Leseprobe Küstenglück mit Hindernissen

Kapitel 4

Minka hatte so viel Freude in ihr Leben gebracht, dass Inka ihren Leichnam auf keinen Fall der Tierkörperverwertung überlassen wollte. Deshalb fuhr sie gleich am folgenden Morgen nach Lübeck, um ihre Katze auf dem Tierfriedhof bestatten zu lassen. Der Preis erschreckte sie zwar ein wenig, aber das war Minka ihr wert. Sie suchte eine Urne und einen Grabplatz aus. Schweren Herzens stieg sie danach in ihr Auto und fuhr nach Sylt zurück. In eine leere Wohnung, die nicht mehr vom Miauen einer Katze erfüllt sein würde.

Jetzt war sie froh, dass sie morgen nach Frederbüll fahren wollte, um ihre Mutter zu besuchen. Zu Hause sah sie in den Briefkasten und zog einen Brief heraus. Vom Nachlassgericht!

Schnell ging sie in die Wohnung und riss den Umschlag auf. Natürlich handelte es sich um Tante Astrids Testamentseröffnung. Die darin enthaltenen Informationen ließen ihre Knie weich werden. Rasch setzte sie sich auf einen Küchenstuhl und las weiter. Und gleich noch einmal, denn sie konnte es nicht glauben: Tante Astrid hatte sie zur Haupterbin eingesetzt!

Wie konnte das sein? Warum nicht ihre Schwester, also Inkas Mutter?

Sie hatte sechs Wochen Zeit, dem Nachlassgericht mitzuteilen, ob sie das Erbe annehmen oder ausschlagen wollte.

Ausschlagen! Das war ihr erster Gedanke. Wie konnte sie das annehmen, wo doch ihre Mutter ihre einzige Schwester verloren hatte, an der sie so gehangen hatte?

Sie las den Brief ein drittes Mal. Nur für den Fall, dass sie etwas übersehen hatte. Dann nahm sie ihr Telefon und wählte die Nummer ihrer Mutter.

Sie ging sofort ran, als hätte sie bereits auf den Anruf gewartet. „Moin, Inka! Hast du auch Post vom Nachlassgericht bekommen?“

„Ja. Ich hab’s gerade gelesen. Und ehrlich gesagt kann ich nicht fassen, was drinsteht. Das … Es muss sich um einen Irrtum handeln. Die haben sich bestimmt verschrieben. Du musst Haupterbin sein, nicht ich!“ Inka fokussierte das vor ihr liegende Schreiben, als könnte es ihr dadurch seine Geheimnisse enthüllen.

„Nein, das haben sie nicht. Astrid hat es so bestimmt, und damit hat es auch seine Richtigkeit. Ich habe schon damit gerechnet.“

„Aber das geht doch nicht, Mama! Ich werde das Erbe ausschlagen. Du bist ihre Schwester und deshalb …“

„Und du bist ihre Nichte. Bitte überstürze nichts, ja? Bleibt es bei morgen, also kommst du dann her?“

„Ja.“ Plötzlich fiel Inka alles wieder ein, und Traurigkeit überfiel sie. „Minka ist gestorben. Gestern.“

„Was? Ach herrje, das ist ja furchtbar! Warum denn? Ich meine …“

„Wahrscheinlich an Altersschwäche. Ihr Herz war nicht mehr ganz in Ordnung. Wie es scheint, ist sie ganz friedlich eingeschlafen. Ich komme gerade vom Tierfriedhof, wo sie beigesetzt wird.“ Wehmütig betrachtete Inka eine gerahmte Fotografie von Minka an der Wand, auf der sie im Gras saß und munter in die Kamera schaute.

„Das ist eine schöne Idee.“

„Finde ich auch, aber es wird schwer ohne sie.“ Einsam, hätte Inka fast hinzugefügt. Angesichts der Situation ihrer noch viel einsameren Mutter ließ sie es lieber bleiben.

„Umso besser, wenn du morgen herkommst. Dann kommst du auf andere Gedanken.“

„Ja, das stimmt. Wegen des Briefes …“ Unruhig schob Inka die Blätter auf dem Tisch hin und her.

„Darüber reden wir morgen. Fahr vorsichtig!“

„Wird gemacht. Tschüss.“

Inka legte auf. Nach dem Gespräch fühlte sie sich etwas besser. Ihre Mutter hatte es schon immer schnell geschafft, ihre Last zu verringern. Wenn sie hingefallen war, tat es nach ein paar tröstenden Worten gleich nicht mehr so sehr weh. Liebeskummer schmerzte mit einem Mal viel weniger.

Nur ihre Angst vor Michael Klausen und den anderen, die später, als alles immer schlimmer wurde, in Panik umschlug, hatte auch ihre Mutter nicht aus der Welt schaffen können.

Nun, da Minka nicht mehr lebte, beschloss Inka, aus dem geplanten dreitägigen Aufenthalt einen richtigen Urlaub von mindestens zwei Wochen zu machen. Das würde ihr und ihrer Mutter guttun.

In Frederbüll wurde Inka von ihrer Mutter und vom Duft nach frisch gebackenem Apfelkuchen empfangen. Sofort empfand sie das beinahe kindliche Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Dafür war man wahrscheinlich nie zu alt.

Nach zwei großen Stücken Kuchen und einigen Tassen Kaffee wurde ihre Mutter plötzlich ernst. Sie stand auf, ging zur Anrichte und nahm einen Briefumschlag in die Hand. Für einen Moment wog sie ihn unschlüssig in der Hand. Dann atmete sie entschlossen durch und drückte ihn Inka in die Hand.

„Was ist das, Mama?“ Nur ihr Vorname stand in zierlichen Buchstaben auf dem Umschlag und darunter viel kleiner:

Bitte erst zur Testamentseröffnung lesen.

Das war die Handschrift ihrer Tante!

„Er lag mit im Umschlag, in dem sich das Testament befand. Als ich ihn nach Astrids Tod dem Bestatter übergab, hatte ich mich schon gewundert, warum er so schwer war. Ich habe auch einen Brief bekommen.“ Ihre Mutter nahm einen weiteren Umschlag vom Tisch und hielt ihn ihr hin. „Hier, siehst du? Offenbar sollten wir die Briefe erst jetzt bekommen. Der Notar ließ sie gestern vorbeibringen.“

Ratlos drehte Inka den Umschlag in der Hand. „Was steht drin?“

„Lies erst deinen. Danach können wir darüber sprechen.“

Unterschiedliche Emotionen prasselten auf Inka ein wie ein heftiger Regenschauer. Wehmut und Trauer. Neugier. Angst.

