Leseprobe Lady Minerva und der Duke

Kapitel 1

Hast du ihn umgebracht?

Die Stimme drang wie durch dichten Nebel zu ihm hindurch. Aber es war nicht seine innere Stimme, die ihm diese Frage bereits so oft gestellt hatte, sondern gehörte jemand anderem. Jemand Weiblichem.

Glaube ich nicht. Hier, hilf mir mal.

Er sieht ziemlich tot aus.

Ist er nicht, versprochen. Jetzt halt das hier fest, während ich …

Nun hörte er sie deutlicher, lauter. So laut, dass seine Schläfen vor Schmerz pochten. Jedes Wort fühlte sich an wie der Schlag eines Hammers. Ein weiteres Wort, ein weiterer Schlag. Die Stimmen ertönten dicht bei ihm.

Ich sollte Jeremy zu Hilfe rufen.

Wir brauchen ihn nicht. Siehst du?

Bäng. Bäng.

Die Lage ist auch so schon schlimm genug.

Uns trifft ja wohl keine Schuld. Halt die Lampe etwas höher, damit ich es fester ziehen kann. Warte, gib mir besser die Lampe … Der hier sieht ganz und gar nicht aus wie ein gewöhnlicher Dieb.

Was hast du damit vor?

Bäng. Bäng. Bäng.

Ihn aufzuwecken, um herauszufinden, wer er ist und was er hier zu suchen hat.

Bäng …

Mit einem Schwall nasser Kälte verschwand der Nebel und brachte ihn zurück zu vollem Bewusstsein. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, um die Flüssigkeit zu kosten. Kein Wasser, sondern Wein.

Erst hielt er die Augen noch geschlossen, während er sich seines Zustands bewusst wurde. Ihm dröhnte der Schädel. Seine Beine fühlten sich merkwürdig an, seine Arme schmerzten. Als er versuchte, sich zu bewegen, stellte er fest, dass seine Gliedmaßen hinter seinem Rücken zusammengebunden waren. Jemand hatte ihn wie ein Brathähnchen dressiert.

Er öffnete die Augen und erblickte den Lauf einer Pistole nur wenige Zentimeter von seinem Kopf entfernt. Als er den Blick an dem Arm, der die Waffe hielt, entlangwandern ließ, sah er, dass er zu einer attraktiven, dunkelhaarigen Frau gehörte, die ihn wütend anfunkelte. Sie schien mit dem Umgang von Pistolen vertraut zu sein. Ihr Blick verriet ihm, dass sie liebend gern den Abzug drücken würde.

Verdammt. Der Abend verlief so gar nicht nach seinen Vorstellungen.

 

„Scheint, als würde er zu sich kommen“, sagte Beth und hob den Bettwärmer, bereit zu einem weiteren Schlag.

„Das ist nicht nötig. Er ist gefesselt und ich habe die Waffe auf ihn gerichtet.“

„Er sieht groß aus. Das Seil könnte nicht ausreichen. Er könnte dich überwältigen. Vorsicht ist besser als Nachsicht.“

„Er wird mich nicht angreifen.“ Seine Wimpern zuckten. Er war in der Tat wieder bei Bewusstsein. Nach einem kurzen Moment der Stille begann er, an seinen Fesseln zu zerren. Minerva wartete, bis er sich seiner Situation gewahr wurde.

Seine Kleidung schien von höchster Qualität zu sein. Auf seinem einst blütenreinen Krawattenschal befanden sich nun Blutstropfen. Sein Gesicht wäre durchaus gut aussehend, wenn seine Züge nicht so markant wären. Ein derart kantiger Kiefer war nicht mehr in Mode. Er hatte etwas an sich, das ihre inneren Alarmglocken schrillen ließ. Allem Anschein nach war er ein wohlhabender Gentleman … ein Beamter. Ganz sicher war er nicht in ihr Heim eingebrochen, um ein paar Schilling zu stehlen.

Während sie die Pistole auf sein ausdrucksvolles Gesicht gerichtet hielt, überkamen sie gemischte Gefühle. Angst. Verletzlichkeit. Ein Strudel der inneren Unruhe, die sie einst tagein, tagaus geplagt hatte und die sie eigentlich hinter sich gelassen zu haben glaubte.

Endlich zuckten seine Lider. Saphirblaue Augen fokussierten sich auf den Lauf der Pistole, bevor sein Blick hinauf zu ihrem Gesicht wanderte. Wieder zerrte er an den Fesseln, die ihn gefangen hielten.

„Minerva Hepplewhite, nehme ich an? Mein Name ist Chase Radnor. Verzeihen Sie die unangemessene Vorstellung.“

Beth schnappte nach Luft. „Wie seltsam, dass ein Dieb sich derart um Anstandsregeln schert.“

Aber er war kein einfacher Dieb, nicht wahr?

„Sie können mich losbinden“, fuhr Radnor fort. „Unter vorgehaltener Waffe gehe ich kein Risiko ein. Außerdem bin ich ohnehin keine Gefahr.“

„Sie sind ein Eindringling. Daher bleiben Sie gefesselt, bis ich genug Informationen über Sie gesammelt habe“, erwiderte Minerva.

„Das wird zu nichts führen, außer meine Mission unnötig zu verzögern. Binden Sie mich los. Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen, was zudem mein Erscheinen hier erklären wird.“

Verflixt, seine Worte erweckten sowohl ihre Neugier als auch Nervosität. Vielleicht würde er ihr eröffnen, dass die Ermittlungen bezüglich Algernons Tods wiederaufgenommen worden waren. Oder dass der Wilderer, der in den Unfall verwickelt war, endlich gefunden wurde. Oder dass er gekommen war, um sie zu verhaften.

