Leseprobe Knockout Heart

EINS

Zaid ist am Arsch. Aber gleich muss er in diese Augen schauen, so lange wie möglich. Diese beschissene Tradition, dieser Starrwettbewerb, der zum ganzen Brimborium um den Boxkampf gehört. Er braucht das nicht. Wenn es nach ihm ginge, würde er einfach in den Ring steigen und das tun, was er am besten kann. Keine Pressekonferenz, kein öffentliches Wiegen, kein Face-off, bei dem sich beide Boxer in nichts als – haha – Boxershorts gegenüberstehen, so dicht, dass man den Atem des anderen riechen kann. Kein Starren, bis einer aufgibt und wegschaut. Das gilt als schlechtes Omen für den Kampf. Zaid hält das für Schwachsinn. Nur weil ein Gegner im Face-off den Blick senkt, soll er seine Angst nicht im Griff haben? Holyfield konnte Mike Tyson 1996 während der Pressekonferenz keine Sekunde lang in die Augen schauen und schlug ihn später trotzdem. Außer dass es die emotionale Anspannung mancher Kämpfer, die einfach nur in den Ring steigen und es hinter sich bringen wollen, vergrößert, hat dieses Anstarren keinen Mehrwert. Nur für die Presse. Gibt gute Bilder.

Aber Boxen ist ein abergläubischer Sport. Tradition geht über alles.

Zaid steigt von der Waage, als sein Kampfgewicht aufs Gramm genau durch den Raum gerufen wird, und tritt ein paar Schritte zurück. Eine leichte Gänsehaut zieht sich über seinen Körper, obwohl es in der Lobby des Sternehotels nicht kalt ist. Und seine Wangen glühen. Scheiße. Er senkt den Blick und trippelt von Fuß zu Fuß, als der Ansager seinen Gegner einruft, die Vokale seines Namens lang und laut dehnt, wie es üblich ist. Zu lang für seinen Geschmack.

Und da kommt er. Sascha Weiss.

Zaid sieht den roten Boxermantel aus dem Augenwinkel und sein Blick zuckt unwillkürlich in die Richtung, scannt ihn, während er auf das Podium zu joggt, umringt von seinem Team. Er sieht Zaid einen Moment lang an und ein kleines Lächeln huscht ihm über die Lippen. Die braunen Augen verengen sich zu Schlitzen und diese dämlichen Lachfältchen kräuseln sich um seine Augenwinkel …

Zaid merkt erst, dass er wie ein Vollidiot grinst, als er den Ellenbogen seines Trainers in die Rippen bekommt.

„Was ist los mit dir? Du bist rot wie eine Tomate“, zischt Manni ihm zu.

Zaid räuspert sich, heftet den Blick wieder auf den Boden und versucht, seine Gesichtsmuskeln unter Kontrolle zu bringen. Und sein Herz. Es hämmert gegen die Rippen, als brächte es eine nicht enden wollende Salve aus linken Haken und rechten Geraden durch die Deckung. Wie Muhammad Ali in seinen irren Momenten.

Zaid ist am Arsch, weil er seit Tagen an nichts anderes denken kann als an Saschas Augen mit den Lachfältchen drumherum und seine volle, zartpinke Unterlippe, in die er am liebsten reinbeißen möchte. Dabei steht er überhaupt nicht auf Männer.

Er erinnert sich an den Moment vor einer Woche, als er ihm das erste Mal persönlich begegnete. Den Moment, der ein dümmlich grinsendes Wrack aus dem schweigsamen Bad Boy Zaid El Sabah gemacht hat. Das ist sein Image. Und es passt zu ihm. Zaid zeigt keine Gefühle, er gilt als unlesbar, im Ring und außerhalb. Er plaudert nicht, scherzt nicht und schon gar nicht mit Kontrahenten. Sascha Weiss interessierte das allerdings überhaupt nicht, als er im Park hinter ihm herlief, mitten in Zaids Joggingrunde hineinstolperte und ihn anhielt. So hatte dieser ganze verdammte Crush begonnen. Zaid erinnert die Situation minutiös.