Unschlüssig sah sie vom Umschlag zu ihrer Mutter. „Ich weiß nicht …“

„Komm, nicht so schüchtern. Astrid hat sich gewünscht, dass du ihn bekommst und liest. Erfüll ihr diesen letzten Wunsch.“

Inkas Finger zitterten, als sie den Umschlag zögerlich öffnete und drei eng beschriebene Blätter Papier hervorzog. Wieder sah sie ihre Mutter an. Sie nickte ihr auffordernd zu.

Inka begann zu lesen.

Meine liebe Nichte Inka,

wenn du diesen Brief liest, bin ich nicht mehr da. Ich wünsche mir, dass du nicht traurig bist, denn alles, was ich will, ist, dass es dir gut geht, dir und meiner Schwester. Mit euch beiden habe ich die beste Familie gehabt, die man sich wünschen kann.

Ich könnte sagen, dass ich mir die Entscheidung nicht leicht gemacht habe, aber das würde nicht stimmen. Im Grunde habe ich es gar nicht selbst entschieden, denn der Wunsch war schon vor vielen Jahren in mir entstanden. Also musste ich ihn nur noch für dich aufschreiben.

Ich habe nicht allzu viel, was ich dir und Gerda hinterlassen kann. Du weißt, dass ich mir nie viel aus materiellen Dingen gemacht habe. Alles, was mir etwas bedeutete, war meine Familie. Und mein Garten.

Ich sehe dich noch als kleines Mädchen, wie du mir geholfen hast, Unkraut zu zupfen und die Blumen zu gießen. Wie umsichtig und liebevoll du mit den Pflanzen umgegangen bist, hatte mich damals schon beeindruckt. Als du größer warst, hast du mir mitunter von deinem Taschengeld eine besonders hübsche Staude gekauft. ‚Damit dein Garten noch bunter wird‘, hast du gesagt.

Schon damals lag in deinen Augen dieser Kummer, der mir fast mehr wehgetan hat als dir. Ich wusste ja von diesen Jungen, die dir dein Schulleben so schwer gemacht hatten. Glaube mir, ich habe oft bei den Eltern der miesen Jungs, besonders von diesem unsäglichen Michael, angerufen und ihnen die Hölle heißgemacht, ebenso wie Gerda, aber offenbar hatte das sehr lange Zeit nichts geholfen. Dass es so lange gedauert hat und du vorher diese Hölle durchmachen musstest, tut mir jetzt noch leid. Vor allem, weil du deswegen von hier weggegangen bist. Wir hatten damals gedacht, du wärst eben jung und hättest Hummeln im Hintern, wie man so schön sagt, und du würdest dich eine gewisse Zeit in der Großstadt austoben und anschließend zurückkehren. Aber natürlich wussten wir auch von deinen wahren Gründen und die waren offenbar noch schwerwiegender für dich, als wir geahnt hatten.

Du glaubst gar nicht, wie stolz ich auf dich bin, dass du trotz allem deinen Weg gegangen bist. Du warst so jung, als du ganz allein nach Hamburg gegangen bist. Nimm es Stefan nicht übel, dass eure Ehe nicht geklappt hat. Auch er war viel zu jung. Ich mochte den Jungen. Und als ich dann hörte, dass du dich auf Sylt als Immobilienmaklerin selbstständig machst, da hab ich vor Stolz heller gestrahlt als die Sonne.

Aber meine liebe Inka, ich habe sie trotzdem gesehen, wenn du mich besucht hast: die Schatten unter deinen Augen. Du warst zufrieden, aber nie richtig glücklich. Und ich meine zu wissen, woran das liegt. Du brauchst einen Hafen. Ein Zuhause, in dem du dich endlich angekommen fühlen kannst. Du brauchst ein Nest. So wie ein verlorenes kleines Vögelchen, das wegen eines Sturms viel zu früh herausgefallen ist.

Und deshalb habe ich mir etwas überlegt. Um Gerda nicht zu verletzen, habe ich mit ihr im Vorfeld bereits darüber gesprochen, sie aber gebeten, dir nichts zu verraten, ehe der Fall der Fälle eintritt. Sie war sofort einverstanden, denn auch sie wünscht sich nur eins: dass du glücklich bist.

Jetzt bin ich nicht mehr da, aber mein Haus ist es noch. Und der Garten.

Und beides wartet nur auf dich, liebste Inka.

Ich wünsche mir, dass es dir gehört, dass du es wieder mit Leben füllst und den Garten mit Farbe. In letzter Zeit ist er ziemlich verwildert, weil meine Knie nicht mehr so wollten wie ich. Und ich bin mir ganz sicher, wenn du das tust, werden die Schatten unter deinen Augen verschwinden. Dann kannst du endlich wieder vor Glück strahlen, ohne diese verborgene Wehmut in deinen Augen.

Du bist stark. Du hast schon so viel geschafft. Und es wird dir auch gelingen, die letzten Schatten der Vergangenheit abzustreifen und hinter dir zu lassen.

Hab Mut, geh es an. Und wenn du irgendwann einem dieser Kerle, den Übeln deiner Kindheit, noch einmal begegnen solltest, so wende den Blick nicht ab, sondern sieh ihnen ins Gesicht. Tritt ihnen aufrecht und stark gegenüber, und du wirst feststellen, dass sie sich garantiert unter deinem Blick ducken werden, weil sie nicht damit rechnen. Weil sie vielleicht in dir immer noch das unsichere Mädchen sehen. Belehre sie eines Besseren! Ich sitze hier und stelle mir ihre Gesichter vor und das bereitet mir Genugtuung. Aber noch schöner wäre, wenn du niemals einen von denen wiedersehen müsstest.

Liebe Inka, ich bitte dich, erfülle mir meinen letzten Wunsch. Nimm das Haus. Es ist mein einziger Wunsch. Ich wünsche mir, dass du darin so zufrieden leben kannst, wie ich es gewesen bin. Wirf den ganzen alten Kram weg und richte dich nach deinem Geschmack ein. Mach es zu deinem Zuhause. Das wünsche ich mir und nichts anderes.

Ich werde von der anderen Seite aus über dich wachen.

Deine dich für immer liebende Tante Astrid.

Langsam ließ Inka den Brief sinken. Tränen brannten in ihren Augen und liefen ihre Wangen hinab.

Ihre Mutter, die sie stumm beobachtet hatte, stand auf und schloss Inka in die Arme, auch sie weinte.

Schließlich wischte sie sich die Tränen ab, und Inka gab ihr den Brief zum Lesen.

„Es ist im Großen und Ganzen dasselbe, was sie mir geschrieben hat“, erklärte ihre Mutter, nachdem sie fertig war. „Und? Was sagst du dazu? Mir ist klar, dass du erst darüber nachdenken musst. Das ist eine große Entscheidung, die dein Leben verändern wird. Aber Astrid hat all die Jahre immer wieder von dir und dieser Idee gesprochen. Sie hat sich so gewünscht, dass du …“

„Natürlich mache ich es.“ Inka war selbst erstaunt, als sie ihre eigenen Worte hörte. Sie hatte es ausgesprochen, ohne lange darüber nachzudenken.

