KAPITEL EINS
Februar 1821, in der Nähe von Birmingham, England
Lady Eleanor Carpenter blickte hinaus auf die vereisten Zweige der Hecken und wickelte den pelzgefütterten Mantel enger um sich. Die Sonne schien zwar hell, dennoch war es bitterkalt. Nachdem sie ihre ältere Schwester Charlotte, die Marchioness of Kenilworth, besucht hatte, saß Eleanor nun in der Kutsche nach Hause. Auf der Sitzbank gegenüber saß Mrs. Parks, die in ihre Strickarbeit vertieft war. Die Nachbarin der Kenilworths hatte die Einladung gerne angenommen, Charlotte auf ihrer Reise zurück nach Worthington Place, ihrem Zuhause, zu begleiten.
Eleanors Sicht auf die Hecken wurde plötzlich versperrt. Sie hämmerte gegen das Dach der Kutsche. „Halten Sie die Kutsche an!“
„Mylady, was ist denn los?“ In Mrs. Parks’ Stimme lag eine Mischung aus Sorge und Überraschung.
Eleanor warf einen Blick über die Schulter, als sie die Tür öffnete. „Kleine Kinder am Straßenrand. Hier mitten im Nirgendwo.“
Viele Familien lebten unter schrecklichen Bedingungen, aber wer würde einfach so kleine Kinder am Straßenrand zurücklassen?
„Sie haben doch wohl nicht vor …“
Die Kutsche hatte kaum angehalten, als Eleanor absprang. Sie näherte sich den Kindern, die vor einer am Boden liegenden Frau standen. „Guten Tag.“ Sie kniete sich hin, um auf Augenhöhe mit ihnen zu sprechen.
„Kann ich euch irgendwie helfen?“
Ein Junge, der seiner Größe nach zu urteilen der älteste der Gruppe zu sein schien, schüttelte den Kopf. Doch eines der beiden Mädchen blickte ehrfürchtig wie zu einer Engelsgestalt zu ihr auf und nickte. „Unsere Mutter kann nicht laufen.“
Genau genommen sah die Frau aus, als wäre sie bereits verstorben. „Ich kann mich um sie kümmern. Wenn ihr mir sagt, wo ihr wohnt, kann ich euch dort hinbringen.“
„Haben kein Zuhause“, murmelte der Junge. „Mama hat gesagt, wir müssen gehen.“
„Und dein Vater?“ Eleanor dachte, die Antwort bereits zu kennen, aber sie musste dennoch nachfragen.
Zwei dicke Tränen kullerten das schmale Gesicht des kleinen Mädchens hinunter. „Die haben ihn gemordet.“
Sie würde die ganze Geschichte später in Erfahrung bringen müssen. Jetzt galt es erst einmal, alle warm zu bekommen. „Wenn das so ist, bleibt eigentlich nur eine Möglichkeit: Ihr und eure Mutter werdet mit mir kommen.“ Sie gab ihrem Diener ein Zeichen. „Turner, bitte tragen Sie ihre Mutter in den zweiten Wagen. Ich nehme die Kinder mit.“
„Lebt sie noch?“, flüsterte er, während er die leblose Gestalt am Boden musterte.
„Ich hoffe es.“ Sie warf einen kurzen Blick auf die Frau. „Wir werden es bald herausfinden.“
Die Mutter lag schlaff in seinen Armen und gab keinen Laut von sich, während er sie zur Kutsche trug.
„Lady Eleanor.“ Mrs. Parks stand in der Tür der Kutsche. „Ich muss protestieren. Ihre Schwester und Lord Kenilworth würden es mir nie verzeihen, wenn Ihnen etwas zustieße.“
Wie könnte man diesen Menschen Hilfe verweigern? Eleanor bedachte ihre Begleiterin mit einem, wie sie hoffte, beruhigenden Lächeln. Sie war sich sicher, dass jeder in ihrer Familie ihrer Entscheidung zustimmen würde.
„Alles ist in bester Ordnung. Wir werden die Fahrt gleich fortsetzen.”
Als sie sich dem zweiten Wagen näherte, öffnete sich die Tür. „Jobert, ich brauche Ihre Hilfe. Turner trägt gerade eine Frau her. Sie ist bewusstlos.“
„Ja, Mylady.“ Das Dienstmädchen begann damit, die nach hinten gerichtete Sitzbank freizuräumen. „Er kann sie hier hinlegen. Der Sitz hat auch noch genug Platz für die Kinder.“
Eleanor machte sich zunehmend Sorgen um die Unbekannte. Ihre Haut war fast schon blau. „Wärmt sie auf. Wenn ich mich nicht irre, erreichen wir in etwa einer Stunde das Wheelwright Inn, vielleicht auch etwas später. Dort können wir ein heißes Bad für sie bestellen und einen Arzt holen.“
„Eine gute Idee, Mylady.” Jobert half den Kindern, sich in die Decken einzuwickeln, nachdem Turner sie nacheinander in die Kutsche gehoben hatte.
Eleanor wartete, bis sie bereit für die weitere Reise waren, bevor sie zu ihrer Kutsche zurückkehrte. Gott sei Dank hatte Matt, ihr Schwager, darauf bestanden, dass sie die große Kutsche für die Dienerschaft nahm. Der zweite Bedienstete half ihr in ihre Kutsche.
„Sind Sie bereit für die Weiterfahrt, Mylady?“, fragte der Kutscher.
„Ja. Wir werden in einem Gasthaus Halt machen müssen. Ich glaube, die Frau wird einen Arzt brauchen.“
„Überlassen Sie das mir, Mylady.“ Eine Sekunde später waren sie wieder in Bewegung.