„Hey, du bist Zaid, oder? Krass … ähm, was ein Zufall … Ich … ähm, ich bin Sascha. Sascha Weiss. Wir kämpfen nächste Woche gegeneinander … Mist, das weißt du … Ich bin ein Idiot, sorry. Ich bin ein bisschen aufgeregt, … also davor, dich kennenzulernen“, sagte Sascha, streckte die Hand aus und strahlte Zaid so einnehmend an, dass dessen Mundwinkel unkontrolliert nach oben zuckten. Zaid senkte schnell den Blick und schaute irritiert auf die ausgestreckte Hand, bis Sascha sie peinlich berührt zurückzog und sich unbeholfen durch die kurzen Haare strich. Er malträtierte seine Unterlippe mit den Zähnen. Diese übertrieben volle, zartpinke, beschissene Unterlippe. Fuck! Zaid konnte seine Augen nicht von ihr losreißen.

„Redest du immer so einen Stuss?“, grummelte er unwirsch und bereute es im nächsten Moment.

Sascha wurde knallrot und brabbelte einfach weiter. „Ja, und leider noch mehr, wenn ich nervös bin. Das ist wie ein Dämon, der von mir Besitz ergreift und mich unkontrolliert plappern lässt. Ich kann das gar nicht stoppen ‒“

„Was du nicht sagst“, unterbrach Zaid und Sascha begann zu lachen, laut und herzlich, als hätte er einen guten Witz gehört. Er kriegte sich gar nicht mehr ein, vergrub sein Gesicht in den Händen und prustete laut los. Als wäre sein ganzer Körper gezwungen, dieses Gefühl zu erleben, dachte Zaid und war hingerissen von dem Anblick. Da war etwas völlig Entwaffnendes an diesem Typen und seinem enthusiastischen Lachen, das vermutlich ganze Städte mit Strom versorgen könnte. Zaid hatte das plötzliche Bedürfnis, ihn zu küssen, dieses Lachen buchstäblich mit seinen Lippen berühren zu wollen.

Er stöhnt innerlich, als Saschas Mantel jetzt auf den Boden vor ihm fällt. Er will nicht hinschauen, als er auf die Waage tritt, seine Augen nicht über den nackten Rücken gleiten lassen, über die breiten Schulterblätter. Zaid weiß genau, wie Sascha halb nackt aussieht; er hat ihn stundenlang boxend in den Videos von seinen Kämpfen gesehen, als er sich auf ihn als Gegner vorbereitete, als er nichts mehr als das für ihn war. Aber jetzt hat sich alles verändert. Jetzt hat er das Gefühl, seine Haut mit den Fingerspitzen berühren zu müssen. Wer hat sich diesen dämlichen Scheiß ausgedacht? Dass man fast nackt hier rumstehen muss. Zaid verschränkt die Hände vor seiner Boxershorts, die ihm plötzlich viel zu eng vorkommt. Nicht auch das noch.

Ein verzweifeltes Lachen überfällt ihn und schüttelt seine Schultern. Es lässt sich nicht aufhalten. Zaid muss lachen und kommt sich vor wie eine Witzfigur. Seine Wangen glühen, ach was, sie fangen Feuer, sein ganzes Gesicht steht in Flammen und er fragt sich, ob spontane Selbstentzündung tatsächlich möglich ist.

„Junge, was ist los mit dir? Du kicherst wie’n Mädchen“, zischt Manni und stößt ihm erneut in die Rippen.

Sascha steigt von der Waage und dreht sich zu ihnen um.

„Bist du bekifft, Junge?“, raunt sein Trainer. „Ich schwöre dir, wenn du …“

„Nein“, murmelt Zaid und sein Lachen erstirbt sofort, als er Saschas verletzten Gesichtsausdruck bemerkt. Nein! Zaid will auf ihn zugehen und sagen: Nein, du verstehst das falsch. Ich lache nicht über dich. Ich lache wegen dir. Aber eigentlich gibt es hier gar nichts zu lachen. Ich bin völlig neben der Spur. Ich hab deinen Namen auf der Zunge, wenn ich abends einschlafe und wenn ich morgens aufwache auch. Ich will mit dir ins Tierheim gehen und einen Welpen adoptieren.

Stattdessen blickt Zaid auf den Boden und wischt sich mit dem Handrücken die Schweißperlen aus dem Haaransatz.