Nein, ihr Herz hatte gesprochen.

„Meinst du das ernst?“ Die Augen ihrer Mutter wurden riesig.

Schnell nickte Inka, ehe sie es sich doch noch anders überlegen konnte. „Tante Astrid hat mit jedem Wort recht. Ich glaube, dass sie mich besser kannte als ich mich selbst. Vor allem war es ihr letzter Wunsch, und den kann ich ihr nicht abschlagen. Aber wie siehst du das alles denn? Ist es tatsächlich so, wie sie geschrieben hat?“

Ihre Mutter griff nach Inkas Hand und drückte sie. „Ja. Wie gesagt, Astrid und ich wünschen uns dasselbe für dich.“

„Du bist aber ihre Schwester. Ihr Erbe würde viel eher dir zustehen als mir, oder?“

„Inka, mein liebes Kind, was soll ich denn mit noch einem Haus? Ich habe schon eins, das macht genug Arbeit.“

„Du könntest es vermieten und hättest so ein nettes Zusatzeinkommen.“

„Damit Fremde darin wohnen? Obwohl Astrid sich nichts mehr gewünscht hat, als dass du es bekommst?“

„Du kannst es verkaufen. Okay, es ist zwar ziemlich renovierungsbedürftig, aber die Lage direkt an den Wiesen ist traumhaft. Es gibt immer wieder Naturliebhaber, die genau so etwas suchen. Es bringt bestimmt einen sehr guten Preis.“

„Auf keinen Fall! Damit würden wir ihr Andenken verletzen.“

„Ich möchte nur, dass du ganz sicher bist, Mama. Nicht, dass wir uns am Ende wegen des Hauses noch zerstreiten.“

„Das wird nicht passieren. Vor allem gehe auch ich nicht ganz leer aus, falls dich das beruhigt. Astrid hatte eine kleine Summe zusammengespart und die hinterlässt sie mir, wie sie in ihrem Brief an mich erwähnt hat. Sozusagen als Unterstützung für meinen Lebensabend.“

Inka atmete erleichtert durch. „Wirklich? Oh, ich bin so froh, das zu hören. Ich möchte, dass du …“

„Und ich kann es dir auch gern noch hundert Mal sagen: Ich bin mit Astrid einer Meinung, was das Haus betrifft. Wir haben in letzter Zeit öfter über dieses Thema gesprochen. Sie hatte mich nur darum gebeten, dir auf keinen Fall vorher etwas davon zu verraten. Wir sind ja davon ausgegangen, dass dieser Fall erst in vielen Jahren eintreten wird. Und ich wollte ganz sichergehen, dass sie es sich nicht im letzten Moment anders überlegt, auch wenn ich mir das nicht vorstellen konnte und du dann womöglich enttäuscht wärst. Deshalb habe ich nichts erwähnt.“

„Ihr beide seid ja völlig verrückt.“ Tränen der Rührung brannten in Inkas Augen.

Mama schüttelte den Kopf. „Nein. Wir lieben dich nur.“

„Ich euch auch! Mehr, als ich sagen kann! Dann … Dann meinst du, dass ich das Erbe echt annehmen soll?“

„Wenn du selbst es möchtest, auf jeden Fall! Ich habe doch auch Vorteile davon, wenn du wieder in Frederbüll wohnst. Du bist dann wieder ganz in meiner Nähe.“

Ein vorfreudiges, glückliches Strahlen im Gesicht ihrer Mutter vertrieb den Kummer in deren Augen nicht vollständig, aber es milderte ihn stark ab.

Inka zögerte nicht länger und griff nach dem Fragebogen des Nachlassgerichts. Jetzt füllte sie ihn mit klopfendem Herzen aus, nahm das Erbe an und unterschrieb alles. Anschließend machte sie mit ihrer Mutter einen Spaziergang und schickte den Brief bei der Gelegenheit gleich ab, ehe sie doch noch Angst vor ihrer eigenen Courage bekam und es sich anders überlegte.

„Du meine Güte, ist das aufregend!“, rief sie. „Ich hab ganz schwitzige Hände.“

„Geht mir genauso. Ich kann dir nicht sagen, wie ich mich freue! Komm, wir gehen zu Astrids Haus und sehen nach dem Rechten“, schlug ihre Mutter vor. Ihr Gesicht strahlte, und mit einem Mal wirkte sie um einige Jahre jünger.

Kapitel 5

Ein wenig beklommen war Inka zumute, als sie die Gartenpforte öffneten und hindurchgingen. Fast meinte sie, dass gleich ihre Tante in der Haustür erscheinen müsste. Schnell rief sie sich in die Wirklichkeit zurück. Tante Astrid würde nie wieder im Garten herumwerkeln, sich mit einem Lächeln aufrichten und über die Stirn streichen, sodass dort ein Erdfleck zurückblieb.

Vor der Tür hielt ihre Mutter Inka den Schlüssel hin.

Doch sie wehrte ab. „Noch gehört es mir nicht. Erst wenn …“

„Papperlapapp. Wen interessiert der Behördenkram? Das dauert doch nicht mehr lange. Na los, schließ dein Haus auf. Dein neues Zuhause.“ Mama lächelte aufmunternd.

Zögernd steckte Inka den Schlüssel ins Schloss. Es kam ihr vor, als würde sie in ein fremdes Territorium eindringen. Als sie die Tür aufschob und eintrat, meinte sie sogar noch einen Hauch von Astrids Duft riechen zu können. Während sie langsam durch den Flur ging und das Wohnzimmer betrat, kam es ihr vor, als würde auch das Haus trauern. Als würde es darum bitten, es wieder mit Leben zu füllen. Hier drinnen war es beinahe unheimlich still.

„Du fühlst es auch, oder?“, flüsterte ihre Mutter. „Diese Leere.“

Inzwischen waren sie in der Küche angekommen. Alles war sauber und ordentlich. Ein Geschirrtuch hing noch am Haken, wie Astrid es zurückgelassen hatte.

Unwillkürlich schossen Inka die Tränen in die Augen. „Ja. Sie fehlt mir so“, gab sie ebenso leise zurück. Sanft strichen ihre Finger über den Küchentisch, über ein Häkeldeckchen auf der Kommode.

„Mir auch, mein Kind. Ich sehe sie hier überall.“

Sie gingen weiter ins Schlafzimmer. Hier war Astrid so präsent, als hätte sie nur kurz den Raum verlassen und würde gleich zurückkommen. Das Bett war ordentlich gemacht, die Vorhänge aufgezogen, um Licht hereinzulassen.

