„Du machst es so gut!“,
kreischte Judy. Ich pulste schon im roten Bereich. Judy stöhnte, leckte sich die Lippen. „Ja! Mach’s mir! Buddy! Ooh!“
Und so machte ich. Mannomann! Wie ein Wahnsinniger machte ich. Judy schrie vor Lust, mich aber musste nichts mehr antörnen. Hatte schon in den höchsten Gang geschaltet. Auf und ab und Countdown – … fünf, vier, drei, zwei, eins, zero!!! Eine Sturmflut jagte durch meine Düse und hob mich vom Sofa: „Aaaah!“
Uff! Ich landete wieder, plumpste auf den Rücken – boah! – und blieb liegen. Ausschnaufen.
Judy stöhnte immer noch. Ich holte ein paar Tempos heraus. Judy lachte mich breit an. Ich stand auf, ging zu ihr und klickte sie weg. Zusammen mit ihrem Stecher, dem wilden Buddy. Outlook stülpte sich über die Webcam wie ein Keuschheitsgürtel. Ich zog wieder meinen Computerstuhl heran, den ich wegen des Sofas mit Aussicht weggeschoben hatte.
Na, was gibt’s Neues?
Shakira Toll hat dich als FreundIn auf Facebook hinzugefügt. Wir benötigen deine Bestätigung, dass du Shakira Toll kennst, damit ihr Freunde auf Facebook sein könnt.
Klar, kenne ich dich, Shaki, Schnucki! KLICK! Jetzt bist du meine Freundin Nummer 999 in diesem Facebookaccount. 999! Gespiegelte 666. Die Zahl des Biests! Du Shakira, ich Jerry van Helsing!
Ich scrollte durch meine 999 Freunde … ehmm … Freundinnen. Typen lasse ich auf meine Jerry-van-Helsing-Seiten gar nicht rein. Wenn Freundschaftsanfragen von Männern kommen, lösche ich sie diskret. Das Blümeln mit Männern macht mir nicht so viel Spaß. Welcher der Hübschen könnte ich wieder mal was Tiefsinniges auf die Pinnwand schreiben? Hallo, Süße, die Meditation ist das Kissen der weltumfassenden Liebe …
Frauen über dreißig mögen anscheinend Männer, die für mehr Liebe im Kosmos meditieren. Na ja, ganz genau weiß ich nicht, ob einige von meinen hübschen Freundinnen nicht gefaket und auch Kerle wie ich sind, aber der Schein trügt sowieso immer, also lohnt es nicht, daran Gedanken zu verschwenden.
Ich bin Jerry van Helsing. Buddy find ich als Namen auch nicht schlecht. Aber das nur nebenbei. Was mache ich jetzt also? Welche schreibe ich an? Dich, Anna Manon … übelst hübsch … nur fällt mir momentan nichts Tiefsinniges für deine Pinnwand ein, Baby! Besser poste ich für euch alle ein paar interessante Neuigkeiten in meinem Profil. Also: Allgemeine Informationen. KLICK!
Mein Profilfoto hatte Rowdy gebastelt. Ein großer Hut verdeckt mein Gesicht. Schulter eines Bodybuilders. Krass! Mehr muss ich nicht dazu sagen.
Derzeitiger Wohnort: Die Welt.
Heimatstadt: Sin City.
Geschlecht: Männlich (wollte zwar schon immer „Supermännlich“ reinschreiben, aber da ist Facebook zu konservativ und erlaubt nur zwei Geschlechter).
(Meinen Geburtstag lasse ich in meinem Profil weg. Mein Alter ändert sich ja von Freundin zu Freundin.)
Politische Einstellung: Cremig.
Religiöse Ansichten: Die Welt ist voller Magie.
Biografie: Kunst und Abenteuer.
Lieblingszitat: Wer seine Glorie kennt und dennoch in Schande weilt, der ist das Vorbild der Welt. (Lao Tse)
Hmm … hier musste ich nichts ändern. Ich klickte im Profil auf Ausbildung und Arbeit:
Schule: Albertus-Magnus-College für angewandte Hexenkunst.
