles für deinen Blog nutzen. Du kannst dich dort komplett austoben und den ganzen Stoff für deinen Webauftritt nehmen, wie es dir passt. Leg dir zusätzlich einen Instagram-Account an. Mach tolle Fotos und zeig den Leuten, wie es geht. Du brauchst das verdammte Online-Magazin gar nicht. Du kannst viel mehr. Und ich denke, dass das Cottage eine großartige Chance für dich und auch für mich wäre. Ich schaffe es nicht nach Shanty Coast und kann mich dort um nichts kümmern. Aber du hast gesagt, dass du von dieser Stadt am liebsten eine Auszeit nehmen würdest und Abstand brauchst.“

Annie überlegte einen Moment und schaute zu ihrer Linken aus dem Fenster. Die Idee eines eigenen Blogs schwebte ihr schon so lange im Kopf herum und vielleicht hatte Joyce ihr soeben die erste Tür dafür geöffnet. Doch sie konnte nicht so einfach alle Zelte hier in London abbrechen. Immerhin musste sie sich um eine eigene Wohnung und um einen neuen Job kümmern. Sie hatte nicht genügend Geld, um ein paar Wochen oder gar Monate einfach so von ihrem Ersparten leben zu können.

„Ich weiß nicht, das kommt ganz schön überstürzt, findest du nicht? Und so verlockend es klingt, aber ich fürchte, ich kann mir das alles gar nicht leisten. Ich muss mich nach einer neuen Arbeit umsehen und brauche eine Wohnung.“

„Und hier kommt meine Lösung“, grinste Joyce, als hätte sie nur auf Annies Anmerkung gewartet. „Ich bezahle dich natürlich dafür. Als ich das Haus geerbt habe, hat mir Tante Rosemary noch genug Geld vererbt, damit ich es auf Vordermann bringen kann. Und ich habe es bis heute nicht angerührt, weil ich nicht sicher war, ob sie vielleicht aus dem Jenseits mitbekommt, wenn ich ihr Geld für andere schöne Dinge verschleudern würde.“

Annie kicherte. „Wow, als so verantwortungsvoll hätte ich dich gar nicht eingeschätzt.“

„Leg dich niemals mit Geistern an, sage ich dir. Da habe ich schon viele unheimliche Geschichten drüber gehört. Einmal hat mir eine Freundin meiner Mutter erzählt, dass …“

„Joyce“, unterbrach Annie den Redefluss ihrer Freundin und schmunzelte.

Diese hob entschuldigend eine Hand. „Entschuldige, also das Geld, was sie mir gegeben hat, reicht auf jeden Fall für die Renovierung. Und wenn du es machst und ich somit auf einen Teil der Firmen verzichten kann, dann kann ich das übrige Geld nehmen und dir damit eine Art Gehalt bezahlen. Somit kommst du gut über die Runden, möbelst das Haus auf und kannst deinen Blog in Fahrt bringen. Und am Ende gehen wir beide als Siegerinnen aus der Sache. Ich werde das Haus vermieten oder sogar verkaufen können und du wirst mit deiner Seite berühmt!“ Joyce wurde bei jedem Wort lauter und beendete ihren Satz mit weit aufgerissenen Augen, was Annie zum Lachen brachte.

„Du bist doch verrückt.“

„Genial würde es besser beschreiben.“

„Aber was, wenn sich herausstellt, dass ich zwei linke Hände habe?“, streute sie Zweifel und trank einen Schluck.

Doch Joyce schüttelte heftig mit dem Kopf. „Die hast du garantiert nicht. Du hast Talent! Und jetzt auch noch ein Haus, worin du dich austoben darfst und einen ordentlichen Karriereschub bekommst. Was will man mehr?“

„Okay, das leuchtet mir ein. Allerdings sagtest du, dass es heruntergekommen ist. Ich würde dort unmöglich schlafen können.“

„Das stimmt. Ich würde dir die erste Zeit genügend Geld geben, damit du dir ein Zimmer in einem Bed & Breakfast leisten kannst. Ich weiß, dass es dort ein kleines niedliches Häuschen gibt, nicht weit weg vom Cottage. Und wenn es soweit ist, dass du im Haus leben kannst, ziehst du einfach dort ein.“

„Nur wird das sicherlich Wochen dauern“, gab Annie zu bedenken und sah vor ihrem geistigen Auge schon die Unsummen an Geld, die das verschlingen würde. „Das kann wirklich ziemlich teuer werden.“

„Ich habe es dir doch erklärt, das Geld wird reichen“, versicherte Joyce ihr und lehnte sich zufrieden zurück.