„Ich weiß nicht, ob ich das kann“, flüsterte Inka.

„Was meinst du?“

„Dieses Haus zu übernehmen. Hier einzuziehen. Es … es fühlt sich komisch an, hier zu sein. Dies ist Tante Astrids Reich, nicht meins.“

„Das kommt dir nur so vor, weil alles noch so frisch ist. Hier hat sich nichts verändert, seit sie fort ist. Wenn du erst einmal deine Sachen herbringst, hier kochst und schläfst und mit Freunden zusammensitzt, wird sich das ändern. Dann wird es dein Zuhause.“

„Ich weiß nicht …“

„Astrid hat es sich so sehr gewünscht, Inka. Denk doch lieber daran, wie glücklich sie wäre, wenn sie sähe, wie du ihr Haus wieder mit Leben erfüllst. Und ihren Garten. Komm, wir gehen mal raus. Vielleicht empfindest du es da anders.“

Durch die Terrassentür traten sie in den hinteren Garten hinaus. Auf der Rasenfläche lagen unzählige welke Blätter, ebenso in den Beeten. Die Bäume und Büsche waren noch kahl, ein Windzug ließ das trockene Laub rascheln. Der Garten bot einen trostlosen Anblick. Auch hier schien alles gestorben zu sein. Ein Frösteln überlief Inkas Rücken.

Doch dann entdeckte sie die Schneeglöckchen, die ihre zarten Blüten zwischen den vertrockneten Blättern dem Licht entgegenstreckten. Schnell ging sie hin, kniete sich daneben und schob das Laub beiseite. Zwei Schritte weiter reckten sich lilafarbene Krokusse aus der Erde empor.

Plötzlich vergingen bei Inka alle Zweifel. Zuversicht und frischer Mut stiegen in ihr auf, als wäre es ein Zeichen. Ja, sie tat das Richtige.

„Es wird eine Menge Arbeit“, sagte ihre Mutter und betrachtete den verwaisten Garten.

Zum ersten Mal, seit sie hier waren, lächelte Inka. „Nein, es wird Freude. Sieh nur.“ Sie wies auf die Frühlingsboten. „Das erste Leben ist schon da. Ich werde alles tun, damit es sich bis in den hintersten Winkel ausbreitet.“

Da sie wegen ihres baldigen Umzugs keinen Urlaub mehr brauchte, fuhr Inka bereits am nächsten Tag nach Sylt zurück.

Sobald sie ihre Wohnung betrat, spürte sie, dass ihre Entscheidung, nach Eiderstedt zurückzukehren, richtig war. Nach Minkas Tod hielt sie hier nichts mehr. Klar, ihre Wohnung war hübsch eingerichtet, aber aus dem Haus ihrer Tante konnte sie noch viel mehr machen. Sylt war großartig und wunderschön, aber auch Eiderstedt bot großartige Strände, allein in Sankt Peter-Ording konnte sie stundenlang am Meer entlanglaufen. Auf Sylt hatte sie oft an den Abenden an einem der vielen Strände lange Spaziergänge unternommen, bevor sie mit einem Drink in der Hand den Sonnenuntergang über der Nordsee betrachtete. Sie hatte hier auf der Insel einige lockere Bekanntschaften geschlossen. Ihre richtigen Freundschaften jedoch warteten zu Hause auf sie.

Zuerst kündigte sie den Mietvertrag für ihre Wohnung. Dann beantwortete sie ihre E-Mails und Telefonate und nahm einen Notar- und einen Besichtigungstermin wahr.

Anschließend kaufte sie sich einen Stapel Umzugskartons und begann mit dem Packen. Das Haus bot wesentlich mehr Platz als ihre Wohnung, deshalb konnte sie alles mitnehmen. Was Tante Astrids Sachen betraf, würde sie sich allerdings von den meisten trennen müssen. Die Möbel waren zum Großteil alt und abgenutzt – und vor allem nicht ihr Geschmack. Gleiches galt für die Lampen, das Geschirr und die Dekoration. Vielleicht wollte Mama noch einiges davon haben. Sonst würde sie in der Nachbarschaft herumfragen. Immerhin hatte sich Astrid explizit gewünscht, dass sie sich von den alten Sachen trennte.

Nachdem Inka einen Teil ihres Hausrats verpackt hatte, fuhr sie mit einigen Kartons im Gepäck drei Tage später erneut nach Frederbüll. Ihre Mutter ließ es sich nicht nehmen, gleich zu ihrem neuen Haus mitzukommen. Kaum hatten sie angefangen, die ersten Sachen hineinzutragen, standen Alea und Heiko vor der Tür.

„Was macht ihr denn hier?“, rief Inka überrascht.

Ihre Mutter drehte sich grinsend zu Inkas Freunden um. „Ich hab mir gedacht, dass du etwas Hilfe brauchen kannst und ihnen Bescheid gesagt, wann du ankommst.“

„Auf die Idee hättest du auch selbst kommen können!“, schimpfte Alea und wirkte ehrlich empört. „Warum wolltest du alles allein machen? Wir helfen dir gern, das müsstest du doch wissen.“

Inka errötete. „Klar weiß ich das, vielen Dank! Aber ihr habt selbst genug zu tun, vor allem mit dem Kleinen.“

„Der ist bei seiner Oma gut aufgehoben.“ Jetzt grinste auch Alea. „Schwer wird es nur immer, ihn wieder abzuholen. Sie will ihn jedes Mal nicht weglassen.“

„Kann ich gut verstehen.“ Inka lachte. Sie fühlte sich plötzlich so glücklich wie schon lange nicht mehr.

„Womit sollen wir anfangen?“ Tatkräftig schlug Heiko die Hände ineinander. „Ich kann ja schon mal loslegen, während die Damen noch mit ihrem Tratsch beschäftigt sind.“

Jetzt lachten alle. „Wie schön, wieder zu Hause zu sein!“, rief Inka.

Und genauso fühlte es sich an. Dabei hatte sie noch nicht einmal mit der Arbeit begonnen, kein einziges ihrer Besitztümer hatte seinen Platz in ihrem neuen Heim gefunden. Das beklemmende Gefühl der Leere war schlagartig verschwunden. Stattdessen kam es Inka vor, als stünde ihre Tante Astrid neben ihnen und lächelte ihr liebevoll zu. Ein tröstender, ein mutmachender Gedanke.

„Sklaventreiber“, murrte Alea und holte Inka damit in die Gegenwart zurück.