Sie versuchte, sich zu sammeln. Es war töricht, aus dem plötzlichen Auftauchen dieses Fremden einen Elefanten zu machen. Nichts wies darauf hin, dass er von ihrem früheren Leben, ihrer wahren Identität wusste.

„Erklären Sie sich erst einmal“, verlangte sie und hielt die Pistole weiterhin auf ihn gerichtet. „Ich neige nicht dazu, einem Eindringling ohne Weiteres zu vertrauen.“

Er kniff die Augen zusammen und zerrte erneut heftig an den Fesseln hinter seinem Rücken. „Ich habe äußerst gewinnbringende Neuigkeiten für Sie.“

„Inwiefern?“

„Sie haben Geld geerbt. Eine beachtliche Summe.“

 

Chase hasste es, wenn ein Plan nicht aufging. Säuerlich verzog er das Gesicht, während die Bedienstete namens Beth die blutige Wunde an seiner Schläfe säuberte.

Die Menge an Blut war beeindruckend. Aber dank seines Heerdienstes wusste er, dass Kopfwunden immer stark bluteten, auch wenn sie noch so unbedeutend waren.

Diese fühlte sich allerdings gar nicht so unbedeutend an. Ihm dröhnte nach wie vor der Schädel.

Er saß auf einem Hocker, während die stämmige Angestellte ihn versorgte. Minerva Hepplewhite beobachtete sie aus ein paar Metern Entfernung. Sie räkelte sich regelrecht auf einem Diwan, verdammt. Die Pistole lag auf einem Tisch neben ihr.

Sie wirkte gefasst, geradezu entspannt. Ihre unerschütterliche Selbstbeherrschung erzürnte ihn auf unerklärliche Weise.

„Erklären Sie sich“, wiederholte sie. „Wenn Sie mir Neuigkeiten überbringen wollten, warum haben Sie sich dann nicht einfach während eines offiziellen Besuchs vorgestellt?“

Das war schwer zu erklären, ohne ihr Misstrauen zu wecken. „Ich wollte sichergehen, dass Sie Minerva Hepplewhite sind. Es wäre nicht vorteilhaft, mit der falschen Person zu sprechen.“

Sie runzelte die Stirn.

Die Hände an seiner Schläfe verschwanden, bevor sie erneut zurückkehrten und fest gegen seinen Kopf drückten. Beinahe fluchte er laut auf, obwohl er wusste, dass die Bedienstete ihm nur einen Verband anlegte.

Schließlich trat die Frau namens Beth zurück und der Duft ihres billigen Rosenwassers verblasste. „Fertig. Sollte nun nicht mehr so stark bluten. Trotzdem sollten Sie Ihren Diener anweisen, Ihnen das Haar in nächster Zeit vorsichtig zu waschen. Wenn er Ihr Hemd in Salzwasser einweichen lässt, sollte das die Blutflecke entfernen.“ Sie deutete auf seine Jacke. „Leider lässt sich bei den Flecken hierauf nicht mehr viel machen.“

Dann wechselten die beiden Frauen einen Blick, bevor Beth die Bibliothek verließ und die Tür hinter sich schloss.

„Wie haben Sie mich gefunden?“, wollte Minerva Hepplewhite wissen.

„Es ist mein Beruf, Personen zu finden.“

„Ah, Sie sind also ein Detektiv. Sind Sie nicht eigentlich dafür zuständig, Affären aufzudecken und den betrogenen Eheleuten von den Vergehen ihrer Partner zu berichten?“

Damit hatte sie nicht unrecht. Natürlich waren das die langweiligsten Aufträge und er versuchte, sie möglichst zu vermeiden. Aber da Affären anscheinend nur allzu oft auf der Tagesordnung standen, hatte er ständig damit zu tun.

„Ich bin kein Detektiv, nur ein Gentleman, der gelegentlich diskrete Nachforschungen anstellt.“

„Gut, wenn Sie dieser feine Unterschied rückversichert, kein Dienstbote zu sein, dann bitte.“

Er erhob sich. Seine Schläfen pochten schmerzhaft, aber bei Weitem nicht mehr so heftig wie zuvor.

„Erzählen Sie mir mehr von dieser Erbschaft“, forderte sie.

Sie trug einen Morgenrock, der von gerüschter Spitze gesäumt war, allerdings auch bessere Tage gesehen hatte. Unter dem weiten, weichen Stoff, der sich über das verblichene Rosenmuster des Diwans bauschte, zeichnete sich ihre Figur ab.

„Der verstorbene Herzog von Hollinburgh hat einer Dame namens Minerva Hepplewhite, derzeit sesshaft in London, ein gewisses Vermögen hinterlassen.“

Mit Genugtuung beobachtete er, wie sie die Augen aufriss. Dann lachte sie. „Wie absurd. Das muss ein Scherz sein. Warum sollte der Herzog von Hollinburgh mir etwas vermachen?“

Er zuckte mit den Achseln. „Glauben Sie mir, genau das frage ich mich auch. Sie müssen wohl eine … gute Freundin sein? Eine Bedienstete? Eine … Geliebte?“

Ihr Stirnrunzeln wandelte sich zu einem breiten Lächeln.