Hochschule: Promovierter Alchemiker.
Arbeitgeber: Freiberuflich. Beruf: Vampirjäger.
Mein Vampirjäger-Beruf kotzte mich langsam an. Noch vor ein paar Jahren, als ich mir das Profil zurechtgelegt hatte, sind Frauen auf Vampirjäger voll abgefahren, jetzt aber standen sie auf Vampire. Echt! Letzte Woche hat mir hier Birgit ’nen Vortrag gehalten, von wegen ich solle die armen Vampire in Ruhe lassen, sie seien eine aussterbende Art. Birgit ist bei den Grünen. Die Stellas wollten zur Zeit alle ihr Leben mit ’nem Blutsauger verbringen, und Vampirjäger sind seitdem nicht mehr in. Besser legte ich mir einen positiv besetzten Beruf zu. Bei einem Vampirjäger ist der Freundinnenschwund zu groß. Als Vampir hätte ich die Tausendste-Freundin-Marke schon vor ein paar Monaten sprengen können. Davor kannst du einfach nicht die Augen verschließen. Klar konnte ich hier nicht so mir nichts, dir nichts vom Vampirjäger zum Vampir mutieren, aber eine Zwischenstufe ginge schon, zur Abwechslung mal etwas Realistisches. Also Beruf: Stuntman in Vampirfilmen. So! Und jetzt noch eine neue Tagesmeldung:
Jerry van Helsing ist beflügelt und schaut gerade, wo er gefahrlos landen kann.
„Bennie? Abendessen!“
Ich loggte mich aus. Ciao meine Damen! Die Landung findet in der Küche statt. Mama, Vati und Clara hockten schon am Küchentisch.
„Wo bleibst du denn, Bennie.“
Bennie? Klar heiße ich nicht Freddy, nicht mal Jerry van Helsing. Aber Bennie? Ich heiße Benn, verdammt!
„Die ganze Zeit hockst du am Computer! Was machst du da bloß?“
Was sollte ich dazu sagen? „Mama! Ich bin der einzige überlebende Jugendliche bei Facebook. Alle meine Altersgenossen tummeln sich bei Instagram und Snapchat, ich verlasse Facebook nie. Facebook ist meine Fortnite-Spielwiese. Bei Instagram hätte man Jerry van Helsing schon längst gekillt. Bei Facebook tummelt sich meine Zielgruppe – die schönsten Damen der Welt.“ Klar konnte ich das meiner Mutter nicht erzählen. Ein Computerverbot würde meine Karriere als virtueller Frauenheld ruinieren.
„Iiiii! Wieder Nudeln?“
„Ach komm, Pasta ist gesund!“
„Jeden Tag? Ich will lieber Schnitzel!“
„Am Wochenende gibt’s Schnitzel!“, sagte Mama. „Du kannst nicht nur von Schnitzeln leben!“
„Doch!“, sagte ich. „Ein Vampirjäger isst doch keine Nudeln!“
„Was?“
„Nur ein Scherz!“
„Nimm dir auch Salat, Bennie!“
„Ich heiße Benn, Mama!“
„Früher hast du an Bennie aber nichts auszusetzen gehabt.“
„Jetzt bin ich sechzehn!“
„Weiß ich doch, Bennie. Nimm dir bitte Salat! Du musst einfach mehr Gemüse essen.“
„Tue ich doch“, sagte ich. „Pommes, Ketchup …“
„Da“, sagte Mama. „Tomatensoße.“ Als ob Tomatensoße ein würdiger Ersatz für Ketchup wäre.