Mrs. Parks knetete unruhig ihre Hände. „Ich weiß nicht, was Ihre Schwester und Seine Lordschaft sagen werden, wenn …“
Manchmal vergaß Eleanor, dass nicht alle Menschen daran interessiert waren, anderen zu helfen. Sie unterdrückte den Drang, die ältere Dame zurechtzuweisen. „Mrs. Parks, ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen. Aber ich weiß, dass meine Familie sagen würde, dass ich richtig gehandelt habe.“ Eleanor widmete sich dem Buch, das sie mitgebracht hatte. „Außerdem können wir frische Pferde beziehen, wenn wir Halt machen.“
Etwa eine Stunde später starrte sie immer noch auf ihr Buch, ohne eine einzige Seite gelesen zu haben. Das Einzige, woran sie denken konnte, war die missliche Lage der armen Mutter und ihrer Kinder.
Was wäre passiert, wenn sie nicht vorbeigekommen wäre? Hätte man sie einfach erfrieren lassen? Eleanor warf einen kurzen Blick zu Mrs. Parks. Sie hätte nicht angehalten. Selbst ihr Dienstmädchen hatte die Nase gerümpft und keinen Finger gerührt, um Turner und Jobert dabei zu helfen, ihre Gäste aufzuwärmen. Und was war ihnen überhaupt widerfahren, dass sie bei diesem Wetter im Freien unterwegs waren? Eleanor schlug das Buch zu. Sicherlich würden sie bald das Gasthaus erreichen. Sie ließ den Blick aus dem Fenster schweifen. Der leichte Schnee von vorhin war inzwischen viel stärker geworden. Das bedeutete wahrscheinlich, dass sie außerplanmäßig für die Nacht Halt machen müssten. Sie atmete schwer aus. Es würde schon alles gut gehen. Wenn sie alt genug war, um zu heiraten, war sie auch alt genug, um mit dieser Situation zurechtzukommen.
Einige Zeit später fuhren sie in den gepflegten Hof des Gasthauses und Eleanor blickte aus dem Fenster. Das vertraute Schild in Form eines Kutschenrads hing von einer Strebe über dem Eingang des großen weißen Gasthauses.
Einer der Vorreiter näherte sich zu Pferde. „Mylady, Lord Kenilworth hat dafür gesorgt, dass wir hier Halt machen können, falls das Wetter sich verschlechtert. Ich werde reingehen und die Wirtsleute über unser Eintreffen in Kenntnis setzen.“ Er blickte zur bleiernen Wolkendecke hinauf. „Was wollen Sie wegen der Familie unternehmen?“
„Sorgen Sie für ein Zimmer, Bäder und Essen für sie. Sie werden sicher zusammenbleiben wollen.“
Der Vorreiter verneigte sich. „Natürlich, Mylady. Ich werde dem Gastwirt die Situation erklären.“
Und abgewiesen werden. „Nehmen Sie Jobert mit. Mrs. Parks“, Eleanor wartete, bis die Dame auf ihre Ansprache reagierte, „Sie werden mich begleiten.“
Ihre Reisegefährtin verstaute ihr Strickzeug in einer Tasche. „Ich habe darüber nachgedacht, was Sie getan haben, Mylady. Sie hatten recht. Ihre Schwester hätte genauso gehandelt.“
Eleanor schenkte Mrs. Parks ein aufrichtiges Lächeln. „Ich weiß. Aber wir werden uns vermutlich mit einem widerspenstigen Gastwirt auseinandersetzen müssen.“
„Ich habe keinen Zweifel, dass Sie der Aufgabe gewachsen sind.“ Mrs. Parks erwiderte das Lächeln.
„Ah, da sind mein Dienstmädchen und mein Diener. Am besten hinterlassen wir einen starken ersten Eindruck.“ Eleanor übte ihre würdevollste Miene, als Turner ihr die Stufen der Kutsche hinunter half. Ein weiterer Diener half ihrer Begleiterin, und der Vorreiter lief zur Tür, hielt sie auf und verbeugte sich bei ihrem Eintreten.
Ein großer, schlanker Mann mittleren Alters mit ergrauendem braunem Haar erwartete sie neben einem Tresen und verbeugte sich.
Hinter Eleanor verkündete Turner: „Lady Eleanor Carpenter. Schwester des Marquis und der Marchioness of Kenilworth.“
„Angenehm. Claiborne.“ Der Gastwirt verbeugte sich erneut. „Ich habe einen Brief von Seiner Lordschaft erhalten, mit der Bitte, ein Zimmer für Sie zu reservieren.“
Sie neigte würdevoll den Kopf und schenkte ihm ein höfliches Lächeln. „Wir benötigen ein zusätzliches Zimmer für eine Familie. Eine Mutter und drei Kinder in Not, die ich aufgenommen habe.“
Ein Schatten legte sich über das Gesicht des Wirts, als er in die Richtung des Gemeinschaftsraums blickte und einen Moment lang zögerte. „Ja, Mylady.“
„Gut.“ Sie widerstand dem Impuls, in dieselbe Richtung zu blicken, und hob das Kinn leicht an. „Sie werden Bäder, Mahlzeiten und einen Arzt benötigen. Mr. Whitmer“, sie deutete mit der Hand auf den Vorreiter, „wird Ihnen, wenn nötig, zur Hand gehen.“
„Vielen Dank, Mylady.“ Mr. Claiborne nahm mehrere Schlüssel mit und warf erneut einen Blick in den Gemeinschaftsraum. „Wenn Sie mir folgen würden, bringe ich Sie zu Ihren Gemächern.“
„Turner“, flüsterte Eleanor. „Irgendetwas stimmt nicht. Holen Sie die Familie und bringen Sie sie durch die Hintertür herein.“
„Sofort, Mylady.“
„Ich weise Whitmer an, auf Sie zu warten.“
Turner nickte und wandte sich zum Haupteingang. In Eleanors Gehirn schwirrte die Sorge vor einer möglichen Gefahr umher. Sie hatte gehört, was ihren Schwestern und Dotty widerfahren war, aber Eleanor hatte nie wirklich damit gerechnet, etwas Derartiges selbst zu erleben.