Sein Trainer grunzt entnervt und rüttelt an seiner Schulter. „Bist du taub, Junge? Face-off. Jetzt.“

Zaid hat den Ansager nicht gehört, denn das Blut rauscht in seinen Ohren. Er stolpert an die Kante des Podiums, neben Sascha. Sein Körper spult einen Automatismus ab und nimmt die übliche Pose ein. Der rechte Arm schnellt nach oben, der Bizeps ist angespannt und die Faust leicht erhoben. Zaids Arm streift Saschas nackte Schulter und er fühlt, wie die kleine Fläche, an der sich ihre Körper berühren, vibriert. Was für ein Klischee, denkt er, während die Kameras vor ihm klicken. Dann dreht er sich unwillig zur Seite. Sascha steht ihm direkt gegenüber, tritt zögerlich näher, bis nur noch eine Handbreit Platz zwischen ihren Körpern ist. Einfach nur geradeaus schauen, sagt er sich, einfach nur geradeaus. Saschas Augen sind so nah, dass er die Wimpern darum zählen könnte. Sie haben die Farbe von Whiskey und sind mindestens genauso berauschend. Zaid fühlt sich schlagartig betrunken, kann nicht wegschauen. Immerhin das trifft sich gerade gut. Darum geht’s ja schließlich im Face-off.

Aber trotzdem scheint es ihm, als würde er gerade einen Kampf verlieren. Als hätte sich dieser Typ vor ihm schon längst durch die dicke Mauer geboxt, die Zaid seine verschlossene Persönlichkeit nennt. Er kann sie fast bröckeln fühlen. Zaid kann den Blick nicht mehr halten. Er fällt auf den Mund, der nur Zentimeter von seinem entfernt ist. Er sieht Saschas Zungenspitze, die plötzlich herausschießt und einen Wimpernschlag lang über die zarte Haut leckt. Er bemerkt, dass sich die Lippen vor ihm bewegen und hört ein geflüstertes „Gefällt dir, was du siehst?“. Er hat das Gefühl, die Worte trinken zu können wie ein Verdurstender, und sein Adamsapfel zuckt beim Anblick von Saschas Mund. Scheiß drauf, denkt er und schließt die Lücke zwischen ihren Lippen.

ZWEI

„Was war das? Junge, hast du Fieber? Schnappst du jetzt über?“ Manni läuft Kreise um den Stuhl, auf dem Zaid im Backstage sitzt. Sein Kopf dreht sich, aber nicht wegen der Kreise, sondern wegen des Geschmacks, der noch an seinen Lippen hängt, wenn er mit der Zungenspitze darübergleitet. Zumindest glaubt er, ihn zu schmecken.

„Schwör mir, dass du vorher nicht gekifft hast.“ Manni bleibt vor ihm stehen, beugt sich runter und inspiziert seine Pupillen.

Zaid fühlt sich ein bisschen wie nach einem K.o., wenn der Kopf noch zu langsam ist und hinter der Realität vor den Augen her stolpert. „Nein, Coach, nicht in der Vorbereitung, das weißt du“, antwortet er knapp und streicht sich mit den Händen über das Gesicht, um die Bilder vor seinen Augen zu verjagen. Saschas Blick, als Zaid die Lippen von seinen löste und erschrocken zurücktaumelte, direkt in Mannis Arme, die ihn von den Kameras wegzerrten und in den Backstagebereich brachten. Zaid schaffte es, seinen Kopf ganz kurz nach Sascha umzudrehen. Er stand wie angewurzelt auf dem Podium und berührte seine Lippen mit den Fingerspitzen. Lächelte er?

Die Tür fliegt auf und jemand stampft in den Raum. Es ist Rajko, Zaids Manager, und er ist ziemlich aufgeregt. „Da draußen ist die Hölle los! Was sollte das? Was soll ich denen jetzt sagen?“ Rajko wirft sie von innen ins Schloss, lehnt sich dagegen und verschränkt die Arme erwartungsvoll vor der Brust.

Zaid kann nur mit den Schultern zucken. Sein Kopf schwirrt und er hat keine Antworten parat. Keine, die er aussprechen möchte. Rajkos Augen bohren sich in seine.

„Es war ein Versehen“, ist alles, was er herausbringt.