Tief durchatmend wandte sie sich ihren Freunden zu. „Ich hab erst mal mitgebracht, was ich hier täglich brauche: Kleidung, Waschzeug, Küchengeräte. Davon abgesehen möchte ich gern Zimmer für Zimmer vorgehen“, erklärte sie und wandte sich an ihre Mutter. „Mama, was immer du hier siehst und haben möchtest, es gehört dir.“

„Was? Nein! Astrid hat …“

„Sie würde bestimmt wollen, dass du auch einen Teil ihrer Sachen bekommst. Ich möchte meine eigenen Möbel gern behalten. Überhaupt habe ich genug Hausrat. Das gilt im Übrigen auch für euch, hört ihr?“ Sie wandte sich an Alea und Heiko. „Wenn ihr etwas seht, das euch gefällt und das Mama nicht haben möchte …“

„Ein kleines Andenken an Astrid wäre wirklich schön“, gestand Alea.

„Du findest sicher etwas. Ja, wollen wir im Schlafzimmer anfangen? Das ist das wichtigste Zimmer. Mochtest du nicht den alten Bauernschrank schon immer so gern leiden, Mama?“

Es war ein sehr schönes Stück aus Eichenholz und so stabil, dass noch ihre Urenkel ihn nutzen könnten. Die Türen waren mit kunstvollen Drechselarbeiten verziert und mit Blumenranken bemalt.

Langsam strich ihre Mutter mit den Fingern darüber. „Du hast recht, er ist wunderschön. Und meiner ist im Grunde ganz schön abgenutzt, oder?“

„Da kann ich nicht widersprechen.“

„Und es macht dir wirklich nichts …?“

„Nimm ihn bitte, Mama! Es wäre schön, wenn er in der Familie bleibt und ich ihn nicht weggeben muss. Der Schrank ist toll, aber er passt kein Stück zu meiner eigenen Einrichtung. Wenn das Schlafzimmer leer ist, kann ich mit dem Renovieren anfangen und bald meine eigenen Sachen herbringen. Ich habe drei Monate Kündigungsfrist bei meiner Wohnung, deshalb kann ich mir also Zeit lassen. Trotzdem möchte ich natürlich so schnell wie möglich fertig werden.“

„Ja, dann … Ich würde ihn schon gern nehmen.“

„Gut! Lass uns gleich anfangen, ihn auszuräumen. Danach helfe ich dir zu Hause bei deinem alten Schrank, ja?“

„Wo soll Astrids Kleidung hin?“, erkundigte sich Alea und zeigte auf den gut gefüllten Schrank.

Inka sah in die Runde. „Wenn euch etwas gefällt, nehmt es gern mit. Sonst packe ich alles in Säcke und spende es.“

Es tat schrecklich weh, die ersten Kleidungsstücke ihrer Tante aus dem Schrank zu nehmen und in die Säcke zu stecken. Mitunter entdeckte ihre Mutter einen Pullover oder eine Bluse, die sie behalten wollte. „Als Andenken“, sagte sie leise.

Sobald der Schrank leer geräumt war, begann Heiko, ihn auseinanderzubauen. Währenddessen liefen Inka, ihre Mutter und Alea zum Haus ihrer Mutter und räumten dort deren alten Kleiderschrank ebenfalls leer.

„Puh, ich wusste gar nicht, wie viel Zeug ich rumliegen habe“, stöhnte Mama eine Stunde später. „Bei der Gelegenheit werde ich einiges wegwerfen.“

Sobald sie mit Ausräumen fertig waren, kam Heiko und nahm auch diesen Schrank auseinander. Die Bauteile stapelten sie neben dem Haus. Anschließend luden sie die Teile des Bauernschranks auf den Anhänger von Inkas neuem Nachbarn Herrn Meyer, den dieser ihnen kurzerhand zur Verfügung gestellt hatte, und fuhren sie damit zu Inkas Mutter. Als Dank durften sich Herr Meyer und seine Frau aus der Kleidung und Astrids anderen Besitztümern ein paar Stücke aussuchen.

Während Heiko Astrids alten Kleiderschrank bei ihrer Mutter wieder aufbaute, machte sich Inka mithilfe ihrer Freundin in ihrem Haus daran, ein Abendessen zuzubereiten: Schnitzel mit Backofenpommes. Es war die erste Mahlzeit, die Inka in ihrem neuen Heim kochte, und damit etwas ganz Besonderes. Alle aßen mit gutem Appetit.

„Das würde Astrid gefallen“, sagte Mama und fuhr mit dem Finger am Rand des Tellers entlang, der ihrer Schwester gehört hatte. „Jetzt zieht hier ein frischer Wind ein. Das hat sie sich gewünscht.“

Tatsächlich war das Gefühl der Leere, das Inka beim ersten Betreten des Hauses noch verspürt hatte, verschwunden. Fast meinte sie, ihre Tante spüren zu können, ihr wohlwollendes Lächeln zu sehen. Ein sehr tröstlicher Gedanke.

Nach dem Essen baute Heiko noch Astrids Bett und die Kommode im Schlafzimmer auseinander. Diese Möbel wollte niemand haben, sie kamen zum Sperrmüll. Vielleicht würde jemand sie an der Straße stehen sehen und mitnehmen.

Zur Schlafenszeit war das Zimmer leer geräumt.

„Dank eurer Hilfe ging das echt schnell“, sagte Inka zufrieden, als ihre Freunde sich verabschiedeten. „Jetzt kann ich das Zimmer renovieren und meine eigenen Möbel herbringen. Als Nächstes kommt das Badezimmer dran, dann die Küche. Damit werde ich bestimmt auch allein fertig.“

„Musst du nicht“, sagte Alea. „Wir helfen dir natürlich gern.“

„Vor allem, wenn es wieder so leckere Schnitzel gibt“, setzte Heiko grinsend hinzu. Er hatte gleich zwei Stück verdrückt.

Inka lachte. „Oh, macht euch keine Sorgen! Spätestens beim Wohnzimmer werde ich eure Hilfe bestimmt wieder brauchen können. Genießt die Zeit, in der ich allein klarkomme.“

„Aber du meldest dich, wenn du uns brauchst!“

„Mach ich, Alea. Jetzt seht zu, dass ihr nach Hause zu eurem süßen Yannik kommt. Bis bald!“

„Bis bald und viel Spaß in deiner ersten Nacht hier in deinem neuen Zuhause.“

„Danke.“

Bevor Inka zum Haus ihrer Mutter aufbrach, um dort zu übernachten, ging sie langsam einmal durchs Haus und betrachtete alles. Sie konnte immer noch nicht begreifen, dass all das jetzt ihr gehörte. Okay, jedenfalls, sobald die Änderungen des Grundbuchs vorgenommen waren.

Ihr Blick fiel durch die Terrassentür nach draußen. Klar, das Innere des Hauses war im Moment wichtiger als der Garten. Trotzdem fehlte hier etwas – Farbe. Es war gerade erst Frühlingsanfang, und außer den unerschrockenen Schneeglöckchen und Krokussen wirkte alles sehr kahl. Sie würde dafür sorgen, dass sich daran schnell etwas änderte.