„Eine Geliebte?“ Sie ließ ihre Hand – eine außerordentlich liebreizende Hand – durch den Raum schweifen. „Erwecke ich den Anschein, die Gunst eines Herzogs genossen zu haben? Haben Sie einen Diener in der Eingangshalle gesehen? Eine prächtige Kutsche im Hof?“

Jetzt, da sie es sagte … Das Mobiliar der Bibliothek war zweckdienlich und veraltet. Dieses bescheidene Heim auf der Rupert Street war kaum zufriedenstellend für die Mätresse eines Herzogs … zumindest dem Anschein nach.

Immer noch lächelnd erwiderte sie seinen Blick. Sie besaß das Talent, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, schien ihn einzuladen, tief in ihre Seele zu blicken, um herauszufinden, ob sie die Wahrheit sprach. Er konnte sich der Verlockung nicht erwehren. Sie war eine verdammt attraktive Frau. Besonders. Außergewöhnlich. Ihr beunruhigendes Selbstbewusstsein verlieh ihr eine faszinierende Aura.

„Mr Radnor, weder war ich die Geliebte oder Mätresse dieses Herzogs noch bin ich ihm jemals begegnet.“

Mit diesen Worten wurde Chases Auftrag auf einen Schlag wesentlich komplizierter.

***

Ein Vermögen. Vererbt von einem Herzog. Diese erstaunliche Enthüllung musste Minerva erst einmal verdauen.

„Das muss ein Irrtum sein“, murmelte sie.

Radnor schüttelte den Kopf. „Minerva Hepplewhite ist nicht gerade ein gewöhnlicher Name. Ich habe Sie durch eine Anzeige in The Times aufgespürt. Einer Ihrer Nachbarn hat mich kontaktiert und mir Ihre Adresse genannt.“

Auf den Schock hin erhob sie sich und lief im Zimmer auf und ab. Beinahe vergaß sie, dass Radnor vor dem Kamin stand, bis sie sich umdrehte und ihn dort erblickte. Groß, dunkel, eindrucksvoll. Mit strammer Haltung. Vielleicht hatte er beim Militär gedient. Seine markanten Züge sähen gewiss gut aus in Uniform, während er in der Schlacht Befehle erteilte. Im einen Moment waren seine Augen tiefblau wie das Meer, im nächsten stählern wie ein Eisberg.

Alles an ihm strahlte Macht und Autorität aus. Er war die Art von Mann, der in einer Frau den Wunsch nach Schutz und Fürsorge weckte. Aber auch nach ganz anderen Dingen. O ja, Mr Radnors bloße Anwesenheit hielt auch diese Art von Anziehungskraft inne. Sie verspürte den Drang, ihm jedes Wort zu glauben, nur um in seiner Gunst zu stehen.

„Wie groß ist diese Erbschaft?“

„Es handelt sich um ein direktes Vermächtnis von zehntausend Pfund.“

Sie schnappte hörbar nach Luft und riss die Augen auf, wandte sich dann jedoch schnell ab, um den Schock zu verdauen.

„Außerdem erben Sie die Teilhabe an einem Unternehmen, in das der Herzog investiert hat“, fuhr er fort. „Diese Partnerschaft verspricht noch wesentlich mehr Vermögen.“

Zum ersten Mal in ihrem Leben fürchtete sie, die Besinnung zu verlieren. Etwas Derartiges auf solch sonderbare Art und Weise zu erfahren …

Der Gedanke brachte sie zurück auf den Boden der Tatsachen. Sie ließ die Geschehnisse des Abends Revue passieren, dann drehte sie sich wieder zu ihm um. „Wer sind Sie? Warum wurden Sie geschickt, um mich aufzusuchen?“

Mit lässiger Eleganz stützte er sich auf dem Kaminsims ab. „Der Herzog war mein Onkel. Sein Erbfolger, mein Cousin, bat mich, den Anwalt dabei zu unterstützen, die unbekannten Bedachten ausfindig zu machen, sodass der Besitz zeitnah aufgeteilt werden kann.“

Sein Cousin war also der neue Herzog. Somit musste dieser der Enkelsohn des Verstorbenen sein. Sie versuchte, sich Radnor auf einem Ball der gehobenen Gesellschaft vorzustellen, konnte ihn aber nur in der Uniform eines römischen Zenturios sehen. Die Aufmachung musste ihm vortrefflich stehen, wenn man seiner eng anliegenden Hose Glauben schenken durfte.

„Wie ist der Herzog gestorben?“

Als er nicht gleich antwortete, wuchs ihr Interesse umso mehr.

„Das Dach seines Landwohnsitzes ist von einer Brüstung gesäumt, hinter der man spazieren gehen kann. Dort hat er sich oft nachts aufgehalten, um frische Luft zu schnappen. Leider ist er eines Nachts … gestürzt.“

Sein leichtes Zögern und die kaum merkliche Veränderung seines Tonfalls jagten ihr einen Schauer über den Rücken, doch sie wahrte die Fassung. „Ein Unfall also.“

„Wahrscheinlich.“

„Sie zweifeln daran?“

„Man wird den Vorfall wohl untersuchen. Selbst nach dem Tod genießen Männer seines Standes gewisse Vorzüge.“

Sie trat bis auf wenige Schritte an ihn heran und sah ihm tief in die Augen. „Ich glaube nicht, dass Sie es für einen Unfall halten. Sie sind überzeugt, dass jemand ihn hinuntergestoßen hat.“ Sie trat noch näher. „Vielleicht glauben Sie ja sogar, dass ich diejenige war, die es getan hat.“

Für einen Augenblick schmolz seine eisige Gemütshaltung dahin und sie erkannte in seinem Blick, dass sie mit ihrer Vermutung richtiglag.