Sie folgte dem Gastwirt die Treppe hinauf. Zuerst musste sie feststellen, wo genau das Problem lag. Das sollte relativ einfach sein. Jemand im Gemeinschaftsraum war offensichtlich auf der Suche nach einer Familie. Er konnte nicht der Ehemann der Frau sein. Wer war es dann und warum stellte er eine Gefahr dar? Ihr Diener hätte vermutlich ohne zu zögern versucht, das herauszufinden, aber Whitmer trug im Gegensatz zu Turner keine Uniform.
Der Gastwirt zeigte Eleanor ihre Zimmer. Jobert, die eine Umhängetasche mit sich trug, trat ohne Umschweife ein.
„Ich habe Betten für Ihre Kutscher über den Ställen“, sagte Mr. Claiborne.
Eleanor nickte. „Unsere Dienstmädchen werden in den Gemächern von Mrs. Parks und mir übernachten. Ich nehme an, Sie haben Zustellbetten für sie?“
„Natürlich, Mylady.” Zwischen ihren Zimmern und der Hintertreppe schloss er die Tür zu einer weiteren Kammer auf. „Dies hier wäre groß genug für eine ganze Familie.“
Eleanor sah sich im Zimmer um. Es verfügte über ein sehr großes Bett, einen Tisch und ein paar Stühle. „Das sollte ausreichen. Ich möchte so schnell wie möglich ein heißes Bad vorbereitet haben. Sofern ein Zimmer frei ist, wünsche ich, dass mein Diener in dieser Etage schläft.“
„Gleich nebenan. Ich werde den Schlüssel holen müssen.” Offensichtlich gefiel dem Mann ihre Bitte nicht, er wagte es aber nicht, sie abzulehnen. Zahlreiche Gäste hatten vermutlich mit Kenilworths Familie zu tun und sorgten so dafür, dass das Gasthaus recht gut besucht war.
„Vielen Dank.“ Eleanor schenkte ihm ein freundliches Lächeln. Nachdem der Gastwirt gegangen war, wandte sie sich an Whitmer. „Turner sollte mit der Familie an der Hintertür warten. Bitte führen Sie ihn zu diesem Zimmer. Könnten Sie im Anschluss nachsehen, wer sich im Gemeinschaftsraum aufhält?“
„Ich würde gerne die anderen Vorreiter mitnehmen“, sagte Whitmer. „Mir ist der Gesichtsausdruck des Wirts ebenfalls aufgefallen.“
„In Ordnung.“ Dies könnte sich als interessanterer Abend entpuppen, als sie erwartet hatte.
Eleanor tauschte ihr Reisekleid gegen ein Ausgehkleid. Während sie sich Gesicht und Hände wusch, hörte sie die Kinder leise miteinander sprechen. „Jobert, ich werde unseren Gästen helfen. Ich möchte, dass Sie mich begleiten.“
„Natürlich, Mylady.” Das Dienstmädchen nahm eine duftende Seife und zwei der Handtücher, mit denen sie reisten, sowie eines ihrer Nachthemden. „Ich bin froh, dass ich mehr eingepackt habe, als wir brauchen.“
Eleanor wusste nicht, was ihr Dienstmädchen davon hielt, einer Fremden eines ihrer Nachthemden zu geben. „Sie können ihr eines von meinen geben, wenn Sie wollen.“
„Nein, Mylady. Ich möchte wetten, dass sie sich in diesem hier wohler fühlen wird.“
Weil es nicht voller Rüschen war? „Ich werde es Ihnen ersetzen.“
„Wie Sie wünschen, Mylady.“ Jobert verließ schnellen Schrittes den Raum, dicht gefolgt von Eleanor.
In der Kammer war ein Feuer entzündet worden, das eine angenehme Wärme verbreitete. Die Kinder hatten sich dicht um ihre Mutter geschart. Jobert hatte sich gerade darangemacht, der kaum ansprechbaren Frau zu helfen, als es an der Tür klopfte.
„Das Bad, das Sie bestellt haben“, sagte ein Dienstmädchen.
Eleanor öffnete die Tür, wo neben dem Mädchen auch zwei junge Männer warteten. „Bitte, treten Sie ein.“
Die Frau machte einen Knicks und die Männer verbeugten sich. Sie trugen einen Badetrog herein und begannen damit, ihn zu füllen.
Nachdem sie gegangen waren, half Eleanor Jobert dabei, die Mutter zu entkleiden und in die Wanne zu setzen, und wandte sich dann den Kindern zu. Sie alle waren furchtbar dürr. „Ich bin Lady Eleanor Carpenter. Darf ich eure Namen und den eurer Mutter erfahren?“
Der Junge blickte zu ihr auf. „Ich bin Billy. Das hier“, er legte eine Hand auf die Schulter seiner größeren Schwester, „ist Sally und die Jüngste heißt Lizzy.“ Er holte tief Luft. „Unsere Ma heißt Lottie.“
Kurz für Charlotte. Der Name von Eleanors Schwester. „Wie lautet euer Nachname?“
„Ward.“
Eleanor nahm seine ziemlich schmutzige Hand in die ihre und schüttelte sie. „Schön, euch kennenzulernen.“ Ein Stöhnen ertönte aus der Wanne und die Kinder wirbelten gleichzeitig herum. „Ich hoffe, das heißt, dass eure Mutter langsam wieder zu sich kommt.“
„Das hoffen wir auch“, sagte Sally.
