Eins
Mittwoch, 9. März 1814 – King Street, London
Martin Reynolds trat auf der Stelle und rieb sich die behandschuhten Hände. Sein Atem zauberte weiße Wölkchen in die Nachtluft, und trotz des wollenen Garrick-Mantels war es erbärmlich kalt. Eine Fahrt noch, dann würde er Feierabend machen und sich zuhause vor dem Ofen die vereisten Glieder wärmen.
»Verrücktes Wetter!«, fluchte er, und sein Kollege, dessen Droschke hinter der seinen wartete, murmelte Zustimmung. Der Frost hatte England seit Ende Dezember fest in den klammen Fingern und wollte dem Frühling nicht weichen. Anfang Februar war die Themse so fest zugefroren gewesen, dass ein viertägiger Frostjahrmarkt auf dem Eis gefeiert worden war. Unterhalb der Blackfriars Bridge hatte man sogar einen Elefanten über das Eis geführt. Auch jetzt im März war es nicht wärmer geworden.
Reynolds hob erwartungsvoll den Kopf, als sich die Türen öffneten und er vom Eingang her laute Stimmen vernahm. Offenbar gab es ein kleines Handgemenge, und dann erschien in Begleitung zweier Angestellter des Clubs ein Gentleman in einem modischen blauen Reitermantel und hohem schwarzem Wellingtonhut. Gesprächsfetzen wehten zu Reynolds herüber.
»… keinen Tropfen! Das habe ich Ihnen doch schon mehrfach gesagt.«
Dabei klang der Mann alles andere als nüchtern. Reynolds’ Kollege zog die Schultern hoch und grinste.
»Deine Fuhre! Den überlasse ich dir gern, Kumpel.«
»Lach du nur. Dafür bin ich schneller wieder daheim und wärm’ mir den Hintern am Feuer!« Reynolds lachte und öffnete den Schlag.
Hinter dem schwankenden Herrn tauchte nun ein weiterer Gentleman in dunklem Pelerinenmantel und Biberhut auf, der Reynolds einige Münzen in die Manteltasche steckte und zur Bekräftigung daraufklopfte. »Seien Sie so gut, und bringen Sie meinen Freund in die Harley Street, Nummer 51, Seymour House. Aber diskret, bitte. Ich möchte einen Skandal vermeiden. Sehr verbunden.«
Er überließ Martin Reynolds den Fahrgast und verschwand in der Menge.
»Kommen Sie, Sir, ich helfe Ihnen.« Er fasste den Herrn leicht am Ellenbogen und dirigierte ihn zum Einstieg der Kutsche.
»Fassen Sie mich nicht an, Mann!« Der Gentleman schwang herum, um Reynolds beiseite zu stoßen. Doch er verlor dabei fast das Gleichgewicht, und der Droschkenkutscher musste ihn stützen.
»Ich sagte, Sie sollen mich loslassen, Sie Trottel! Ich will sofort wieder hinein. Ich lasse mich doch nicht einfach vor die Tür setzen.«
Reynolds seufzte und knirschte mit den Zähnen. Nur nicht unhöflich werden zu den feinen Herrschaften, egal wie unmöglich die sich aufführten.
»Sir, wir bitten Sie noch einmal höflich zu gehen, sonst müssen wir einen Konstabler bemühen«, sprang nun einer der livrierten Angestellten Reynolds bei.
»Idioten! Gelumpe!«, stieß der Gentleman im blauen Mantel hervor, ließ sich dann aber doch von Reynolds in die Kutsche helfen.
Es kam nicht selten vor, dass Reynolds renitente Herren fahren musste, die zu tief ins Glas geschaut hatten, doch vor dem renommierten Almack’s Club hatte er heute Abend nicht damit gerechnet. Schließlich wurde Alkohol dort aus Prinzip nicht ausgeschenkt. Darüber wachten die gestrengen Patronessen mit Argusaugen.