„Keineswegs“, log er. „Also, um die Erbschaft zu erhalten, müssen Sie sich mit dem Anwalt in Verbindung setzen, der als Testamentsvollstrecker fungiert.“ Er zog eine Karte aus der Tasche seines Mantelrocks hervor. „Hier sind Name und Adresse seiner Kanzlei.“

Er sagte es so einfach. Aber das war es nicht. Dieses Vermächtnis würde alles verkomplizieren und womöglich eine gefährliche Tür zur Vergangenheit öffnen.

Dennoch nahm sie die Karte entgegen.

„Ich finde selbst hinaus.“

Während er zur Tür ging, starrte sie auf die Visitenkarte des Anwalts in ihrer Hand.

„Oh, da wäre nur noch Eines“, sagte er und drehte sich noch einmal zu ihr um. „Eventuell wird der Vollstrecker Sie nach persönlichen Informationen fragen, um sicherzugehen, dass Sie die Richtige sind. Im Testament sind Sie aufgeführt als Minerva Hepplewhite, früher bekannt als Margaret Finley aus Dorset, Witwe von Algernon Finley.“

Damit verschwand er und ließ sie völlig überwältigt zurück.

Sie hätte schwören können, dass niemand in London außer Beth und deren Sohn, Jeremy, von ihrer Vergangenheit wusste. Niemand.

Doch anscheinend war diesem Herzog – dem Herzog von Hollinburgh – bestens bekannt gewesen, wer sie war.

Jetzt, da sie darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass Mr Radnor ihr Heim nicht betreten hatte, um ihre Identität zu bestätigen, wie er behauptete. Dafür hätte es wesentlich einfachere Wege gegeben. Nein, er hatte herumgeschnüffelt, weil er sie verdächtigte.

Vielleicht, weil er längst wusste, dass sie vor einer Mordanklage aus Dorset geflohen war.

 

Am nächsten Morgen verließ Chase seine Wohnung und überquerte den St. James’s Square, bis er eine Reihe von Gebäuden am westlichen Ende von Whitehall erreichte.

Der Innenminister, Robert Peel, hatte ihm geschrieben und um ein Treffen um neun Uhr gebeten. Außer ihm war bisher niemand unterwegs. Vielleicht war das beabsichtigt gewesen oder vielleicht war Peel es als Sohn eines Industriellen auch einfach gewohnt, um diese Zeit auf den Beinen zu sein.

Hätte die Nachricht von dessen Vorgänger gestammt, wäre Chase nicht erschienen. Er hatte Sidmouth nie leiden können und auch dessen Amtsmissbrauch als Innenminister nie gutgeheißen. Für seinen Geschmack hatte der ehemalige Beamte zu viele Augen zugedrückt, was die Taten seiner kaum beaufsichtigten Agenten anging. Peel hingegen hatte andere Mittel und Wege gefunden, Unruhen zu vermeiden. Zudem war er dabei, einige Reformen des Strafrechts im Parlament durchzusetzen.

Allem Anschein nach also ein anständiger Mann. Sein Vater war unter anderem durch seine Textilfabriken zu Reichtum gekommen, während sein Sohn mit Aussicht auf eine einflussreiche Position in Regierung und Gesellschaft erzogen und ausgebildet wurde. Er sei der nächste Pitt der Jüngere, hieß es. Als Innenminister und Günstling Wellingtons würde er gewiss irgendwann Premierminister werden und somit nicht nur diesen Wohlstand, sondern auch den Rittertitel seines Vaters erben.

Chase bog in den Durchgang zur Schatzkammer ein, an dessen Ende er eine Gestalt entdeckte. Der Mann war von mittlerer Größe, hatte kurz geschnittenes Haar und ebene Züge, mit Ausnahme seiner gekrümmten Nase. Peel, in seinen Mantel gehüllt, kam ihm unter dem Steingewölbe entgegen. Scheinbar würden sie sich nicht in seinem Büro unterhalten. Also war das frühe Treffen doch dazu gedacht, ungewollte Mithörer zu vermeiden.

Nach einer kurzen Begrüßung beäugte der Innenminister den Verband um seinen Kopf. „Lassen Sie mich raten, den anderen Kerl hat es noch viel schlimmer erwischt?“

Nein, die Frau, der ich das zu verdanken habe, ist unversehrt und zeigt auch keinerlei Reue. Bis spät in die Nacht hatte er über Minerva Hepplewhite nachgedacht und sich darüber gegrämt, dass sie ihn sowohl entnervte als auch … faszinierte. Wenn er mit der Vermutung hinsichtlich des Todes seines Onkels richtiglag, blieb sie jedoch weiterhin die Hauptverdächtige. Das bestätigte nicht nur ihr plötzliches finanzielles Glück, sondern auch ihre beeindruckende Selbstbeherrschung. Man durfte sie auf keinen Fall unterschätzen.

„Ist nur ein Kratzer … sieht schlimmer aus, als es ist.“

„Folgen Sie mir“, erwiderte Peel.

Langsam schritten sie gemeinsam den Weg entlang, den Chase eben gekommen war.