Nachdem Mrs. Ward ihr Bad beendet hatte, zogen sie ihr das Nachthemd an und brachten sie ins Bett. Ein Klopfen ertönte an der Tür. „Wer ist da?“
„Mr. Patterson. Ich bin der Arzt.“
Sie öffnete die Tür und sah zu ihrer Freude einen relativ jungen Mann vor sich. Wahrscheinlich nicht viel älter als Matt. „Bitte treten Sie ein. Ich habe vorsichtshalber nach Ihnen schicken lassen. Mrs. Ward war halb erfroren, als wir sie und die Kinder fanden.“
Eleanor hielt sich zurück, während er Mrs. Ward untersuchte. Ein paar Minuten später sah er sich die Kinder an. „Wann habt ihr das letzte Mal gegessen?“
Billy zuckte mit den Schultern. „Gestern oder vorgestern?“
Er blickte Eleanor an. „Geben Sie ihnen Brühe und Brot. Nichts Schwereres bis morgen. Wie lange bleiben Sie hier?“
Sie schaute zu ihrem Dienstmädchen, das sich zur Tür aufgemacht hatte. „Wir werden morgen früh zu meinem Zuhause zurückkehren.“
„Versuchen Sie, Mrs. Ward so warm wie möglich zu halten. Sie wäre vielleicht tot, wenn Sie sie nicht rechtzeitig gefunden hätten. Sie sollten auch wissen, dass sie schwanger ist.“
„Ich verstehe.” Eleanor kam ein Gedanke. „Sie scheinen von alldem nicht überrascht zu sein.“
Er setzte eine grimmige Miene auf. „Sie haben vermutlich noch nichts von dem Bergarbeiteraufstand in der Gegend gehört. Mehrere Männer wurden getötet, und ihre Familien sowie einige der Aufrührer sind der Gnade der Minenbetreiber ausgeliefert. Daher überrascht mich das hier wenig. Ich wünschte, es gäbe mehr Menschen wie Sie, die ihnen helfen.“
Ihr Schwager, Con Kenilworth, erhielt sämtliche Zeitungen. All dies konnte also erst vor wenigen Tagen passiert sein. „Vielen Dank für Ihr Kommen. Wie viel bin ich Ihnen schuldig?“ Der Arzt schien sich ob der Frage unwohl zu fühlen. „Vielleicht möchten Sie lieber eine Rechnung an Worthington Place in der Nähe von Kettering schicken.“
„Danke“, sagte er erleichtert. „Ich muss gestehen, dass ich noch nie Geld von einer Dame verlangt habe.“
Jobert kehrte unauffällig zurück ins Zimmer, gefolgt von einem Diener, der ein großes Tablett mit Schüsseln voller Suppe, Brot und einer Butterdose trug. Als der Arzt gegangen war, flüsterte sie Eleanor zu: „Whitmer sagte, ich solle Ihnen ausrichten, dass im Gemeinschaftsraum ein Mann ist, der auf der Suche nach einer Familie namens Ward sei. Er sagte, sie gehörten ihm.“
Ihm gehören? „In England gibt es keine Sklaverei.“
Sie nickte. „Das hat er dem Mann auch gesagt. Und zu mir sagte er, er und die anderen Vorreiter würden abwechselnd vor der Tür schlafen, drinnen, wenn die Familie nichts dagegen hätte.“
„Glaubt er, der Gastwirt könnte diesem Mann von ihrer Anwesenheit erzählen?“
Jobert schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern.
„Sagen Sie dem Wirt, dass ich genau so viel wie dieser Halunke zahlen werde und Lord Kenilworth von seiner Hilfe berichten werde.“
Ein seltenes Grinsen erschien auf dem Gesicht des Dienstmädchens. „Das sollte klappen, Mylady.“
Dieser Meinung war auch Eleanor. „Ich denke trotzdem, dass wir Vorsichtsmaßnahmen ergreifen sollten.“
„Ja, Mylady.“ Das Dienstmädchen verließ das Zimmer wieder.
Eleanor wandte sich um und stellte zufrieden fest, dass die Kinder gierig aßen. „Langsam, sonst wird euch schlecht.“ Alle drei blickten beinahe traurig auf die Schüsseln. „Das heißt nicht, dass ihre eure Suppe nicht essen dürft. Ihr solltet nur langsamer essen.“
„Ja, Mylady“, sagten die beiden älteren der Kinder im Chor.
Sie verweilte im Zimmer, bis einer der Vorreiter klopfte und eintrat. „Wir sehen uns später, Kinder.“
Mrs. Parks zog es vor, in ihrem Zimmer zu speisen. Eleanor nahm ein sehr gutes Abendessen zu sich, das aus einem gebratenen Hähnchen mit verschiedenen Gemüsesorten gefolgt von einem Stück warmen Apfelkuchen und einem Glas Rotwein bestand. Als der Tee serviert wurde, bat sie darum, Whitmer holen zu lassen. Wenige Minuten später betrat er ihren kleinen Salon. „Mylady.”
„Wie lautet der Name des Mannes, der nach der Familie sucht? Und in welcher Gefahr befinden sie sich?“
„Dobbins, Mylady. Ich würde sagen, er ist einer von der üblen Sorte. Ich würde ungern sehen, dass er die arme Frau und ihre Kinder in die Hände bekommt.“
Sie nippte an ihrem Tee, während sie über die Worte des Vorreiters nachdachte. „Wir werden aufbrechen, sobald die Lichtverhältnisse es zulassen.“
„Ja, Mylady. Ich werde es dem Kutscher ausrichten.“
Am nächsten Morgen frühstückte die Gruppe, als es noch dunkel war. Die Kinder sahen weniger besorgt aus und die Wangen von Mrs. Ward schimmerten eher rosa als blau. Eleanor war froh, dass sich ihr Gast auf dem Weg der Genesung befand. Während sie der Familie beim Einstieg in die Kutsche zusah, spürte sie, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Sie drehte sich um. Ein Mann, der starke Ähnlichkeit mit einem Wiesel besaß, wartete auf der anderen Straßenseite und klopfte sich mit der breiten Seite eines Messers in die Hand.