Mussten verflucht traurige und steife Veranstaltungen sein, so ohne einen anständigen Tropfen, dachte Reynolds. Kein Wunder also, dass so mancher Gentleman die Gelegenheit nutzte, bereits vor dem Besuch bei Almack’s zu zechen. Dieser Geselle hier schien es allerdings übertrieben zu haben, was vermutlich der Grund für seinen Rauswurf war. Na ja, ihm sollte es recht sein. Verrückte feine Pinkel! Auf die Art und Weise kam er wenigstens schneller ins Warme. Er schüttelte den Kopf, band die Pferde los und kletterte auf den Kutschbock.
Er schnalzte kurz mit der Zunge und ließ die Peitsche knallen, dann rumpelte seine Droschke in die eiskalte Märznacht.
Reynolds bog in die Duke Street ein. Sein Weg führte ihn über Piccadilly und Bond Street nordwärts in Richtung Regent’s Park. Nicht einmal eine Viertelstunde später erreichte er sein Ziel. Die Kälte war ihm in die Knochen gekrochen, und trotz des Schals fühlte sich sein Gesicht an wie zu einer Maske erstarrt. Doch das warme Herdfeuer und der wohlverdiente Feierabend waren nun in greifbare Nähe gerückt. Als er vom Bock kletterte, sah er bereits einen livrierten Diener auf die Kutsche zueilen. Der Schlag wurde geöffnet. Als sich nichts regte, steckte der Diener den Kopf ins Innere der Kutsche.
»Mr Seymour? Sir?«
Reynolds sah, wie der Diener auf den Tritt stieg. Ungeduldig rieb er die Hände zusammen. Offenbar war sein Fahrgast eingeschlafen.
»Mr Seymour? Sir, wachen Sie auf.«
Eine Weile ging es so weiter. Dann Stille. Darauf plötzlich ein Schrei.
»O Gott! Blut! Das ist Blut! Er ist tot!«
Reynolds fuhr zusammen. Hatte er sich verhört? Blut? Aber wie konnte so etwas sein? Er griff die Laterne vom Bock und machte einen unsicheren Schritt auf die Kutsche zu, als der Diener bereits heraustaumelte. Martin Reynolds schlug die Hand vor den Mund. »Guter Gott, Sie sehen ja fürchterlich aus, Mann!«
Reynolds machte einen Schritt auf ihn zu, doch der Mann wandte sich ab und hob abwehrend die Hände.
»Rühren Sie mich nicht an, Sie Ungeheuer! Sie haben Mr Seymour umgebracht!« Laut hallte die Stimme des Dieners von den Häuserfassaden wider.
»Aber, ich verstehe nicht …«, stammelte Reynolds. Doch der Mann in der Livree rief laut um Hilfe und lief kopflos in Richtung Dienstboteneingang davon.
Reynolds umklammerte den Griff der Laterne und öffnete den Schlag. Die flackernde Lichtquelle über den Kopf gehoben, setzte er einen zittrigen Fuß auf den Tritt und spähte ins Innere. Der süßliche Messinggeruch, der ihm entgegenschlug, war überwältigend. Reynolds schluckte und hielt die Laterne höher, um etwas erkennen zu können. Schlaff hing Seymour in seinem Sitz. Der Oberkörper war zur Seite gesunken und lehnte gegen die Seitenwand. Mitten auf seiner Brust sah Reynolds einen dunklen Fleck. Dort war der Stoff des Mantels zerfetzt und durch das Loch konnte man den darunterliegenden Stoff des Hemdes sehen – vollkommen rot getränkt. Für einen Moment hatte er das Gefühl, sein Herz habe vergessen zu schlagen.
Gedanken rasten durch seinen Kopf. Wer konnte seinen Fahrgast angegriffen und tödlich verletzt haben? Der Gentleman war allein in der Kutsche gewesen – und sie hatten nirgends gehalten. Offenbar war er erstochen worden, doch wo war die Waffe? Hatte der Diener sie mitgenommen? Nein, der hatte nichts in den Händen gehabt. Im Lampenschein konnte er Seymours Gesicht erkennen. Es sah erstaunlich rosig aus. Wären nicht die unnatürliche Pose und das Blut gewesen, hätte man meinen können, er schliefe. Auch seine entspannten Züge ließen nicht auf einen Angriff schließen.