„Ich hatte gehofft, Sie könnten mir bei der Auflösung eines Rätsels helfen“, begann der Innenminister. „Es geht um den Tod Ihres Onkels.“

Peel war als einer der zahlreichen Gäste auf der Beerdigung erschienen, ebenso wie dessen Vater, der früher geschäftlich mit dem Herzog zu tun hatte.

„Wäre alles wie üblich verlaufen und sein Erbfolger hätte den gesamten Nachlass erhalten, hätte man den Sturz bedauert und damit wäre die Sache erledigt“, fuhr Peel fort. „Aber leider kursieren bereits wilde Gerüchte über das Testament. So viel Geld, und das meiste davon geht nicht an die Familie.“

„Natürlich sind das bereits allgemein bekannte Tatsachen.“

„Ihre Tanten und einige Ihrer Cousins haben ihrer Enttäuschung wohl lautstark Luft gemacht.“

„Es war sein persönlicher Besitz. Er konnte damit tun und lassen, was er wollte.“

„Selbstverständlich. Und doch ließ er so viele verärgerte Verwandte zurück. Zwielichtige Umstände. Rätselhafte Bedachte. Die Angelegenheit bedarf schnellster Aufklärung.“

Insbesondere die rätselhaften Bedachten. Drei Namen. Drei Frauen. Niemand innerhalb der Familie hatte je von ihnen gehört und er hatte es in der letzten Woche gerade einmal geschafft, eine von ihnen aufzuspüren. Während der Testamentsverlesung hatte seine vor Wut kochende Verwandtschaft besagte Damen mit wenig schmeichelhaften Äußerungen bezeichnet.

In welchem Verhältnis standen die drei Frauen zu Onkel Frederick? Minerva hatte behauptet, keine Geliebte gewesen zu sein. Vielleicht waren es die anderen beiden auch nicht. Vielleicht war keine von ihnen ihm je begegnet. Womöglich waren sie bereits verstorben. Der Großteil seiner Familie hoffte jedenfalls darauf.

War sein Onkel tatsächlich so exzentrisch gewesen, so krankhaft, dass er einen beachtlichen Anteil seines Besitzes drei Frauen vermachte, mit denen er rein gar nichts zu tun hatte? Chase lehnte den Gedanken nicht von vorneherein ab, aber wenn dem so wäre, wieso hatte der verstorbene Herzog gerade diese drei erwählt?

„Ich bin ebenfalls der Meinung, dass die Sache aufgeklärt werden muss.“

„Es ist ja nicht mein Wunsch. Wenn es nach mir ginge, würden wir das Ganze auf sich beruhen lassen. Aber der König wünscht es und der Premierminister stimmt ihm zu. Auch andere Minister und Herzoge haben mich deswegen kontaktiert. Selbst mein eigener Vater, Gott bewahre uns … Schon die ganze Woche über kaut man mir ein Ohr ab. ‚Er ist unmöglich einfach so gestürzt‘, und Ähnliches.“

Gemächlich schlenderten sie hinaus auf die Straße.

„Ich nehme an, Sie haben sich den Laufgang auf dem Dach angesehen? Wie ist Ihre Meinung dazu?“

Er ist unmöglich einfach so gestürzt. „Ich habe noch nicht genug in Erfahrung gebracht, um mir eine Meinung bilden zu können. Eigentlich hatte ich erwartet, wenn sich jemand der Angelegenheit annähme, wäre es Ihre Abteilung.“

„Ah, natürlich. Aber das würde nur Öl aufs Feuer gießen. Die Information würde sofort an die Öffentlichkeit gelangen. Jeder wüsste, dass ein gewisser Verdacht besteht. Es wäre ein Skandal für Ihre gesamte Familie, egal, was am Ende herauskäme. Deshalb stecke ich gewissermaßen in der Klemme.“

„Sie müssen doch diskrete Verbindungen haben.“

„Sobald eine offizielle Ermittlung eingeleitet wird, erfährt die Öffentlichkeit davon. Außerdem sind die Agenten, die mir zur Verfügung stehen, nicht gerade feinfühlig. Die Ehre Ihrer Familie wäre unwiderruflich befleckt, Ihre Privatsphäre zerstört.“ Peel hielt an und wandte sich ihm zu. „Sie haben doch Erfahrung in diesem Metier, sowohl aus Ihrem Militärdienst als auch in gesellschaftlichen Angelegenheiten. Man sagte mir, Sie seien der richtige Ansprechpartner für diskrete Ermittlungen.“

„Falls Sie mir damit vorschlagen wollen, die Ermittlung für Sie durchzuführen, seien Sie versichert, dass ich der Idee nicht abgeneigt bin.“

„Das hoffe ich doch. Immerhin war er wie ein Vater zu Ihnen. Sie waren einer seiner Lieblingsneffen. Gewiss wollen Sie wissen, was geschehen ist. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass Sie die Angelegenheit untersuchen würden, egal, was wir von unserer Seite aus unternähmen.“

Selbstverständlich hatte er das vor. Aber das war etwas anderes, als im Namen des Innenministeriums zu handeln. „Meine Position würde jegliche Berichterstattung meinerseits kompromittieren.“

„Sie meinen, falls die Beweise auf jemanden deuten sollten, der Ihnen nahesteht, oder falls die Aufklärung des Falls den Ruf Ihres Onkels in den Schmutz ziehen sollte, wären Sie versucht, wegzusehen oder die Angelegenheit wie ein Gentleman zu regeln“, sagte Peel und lächelte verhalten. „Ich verstehe.“

Hast du ihn umgebracht? Das wissende Lächeln ließ die Frage in seinen Gedanken widerhallen.