„Wahrscheinlich verlier’sch meine Arbeid!“, sagte Vati. Vati ist der Sachse in unserer Familie. Spricht immer mit Dialekt und kann nicht anders. Ich hab mal rausgegoogelt, dass die meisten Leute finden, Sächsisch sei der am wenigsten charmante deutsche Dialekt. Das ist Vati wurscht, wie die Bayern sagen würden. Das ganze Internet interessiert ihn nicht. Für Vati ist Google ein Kuchen – nämlich der Gugelhupf – und Wikipedia eine Schlampe.
„Was?“, sagte Mama. „Du verlierst die Arbeit?“
„De Wessis sprengn das Haus in dem’sch arbeide!“
„Du arbeitest in einer großen Firma, Vati“, sagte Clara. „Die wird doch nicht ganz von den Wessis weggebombt.“
„’s Haus abor schon.“
„Na und?“
„’sch bin dor Hausmeisdor.“ Mein Vater ist Hausmeister aus Überzeugung. Weil er Kühlschränke, Bügeleisen und Klospülungen reparieren kann. Am liebsten würde Vati nur Kühlschränke, Bügeleisen und Klospülungen reparieren. Deswegen war er nie wirklich böse, wenn ich früher mal Kühlschränke, Bügeleisen und Klospülungen kaputt gemacht habe.
„Die haben doch noch andere Häuser“, sagte ich.
Und dann erklärte mein Vater uns, dass ja in jedem ordentlichen Haus schon ein Hausmeister säße. Wenn also ein Haus in die Luft gejagt würde, gäbe es einen Hausmeister zuviel und einen Hausmeisterjob zu wenig. Vati nahm einen tiefen Schluck und erklärte dann weiter: Das hieße im Kapitalismus Rationalisierung. Er sah uns an: „Hab’dor das ni in dor Schule gehabbd?“
„Immer noch besser, als wenn man dich mit dem Haus sprengen würde“, sagte Clara.
„Keenor kann mich leiden“, sagte mein Vater.
„Ähwo“, sagte meine Mutter auf Sächsisch, tätschelte Vati an der Schulter und lachte.
„Vielleichd kann Karl en Hausmeisdordschob für mich besorgn.“ Karl ist Vatis Bruder, lebt aber in Berlin.
„Wir haben hier in Dresden unser Haus“, sagte meine Mutter und seufzte. „Kannst du dir nicht vom Arbeitsamt eine Umschulung bezahlen lassen?“
„Zum Gombjudoreggsbärdn, odor?“
„Als Computerexperte wärest du sicher nicht zu schlagen“, sagte ich und mein Vater grinste.
Es klingelte zweimal an der Tür.
„Wer kann das sein?“, fragte meine Mutter.
„Der Briefträger“, rief Clara. „Der klingelt zweimal!“
„Hä-hä“, sagte ich.
„So spät?“, fragte meine Mutter. „Es ist schon sechs!“ Mama versteht Claras Witze nie. Ich versteh sie zwar, find sie aber nicht lustig. Meine Schwester ist echt old school – sie ist achtzehn, steht aber auf Jack Nicholson!
„Das ist sicher Rowdy“, sagte ich. Krass erleichtert schob ich den Nudelteller mit der roten Tomatensoße von mir weg und stand auf.
„Holla, Mann!“
Rowdy und ich kennen uns schon seit Jahren, aber so richtig befreundet sind wir erst seit einem Jahr, als wir uns in einem Laden mit Computerspielen getroffen hatten. Damals war Rowdy schon weg aus unserer Klasse.
Rowdy stand vor unserer Haustür, starrte in seine Hand. Eine Kastanie lag darin. „Verdammt“, murmelte er vor sich hin. „Was macht die Kastanie hier? Wir haben erst Juli.“
„Hollaaa!“, sagte ich noch mal.
Rowdy umschloss die Kastanie mit seiner Faust und hob den Kopf. Schreck in den Augen. Als ob gleich ein Gangster mit ’ner Knarre in der Hand sagen würde: ‚Kastanie oder Leben!‘
„Ah“, sagte er und lachte. „Du bist’s!“
„Klar“, sagte ich. „Du hast bei uns geläutet.“
„Weiß ich!“, sagte Rowdy. „Kommst du zu mir? Ich muss dir was zeigen.“
„Deine Gurke?“, fragte ich.