Hinter sich hörte Reynolds vielstimmiges Rufen und eilige Schritte, die auf dem Pflaster hallten. Er wollte die Lampe herunternehmen und aus der Kutsche klettern, als ihr Schein etwas Ungewöhnliches erfasste. Er runzelte die Stirn. Unterhalb des Blutflecks, auf der Brust des Toten, lag etwas. Reynolds griff danach. Mit spitzen Fingern hob er es auf und drehte es, um es zu betrachten. Es war irgendeine Art von Zweig. Die kräftigen, glänzenden Blätter erinnerten an Lorbeer. Doch die weißen Blüten sahen keiner Pflanze ähnlich, die Reynolds je gesehen hatte. Gerade als er den Zweig wieder ablegen wollte, wurde der Schlag weiter aufgerissen. Kräftige Arme packten den verdatterten Droschkenkutscher und zerrten ihn aus dem Fond.
»Das ist der Bursche! Der hat ihn auf dem Gewissen. Lasst ihn nicht entkommen!«
Zwei
Montag, 14. März 1814 – Stadthaus von Lord und Lady Beresford am Grosvenor Square, London
»O Archie, will denn der Frühling dieses Jahr überhaupt nicht mehr kommen?«
Dorothy Lady Beresford stand am Fenster und warf einen wehmütigen Blick auf die Bäume und Sträucher, die in ihrem Frostgewand kaum vermuten ließen, dass es bereits März war.
»Zuerst dieser fürchterliche Nebel um die Weihnachtstage und seit Januar diese Kälte! Als ob sich alles verschworen hätte, mir die Freude an London zu verderben. Man mag ja kaum vor die Tür gehen, geschweige denn eine Ausfahrt im Park wagen.«
Lord Beresford ergriff beide Hände seiner Gattin und küsste sie liebevoll.
»Wenn ich könnte, würde ich die Sonne nur für dich strahlen lassen, mein Juwel. Doch leider liegt die Gestaltung des Wetters außerhalb meines Einflussbereichs.«
»Ach, du nun wieder!« Lady Beresford lachte laut und knuffte ihren Gatten wenig damenhaft in die Seite. Immerhin hatte dieser scherzhafte Austausch ihre Laune umgehend gebessert, was allerdings keine große Leistung war, denn Dorothy of Beresford neigte nicht gerade zur Melancholie. Die Marchioness hatte ein sonniges Gemüt. Das spiegelte sich in ihrem gesamten Erscheinungsbild wider, von den goldblonden Locken über ihre strahlend blauen Augen, bis hin zu ihren, von einer gewissen Liebe zu weltlichen Genüssen zeugenden, weiblichen Rundungen.
Letztere hatte die Natur allerdings vorteilhaft zu verteilen gewusst, so dass Dorothy of Beresford – oder Dotty, wie Verwandte und Freunde sie zu nennen pflegten – auch mit mittlerweile vierunddreißig Jahren noch die Blicke auf sich zog.
Ihrem unverstellt fröhlichen Wesen und dieser natürlichen Schönheit war es zu danken, dass Dotty nach einer Zeit der Schicksalsschläge recht spät im Leben noch ihr Glück in der Ehe mit seiner Lordschaft, dem Marquess, gefunden hatte. Er stand zwar im gesellschaftlichen Rang weit über ihr, doch ihre Verbindung mit Archibald of Beresford war eines jener Bündnisse, die im Himmel geschmiedet worden sein mussten. Das jedenfalls behauptete Dotty.
»Ah! Heiße Schokolade! Wilkins, Sie sind ein wahres Wunder«, rief die Marchioness erfreut, als das Frühstück serviert wurde. »Nichts weckt die Lebensgeister und wärmt das Herz schneller als eine Tasse heiße Schokolade.«
Der Anflug eines Lächelns erschien auf dem Gesicht des Butlers, als er sich verneigte.