Das musste Dobbins sein.
Eleanor erwiderte standhaft sein Augenfunkeln, bis er den Blick abwandte. Sie würde nicht zulassen, dass Mrs. Ward oder ihre Kinder zu Schaden kämen. „Turner, bitten Sie alle, die Augen offen zu halten.“ Sie kletterte in die Kutsche und klopfte gegen das Dach. „Lasst uns aufbrechen.“
April 1821, Marktstadt Worth
„Eleanor.“ Ihre Zwillingsschwester stupste sie am Arm an. „Wenn du die ganze Zeit tagträumst, verpasst du noch die ganze Zeremonie.“
„Ich musste an den Tag denken, als ich sie gefunden habe.“ Sie warf einen Blick zu der Frau, die vor dem Altar stand – Mrs. Ward, bald Mrs. Johnson – und Eleanor kam ein anderes Bild in den Sinn. Das von dem Mann mit seinen scharfen Gesichtszügen, der sich mit seinem Messer in die Hand klopft und versucht, sie mit seinem Starren einzuschüchtern. Dobbins. Die Kinder und ihre Mutter hatten in Angst vor ihm gelebt. Sie schüttelte den Gedanken ab. Jetzt war alles gut.
„Das war mir klar.“ Alice grinste. „Ich bin schließlich deine Zwillingsschwester.“
So sehr sie auch Madeline Vivers, ihre Schwägerin, in alle Dinge mit einbezog, das Band, das Eleanor mit Alice teilte, würde vermutlich immer das stärkere bleiben.
„Das bist du.“
„Dann pass besser auf.“
„Ich erkläre Sie hiermit zu Mann und Frau.“ Der Vikar strahlte das frisch vermählte Paar an. „Möge Gott Sie mit einer fruchtbaren Ehe segnen.“
Die Bemerkung brachte die in der Kirche versammelte Gesellschaft zum Lachen. Die frisch gebackene Mrs. Johnson war mit einem Kind ihres verstorbenen Mannes schwanger, der bei einem Minenprotest in Cinderloo gestorben war. Mr. Johnson, ein wohlhabender Landbesitzer, zog seine Frau mit der einen Hand an sich heran und zerzauste mit der anderen das Haar seines neuen Sohnes, während er die kleinen Mädchen mit einem Lächeln bedachte.
„Sie werden glücklich sein.“ Eleanor sprach ein Dankesgebet, dass sie dort gewesen war, um der Familie zu helfen, und dass ihre Familie sie in ihrer Entscheidung unterstützt hatte. Außerdem dankte sie dem Himmel, dass die Haushälterin Mrs. Ward und Mr. Johnson miteinander verkuppelt hatte.
KAPITEL ZWEI
Dobbins hatte Wochen gebraucht, um die Frau zu finden, und er hatte nicht vor, sie einfach so aufzugeben. Er war gestern Abend mit der Postkutsche abgereist und hatte den Wagen gemietet, um sie und ihre Gören zurückzubringen. Zumindest der Älteste taugte zum Arbeiten. Dobbins fuhr auf den Hof von Worthington Arms und brachte die Kutsche zum Stehen.
„Soll ich die Pferde abspannen?“, fragte ein Stallbursche.
„Hab nicht vor, lange zu bleiben.“ Dobbins stieg vom Wagen herunter. „Ich bin auf der Suche nach einer Mrs. Ward.“
Der Junge wandte den Blick ab. „Ich glaub nicht, dass sie Sie heute empfangen wird. Sie ist ziemlich beschäftigt.“
Er folgte dem Blick des Jungen zu einer großen Gruppe, die vor der Kirche versammelt stand. Andere waren gerade damit beschäftigt, Tische auf dem Rasen aufzustellen. „Ganz schön was los da drüben.“
„Kann man wohl sagen.“ Der Junge grinste. „Sie heiratet. Das wird eine Feier.“
Verheiratet? Was zum Teufel sollte er jetzt tun? Seit er sie gesehen hatte, wollte er sie unbedingt haben. Er hatte sogar dafür gesorgt, dass ihr Mann während des Minenprotests getötet wurde. Dobbins war sich sicher gewesen, dass er danach seine Chance haben würde. Dass sie jemanden brauchen würde, der sich um sie und ihre Gören kümmerte. Dann war sie davongelaufen. Er hatte sie in einem Gasthaus aufgespürt, aber irgendeine junge Frau hatte sie mitgenommen. Endlich hatte er sie wiedergefunden – und nun das!
„Lady Eleanor hat alles genau geplant.“
Von wem zum Teufel sprach der Bursche? „Lady Eleanor?“
Der Junge deutete auf eine Gruppe junger Damen auf der anderen Straßenseite. „Lady Eleanor Carpenter. Lady Worthingtons Schwester. Sie werden bald nach Lundun gehen.“
Dobbins musterte die Frauen eindringlich. Eine von ihnen drehte sich um und lachte. Das war dieselbe Frau, die ihm zuvor dazwischengefunkt hatte. Er war den ganzen Weg umsonst gekommen.
Neugieriges Miststück. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, sich an ihr zu rächen, ohne dafür gehängt zu werden, würde er sie nutzen.
Just in diesem Moment schaute die Frau, die seine Pläne durchkreuzt hatte, zu ihm herüber. Ihre Augen verengten sich und sie gab einem der Diener ein Zeichen. Jetzt musste er schnell verschwinden.
Auf dem Rückweg hielt er an dem Gasthaus, zu dem er Mrs. Ward hatte bringen wollen. Es war nichts Besonderes. Mehr hatte er sich nicht leisten können, aber es war sauber und das Ale war gut.