Kapitel 6

„Ich fahre nach Sankt Peter-Ording“, erklärte sie ihrer Mutter am folgenden Morgen beim Frühstück. „Möchtest du mitkommen?“

„Was willst du denn da?“

„Erst mal kurz an den Strand gucken. Dann will ich mich im Baumarkt mal inspirieren lassen, welche Wandfarben mir gefallen. Vor allem möchte ich in der Gärtnerei einige Blumen für den Garten und die Fensterbänke kaufen. Hier fehlt Farbe.“

„Du kannst es ja gar nicht erwarten! Die Ungeduld hast du von deiner Tante. Tja, ich würde gern mitkommen, aber ich bin heute mit Hiltrud verabredet.“ Das war Mamas beste Freundin.

„Ach so. Okay, vielleicht ja beim nächsten Mal. Dann fahre ich allein los.“

„Nächstes Mal komme ich bestimmt mit.“ Ihre Mutter räusperte sich. „Und du bist wirklich sicher, dass du hinfahren willst? Allein? Du weißt schon, was ich meine … Bist du schon soweit?“

Inka lächelte zuversichtlich. „Ja, ich bin ganz sicher. Es ist nicht mehr so wie während der ersten Jahre, als ich mich nur mit Magenschmerzen her traute und kaum dein Haus verließ.“

„Alles wegen dieser verdammten Arschlöcher!“

„Mama!“

Sie sahen sich an, und dann lachten sie. Die Anspannung löste sich wie ein Gewitterregen.

Ihre Mutter lächelte glücklich. „Jetzt wird endlich alles wieder gut. Es ist nur traurig, dass Astrid das nicht mehr miterleben kann. Sie hätte sich ebenso gefreut wie ich.“

„Ich bin mir sicher, dass sie es mitbekommt, Mama.“ Inka lächelte ihre Mutter liebevoll an und schloss sie in die Arme. Für einen Moment genoss sie einfach nur das wunderbare Gefühl, ihr endlich wieder nahe zu sein. Schließlich löste sie sich von ihr. „Ich mach mich dann mal auf den Weg.“

„Viel Spaß! Such etwas Schönes aus.“

„Mach ich. Bis später.“

Inka genoss die Fahrt nach Sankt Peter-Ording in vollen Zügen, auch wenn der Ort widersprüchliche Gefühle in ihr weckte. Sie liebte den endlosen Strand, die vielen Geschäfte, Cafés und Restaurants. Aber sie hasste die Erinnerung an die Schule und besonders an all die schlimmen Vorfälle, die untrennbar damit verbunden waren. Entschlossen schob sie die unangenehmen Bilder beiseite. Ab sofort wollte sie nur noch das Schöne sehen.

Ihr erster Weg führte sie durch den Ort zum Strand. Sobald sie aus dem Auto stieg, begrüßte sie der nach Salz duftende Seewind, der wie eine zärtliche Hand durch ihr Haar fuhr. Ihre Lungen weiteten sich, und schon lief sie los, dem Meer entgegen. Möwen segelten auf den Böen und sahen neugierig zu ihr herunter. Die Weite, die sich vor Inka öffnete, war schier unendlich. Weißer Sand, so weit das Auge blicken konnte. Sofort fühlte sie sich frei und leicht. Hier gab es nichts, was sie einengte oder bedrückte. Glückstrahlend breitete sie die Arme aus. Sie schloss die Augen und genoss die Sonne auf ihrer Haut und den Meeresduft in ihrer Nase.

Natürlich hatte es all das auch auf Sylt gegeben, wenngleich dieser Strand wesentlich breiter war. Mit zwei Kilometern konnte es selbst das strandverwöhnte Sylt nicht aufnehmen. Aber das war es nicht, was ihr Herz vor Glück überschäumen ließ. Viel mehr war es das Gefühl, dass sie heimgekehrt war, zurück zu ihren Wurzeln. An den Ort, an dem sie schon als kleines Kind gespielt hatte. An den Ort, an den sich jede Zelle ihres Körpers erinnerte.

Sie lief, bis sich direkt vor ihr die Nordsee erstreckte. Die Sonne schien, und die Wellen, die heranrauschten, trugen weiße Kronen aus Schaum.

Zu dieser Jahreszeit waren noch nicht viele Menschen hier. Inka hatte die unendliche Weite aus Sand und Dünen fast für sich allein. Und sie genoss den herrlichen Anblick des glitzernden Meeres, den Klang der Brandung, die sehnsüchtigen Schreie der Möwen und die Sonnenstrahlen in vollen Zügen und mit allen Sinnen.

Es fiel ihr schwer, sich irgendwann abzuwenden und zum Auto zurückzugehen. Aber sie hatte ja noch einiges zu erledigen.

Zuerst fuhr sie zum Baumarkt, der ein Stück außerhalb des Ortes lag. Dort steuerte sie die Farbenabteilung an. Die Auswahl war enorm. Sie stellte sich das Schlafzimmer in mintgrün, korallenrot oder himmelblau vor. Schließlich entschied sie sich aber für einen warmen Mokka-Ton. Dazu würden ihre schwarzen Möbel wunderbar aussehen. Zwei Wände wollte sie damit streichen, die beiden anderen in Weiß.

Nachdem das erledigt war, fuhr sie zu einer Gärtnerei. Darauf freute sie sich schon die ganze Zeit. Gartenparadies versprachen die großen Lettern über dem Eingang. Das klang ja verheißungsvoll.

Entspannt schlenderte sie durch die Abteilung mit den Zimmerpflanzen. Für das Schlafzimmer wollte sie vorerst mit zwei Einblättern beginnen. Weiter ging es zu den Balkon- und Kübelpflanzen. Inka entschied sich für rosafarbene Geranien, gelbes Mädchenauge und lilafarbene Glockenblumen, für die sie zwei große Kübel sowie ein paar Säcke Blumenerde kaufte. Zu guter Letzt ging sie durch die Gartenabteilung. In Tante Astrids Garten befanden sich ein paar nicht mehr schöne Koniferen. Da musste sie sich etwas einfallen lassen. Sie waren allerdings sehr groß. Allein würde sie es kaum schaffen, sie herauszureißen.

„Kann ich Ihnen helfen?“, riss eine Stimme sie aus ihren Überlegungen. Eine Verkäuferin in grüner Schürze lächelte sie freundlich an.