»Vielen Dank, Mylady. Man tut, was man kann.«
Lady Beresford lächelte Wilkins zu und setzte sich. Es war ungewöhnlich, dass sie und Archibald gemeinsam frühstückten. Viele adlige Ehepaare waren froh, einander so wenig wie möglich begegnen zu müssen, und die Gentlemen nahmen das Frühstück in ihrem Arbeitszimmer ein. Lord und Lady Beresford jedoch genossen die gemeinsame Zeit am Morgen und am Abend, wenn sie zum Dinner beisammensaßen. Dorothy nahm ein Brötchen, bestrich es mit Butter und Marmelade, während der Marquess zur Zeitung griff, die der Butler bereitgelegt hatte.
»Ich weiß nicht, was schlimmer ist: die Kälte oder die Gefangenschaft, die sie mit sich bringt.«, sinnierte Dotty. »Deshalb habe ich beschlossen, heute dem Frost zu trotzen und tapfer meinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen.«
Lord Beresford senkte die Zeitung und schenkte seiner Frau ein wissendes Lächeln.
»Sprich, die Langeweile siegt über dein Bedürfnis nach Behaglichkeit und Wärme.«
»Mach dich nicht lustig über mich. Du hast leicht reden. Manchmal wünschte ich mir, ein Mann zu sein.«
Lord Beresford zog die Augenbrauen hoch.
»Ein Mann? Aber warum das denn, mein Täubchen?«
»Nun, ich bin der Überzeugung, dass ihr das weit aufregendere Leben habt. Ihr geht hinaus in die Welt, ihr bestimmt die Politik – und damit den Lauf der Geschichte. Das männliche Leben bietet, so scheint mir, mehr Abenteuer, mehr Gravitas. Das Leben einer Frau kreist einzig um die Pflege sozialer Kontakte, die Leitung eines Haushalts und Handarbeit.«
Archibald Beresford faltete seine Zeitung zusammen und legte sie beiseite. Lächelnd ergriff er die Hand seiner Gattin.
»Ich verrate dir ein Geheimnis, meine Liebe. Es gibt auf dieser Welt nichts Langweiligeres als eine Parlamentssitzung. Endlose Reden, viel Geschwafel und wenig Ergebnis.«
Dorothy lachte.
»Du übertreibst. Und doch würde ich gerne einmal Mäuschen spielen, vor allem in den Clubs in St James’s. Ich würde Karten spielen, dicke Zigarren rauchen, kluge Gespräche führen und Brandy trinken. Vielleicht gibt es auch einen handfesten Streit oder eine Rauferei mit aufgekrempelten Hemdsärmeln! Ach, ich stelle mir das aufregend vor!« Sie schlug die Hand vor den Mund. »Herrje, war es ungehörig von mir, so etwas zu sagen?«
Archibald zwinkerte Dotty zu und drückte ihre Hand.
»Das war es, Täubchen, aber wir werden es niemandem verraten. Ich für meinen Teil bin froh, dass du kein Mann geworden bist. Im Übrigen ist die Wahrheit weit weniger aufregend als deine Vorstellung.« Er zog die Hand seiner Gattin an die Lippen und küsste sie sanft.
»Das sagt ihr Gentlemen, um unsere Neugier zu besänftigen. Ihr gaukelt uns vor, es sei alles schrecklich uninteressant, um die Wahrheit zu verschleiern. Ich bleibe dabei – als Mann hätte ich das aufregendere Leben«, konterte Lady Beresford mit einem schalkhaften Lächeln.
»Dabei vergisst du, welchen wichtigen Beitrag ihr Frauen zum Erhalt der Kultur, der Gesellschaft und überhaupt der gesamten Menschheit leistet. Was wären wir ohne euch? Die Menschheit würde noch immer in Höhlen hausen, gäbe es nicht eure ordnende Hand und Erziehung zur Tugend.«
Lady Beresford schmunzelte.
»Wenn du es sagst. Dann werde ich jetzt meine ordnende Hand und weiblichen Tugenden der gehobenen Gesellschaft Londons andienen und meine dringend nötigen Besuche nicht länger aufschieben.«
Nach dem Luncheon ließ sich Lady Beresford den pelzverbrämten Mantel, den wärmenden Muff und die neue Samttoque mit den Federn und dem Pelzbesatz bringen. Wie sehnte Dotty die Zeit herbei, in der man nur mit einer leichten Stola im offenen Wagen durch den Hyde Park würde fahren können.