„Und …“, begann Annie schließlich, griff zur Gabel und überlegte kurz, ob sie dem Essen, das mittlerweile abgekühlt war, noch eine Chance geben sollte, entschied sich allerdings doch dagegen und legte das Besteck wieder auf den Teller, „ … wie lange glaubst du, wird es dauern, bis ich das Haus auf Vordermann gebracht habe?“

„Vielleicht sechs Monate?“

Annie fielen beinahe die Augen aus den Höhlen. „Sechs Monate? So lange kann ich doch nicht weggehen! Ich hatte an zwei gedacht.“

„Zwei Monate für eine komplette Haussanierung?“

Schulterzuckend entschloss sich Annie anstelle des Essens lieber den Wein zu nehmen und angelte nach ihrem Glas. „Ja, jetzt wo du es sagst, sind zwei Monate tatsächlich zu wenig. Aber ein halbes Jahr? Das kommt mir ewig vor.“

„Dennoch hättest du genug Zeit für deinen Blog. Und du kommst aus dieser Stadt raus. Weg von Jeff und alldem, was dir nicht guttut“, fügte Joyce mit sanfter Stimme hinzu und legte ihrer Freundin ihre Hand auf die ihre.

In Annies Kopf hingegen ratterte es wie in einem Uhrwerk. Sechs Monate waren eine verdammt lange Zeit und all das, was zwischen ihr und Jeff passiert war, war noch so frisch. Konnte sie da überhaupt schon so eine weitreichende Entscheidung fällen?

6

Annie trommelte gedankenverloren auf das Lenkrad ihres kleinen Peugeot, während sie ihr gefühlt ganzes Leben hinter sich ließ. Die Bilder in ihrem Rückspiegel wurden immer kleiner, als würde ihre eigene Welt, die sie kannte, ebenfalls schrumpfen. Hastig wandte sie den Blick wieder nach vorn auf die Landstraße und atmete laut aus. Was tat sie hier eigentlich? Ganz klar, sie verließ Hals über Kopf ihr altes Leben, um etwas Verrücktes zu tun. Um ihr schmerzendes Herz zu heilen. Um einen Neuanfang zu starten. Einen, für den sie etwa ein halbes Jahr Zeit hatte. Schmerzlich erinnerte sie sich an den Abschied von ihrer besten Freundin, die ihr bis zu dem Moment, in dem sie in ihr Auto gestiegen war, gut zugeredet hatte. „Ach Annie, das wird toll! Ich wünschte, ich könnte mit dir tauschen.“

„Dann tun wir es. Du fährst an meiner Stelle“, hatte Annie vorgeschlagen, doch anhand von Joyces weit aufgerissenen Augen, hatte sie sofort erkannt, dass es nur eine leere Floskel gewesen war.

„Du weißt, ich kann das nicht. Ich habe zwei linke Hände und meinen …“

„Deinen Job.“

Joyce hatte leicht verschämt genickt und Annie die Hand auf die Schulter gelegt. „Tut mir leid, manchmal bin ich so ein Trampel. Aber glaub mir, das wird ganz bestimmt toll. Du kannst dich ganz nach deinen Wünschen ausleben und wirst sicherlich ein traumhaftes Häuschen daraus zaubern. Genieß die Zeit. Genieße deine Freiheit!“

Während Annie in ihr Auto gestiegen war, hatte sie tief in sich gespürt, dass sie das Richtige getan hatte. Doch jetzt, in ihrem Auto, den Blick auf die verschlafene Landstraße geheftet, die Bilder ihres alten Lebens immer kleiner werdend, war sie sich mit einem Mal nicht mehr so sicher. Ihr Herz begann zu hämmern, wenn sie daran dachte, wie Jeff wohl reagieren würde, wenn er von ihrem Aufbruch erfuhr. Seit ihrer letzten Begegnung hatten sie sich weder gesehen noch gesprochen. Annie war lediglich in die Wohnung geschlichen und hatte ein paar ihrer letzten Sachen geholt, wenn er bei der Arbeit war. Und er hatte sie nicht einmal angerufen. Wie ein Stück Müll hatte er die Beziehung einfach weggeworfen. Und wofür? Für einen Job! Wobei das noch nicht einmal gänzlich stimmte. Immerhin hatte er seinen ja.

Schnaubend schüttelte Annie den Kopf, spürte eine Träne in ihrem rechten Augenwinkel aufsteigen und umfasste das Lenkrad noch fester. Wie mechanisch trat auch ihr Fuß etwas kräftiger auf das Gaspedal. Nein, sie würde nicht umdrehen. Das, was sie hier tat, war genau richtig. Eine Auszeit von ihrem alten Leben, mit sämtlichen Utensilien für die Renovierung eines Cottages auf der Rückbank ihres Autos und mit Ed Sheerans zärtlicher Stimme im Radio, die ihr sagte, wie perfekt sie war, war genau das, was sie wollte. Jeff war Geschichte und irgendwann würde sie es schaffen, dieses Buch zu schließen, ganz tief im hintersten Teil eines Bücherregals zu verstauen und nie wieder zu öffnen.