Dobbins hatte sich gerade zum Essen niedergelassen, als ein anderer Mann den Stuhl gegenüber von ihm einnahm. „Lange nicht mehr gesehen.“
Er lächelte seinen Jugendfreund an und bedeutete dem Wirt mit einem Winken, dass er ein weiteres Ale wollte. „Mitchell, schön, dich zu sehen.“
„Siehst aus, als hättest du nichts Gutes im Sinn.“
Das Ale kam und Dobbins erzählte seinem Freund von dem Ärger, den er mit der Ward-Frau erlebt hatte. Er verschwieg dabei jedoch, dass er ihrem verstorbenen Mann ein wenig ins Grab geholfen hatte. „Gerade wenn du glaubst, du kriegst, was du willst, kommt jemand vorbei und ruiniert alles.“
„Verdammtes Adelspack.“ Mitchell blickte finster drein. „Denken, ihnen gehört die Welt. Ich würd ja gern bleiben und ihr eine Lektion erteilen, aber ich muss zurück nach Lundun.“
„Lundun?“ Dobbins starrte seinen Freund an. „Wohnst du jetzt da?“
Mitchell plusterte sich geradezu auf. „Seit zwei Jahren schon. Hab ’ne gute Stelle da.“
„Dort wird auch Lady Eleanor sein.“
„So, so.“ Er nahm einen großen Schluck Ale. „Sieht aus, als könnt ich dir doch helfen. Bin jetzt seit ’n paar Jahren in Lundun und hab nichts übrig für diese Aristokraten. Sollten hier unsere eigene Revolution haben. Wie die Franzmänner auch.“
Der Frau ernsthaft zu schaden, war ein zu großes Risiko, aber … „Jag ihr ’n richtigen Schreck ein. Sodass sie danach ständig über die Schulter schaut.“
„Das ist nicht schwer. In der Stadt ist viel los. Da kann ’ne Menge passieren.“ Sein Freund grinste. „Wird mir ’n richtiges Vergnügen sein, dir zu helfen, es ihr heimzuzahlen.“
Früher Morgen, Hyde Park, London
Lady Eleanor Carpenter ritt zur Linken ihrer Schwester Madeline, mit Alice zu ihrer Rechten. Vor sechs Jahren hatte Madelines Bruder, der Earl of Worthington, die älteste Schwester von Eleanor und Alice, Lady Grace Carpenter, geheiratet und so alle elf Geschwister zu einer Familie vereint. Schon früh hatten sie alle beschlossen, sich gegenseitig als Brüder und Schwestern zu bezeichnen, unabhängig von Nachnamen oder Blutsverwandtschaften. Ohne jede Diskussion hatten Eleanor und Alice beschlossen, dass sie und Madeline Drillinge sein würden und sie einander in alles, was sie taten, einbeziehen würden. Doch Eleanors Verbundenheit mit ihrer Zwillingsschwester hatte nie nachgelassen. Kurz darauf hatten Charlotte, ihre engste Freundin Dotty, und Louisa, Madelines älteste Schwester, geheiratet.
Eleanor sog die kalte Frühlingsluft mit einem tiefen Atemzug ein. Im Park bemerkte sie an den Wegrändern, wie die ersten Blumenzwiebeln austrieben. Die Forsythien waren bereits aufgeblüht und präsentierten der Welt ihre leuchtend gelben Farben. „Ich kann kaum glauben, dass wir endlich hier sind.“
„Wir kommen schon seit Jahren her.“ Alice probte den trockenen Tonfall und das erhabene Gebaren, das sie in Vorbereitung auf ihre Saison perfektioniert hatte. Es klang ein wenig, als würde sie die Worte summen. Zugegeben, sie benahmen sich nicht annähernd so albern, wie sie es in der Schule getan hatten, aber keine von ihnen war eine echte Grande Dame … Zumindest noch nicht.
Madeline verdrehte die Augen. „Du weißt, was sie meint. Wir sind im Begriff, unser Debüt zu geben. Es fühlt sich an, als hätten wir schon jahrelang darauf gewartet.“
„Wir haben ja auch schon jahrelang darauf gewartet.“ Eleanor grinste. „Das haben Matt und Grace auch.“
Alice sah sie zweifelnd an. „Du meinst, sie haben sich jahrelang davor gefürchtet.“
Das stimmte vermutlich. Eleanor begegnete Alice’ Blick und ihr war sofort klar, dass sie beide darüber nachdachten, wie sich die Dinge für sie ändern würden.
„Wenigstens werden wir nicht allein dastehen“, bemerkte Madeline fröhlich. „Matt sagt schon seit langem, dass dafür ‚alle Mann an Deck’ kommen sollen.“
Sie hatte seine strenge Ausdrucksweise so perfekt nachgeahmt, dass Eleanor und Alice kichern mussten.
Tatsächlich war in der vergangenen Woche ein beständiger Strom von älteren verheirateten Schwestern und Freunden der Familie in die Stadt gekommen. Die Einzigen, die noch fehlten, waren ihre Schwester Augusta, jetzt Lady Phineas Carter-Woods, ihr Mann Phinn und ihr älterer Bruder Charlie, Earl of Stanwood.
Eleanor lenkte ihre Cleveland-Stute Adela nach rechts und vertraute darauf, dass die beiden anderen Pferde den gleichen Weg einschlagen würden. Sie alle hatten Cleveland-Stuten vom selben Züchter, die gemeinsam ausgebildet worden waren. Und nicht nur die Stuten hatten zusammen gelernt. Eleanor und ihre Schwestern hatten in den letzten sechs Jahren alles zusammen gemacht, egal ob sie Unfug ausheckten, Latein, Französisch und Deutsch lernten, oder beigebracht bekamen, was sie als verheiratete Damen wissen mussten. Es war merkwürdig, sich vorzustellen, dass sie nach dieser Saison vielleicht nicht mehr im selben Haus wohnen würden.