»Herrje, Reynolds! Passen Sie doch auf!«, herrschte sie ihre Kammerdienerin an, als die gerade die Toque mit Hutnadeln auf der aufwändigen Coiffure befestigte. »Schon beim Anziehen haben Sie mich zweimal gepikt. Man könnte meinen, Sie haben es auf mich abgesehen. Habe ich Ihnen etwas getan?«
Zu ihrem Entsetzen schluchzte die Gute hörbar auf und rang die Hände.
»Bitte verzeihen Sie, Mylady! Es tut mir furchtbar leid. Ich bin nur … ich fürchte, ich bin nicht recht bei der Sache.« Mit dem Handrücken wischte sie eilig zwei kleine Tränen von ihrer Wange.
Lady Beresford runzelte die Stirn. Reynolds hatte seit Jahren ohne zu klagen ihren Dienst getan. Es bestürzte die Dame des Hauses, diese treue Seele mit ihrer Unbeherrschtheit zum Weinen gebracht zu haben.
»Nein, Sie müssen mir verzeihen, Reynolds«, beruhigte sie die Angestellte. Kurzerhand schlüpfte Dorothy wieder aus dem Mantel. »Die gehobene Gesellschaft wird noch einen Tag auf meine ordnende Hand verzichten können. Ich werde keine Ruhe finden, bis Sie mir erzählt haben, was Ihnen auf der Seele liegt. Es ist unverzeihlich, dass ich Sie mit meiner Ungeduld heute Morgen so getroffen habe.«
»Ich habe ja auch keinen Grund zur Klage, Mylady. Sie und seine Lordschaft sind immer gut zu mir.« Wieder schluchzte Miss Reynolds auf, und ihr war anzusehen, dass sie nur mit Mühe weitere Tränen unterdrückte.
»Sie werden mir jetzt auf der Stelle in den privaten Salon folgen. Wilkins soll uns Tee bringen, und dann erzählen Sie mir, was Sie bedrückt. Ich wäre untröstlich, sollten ich oder etwas, das ich sagte, der Grund für Ihren Kummer sein.«
»O nein, Mylady! Nein! Das dürfen Sie nicht denken«, wehrte Reynolds ab. »Es ist wegen … es ist wegen meines Bruders.«
Vier
Montag, 14. März 1814 – Bow Street, London
Sir William Domville empfing Lady Beresford in seinem Arbeitszimmer. Er war eine Ehrfurcht gebietende Erscheinung von kräftiger Statur. Von den altmodischen schwarzen Schnallenschuhen über die Kniebundhosen bis hin zu der gepuderten Perücke, wirkte er wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit und strahlte die Weisheit des Alters und die Würde seines Amtes aus.
Die Verbeugung, mit der er Lady Beresford begrüßte, wirkte ebenso steif wie der Ärmelaufschlag seines weinroten Gehrocks. »Lady Beresford.«
»Sir William.« Dorothy knickste und wartete, bis der Magistrat sie einlud, sich zu setzen.
»Ihrem Schreiben entnehme ich, dass Sie mich in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen wünschen? Darf ich fragen, um was es sich dabei handelt?«
»Es geht um den Mord an Felton Seymour und den Mann, der festgenommen wurde.«
Sir William sah auf. Seine buschigen Brauen zogen sich zu einem V zusammen, und er beäugte Lady Beresford skeptisch.
»Der Mietdroschkenfahrer?«
»Richtig. Es handelt sich um den Bruder meiner Kammerdienerin, Mr Martin Reynolds. Ich kann mir nur vorstellen, dass hier ein Missverständnis vorliegen muss. Ich kenne Mr Reynolds, und er würde nie einem Menschen auch nur ein Haar krümmen.«
In Sir Williams skeptische Miene mischte sich ein Ausdruck gönnerhafter Nachsicht, mit dem man bisweilen Kinder bedachte.