„Ein Versehen?“ Rajko lacht kehlig auf. „Ja, klar, Mann, passiert mir auch ständig: Entweder ich vergesse meine Schlüssel oder ich küsse aus Versehen wildfremde Kerle.“

„Er ist kein Wildfremder“, flüstert Zaid und versucht, langsam zu atmen, um seinen rasenden Puls unter Kontrolle zu bringen und einen klaren Gedanken fassen zu können.

„Was soll das bedeuten, Zaid?“, fragt Manni noch einmal. „Bist du jetzt ein Homo?“

„Das sagt man nicht mehr, Manfred“, korrigiert Rajko trocken.

„Das spielt doch jetzt keine Rolle, Mann!“, schreit Manni.

Es klopft an der Tür. Rajko dreht sich um und öffnet sie ein Stück, redet ein paar Worte, die Zaid von seinem Platz aus nicht verstehen kann. Er will nach Hause. Einfach nur nach Hause. Das Chaos um ihn bereitet ihm Atemnot. Das Chaos, das er selbst angerichtet hat.

„Es ist Sascha Weiss“, sagt Rajko über die Schulter in den Raum. „Er will mit dir reden.“

Zaid schnappt nach Luft, sein Herz beginnt noch schneller zu rasen und sein Magen macht genau das, was er mal in einem miesen Liebesroman gelesen hat: Er rutscht in die Kniekehlen.

„Schick ihn weg“, flüstert er panisch. Er kann Sascha jetzt unmöglich gegenübertreten. Er wird eine Erklärung für den Kuss wollen und was soll er ihm sagen? Dass er plötzlich, wie aus dem Nichts Gefühle für ihn hat, so heftig, dass sie seinen Verstand blockieren und die Impulse freilassen? Zaid hat das Gefühl, sein Kopf ist ein Flipperautomat, an dem gerade ein zugedröhnter Maniker spielt. Er wird gleich explodieren. „Ich … ich kann nicht. Ich will nach Hause. Sofort. Rajko, bitte bring mich hier raus.“

***

„Unter uns, du bist nicht wirklich plötzlich schwul?“ Vor Zaids Wohnung kommt das Auto zum Stillstand. Rajko dreht den Schlüssel im Zündschloss und lehnt sich im Fahrersitz zurück. „Wir kennen uns seit acht Jahren. Du bist mein Freund, das hätte ich doch gemerkt.“

„Ach, wirklich? Woran denn?“, entgegnet Zaid erschöpft und löst seinen Gurt. „Und nein, bin ich nicht.“ Er öffnet die Beifahrertür und steigt aus. „Danke, dass du mich da rausgebracht hast, Rajko. Wir sehen uns.“

„Oh ja, wir sehen uns auf jeden Fall, Kumpel. Dank deiner kleinen Knutscherei, für die du mir immer noch eine Erklärung schuldest, stecke ich jetzt bis zum Hals in Arbeit. Bis morgen. Ich komme beim Training vorbei.“

Zaid nickt schuldbewusst und hebt seine Hand zum Abschied.

Rajko zieht eine gespielt empörte Schnute. „Was? Krieg ich keinen Abschiedskuss?“

„Blöder Arsch. Versprich mir, dass du niemals Komiker wirst“, grummelt Zaid und schlägt die Autotür zu.

Er fummelt den Schlüssel ins Haustürschloss, lässt sie krachend hinter sich zufallen, den Fahrstuhl links liegen und rennt stattdessen die Stufen nach oben ins Dachgeschoss.

In seiner Wohnung angekommen, lässt er sich auf die große Couch fallen und flucht laut in den stillen Raum.

Fuck. F-U-C-K. Fuckfuckfuck. Er hat Sascha Weiss geküsst. Und zwar richtig. Kein verklemmter Schmatzer mit gespitzten Lippen, der noch als provokante Geste beim Face-off durchgehen könnte, nein, er hat Saschas Unterlippe, diese verdammte Unterlippe zwischen seine gesaugt und mit der Zungenspitze daran geleckt. Wenn auch nur kurz, er hat trotzdem daran geleckt. Nachdem er sich vorher wie ein Teenager benahm und in folgender Reihenfolge: Grinste wie ein Vollidiot, rot anlief, auf den Boden starrte, als gäbe es dort irgendetwas Interessantes zu beobachten, kicherte, als hätte er den Verstand verloren und, nicht zu vergessen, beinah eine Erektion bekam. Vor den Augen der Presse. Wenigstens waren keine Kinder anwesend.