„Nee“, sagte er, lachte aber nicht. Clara und ich sind wohl echte Geschwister. Auch meine Witze versteht keiner.
„Bin gleich fertig“, sagte ich. „Muss mich nur verabschieden. Komm mit in die Küche! Meine Eltern mögen’s, wenn man ihnen ‚Hallo‘ sagt.“
„Echt?“ Rowdy sah nicht begeistert aus, aber er trottete mir hinterher.
„Hallo, Rowdy“, sagte meine Mutter in der Küche. „Magst du mitessen?“ Schützend stellte sie sich aber vor den Topf mit der Soße. Sie hatte Rowdys begehrlichen Blick auf die Tomatensoße bemerkt. Soßen und Suppen machen ihn voll an. Unlängst hatte Mama Rowdy ihre Kartoffelsuppe angeboten und prompt steckte er seinen Finger in den Suppentopf hinein. Seitdem passt meine Mutter auf.
„Hier sind noch Nudeln“, sagte sie.
„Ich mag Schnitzel“, sagte Rowdy, glotzte aber in den Tomatensoßetopf.
„Siehst du?“, sagte ich.
„Ich ess gerne Wursd“, sagte Vati „und in’dor allorgrösdn Nod, schmäggd de Wurschd och ohne Brod“, sächselte er weiter.
„Hä?“, sagte Rowdy. Seine Mutter kommt aus Berlin.
„Ich mach aus euch Vegetarier“, drohte meine Mutter. „Und dann seid ihr mir ewig dankbar.“
„Die Weichen besiegen die Harten“, sagte ich, und Vati nickte mir anerkennend zu. Rowdy starrte schon wieder die Tomatensoße an. „Komm, Kumpel!“ Ich zerrte ihn Richtung Küchentür.
„Und die Nudeln?“, fragte meine Mutter und trat erleichtert einen Schritt vom Tomatensoßentopf weg. Das war ein Fehler.
„Die esse ich morgen auf!“
„Warte mal!“, sagte Rowdy, riss sich aus meinem Griff, hüpfte zu dem Topf und steckte den Finger in die rote Soße.
„Rowdy!“, brüllte Mama.
„Tschuldigung!“, sagte Rowdy, leckte den Tomatenfinger ab und marschierte aus der Küche.
Meine Mutter seufzte. „Wann kommst du heute heim, Bennie?“
„Keine Ahnung!“
„Wo geht ihr hin?“
„Zu ’ner Pornoparty!“
„Saubor!“, sagte Vati.
„Idioten“, murmelte Clara vor sich hin.
„Sollen wir nicht besser zu mir gehen?“, fragte Rowdy draußen. „Ich mag keine Pornopartys!“
„Warum nicht?“
„Hab meine Gründe dafür!“
„War eher nur ’n Scherz!“, sagte ich. „Aber es ist echt krass, was ich mir leisten kann, oder? Wenn ich mein Vater wäre, würde ich mir nicht so viel erlauben. Meine Eltern machen immer voll auf Verständnis, aber ich brauch hin und wieder ’ne harte Hand.“
„Du hattest doch letztes Jahr genug Stress mit ihnen, als du acht Stunden am Tag LoL gezockt hast.“
„Schon! Aber seit ich damit aufgehört habe, finden sie mich super.“ Meine Noten haben sich auch verbessert, sollte ich dazu sagen. Seitdem lassen mich meine Eltern in Ruhe. League of Legends frisst Zeit. Jetzt zocke ich nur noch höchstens ein Adventure im Monat. Keine Online-Spiele mehr. Meine Freundinnen im Web fahren sowieso voll auf Kunst und Abenteuer ab. Bei Frauen kannst du nicht mit ’nem Ego-Shooter kommen: „Ey, Bunny! Gerade hab ich tausend Mutanten abgeknallt.“ Frauen langweilen sich beim Ballern. Da fiel mir noch Rowdys Ekschn in der Küche ein: „Hey! Warum hast du den Finger in die Soße gesteckt?“
„Ich konnte nicht widerstehen“, sagte Rowdy.