Madeline blickte sich um. „Warum wenden wir?“
„Ich habe Hunger.“ Eleanors Magen knurrte, wie um ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen. „Wenn wir zu Hause sind, haben wir gerade noch genug Zeit vor dem Frühstück, um uns zu waschen.“
Sie blickte schnell zum Tor und sah zwei Männer hindurchreiten. Aus irgendeinem Grund erregte der Mann auf dem schwarzen Pferd ihr Interesse. „Ich frage mich, wer die beiden sind.“
„Wen meinst du?“ Madeline spähte an Eleanor vorbei.
Alice lehnte sich vor, um ebenfalls zu schauen.
„Starrt sie nicht so an! Sie könnten uns sehen.“ Als die beiden sich wieder aufrichteten, sagte Eleanor: „Da waren zwei Gentlemen, die etwas abseits ritten. Sie sind galoppiert.“
Madeline beugte sich vor, um besser zu sehen. „Wie sahen sie denn aus?“
„Sie hatten beide rötliches Haar, aber in verschiedenen Tönen. Gut gekleidet. Der eine ritt auf einem schwarzen Pferd und das andere war grau.“
„Ich frage mich, ob sie die Art von Gentlemen waren, die uns vorgestellt werden“, überlegte Madeline.
„Das wird sich erst noch zeigen.“ Eleanor übernahm die Führung durch das Tor hindurch. Sie hatten schon früh festgestellt, dass sie nur dann zu dritt nebeneinander reiten konnten, wenn noch keine Karren, Wagen und Kutschen auf den Straßen waren.
Sie machten sich auf den Weg zum Berkeley Square, wo sich Worthington House befand. Es schien seltsam, dass es am Ende der Saison nicht mehr ihr Londoner Zuhause sein würde. Auch Worthington Place würde nicht länger ihre Heimat sein. Sie hatte nie gedacht, dass es ihr etwas ausmachen würde, ihr Zuhause zu verlassen. Keine ihrer älteren Schwestern schien Einwände gegen ihre eigenen Häuser und Ländereien zu haben. Doch ihr kamen diese Gedanken immer wieder in den Sinn.
Unvermittelt rannte ein Junge auf die Straße, winkte mit seinem Hut und schrie etwas Unverständliches. Eleanors Stute scheute, doch es gelang ihr, die Kontrolle zu behalten.
Was in Gottes Namen war das gewesen?
„Eleanor, ist alles in Ordnung?“ Ihre Zwillingsschwester war ihr zur Seite geeilt, aber vom Jungen fehlte jede Spur.
„Es geht schon.“ Ein leichtes Zittern breitete sich in Eleanors Händen aus.
Alice zog die Augenbrauen zusammen und Eleanor schüttelte den Kopf. Ohne den Jungen zu befragen, konnten sie nichts weiter tun.
Jemmy, ihr Stallknecht, ritt zu ihnen herbei. „Das war kein Unfall, Mylady. Bis er Sie sah, stand er ganz still und ruhig da.“
„Danke, Jemmy. Sie haben meinen Verdacht bestätigt. Komm, Adela. Ab nach Hause.“
Die Pferde kamen vor dem Haus zum Stehen, wo die Stallknechte die Zügel der Stuten übernahmen.
„Guten Morgen.“
Eleanor sah sich um und erblickte ihre Schwestern Charlotte, Marchioness of Kenilworth, und Louisa, Duchess of Rothwell, die mit ihren Kindern an den Händen zum Haus schlenderten. Die Kinder von Charlotte, Louisa und Grace waren alle um die fünf Jahre alt.
„Ihr kommt wohl, um mit uns zu frühstücken?“ Eleanor beugte sich hinunter, um die Begrüßungsküsse der Kinder in Empfang zu nehmen.
„Wir werden den Tag mit Gideon und Elizabeth verbringen“, erklärte Charlottes Tochter Constance.
„Ich finde immer noch, ich sollte ihr Cousin sein und nicht ihr Neffe“, murmelte Constances Zwillingsbruder Hugh missmutig.
„Sei nicht albern“, mischte sich Louisas Tochter Alexandria ein. „Das spielt doch keine Rolle. Wir sind alle Freunde.“
„Das stimmt“, sagte Madeline und nahm Alexandrias Hand. „Lasst uns zum Frühstück gehen.“
„Ich bin nicht sicher, wo Grace ist“, sagte Eleanor, während die Kinder die Treppe zum Kinderzimmer hinaufstürmten. „Oder wo die Hunde sind.“
„Ihre Ladyschaft und die Doggen sind mit den Zwillingen im Kinderzimmer“, teilte Thorton, der Butler ihres Bruders, ihnen mit.
„Dann werden wir zu ihr gehen“, sagte Louisa. „Alexandria liebt Posy.“ Traurigerweise waren Duke und Daisy, ihre alten Doggen, vor drei beziehungsweise zwei Jahren gestorben. Haustiere lebten immer zu kurz.
Jetzt hatten sie Zeus und Posy, zwei wunderbare Dänische Doggen mit ganz eigenen Persönlichkeiten.
„Wir sehen uns im Frühstücksraum.“ Eleanor folgte Alice und Madeline in den hinteren Teil des Hauses, wo sie eigene Schlafräume und einen eigenen Salon hatten. Jobert wartete schon auf sie, als sie ihr Zimmer betrat. „Wir werden heute Morgen einen ziemlich vollen Tisch haben.“
„Das hat auch die Haushälterin Mrs. Thorton gesagt.“ Das Dienstmädchen hatte bereits Eleanors Kleidung für den Morgen herausgelegt.