„Ja, ich glaube, das können Sie tatsächlich. Ich habe ein paar relativ große Koniferen im Garten, die zum Teil bereits braun geworden sind. Die möchte ich gerne entfernen und dafür etwas anderes pflanzen. Ist es vielleicht möglich, die Entfernung von Ihnen vornehmen zu lassen? Mir fehlen leider die dafür nötigen Gerätschaften.“

„Warten Sie bitte einen Moment, ich gehe den Chef holen. Der kann Ihnen sagen, wie er Ihnen am besten helfen kann.“

„Vielen Dank.“

Die junge Frau entfernte sich rasch, und Inka betrachtete währenddessen Obstbäume, Zierkirschen, Flieder und andere Gewächse. Vor ihrem inneren Auge sah sie den Garten bereits üppig in allen Farben erstrahlen.

„Sie möchten Ihren Garten umdekorieren?“, sprach jemand sie von hinten an.

Inka fuhr herum. Schon bevor sie den Mann sah, wusste sie, wer er war. Seine Stimme hatte sich ebenso wie die der drei anderen seit damals unlöschbar in ihr Gedächtnis eingebrannt. Sie klang nach all den Jahren etwas dunkler und tiefer, aber das Timbre war immer noch dasselbe.

Jan Ehlers stand vor ihr und lächelte geschäftstüchtig. Nichts in seinem Gesicht wies darauf hin, dass er sich daran erinnerte, wer sie war.

Okay, wie sollte er das auch? Äußerlich hatte sie nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem blonden, dünnen Mädchen von damals.

Das konnte ja wohl nicht wahr sein, oder? Da hatte sie sich gerade erst dazu entschlossen, in ihre Heimat zurückzukehren, um bei ihrer Mutter zu sein und den letzten Wunsch ihrer Tante zu erfüllen, und schon trieb der Zufall so ein übles Spiel mit ihr.

„Ja“, brachte sie mühsam heraus. Plötzlich sah sie wieder vor sich, wie Jan sie mit seinen Freunden umringte, ihr die Mütze vom Kopf riss und seinen Kumpels zuwarf. Während sie hinsprang, um sie zurückzubekommen, wurde sie ausgelacht und verhöhnt.

Inkas erster Impuls war, sich umzudrehen und einfach zu gehen, so schnell wie möglich; aus Jans Reichweite verschwinden, ehe sich sein Gesicht zu einem hämischen Grinsen verzog und er sagen würde: „Ach, sieh an, da ist ja Inka Versinka. Wo sie ist, da stinkt’s ja.“

Der zweite war, zu ihm zu treten und ihm eine gesalzene Ohrfeige zu verpassen. Oder gleich einen Arschtritt. Jan Ehlers, dem fehlt was! Dämlich ist sein Schopf, nichts ist in seinem Kopf.

Der Gedanke half. Beide Impulse verschwanden so schnell, wie sie aufgetaucht waren. Jan Ehlers war von allen Missetätern noch der Harmloseste gewesen. Trotzdem hatte sie ihn damals gehasst und sich gewünscht, ihm nie wieder über den Weg zu laufen. Jetzt war es doch passiert, und sie dachte an die Worte ihrer Tante im Brief. Auf deren Vorschlag hin streckte sie ihren Rücken durch und sah Jan in die Augen, mit unbewegter Miene. Es fiel ihr leichter als gedacht. Alles, was sie spürte, war Ärger. Alter Groll, der nun erneut aufloderte.

Neugierig und zugleich offenbar verwirrt betrachtete Jan sie, als sie nichts weiter sagte, und wartete geduldig auf ihre Ausführungen. Im Gegensatz zu ihr hatte er sich äußerlich seit damals kaum verändert. Seine Figur war etwas fülliger geworden, um die Augen herum und auf der Stirn zeigten sich ein paar Fältchen, aber sein blondes Haar war immer noch voll und fiel ihm verwegen in die Stirn.

Ein gut aussehender Mann – ohne Zweifel.

Mit einer rabenschwarzen Seele!

„Das ist wunderbar“, sagte er schließlich mit geschäftstüchtigem Lächeln. „Da sind Sie hier bei uns genau richtig. Wir erfüllen Ihnen jeden Wunsch.“

Lös dich in Luft auf, dachte sie.

„Daran habe ich so meine Zweifel“, erklärte sie grimmig und wandte sich zum Gehen. Ausgerechnet ihm würde sie ganz bestimmt kein Geld in den Rachen werfen. Keinen einzigen Cent!

Vielleicht sollte sie ihm erklären, dass sie lieber am anderen Ende der Welt einkaufen würde als bei ihm. Dass er sich seine Blumen und Büsche an den Hut stecken konnte. Dass er an seiner Gartenerde ersticken sollte! Sein Gesicht bei diesen Worten würde sie zu gern sehen. Ob dann bei ihm endlich der Groschen fiel, wer sie war?

„Warum denn nicht? Bitte urteilen Sie nicht vorschnell“, erwiderte er stattdessen freundlich.

Für einen winzigen Moment hatte Inka das Gefühl, er hätte sie durchschaut. „Das dürfte diverse Nummern zu groß für Sie sein“, erklärte sie und drehte sich erneut um.

„Wollen Sie mir nicht eine Chance geben?“, warf er ein.

Inka blieb unbeweglich stehen. Abermals dachte sie, er meinte gar nicht die jetzige Situation, sondern wäre wie sie wieder in der Vergangenheit gelandet.

„Erklären Sie mir doch Ihr Problem“, sprach er weiter, als sie nichts sagte. „Bisher haben wir noch alles zur Zufriedenheit unserer Kunden hinbekommen. Worum geht es denn?“

Langsam drehte sich Inka erneut zu ihm um. Zuvorkommend lächelnd stand er da. Damals hätte sein Anblick einen sofortigen Fluchtreflex in ihr ausgelöst. Doch die Zeit hatte ihr dabei geholfen, dass diese Gefühle ein für alle Mal vorbei waren. Dieser Mann würde sie nie wieder verunsichern. Er würde ihr nicht mehr den Rock hochreißen und sich mit seinen Freunden darüber kaputt lachen.

Wäre es nicht unterhaltsam, den Spieß umzudrehen und ihn ihrerseits etwas zu piesacken? Wenn ihm sein Job lieb wäre, wie viel würde er sich wohl von ihr gefallen lassen? Auch für sie wäre das ein guter Test, um zu sehen, ob sie die Hänseleien von damals tatsächlich hinter sich gelassen und verarbeitet hatte. Man sollte sich seinen Dämonen doch stellen, oder? Geflohen war sie lange genug.

„Also gut“, begann sie. „Ich habe in meinem Garten ein paar unschön gewordene Koniferen. Die sollen weg.“ Die letzten Worte betonte sie hart und dachte dabei an ihre jugendlichen Erzfeinde.

Erschrocken starrte Jan sie an. „Oh, das ist sicherlich machbar“, sagte er vorsichtig.