„Ihre Rechtschaffenheit in dieser Sache würde zu keiner Zeit in Frage gestellt werden“, versicherte Peel ihm. „Sie genießen den Ruf eines Mannes mit Charakter, selbst wenn Ihre Methoden manchmal ungewöhnlich sind.“

Peel hatte sich also über ihn erkundigt. Wahrscheinlich hatte er dabei mehr in Erfahrung gebracht, als Chase lieb war. „Egal, was ich herausfinde, es wird immer Leute geben, die vom Schlimmsten ausgehen.“

„Machen Sie sich keine Gedanken über diese Leute. Meine Sorge gilt denjenigen, die sich eine schnelle Aufklärung der Lage wünschen. Selbstverständlich wären Sie nicht bei uns beschäftigt. Sie wären keiner unserer Agenten. Sie würden privat ermitteln und nur mir Bericht erstatten. Ich wiederum würde die Informationen privat an gewisse Personen weiterleiten.“

„Was, wenn weniger diskrete Vorgehensweisen vonnöten wären? Immerhin geht es hier möglicherweise um Mord.“ Nach all dem höflichen Geschwätz klang das Wort schonungslos.

Peel warf ihm einen flüchtigen, aber eindringlichen Blick zu. „Sollten Sie zu dem Schluss kommen, dass das Gesetz offiziell eingreifen muss, dann soll es so sein.“ Sie drehten um und kehrten zu dem Durchgang zur Schatzkammer zurück.

„Kann ich meinen Tag in dem Wissen beginnen, dass Sie sich der Sache annehmen?“, fragte Peel. „Ich würde gewissen Personen gern mitteilen, dass eine inoffizielle Ermittlung eingeleitet wurde.“

Chase ließ sich den Vorschlag durch den Kopf gehen. Peel hatte das Rätsel auf ihn abgewälzt. Allerdings hatte er von Anfang an vorgehabt, dem Vorfall auf den Grund zu gehen. Sollte er diesen geheimen Auftrag annehmen, würde ihm wenigstens kein Ermittler des Innenministeriums in die Quere kommen. Andererseits wäre es ihm mehr oder weniger unmöglich wegzusehen, auch wenn er nur inoffiziell für Peel arbeiten würde. Die Wahrheit herauszufinden, wäre nicht nur eine Angelegenheit persönlicher Neugier, es wäre seine Pflicht.

Vielleicht wäre es das Beste für ihn.

„Sie können dem König und dem Premierminister mitteilen, dass ich die Ermittlung bis zum Ende durchführen werde, egal, was dabei herauskommt.“

Kapitel 2

Zwei Tage, nachdem sie Chase Radnor einen Bettwärmer über den Kopf gezogen hatte, goss Minerva Kaffee in drei Tassen, die auf ihrem abgenutzten Küchentisch standen. Beth schöpfte Porridge in Schüsseln und tischte dann einen Laib Brot sowie Butter und Käse auf. Jeremy bewies tadellose Manieren und wartete, bis die beiden Frauen neben ihm Platz nahmen, bevor er mit dem Appetit eines kräftigen jungen Mannes zuschlug.

Wenn Minerva ihn so betrachtete, sah sie immer noch den kleinen Jungen vor sich, der er vor nicht allzu langer Zeit gewesen war. Manchmal musste sie sich selbst daran erinnern, dass vor ihr nun ein einundzwanzigjähriger Mann saß.

Sie brach sich ein Stück Brot ab und rührte ihren Porridge um, während sie beobachtete, wie er herzhaft in den Käse biss. Wahrscheinlich wuchs er immer noch. Es kam ihr so vor, als wäre er erst gestern noch ein hoch aufgeschossener, blonder Knabe gewesen. Nun war er ein hoch aufgeschossener, blonder Mann, der seinen Körper zwar langsam ausfüllte, von Natur aus aber immer noch schlank war. Er hatte sein Haar lang wachsen lassen, da er behauptete, seine Mutter würde ihm jedes Mal den Haarschnitt eines Leibeigenen verpassen, wenn sie sich daran zu schaffen machte.

Er schluckte einen großen Bissen hinunter, bevor er zu sprechen begann. „Ich sage ja nur, ihr hättet mich holen sollen.“

Damit setzte er die Unterhaltung über Mr Radnors ungewöhnliches Auftauchen vom Vortag fort.

„Wärst du nicht ins alte Kutschenhaus gezogen, hätten wir dich überhaupt nicht rufen müssen“, murmelte Beth.

„Das Thema haben wir doch schon durchgekaut, Mutter.“

„Ich meine ja nur, mit dir da draußen hätten wir im Schlaf erstochen werden können, ohne dass du es mitbekommen hättest.“

„Wenigstens wäre er dann nicht auch erstochen worden“, mischte Minerva sich ein. „Wir haben uns auch so tapfer geschlagen, Jeremy. Der Kerl wusste gar nicht, wie ihm geschah. Aber jetzt möchte ich über die Erbschaft sprechen.“

Jeremy grinste. „Ich auch. Das ist eine ordentliche Stange Geld! Ich habe die ganze Nacht lang von einem hübschen paar Schuhe und einer eleganten Kutsche geträumt.“

„Schön, dass du überhaupt schlafen konntest. Ich habe die letzten beiden Nächte kein Auge zugetan vor Schreck“, erwiderte Beth. „Zehntausend Pfund sind ein Vermögen. Und du sagtest ja, es gäbe womöglich noch mehr. Hundert allein wären schon mehr, als ich je zu träumen gewagt hätte. Du wirst reicher sein als sämtliche Damen der feinen Gesellschaft.“

Wir werden reich sein“, korrigierte Minerva sie. „Und ich bin ebenso überwältigt wie du. Die Angelegenheit ist einfach zu sonderbar, insbesondere, da ich diesem Herzog nie begegnet bin. Dessen bin ich mir ganz sicher.“

„Du musst ihm irgendwann mal über den Weg gelaufen sein, kannst dich bestimmt nur nicht mehr erinnern“, sagte Jeremy.