»Bei allem gebührenden Respekt, Lady Beresford, wir können die Rechtsprechung nicht auf unserem persönlichen Eindruck des Charakters begründen. Die Umstände sprechen gegen Mr Reynolds. Mr Seymour wurde in seiner Droschke erstochen, und Mr Reynolds war der Letzte, der ihn lebendig gesehen hat. Das Messer wurde unter dem Kutschbock gefunden, auf dem Reynolds saß. Wer sonst sollte ihn getötet haben?«
Sir William verschränkte die Finger ineinander und legte die Hände vor sich auf dem wuchtigen Schreibtisch ab.
»Es hätte doch der Diener gewesen sein können, der den Ermordeten entdeckte«, mutmaßte Lady Beresford, doch Sir William schüttelte den Kopf.
»Im Gegensatz zu Mr Reynolds hatte der Diener, Mr Russ, kein Messer bei sich. Seine Kleidung hatte kaum Blutflecken. Hätte er Mr Seymour erstochen, hätten seine Livree und sein Hemd voller Blut sein müssen. Blut fand sich aber nur ein wenig an seinem Ärmel. Wohl, weil Mr Russ zunächst glaubte, Mr Seymour schlafe nur und er versuchte, ihn wachzurütteln. Mr Reynolds hätte Möglichkeit finden können, sich umzuziehen. Mr Russ jedoch ist sofort nach Auffinden des Toten ins Haus gelaufen. Und glauben Sie nicht, Mr Seymour hätte sich gewehrt oder wenigstens geschrien, wenn ihn plötzlich jemand angegriffen hätte? Einer der Diener hielt sich vor der Kohlekammer auf. Er hätte etwas hören müssen. Wie erklären Sie sich das?«
»Herrje, ich weiß es doch auch nicht, Sir William. Ich bin nur überzeugt, dass Mr Reynolds es nicht gewesen ist«, beharrte Dotty.
»Mit Verlaub, was macht Sie da so sicher, Mylady?« Sie ahnte, dass Sir William sich nicht so leicht von Mr Reynolds’ Unschuld überzeugen lassen würde.
»Ich kenne ihn – und ich kenne seine Schwester. Er ist mit Gewissheit kein Mensch, der …«
»Liebe Lady Beresford«, unterbrach sie Sir William. »Ihr Mitgefühl für die arme Schwester ehrt Sie, und ich verstehe, dass es schwer ist, einzusehen, dass jemand, den man zu kennen glaubte, zu einer solch abscheulichen Tat fähig ist. Doch glauben Sie mir, die Abgründe der menschlichen Seele sind vielfältig und zeigen sich keinesfalls immer an der Oberfläche.«
»Das ist mir auch klar«, räumte Dotty ungeduldig ein. »Doch es erschließt sich mir nicht, warum Mr Reynolds es getan haben sollte. Dafür gab es überhaupt keinen Anlass. Was könnte ihn zu dieser Tat bewogen haben?«, drängte sie.
Sir William war anzusehen, dass es ihn Kraft kostete, sich zu beherrschen und den Anschein zu geben, als nehme er Lady Beresfords Einwände ernst.
»Nicht immer gibt es eine rationale Erklärung dafür, warum ein Mensch plötzlich etwas Abscheuliches tut. Womöglich litt der Ärmste unter Wahnvorstellungen. So etwas kommt vor. Außerdem hätte ihn jemand bezahlt haben können – es gab offenbar durchaus Leute, die Mr Seymour nicht besonders freundlich gesinnt waren.«
»Das mag sein, Sir William. Allerdings ich bin mir sicher, das trifft auf Mr Reynolds nicht zu.« Dotty ahnte, dass sie auf diese Weise bei dem obersten Magistrat nicht weiterkommen würde.