Eleanor hörte, wie sich ihre Kommode über den Boden bewegte, während sie sich den Pferdegeruch abwusch. „Es wird fast so sein wie damals, als wir das erste Mal in der Stadt waren.“ Matt und Grace hatten sich innerhalb weniger Tage nach ihrer Ankunft kennengelernt und drei Wochen später geheiratet. Aber schon vor ihrer Hochzeit frühstückte die ganze Familie zusammen. „Ich wünschte, die Jungs und Augusta wären hier.“
„Mrs. Thorton sagte, dass Walter und Phillip zu Ostern hier sein würden.“
„Augusta sollte auch mal endlich ankommen“, murmelte Eleanor vor sich hin. Ihre Schwester war in den letzten drei Jahren auf Reisen gewesen, hatte aber versprochen, zum Beginn ihrer Saison zurückzukehren.
Jobert half Eleanor, ein hübsches, lila geblümtes Tageskleid aus hellgelbem Musselin anzuziehen. Durch die Decke drang das Getrampel von Füßen aus dem Kinderzimmer. „Ich muss mich beeilen.“
Sie traf ihre Schwestern auf dem Flur. Ohne Vorwarnung drangen Freudenschreie von unten zu ihnen. „Da muss irgendetwas los sein.“
Alice und Madeline nickten. Zu dritt versuchten sie zunächst, langsam und gemäßigt die Treppe hinunterzugehen, aber sie gaben am ersten Treppenabsatz auf. Augusta, Phinn und Charlie standen umringt von allen im Haus im lauffähigen Alter. Ihre Schwestern, Theo, jetzt vierzehn, und Mary, die elf Jahre alt war, umarmten nacheinander die Neuankömmlinge.
Erst als Mary sich von Charlie löste und danach eine Dogge umarmte, bemerkte Eleanor die Anwesenheit des Hundes.
„Wem gehört der Hund und wie heißt er?“
„Das ist Minerva.“ Augusta deutete auf eine Kiste am Boden. „Und da drin ist Etienne. Wir haben sie in Wien gefunden. Der ursprüngliche Besitzer von Minerva ist gestorben, und Phinn hat Etienne für mich gekauft.“
„Das war einer meiner Versuche, sie davon zu überzeugen, mich zu heiraten.“ Phinn grinste.
„Wir sind sehr froh, euch alle hier zu Hause wieder bei uns zu haben.“ Grace wechselte einen Blick mit Matt, der breit lächelte.
„Und genau zur richtigen Zeit“, fügte er an und führte sie in den Frühstücksraum. „Bleibt ihr bei uns oder habt ihr eine andere Unterkunft?“
Augusta glitt mit der Hand unter die Armbeuge ihres Mannes. „Charlie hat uns gebeten, die Saison über bei ihm zu wohnen.“
„Wie habt ihr es bewerkstelligt, dass alle zur gleichen Zeit eintreffen?“ , fragte Eleanor.
Charlie nahm seinen gewohnten Platz am Tisch rechts von Grace ein. „Ich bin ihnen auf ihrem Heimweg in Spanien begegnet. Da beschloss ich, dass es für mich ebenfalls an der Zeit war zurückzukehren.“
„Was ist mit deinem Reisebegleiter?“ , fragte Matt.
„Er wollte Europa noch eine Weile länger erkunden“, sagte Charlie und nahm von Grace eine Tasse Tee entgegen. „Da ich auf meine Familienmitglieder gestoßen war, haben wir uns geeinigt, getrennte Wege zu gehen.“
„Ich bin froh, dass alles einen so guten Verlauf genommen hat.“ Eleanor nahm ein gebackenes Ei von einem der Bediensteten entgegen. „Doch da ich Augusta kenne, überrascht mich das überhaupt nicht.“
„Oh, nein. Das war nicht mein Verdienst.“ Augusta schnitt ein Stück Toast in zwei Hälften. „Cousine Prudence und Phinns Sekretär Mr. Boman sind üblicherweise für die Planung verantwortlich.“
„Sie haben kurz nach uns geheiratet. Sie werden etwa einen Monat lang auf Besuch bei ihren Familien sein“, fügte Phinn an.
Charlie nahm eine Scheibe des rosa Rinderbratens von einem der Servierteller. „Wo wir gerade von Sekretären sprechen: Ich muss noch einen finden. Außerdem muss ich meinen Platz im House of Lords einnehmen.“
„Nun, dann.“ Matt nickte nachdenklich. „Ich bin gerne bereit, dir bei beiden Problemen behilflich zu sein.“
Augusta warf einen Blick zu Eleanor, Madeline und Alice. „Ich nehme an, euer erster Auftritt ist Lady Bellamnys Soirée für junge Damen.“
„Fast“, sagte Eleanor. „Penelope, die Schwägerin von Lady Exeter, gibt ebenfalls ihr Debüt. Wir sind zum Tee bei ihr und zwei ihrer Freundinnen eingeladen.“
„Es wäre mir eine Freude, euch dorthin zu begleiten.“ Augusta blickte sie lächelnd über den Rand ihrer Teetasse an. „Ich würde Dorie Exeter liebend gern wiedersehen. Wir haben über die Jahre korrespondiert und sie weiß, dass ich bald hier sein müsste.“
„Genau genommen jetzt“, kommentierte Madeline.
Eleanor und Alice bedeckten sich den Mund, konnten sich das Lachen aber nicht verkneifen. Eleanor warf einen Blick zu Charlotte und Louisa, die ebenfalls leise lachten.
„Ja, jetzt“, stimmte Augusta gut gelaunt zu. „Da wir euch schon alle hier haben, haben Phinn und ich eine Ankündigung zu machen. Wir erwarten ein Kind im September.“
Der Geräuschpegel schwoll sofort an mit Gratulationen aus allen Richtungen für ihre Schwester und ihren Schwager. Nacheinander trafen sich die Blicke von Alice, Eleanor und Madeline. Sie alle wussten, dass auch sie vielleicht bald Kinder bekommen würden, wenn sie in dieser Saison heirateten. Doch zunächst mussten sie geeignete Herren zum Heiraten finden.