Seine Irritation tat ihr gut. „Stattdessen möchte ich etwas Neues, Frisches. Vielleicht ein paar blühende Bäume und Büsche. Was meinen Sie? Kriegen Sie das hin oder muss ich bei Ihrer Konkurrenz anfragen?“

Jans Lächeln war unsicher und zugleich interessiert. In diesem Moment erinnerte nichts mehr an den frechen Jungen von damals.

Vielleicht hatte nicht nur sie sich verändert, sondern auch er? Innerlich schüttelte sie den Kopf. Quatsch. Er wollte einfach nur ein gutes Geschäft machen und sich mit seiner potenziellen Kundin gut stellen.

„Selbstverständlich kriegen wir das hin. Das hört sich nach einem sehr guten Plan an“, gab er zurück. Plötzlich grinste er, und nun war in seinen Zügen doch ein wenig des Jungen von damals wiederzuerkennen.

Wusste er, wer sie war? Unwillkürlich spannte Inka die Muskeln an. Fast wünschte sie es sich, damit sie ihm endlich all ihre Verachtung an den Kopf schmeißen konnte.

„Bisher sehe ich nicht, warum diese Sache eine Nummer zu groß für uns sein soll“, fuhr er fort. Nein, sein Grinsen wirkte nicht gemein wie damals, sondern auf sympathische Weise belustigt. Und es war auch vielmehr ein Schmunzeln. Das er jetzt zusätzlich mit einem Zwinkern unterlegte! „Bitte unterschätzen Sie nicht unsere Kompetenz.“

Inka beschloss, auf dieses Spiel einzugehen. Nur, dass es nach ihren Regeln ablaufen würde. „Also gut. Die Koniferen sind von erheblicher Größe, es sind vier Stück. Sie stehen schon seit einer Ewigkeit an Ort und Stelle, und ich habe keine Ahnung, wie tief die Wurzeln sind.“

Immer noch schmunzelnd hob Jan eine Augenbraue. „Das nennen Sie ein Problem? Wenn Sie es in unsere Hände legen, ist es in Nullkommanichts erledigt. Und da es Ihnen sehr am Herzen zu liegen scheint, übernehme ich diese schwere Aufgabe gern persönlich für Sie.“

Wieder lag da dieser Spott in seinen Augen. Doch seltsamerweise wirkte er dieses Mal nicht verletzend, so wie damals, sondern sympathisch. Er versuchte, sie auf seine Seite zu ziehen, ein Team mit ihr zu bilden.

Okay, das konnte er haben. Sie würde ein Team bilden und mit ihm zusammenarbeiten. Aber es würde alles andere als angenehm für ihn werden. Sie würde es ihm denkbar schwer machen und beobachten, wie er mit dem Stress umging. Und sobald er in alte Muster zurückfiel, würde sie ihm an den Kopf knallen, wer sie war.

„Also gut. Ich nehme an, dass Sie sehr ausgebucht sind. Tja, die Sache ist sehr eilig.“ Das stimmte nicht. Inka hatte andere Prioritäten, aber sie wollte ihn auf die Probe stellen. Sie zuckte mit den Schultern und setzte ein entschuldigendes Lächeln auf. „Deshalb kann ich mich leider von Ihren gewiss herausragenden Fähigkeiten nicht überzeugen. Ich möchte das Ganze gern morgen schon erledigt haben.“ Innerlich kicherte sie. Dieses Zeitfenster war geradezu dreist. Auf keinen Fall konnte er das …

„In Ordnung“, erwiderte er.

„Was?“, fragte sie überrascht. „Haben Sie denn keine anderen Aufträge?“

„Doch, eine ganze Menge sogar.“

„Hören Sie, Sie müssen mich nicht dazwischenschieben und dafür Ihre anderen Kunden versetzen. Das kann ich nicht annehmen.“

„Mach ich auch nicht, keine Sorge. Ich habe einige Angestellte, die zu den anderen Kunden fahren. Aber Sie haben mich herausgefordert. Deshalb mache ich Ihren Auftrag zur Chefsache.“

„Oh.“ Sie war perplex. Er hatte es tatsächlich geschafft, sie sprachlos zu machen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Dieser Punkt ging an ihn.

„Was passiert, wenn ich trotz Ihrer hervorragenden Arbeit etwas zu bemängeln haben sollte?“, erkundigte sie sich. „Ich habe sehr genaue Vorstellungen.“

„Das wird sicherlich nicht passieren. Sollte es dennoch der Fall sein, erledigen wir selbstverständlich die Nachbesserung für Sie. Solange, bis Sie rundum zufrieden sind.“

„Auf meine Kosten?“

Jan schüttelte den Kopf. „Sie missverstehen mich. Unsere Kundenzufriedenheit steht für uns an erster Stelle. Deshalb müssen Sie sich um die Kosten für eine eventuelle Nachbesserung keine Sorgen machen. Der Fehler läge ja an uns, also kommen wir auch dafür auf. Aber wie ich schon sagte, wird das ohnehin nicht der Fall sein. Wir legen großen Wert auf höchste Qualität.“

Die Sache begann Inka Spaß zu machen. „Also gut, versuchen wir es. Was halten Sie von morgen früh acht Uhr?“, schlug sie vor. „Oder ist Ihnen das zu früh?“

Wieder war da dieser Spott in seinen Augen. So, als hätte er sie längst durchschaut. „Nein, es passt perfekt. Wo soll ich hinkommen?“

„Nach Frederbüll. Das ist nicht gerade um die Ecke. Okay, vergessen Sie es, ich finde auch jemanden in der Nähe, den ich …“

„Auf keinen Fall! Auftrag ist Auftrag. So weit ist das nun auch wieder nicht weg. Nennen Sie mir Ihren Namen und die Adresse?“

„Es geht um den Garten von Frau Wiegers, Ahornweg 7 in Frederbüll. Mein Name ist Schmetjens.“

Ihren Vornamen ließ Inka bewusst weg. Der war in der Gegend zwar nicht so selten, aber möglicherweise machte es trotzdem Klick, wenn er ihn hörte. Was ihren Nachnamen betraf, so trug sie immer noch ihren Namen aus der Ehe mit Stefan. Den kannte Jan Ehlers nicht. Denn erkennen sollte er sie jetzt schon auf keinen Fall. Er sollte ruhig vorerst in völliger Unwissenheit bei ihr schuften.

„Gut, Frau Schmetjens. Dann sehen wir uns morgen um acht.“ Damit hielt er ihr die Hand hin.

Zögernd schlug Inka ein. Wer hätte gedacht, dass sie ihn mal freiwillig berühren würde?

Als sie in ihr Auto stieg und nach Hause zurückfuhr, war sie verwundert über sich selbst. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?

Sie ließ ihren einstigen Feind freiwillig in ihr Haus!