»Überhaupt sehe ich nicht, wie ich Ihnen in diesem Fall helfen könnte«, erläuterte Sir William in bemüht ruhigem Ton. »Ich bin Magistrat, kein Richter. Meine Aufgabe besteht darin, die Umstände zu prüfen und zu entscheiden, ob Anklage zu erheben ist oder nicht. Nichts anderes habe ich getan. Den Rest entscheidet die Gerichtsbarkeit. Mr Reynolds wird auf seine Verhandlung warten müssen.«
Dorothy presste die Lippen aufeinander. So kam sie nicht weiter, und ehrlich gesagt hatte sie sich bisher mit rechtlichen Fragen noch nie befassen müssen und keine Vorstellung davon, was das für Mr Reynolds bedeutete.
»Wie lange wird es denn dauern bis zur Verhandlung? Und – wird Mr Reynolds dazu angehört? Vielleicht könnten Sie mir das gerichtliche Prozedere näher erläutern. Sie sind schließlich ein erfahrener Sachkenner.« Schmeichelei würde sie vielleicht weiter bringen als Drängen.
Tatsächlich sah Sir William ein wenig freundlicher aus, als er zur Antwort ansetzte.
»Es kommt darauf an. Einen oder auch zwei Monate, manchmal auch schneller. Zunächst werden die Gerichtsdiener die nötigen Informationen sammeln und die Anklageschrift aufsetzen. Normalerweise beschließt das Schwurgericht, ob es zu einer Verhandlung kommt, doch in diesem Fall handelt es sich höchstwahrscheinlich um Mord.«
»Und das bedeutet?«, wollte Dorothy wissen.
»Das bedeutet, dass ein Geschworenengericht nach Untersuchung des Coroners entscheidet, ob eine Mordanklage erhoben wird«, erklärte Sir William.
»Und wird Mr Reynolds dazu gehört?«, wollte Dotty wissen.
»Selbstverständlich wird er gehört. Wenn er sich nicht schuldig bekennt, hat er Gelegenheit, seine Version der Ereignisse vorzubringen und sich zu verteidigen. Rechtsbeistand wird er sich nicht leisten können, vermute ich.«
»Darum werde ich mich kümmern«, entschied Dorothy. »Ich bin fest von seiner Unschuld überzeugt.«
»Wenn Reynolds unschuldig ist, wird sich das gewiss im Prozess zeigen«, wandte Sir William beschwichtigend ein, doch Dorothy hatte ihre Zweifel.
»Ich wünsche, Mr Reynolds zu sehen. Ich möchte selbst mit ihm sprechen«, verlangte sie mit fester Stimme.
Sir William runzelte die Stirn.
»Bis zu seiner Verhandlung sitzt er im Newgate Gefängnis ein, Mylady. Das ist kaum ein Ort für eine Dame.«
»Dann begleiten Sie mich«, insistierte sie. In diesem Punkt würde sie nicht lockerlassen. Doch es konnte nicht schaden, ihren weiblichen Charme anzuwenden. Sie setzte ihr gewinnendstes Lächeln auf.
»Mein lieber Sir William, ich kenne Sie als strengen, aber barmherzigen Vertreter der Gerichtsbarkeit, der gewissenhaft alle Zweifel ausräumen wird, damit kein Unschuldiger an den Galgen gebracht wird. Ich bitte Sie inständig, mir diesen Wunsch nicht zu verwehren. Lassen Sie mich mit Mr Reynolds sprechen. Ich habe seiner Schwester mein Wort gegeben.«
Der Magistrat kratzte sich mit dem Zeigefinger unter der Perücke und seufzte schließlich tief.
»Nun denn, in Gottes Namen, wenn Sie es durchaus wünschen, werde ich Sie begleiten. Doch ich muss Sie warnen: Newgate ist wahrhaft kein Ort, den man einer Dame zumuten möchte. Darüber hinaus sollten Sie sich nicht zu viel von einem solchen Besuch versprechen. Seiner Lordschaft Earl Percy ist daran gelegen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan und der Mörder seines Enkels zur Rechenschaft gezogen wird. Es spricht vieles gegen die Unschuld Ihres Freundes.«
Dorothy lächelte. Wenn auch nur ein kleiner Triumph, so hatte sie dem alten Herrn immerhin das Versprechen abgerungen, sie nach Newgate zu begleiten.
»Haben Sie vielen Dank, Sir William. Ich werde Ihnen das nicht vergessen.«