„An einen Herzog würde ich mich garantiert erinnern.“

„Vielleicht ist er einer von diesen komischen Käuzen, die seltsame Dinge tun, wie fremden Leuten Geld zu schenken“, grübelte Jeremy. „Dann hattest du einfach nur Glück.“

„Eine andere Erklärung fällt mir auch nicht ein. Allerdings wusste er über mich Bescheid, also kann es kein reiner Zufall gewesen sein.“

„Er wusste eindeutig zu viel, wenn ihr mich fragt“, murmelte Beth.

Minerva ignorierte sie. „Irgendwann werden wir dem Rätsel auf den Grund gehen, aber bis es so weit ist, werde ich mir dieses Wunder nicht durch die Finger gleiten lassen. Während du von Pferden geträumt hast, Jeremy, habe ich darüber nachgedacht, wie wir das Geld am besten nutzen könnten. Ich habe eine Idee, die ich euch gern unterbreiten möchte.“

„Du willst also diesen Anwalt aufsuchen und deinen Anspruch geltend machen?“, fragte Beth. „Ich sage ja nicht, dass es keine verlockende Aussicht ist. Natürlich habe ich mir auch ein paar Dinge erträumt, wie neue Töpfe und ein paar hübsche neue Hauben. Aber die ganze Sache erscheint mir doch sehr gefährlich. Was, wenn …“ Sie brach ab und rührte nervös in ihrem Porridge herum. „Fünf Jahre lang hast du hier in Sicherheit gelebt. Fünf Jahre lang wusste niemand etwas über deine Ehe … oder den Rest. Diese Angelegenheit könnte eine Tür öffnen, die wir längst verriegelt hatten.“ Sie warf Minerva einen eindringlichen Blick zu.

Da sie Beth als ihre beste Freundin erachtete, nahm sie deren Bedenken ernst. Unter Algernon hatte die ältere Frau für den halben Lohn gearbeitet, um ihren Sohn in dessen Haus großziehen zu dürfen. Und der jungen Braut, die Algernon erwählt hatte, wurde sie dann ebenfalls zur Mutter. Lange bevor Minerva einen Weg gefunden hatte, aus diesem furchtbaren Haus zu fliehen, waren Beth und Jeremy zu ihrer wahren Familie geworden.

„Beth, die Erbschaft abzulehnen, würde nichts an der Tatsache ändern, dass mein jetziger Name an meine Vergangenheit gebunden ist. Beide Identitäten wurden im Testament erwähnt.“

„Sei doch keine Spielverderberin, Ma. Minerva wird stinkreich sein.“ Lachend warf Jeremy die Hände in die Luft. „Reich! REICH!“

„Erzähl ihm lieber den Rest, bevor er mich weiterhin eine verrückte, alte Frau schimpft, die sich zu viele Sorgen macht, Minerva.“

„Wovon redest du da?“

„Jeremy“, begann Minerva. „Als ich dir gestern von Radnors Besuch erzählte, habe ich ein paar kleine Details ausgelassen.“

„Wie klein?“

„Ganz und gar nicht klein“, widersprach Beth. „Im Gegenteil. Enorm riesige Details.“

„Warum lässt du mich das nicht selbst beurteilen?“, fragte ihr Sohn, nun mit ernster Miene.

„Die Umstände, durch die der Herzog zu Tode gekommen ist, waren so unklar, dass man eine Ermittlung eingeleitet hat.“

„Aber du hast doch gesagt, er sei vom Dach gestürzt. Es war ein Unfall.“

„So hat es sich höchstwahrscheinlich zugetragen.“

„Du meinst also, es könnte kein Unfall gewesen sein?“ Er presste die Lippen zusammen. „Das hättest du mir gleich erzählen sollen. Deshalb hat Radnor sich also hereingeschlichen und das Arbeitszimmer durchstöbert. Er hat nach etwas gesucht.“

„Das sagt mir zumindest mein Gefühl. Sollte der Herzog durch anderweitige Umstände gestorben sein, ist es nur natürlich, dass ich verdächtig wirke. Obwohl ich der Familie fremd bin, profitiere ich von seinem Tod. Selbstverständlich erwecken diese Umstände Mr Radnors Neugier. An seiner Stelle würde es mir genauso ergehen.“

„Wie vernünftig du die Situation darstellst“, warf Beth ein. „Es klingt fast so, als wolltest du das Verhalten dieses Schufts entschuldigen.“

Vielleicht wollte sie das auch. Und vielleicht lag es daran, dass sie letzte Nacht von Chase Radnor geträumt hatte. Sie schob es auf die Durststrecke, die ihre weiblichen Gelüste durchleiden mussten. Seit Monaten wurde sie von verruchten Träumen geplagt, in denen ihr verstorbener Mann, Algernon, glücklicherweise keine Rolle spielte, sondern vielmehr unbekannte Männer, denen sie zufällig begegnete. Vorbeieilende Bedienstete, attraktive Ladenbesitzer, Herren, die sie auf der Straße passierten. Nachts spukten sie in ihrem Kopf herum, bis sie frustriert und erregt erwachte.