„Hab ich mir gleich gedacht.“
„Wenn ich den Finger nicht reinsteck, krieg ich Depressionen.“
„Was machen die?“
„Eh … ich will mich halt umbringen und so.“
„Huch!“, sagte ich. „Hab schon Angst gehabt, dass es was Ernstes ist.“
„Wie läuft’s bei uns in der Schule?“, fragte Rowdy. Er sagt immer noch „bei uns in der Schule“, obwohl er seit der Siebten weg ist. Ein paar Jungs aus unserer Klasse haben ihn damals rausgemobbt. Weil Rowdy anders ist.
„Wir haben doch schon Ferien“, erinnerte ich ihn.
Rowdy zuckte mit den Schultern. „Hab ich vergessen.“
Ich ging an einem Straßenschild vorbei, das Verkehrszeichen ganz nah an meinem Kopf. In einer plötzlichen Eingebung – die krieg ich hin und wieder – schlug ich mit der Hand auf das Schildblech, BUMM!, fasste mich an die Schläfe und krümmte mich, als ob mich das Schild böse am Kopf erwischt hätte: „Autsch!“
Erschrocken hüpfte Rowdy um mich herum. „Oida! Benn! Hast du dich verletzt?“
Ich hörte auf, mich zu krümmen. „Hä-hä-hä! April, April!“
Rowdy dachte nach. „Wenn jetzt Ferien sind, ist April doch schon längst vorbei, oder? Hast du mich verarscht? Du hast dich gar nicht angeschlagen, oder?“
„Nee! Hab nur mit der Hand dagegen gehauen!“
„Wichser!“ Rowdy zeigte mir den Stinkefinger.
„Schnell!“, rief ich. „Die Straßenbahn kommt.“ Rowdy wohnt auf der anderen Seite der Neustadt, und Dresden ist echt groß. Wir spurteten los. Hätte ich geahnt, was mich erwartet, wäre ich vorsichtiger gewesen.
„Guck mal!“, rief Rowdy, der hinter mir her trabte. „Da ist Carmela!“
„Carmela? Meine Schicksalsfrau?“ Ich drehte mich im Laufen um. „Wo?“ Und BUMM!
***
Wohl lag ich auf dem Boden, hörte Stimmen. Was ist passiert? Ich versuchte die Stimmen zuzuordnen: Carmela? …
„Bist du wieder wach?“
Ich traute mich kaum, die Augen zu öffnen, betete: Bitte lass es nicht die gefährliche Sexbombe Carmela sein. Vorsichtig öffnete ich ein Auge: Nein, es war keine Sexbombe, es war ein Engel. Jetzt riss ich beide Augen weit auf. Was? Ein Engel? Scheißeee!
Im Hintergrund hörte ich eine bekannte Stimme – Rowdy: „Das spielt er nur! Das hat er vor ein paar Minuten genauso gemacht!“
„Ich …“ Ich versuchte, etwas zu sagen. Was wollte ich sagen, verdammt?
„Du hast dich am Straßenschild angeschlagen“, sagte der Engel. „Hat dich direkt an der Schläfe erwischt. Da ist die Beule!“ Sie fuhr mit dem Finger über meine Schläfe. Die Haut schlug sofort Funken. Echt! Hab im rechten Auge Blitze gesehen. Wahrscheinlich war sie mein Schutzengel. Doch ein anderer kam dazu. Und noch einer. Hmm … so viele Schutzengel gibt’s doch gar nicht. Ein Sack voll mit Schutzengeln? Ich rappelte mich hoch.