Zaid starrt an die Decke und beschließt in diesem Moment, seinen Namen nie wieder zu googeln. Wenn er niemals die Fotos oder Videos von heute sieht, kann er vielleicht irgendwann so tun, als wäre es nie geschehen. Kann seine coole Maske aufsetzen und warten, bis sie wieder mit seinem Gesicht verschmilzt. Bis er wieder er ist. Wer auch immer das ist.

Wie auf Stichwort summt das Handy auf dem Polster neben ihm. Drei verpasste Anrufe seiner Mutter und unzählige Instagram-Benachrichtigungen. Er fegt sie mit dem Daumen beiseite – Rajko wird sich wie immer darum kümmern – und öffnet stattdessen die App eines Lieferdienstes. Sein Magen hängt immer noch in den Kniekehlen, aber jetzt knurrt er zusätzlich vor Hunger. Zaid hat seit heute Morgen nichts mehr gegessen. Und eigentlich folgt er in der Vorbereitungsphase einem strengen Ernährungsplan ohne Fast Food. Aber dafür müsste er jetzt aufstehen und kochen. Und er weiß nicht, ob er das heute hinbekommt, ohne sich mit dem erstbesten Messer zu erdolchen oder sein Gesicht in eine brutzelnde Pfanne zu legen. Beide Optionen kommen ihm gerade verführerisch vor.

Zaids Mutter ruft ihn zweimal an, während er versucht, über die App Pizza zu bestellen. Beim dritten Mal, als er gerade bezahlen will, geht er schließlich ran.

„Endlich, Roohy.“ Sie klingt vorwurfsvoll, aber der Klang des gewohnten Kosenamens lässt Zaid lächeln. Solange sie ihn meine Seele nennt, ist sie nicht wirklich sauer. „Du weißt, ich mag es nicht, wenn du mich ignorierst. Ich bin deine Mutter.“

„Entschuldige, ich war etwas … beschäftigt.“ Seine Mutter scheint auf mehr zu warten. Die Stille am anderen Ende des Telefons kommt Zaid unnatürlich laut vor.

„Dein Vater und ich haben den Livestream vom Wiegen gesehen …“, sagt sie schließlich und schweigt wieder. Er sollte jetzt sicher etwas sagen, aber er weiß nicht, was. „Dein Baba ist … na ja, etwas aufgebracht.“

„Tut mir leid“, sagt Zaid und steht von der Couch auf. Er schleicht zur Wohnungstür, öffnet sie und drückt von außen auf die Klingel. Er hält jetzt wirklich keine Fragen mehr aus. Schon gar nicht die seines Vaters.

„Mama, es hat geklingelt“, sagt er gespielt überrascht und schämt sich etwas. „Bestimmt ist das Rajko. Ich muss aufhören, tut mir leid. Ich melde mich später.“

„Bitte“, sagt sie und dann, als Zaid schon im Begriff ist aufzulegen: „Müssen wir uns Sorgen um dich machen, Roohy?“

Keine Ahnung, denkt Zaid und antwortet: „Nein, versprochen.“

Er legt auf und schließt die Wohnungstür. Ein Druck breitet sich plötzlich in seiner Brust aus, als würde jemand einen Luftballon darin aufblasen. Zaid rutscht an der Wand runter und lehnt seinen Kopf dagegen. Muss man sich Sorgen um ihn machen? Ja, verdammt. Irgendwas stimmt nicht mit ihm. Seit einer Woche versteht er sich selbst nicht mehr. Oder doch, vielleicht versteht er sich, aber er hat sich nicht mehr im Griff. Sein Herz ist in irgendeinen dämlichen Streik getreten und blockiert seinen Weg. Und heute ist er so richtig darüber gestolpert und auf die Fresse gefallen.