 

Nach guten vier Stunden, die sie nun im Auto verbracht hatte, passierte sie eine kleine niedliche Stadt namens Briggham, die in Annie eine gewisse Vorfreude auf ihr neues Leben aufsteigen ließ. Sie sah eng aneinandergereihte Häuschen aus einfachem Backstein mit zauberhaft angelegten Gärten und spielenden Kindern in den Straßen, kleine Geschäfte und Cafés, die rege besucht waren. Die Sonne schien und lockte die Einwohner auf die Straßen, was in Annie ein gewisses Gefühl von Heimat aufkommen ließ. Das Szenario erinnerte sie an ihre Kindheit, in der sie mit ihren Eltern in einem Dorf, etwa eine Stunde von London entfernt aufgewachsen war. Sie hatte eine unbeschwerte Kindheit gehabt und auch heute hatte sie nach wie vor ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern. Doch über ihren überstürzten Aufbruch hatte sie die beiden noch nicht informiert. Sofort beschlich sie ein schlechtes Gewissen, als sie an einer Ampel stand und eine Familie beobachtete, die ausgelassen in eine Fußgängerzone bog. Ein Hupen hinter ihr riss sie aus ihren Gedanken und sie begriff erst einen kurzen Moment später, dass die Ampel längst Grün zeigte. „Entschuldigung“, murmelte sie und fuhr hastig weiter.

Ihr Navi zeigte ihr noch etwa eine zwanzigminütige Fahrt an. Es war ein herrlicher Frühlingstag, der ihr ihren Aufbruch ein wenig erleichterte. Tristes Wetter hätte ihre zwiespältigen Gefühle nur noch befeuert, doch mit kräftigen Sonnenstrahlen, die durch ihr Fenster schienen, war ihr die Abreise etwas leichter gefallen.

Die Landschaft wurde dichter und bewaldeter. Einen Moment fragte Annie sich, ob sie hier wirklich richtig war, denn weit und breit waren weder ein Mensch noch ein bewohnbares Haus zu sehen. Lediglich eine alleinstehende Lagerhalle stand verlassen da, während sie von Weiten ein kleines Ortschild erkannte. Sie war da. Ihr Herz klopfte wild, als sie die Buchstaben auf dem Schild entzifferte: Willkommen in Shanty Coast.

„Sie haben Ihr Ziel erreicht“, schallte es aus Annies Smartphone. Sie betrachtete das Gerät skeptisch. Schließlich konnte das nicht sein. Zu ihrer Rechten befand sich ein Waldabschnitt mit einem breiten Sandstreifen, auf dem sie ihr Auto parkte, und links von ihr standen zwei Cottages. Während das Rechte davon in einem Topzustand war und Annie für sich ausschließen konnte, dass das Haus irgendeine Art von Pflege benötigte, wagte sie es kaum, das erste Haus anzusehen. Sie hatte Angst, dass es allein von ihrem Blick in sich zusammenfallen könnte. Ein wuchernder Garten, dessen Gräser bereits höher standen als der schief geneigte Gartenzaun, winkte ihr im sanften Wind träge entgegen. Hinter dem Gestrüpp konnte sie das Cottage ausmachen, dessen Dach den Anschein machte, als könnte das kleinste Lüftchen es wegwehen und … ragte da etwa ein kleines Bäumchen aus dem Schornstein?

Mit bebendem Herzen stieg Annie aus dem Auto. Eigentlich hatte sie sich das Ankommen in ihrem neuen Leben ein bisschen anders vorgestellt. Ein bisschen filmreifer vielleicht. Dass sie aus dem Auto aussteigen, eine leichte Brise ihre braunen offenen Haare zum Wehen bringen würde und sie, ein Lächeln auf den Lippen, zuversichtlich in ihre Zukunft blicken könnte. Doch stattdessen trat sie beim Aussteigen in ein kleines Loch, sodass sie kurz davor war, aus dem Auto zu stürzen. Sie konnte sich nur mit Mühe an der Tür festhalten, die dabei ein knackendes Geräusch von sich gab. Als sie sich einigermaßen gefangen hatte, schaute sie sich rasch um, aber es schien sie niemand gesehen zu haben. Zumal es scheinbar nur ein Nachbarhaus in der Gegend gab. Aber immerhin gab es eines.

Sie schloss die nun knarzende Autotür hinter sich und sog die salzige Luft in ihre Lungen. Das Meer konnte nicht weit sein, denn nicht nur der herrliche Duft, sondern auch das Kreischen der Möwen schlugen ihr entgegen, was sie einen Moment diese Bruchbude vor ihr vergessen ließ.

Kurz schloss sie die Augen, atmete ein paarmal tief ein und überquerte die schmale Landstraße zum Cottage. Dabei angelte sie in ihrer Handtasche nach ihrem Smartphone und überprüfte noch einmal die Adresse, die ihr Joyce gegeben hatte. Doch der rostige Briefkasten mit der ausgeblichenen Zahl Eins machte ihr deutlich, dass sie richtig war. Herzlich willkommen in Bruchbudenhausen.