Der Straßenbahnfahrer tauchte auf. „Soll ich einen Krankenwagen rufen?“
„Nein“, sagte ich. „Mir geht’s super.“
„Dagegen bist du gedonnert“, sagte Engel Nummer 3 und klopfte auf das verfluchte Straßenschild. Darauf war ein großes Ausrufezeichen und der Schriftzug Gefahrenstelle. Welches Arschloch hat das hier nur aufgestellt, verdammt? Gestern stand das Zeichen noch nicht da. Ich guckte mich um. Ein paar Meter weiter baggerte Bob, der Baumeister, am Straßenrand. Und das um sechs am Nachmittag, wenn normale Leute schon längst Feierabend haben. Hmm … Manche Gefahrenwarnung ist krass gefährlich.
„Du Spinner, du!“, Rowdy schüttelte den Kopf. „War’s jetzt echt?“
„Jep.“
„Ey … krass, Alta“, sagte er. „Ich rufe nur Carmela und du fällst tot um.“
„Weil ich mich wegen der bescheuerten Carmela umgeschaut habe. Hab das Schild nicht gesehen. Wo ist sie?“
„Carmela? Dort!“ Rowdy drehte sich um. „Schon weg.“ Er zuckte mit den Schultern.
„Oh!“, sagte Engel Nummer 1. „Du hast dich wegen eines Mädchens verletzt? Wie süß!“
„Nein!“ Mist! Statt der teuflischen Carmela flatterten weiter Engel um uns rum. Nichts wie weg hier. Ich zog Rowdy am Ärmel hinter mir her und schlüpfte in die Straßenbahn.
Doch die Engel schlüpften uns nach. Anscheinend fand in der Straßenbahn die Engel-Hauptversammlung statt. Vielleicht war es aber auch einfach nur eine Mädchenklasse auf ihrem Ausflug durch Dresden. Und ich Blödmann musste einem solchen Weiberrudel eine meiner fetten Reality-Shows vorführen. Und wieder mal trug Carmela die Schuld an der Ekschn. Carmela, du Biest!
„Frau Schnippköter“, rief einer der Engel durch die Straßenbahn zu einer dicken Frau, die nach einer Lehrerin aussah.
„Schnippköter?“, flüsterte mir Rowdy zu. „Kommen die aus Bayern, oder was?“
„Klar“, flüsterte ich noch ziemlich benebelt zurück. „Wo sollen Engel sonst herkommen?“
„Engel?“, fragte Rowdy und guckte sich mit großen Augen um.
„Der Junge ist ohnmächtig geworden!“, kreischte das Mädchen der Lehrerin zu und drehte sich wieder zu mir. Ein freizügiges T-Shirt: Im nackten Tal ihrer Brüste lag ein kleines Kreuz. Schon krass, wo die Bayern das Kreuz überall hinhängen. Als gute Katholiken wollen sie wohl, dass der Gekreuzigte jetzt eine bessere Aussicht hat als damals: Statt nach Golgota ins Busental.
„Ich war nicht ohnmächtig!“, rief ich, doch die Engel guckten mich skeptisch an. Die Tür ging zu. Gefangen wie der Graf von Monte Christo. Die Straßenbahn fuhr los. „Ich war nicht ohnmächtig!“, wiederholte ich noch mal, weil’s keiner bestätigen wollte.
„Doch“, sagte Engel Nummer 1. „Du warst ohnmächtig.“
„Nein! War ich nicht!“
„Ich werd gleich ohnmächtig“, flüsterte mir Rowdy zu. „Ich kann so viele Perlhühner auf einmal nicht ertragen!“ Und tatsächlich drängten sich immer mehr Engel um uns herum. Es war aber kein Himmel, es war die Hölle. Die Mädchen fragten und fragten und das peinlichste Wort des Tages machte in der Bahn die Runde: „OHNMÄCHTIG!“
„Begleitest du deinen Freund ins Krankenhaus?“, fragte ein Mädchen Rowdy. „Er muss sich untersuchen lassen. Vielleicht hat er eine Gehirnerschütterung.“ Alle Mädchen drehten sich zu Rowdy.