Zaid hat eigentlich jede Faser seines Körpers unter Kontrolle. Seit dreizehn Jahren, seit er elf ist, trainiert er ihn für eine der härtesten Sportarten, die sich die Menschheit ausgedacht hat. Und seinen Kopf noch härter, denn selbst der wendigste, stärkste Körper hat im Zweikampf keine Chance, wenn der Kopf dem natürlichen Impuls zu fliehen nachgibt. Das ist das Schwierigste am Boxen: Dass der Kopf nicht macht, was er will, wenn man gerade buchstäblich die Fresse poliert bekommt. Denn sobald man die Kontrolle über die Gedanken verliert, kommen die Gefühle. Und sobald die einen im Griff haben, ist man unaufmerksam und auf dem besten Weg zu verlieren. Kontrolle ist im Ring alles.

Dass der Kopf mal ausbricht und revoltiert, kennt Zaid. Dass der Körper keinen Bock mehr auf Schmerzen hat und nicht aufrecht stehen bleiben will, kennt er zur Genüge. Aber dass das Herz so aus der Reihe tanzt und macht, was es will, ist neu für ihn. Er fühlt sich ausgeliefert und will in den Arm genommen werden.

Von Sascha.

Fuck.

Sascha Weiss ist an allem schuld. Er hätte alles tun können in diesem Moment vorhin: Seine Lippen zusammenkneifen, ihn wegstoßen, ihm eine verpassen, aber nichts davon passierte. Nach der ersten Sekunde, in der sein ganzer Körper erstarrte, öffnete Sascha plötzlich seine Lippen und ließ alles geschehen. Zaid konnte fühlen, wie er weich wurde und sich millimeterweit in den Kuss lehnte. Die Haut seiner Lippen war zart, aber es fühlte sich trotzdem wie ein kleiner Stromschlag an, ein winziger Stromschlag, der einen ganzen Kurzschluss auslöste. Sascha Fucking Weiss hat ihn im Griff. Und nicht nur das. Er hat ihn mit dieser geflüsterten Herausforderung gereizt. Hätte er diese Worte nicht gesagt, hätte Zaid niemals … Er weiß selbst, dass das Schwachsinn ist. Aber er will jetzt wütend sein, auf diesen dämlichen Typen, dem die Sonne anscheinend aus dem Arsch scheint, diesen Gegensatz auf zwei Beinen: Die wandelnde Definition von Härte, mit seinen breiten Schultern, den pulsierenden Muskeln und einem Waschbrettbauch, auf dem man wahrscheinlich Möhren raspeln kann. Zaid hat schon viele Boxer gesehen, aber noch nie so ein Sixpack. Saschas Körper ist exakt das, was man Furcht einflößend nennt, aber seine großen, leuchtenden Augen und die etwas zu rundlichen Wangen unter den definierten Jochbeinen wirken so sanft und weich, als könnte er keiner Fliege was zuleide tun. Er kommt Zaid vor wie ein Dobermann, der ein rohes Ei zwischen seinen Zähnen halten könnte, ohne es zu zerbrechen, und das ist wahrscheinlich der schrägste Vergleich, den er jemals gedacht hat.

Das Telefon, das vergessen neben ihm auf dem Boden liegt, vibriert erneut und Zaids Blick fällt auf das Display.

@saschaweissofficial hat Ihnen eine Nachricht geschickt

steht da. Zaid öffnet die App.

Zaid, ich bin’s, Sascha. Okay, das weißt du schon.

Er rollt mit den Augen. Ernsthaft? Wie kann man gleichzeitig so doof und entwaffnend sein?

Können wir bitte reden?????

Na klar, mit Fragezeichen geht Sascha ähnlich verschwenderisch um wie mit seinem Strahlen. Zaid spürt das Lächeln auf seinem Gesicht und flucht laut in die Stille der Wohnung. Er löscht die Nachricht. Rajko, der seinen Account in der Regel betreut, braucht das nicht zu sehen. Zaid legt den Kopf in die Hände und flüstert: „Ich werde mich nicht verlieben. Nein. Auf keinen Fall. Und schon gar nicht in einen Mann. Erst recht nicht in meinen Gegner.“ Er murmelt die Worte wie ein Mantra vor sich hin. Er hat knapp drei Tage Zeit bis zum Kampf. Drei Tage, um alles wieder in den Griff zu kriegen. Drei Tage, um Sascha Weiss aus seinem System zu spülen wie eine toxische Substanz.