Er zog aus der Tasche einen Bleistift und sagte: „Ich hab hier irgendwo meinen Radiergummi verloren.“ Der Idiot ließ sich auf alle Viere nieder und begann, auf dem Straßenbahnboden nach seinem Radiergummi zu suchen. Feigling! Was sollte ich jetzt allein mit den ganzen Mädchen tun?
„Ich war nicht ohnmächtig!“, wiederholte ich. Fand keinen anderen Satz in meinem brummenden Schädel. Vielleicht hatte ich doch eine Gehirnerschütterung.
„Ich war auch schon mal ohnmächtig“, sagte ein Mädchen in einem Minirock über ein Paar Beinen, die mir einen neuen Ohnmachtsanfall zu bescheren drohten. „Ein Schwächeanfall“, fügte sie hinzu.
Schwächeanfall? Nö, oder?
„Er war nicht ohnmächtig“, sagte ein Mädchen. Sicher die Klassenbeste. „Er war bewusstlos.“
„Ist doch dasselbe“, sagte eine Klugscheißerin. Sie hockte gleich an der Tür und hielt eine halbleere Colaflasche in der Hand.
„Bewusstlos“ gefiel mir viel besser als „ohnmächtig“. Kein Mann möchte ohnmächtig sein. Aber bewusstlos. Mann! Bewusstlos wirst du, wenn du im Kampf gegen ’nen Assassinen eins mit dem Schwert übergebraten kriegst. Eine männliche Tat!
Was ging eigentlich auf dem Boden ab? Rowdy tat so, als suche er weiter nach seinem Ratzefummel. Dann wurde es ihm wohl zu blöd. Er stand auf und holte sein Nintendo aus dem Rucksack.
„Hast du deinen DS dabei?“, fragte er. „Wir könnten Pokémons tauschen.“
„Pokémons?“ Wir zockten doch seit Jahren keine Pokémon-Spiele mehr. Wollte er damit die Mädels beeindrucken? Mit Pokémons zocken nur Kinder und Mädchen. Nach dem Motto: „Dein Lippenstift ist super, Heidi. Wollen wie Skorglar gegen Vulpix tauschen?“
Doch plötzlich vergaß Rowdy die Pokémons. Er erblickte das Mädchen mit der halbleeren Colaflasche an der Tür. Erstaunlich, dass er das Flaschenhalsloch den vielen nackten Busentälern um uns herum vorzog. Rowdy war halt genauso durcheinander wie ich. Er starrte die Colaflasche an wie ein Ertrinkender den Rettungsring, in der Rechten den DS, in der Linken seinen Bleistift. O Gott! Ich ahnte, was nun kam. Das hatte mir noch gefehlt! Die Colaflasche bannte magnetomagisch Rowdys Blick.
„Er war bewusstlos“, sagte noch mal die Klassenbeste. Rowdy ging zu der Klugscheißerin mit der Colaflasche und steckte seinen Bleistift in den Flaschenhals. Die Straßenbahn hielt an. Das Mädchen guckte verdutzt ihre Flasche an, in der jetzt Rowdys Bleistift schwamm.
„Ja!“, brüllte ich. „Ich war nur bewusstlos!“ Und – HOPP, HOPP! – in Riesensprüngen aus der Straßenbahn. Rowdy hinter mir her.
„Auf Wiedersehen“, riefen die Mädchen. Wir joggten davon, ohne uns umzugucken.
„Mannomann! So viele Chickas in real machen einen nervös. Schlimmer als im Dschungelcamp.“
„Du bist doch dran gewöhnt“, sagte Rowdy. „Du hast ’ne Schwester. Und in deiner Klasse gibt’s auch Mädchen.“
„Nur drei“, sagte ich. „Und die sind so gebaut, dass sie überhaupt keinen nervös machen. Linda ist zu lang, Sandra zu breit und Heidi zu blöd. Sandra macht Kugelstoßen, weil ihre Mutter eine berühmte DDR-Kugelstoßerin war.“
„Die kenne ich auch!“, sagte Rowdy. „Die isst nur Spiegeleier mit Speck. Zwanzig Stück am Tag. Wieso bist du aber plötzlich so schüchtern? Früher haben wir doch auch mit Mädchen gespielt.“
„Das stimmt“, sagte ich. „Ich bin gar nicht so schüchtern. Nur in der letzten Zeit bekomme ich immer ’nen Ständer, wenn ich mit ’nem sexy Mädchen rede. Komisch, oder?“
„Ich auch“, sagte Rowdy. „Manchmal hilft es mir, wenn ich irgendwo was reinstecke. Ein Finger in Soße ist das Beste dagegen.“
„Oder einen Bleistift in ’ne Colaflasche.“
„Besser als nichts“, sagte Rowdy. „In der Straßenbahn hat’s keine Soße gegeben. Wenn’s über mich kommt, muss ich irgendwo was reinstecken.“
„Deswegen hast du also diesen Tick“, sagte ich. „Bei uns zu Hause musst du aber keinen Finger in die Soße stecken. Da macht dich doch kein Mädchen nervös …“
„Doch“, sagte Rowdy. „Deine Schwester.“
„Was??? Meine Schwester? Das ist nicht dein Ernst, oder?“ Ich schaute ihn fassungslos an. Hatte fast vergessen, dass Clara ein Mädchen war.
Er zuckte mit den Schultern.
„Und hilft das wirklich?“, fragte ich. „Vielleicht sollte ich das auch mal ausprobieren!“
„Macht echt Spaß“, sagte Rowdy.
„Wir haben halt ein umgekehrtes Erektionsproblem. Die Alten müssen Viagra futtern, um ihn hochzukriegen. Wir bräuchten Pillen, um ihn runter zu bekommen.“ Ich seufzte. „Mit den Mädels im Netz ist’s viel gemütlicher.“
„Was hast du denn eigentlich mit Carmela für Probleme?“, fragte Rowdy.
„Die bringt Unglück“, sagte ich. „Woher kennst du Carmela überhaupt?“
Was für eine Frage! Wer kannte Carmela NICHT?! Carmela war die kosmische Sexbombe, die Superfrau, der heißeste Feger unserer Schule, der alle Jungs in die Hölle zu fegen drohte, die Frau, um deren Füße meine Mitschüler herumkrochen wie geile Würmer. Hin und wieder zertrat Carmela einen bei ihrem Rauschen durch den Kosmos. Sie war einfach ein Komet mit Brüsten! Ein supergeiler Torpedo! Zum Glück war Carmela in der Parallelklasse. Alle Jungs vergötterten sie, weil sie keine Ahnung hatten. Nur ich mied Carmela wie Mario den Bowser. Für mich hieß Carmela mit ihrem anderen Namen Gefahr. Gefährlicher als Battle Royale in Fortnite!
Meine Frage, woher er Carmela kannte, überhörte Rowdy einfach – er läutete schon an seiner Haustür. Ich fragte nicht noch mal. Wünschte mir sowieso nur, mich an einen Bildschirm zu hocken, und bei Doom ein paar Monster abzuknallen, um dabei wieder ein bisschen Selbstbewusstsein zu tanken. Obwohl ich ja eigentlich keine Ego-Shooter mehr zockte. Wegen der Hirn-Hygiene halt. Und das hatte sich auch schon gelohnt: Seit ich keine Ego-Shooter spielte, jagten mich in der Nacht keine Zombies mehr, die mir den Kopf abhacken wollten. Seitdem lockten mich höchstens ein paar nackte Sextussen in ihren Schoß. Mit sechzehn hast du eine super Zeit: Tagsüber spielst du den Robinson auf einer Insel bei Ebbe, nachts kommt die Flut! Brutal, oder?