Nach allem, was mit Algernon geschehen war, hatte sie nicht erwartet, je wieder derartiges Interesse zu verspüren. Aber scheinbar ließ sich die menschliche Natur selbst bei jemandem wie ihr nicht bezwingen. Trotz der aufwühlenden Träume begrüßte sie die Idee, dass ein tot geglaubter Teil ihrer selbst wieder erwachte, wenn auch nur im Schlaf.

Ihre Fantasie über Mr Radnor allerdings war weiter gegangen als alle anderen zuvor. Noch immer hatte sie Mühe, die Bilder aus ihrem Kopf zu verbannen, insbesondere die seiner entblößten Beine. Im Traum hatte sie ihm ein äußerst ansehnliches Paar verliehen.

„Verstehst du jetzt, warum ich so besorgt bin?“, wandte Beth sich an Jeremy.

Minerva beobachtete, wie er die Neuigkeiten verarbeitete, und stellte sich vor, welchem Pfad seine Kombinationsgabe folgen musste. Immerhin hatte sie ähnliche Gedanken gehegt.

Wenn der Herzog tatsächlich vom Dach gestoßen worden war, musste es einen Täter geben. Und wenn Radnor oder gar die Gerichtsbarkeit nach ihm suchten, würde man diejenigen, die von dem Tod profitierten, unter die Lupe nehmen. Sollte jemand in Minerva Hepplewhites Vergangenheit herumschnüffeln, würde herauskommen, dass sie als Margaret Finley unter Verdacht gestanden hatte, ihren Ehemann ermordet zu haben. Damit wäre sie nicht nur eine mögliche Verdächtige im Todesfall des Herzogs, sondern man könnte ebenfalls die Umstände von Algernons Ableben erneut beleuchten.

„Am besten verlassen wir London“, sagte Jeremy. „Es ist jammerschade, ein solches Vermögen aufzugeben, aber so ist es für dich am sichersten.“

Nicht nur für sie, sondern auch für Beth und Jeremy. Ihre Familie.

Sie griff sowohl nach seiner als auch Beths Hand und drückte sie fest. „Wohin sollen wir denn gehen? In welchen Umständen würden wir leben? Bisher haben wir uns über Wasser halten können, weil ich einige meiner Juwelen verkauft hatte. Aber diese Reserven sind fast aufgebraucht.“ Zu ihrem Glück hatte Algernon ihr zu Beginn ihrer Ehe die Erbstücke seiner Mutter geschenkt, und nach seinem Tod war es den Gläubigern nicht gelungen, sie ihr abzunehmen.

„Ich finde schon Arbeit“, sagte Jeremy.

„Ich ebenfalls“, fügte Beth hinzu.

„Auf keinen Fall“, widersprach Minerva ihnen. „Wir packen nicht einfach unsere Siebensachen und flüchten Hals über Kopf. Ich verspreche euch, dass wir England sofort verlassen werden, sobald uns ernsthaft Gefahr drohen sollte. Hoffentlich habe ich bis dahin einen Teil der Erbschaft erhalten, sodass wir nicht nur mit den Kleidern auf unseren Leibern losziehen müssen.“ Erneut drückte sie die Hände der beiden. „Ich schwöre, dass ich euch keinem Risiko aussetzen werde, nur weil ein beachtliches Vermögen lockt, aber ich werde nicht ohne guten Grund fliehen und will alles in meiner Macht Stehende tun, um es gar nicht erst so weit kommen zu lassen.“

Beth runzelte die Stirn. „Wie willst du das anstellen?“

Minerva ließ ihre Hände los und erhob sich. „Kommt mit, dann zeige ich es euch.“

 

Sie gingen nach oben ins Erdgeschoss und betraten das Arbeitszimmer, in dem Minerva Radnor den Bettwärmer über den Schädel gehauen hatte. Die ganze Zeit über wechselten Beth und Jeremy ratlose Blicke.

Minerva trat hinter den Schreibtisch und öffnete eine der Schubladen, aus der sie ein großes Blatt Papier herauszog. Gestern hatte sie ihre Idee ausgefeilt und Bezeichnung sowie Layout der Umrahmung entworfen. Mit einer schwungvollen Geste hielt sie das Plakat hoch.

Beths Augen weiteten sich. Jeremy grinste.

„Hepplewhites Detektei für diskrete Nachforschungen“, las Jeremy laut vor. „Ein guter Name. Einprägsam.“

„Denkst du wirklich darüber nach, das durchzuziehen?“, fragte Beth. „Wir haben oft darüber geredet, aber nie ernsthaft. Es war stets nur ein Traum, eine Gedankenspielerei.“

„Nicht für mich. Ich sitze seit über einem Jahr an den konkreten Plänen“, gestand Minerva. „Ermittlungsarbeit liegt uns. Wir sind wirklich gut darin. Es ist das eine Talent, das ich besitze. Das hat sich vor allem in der Angelegenheit mit Algernon gezeigt. Außerdem haben wir gerade erfolgreich einen Auftrag für Mrs. Drable abgeschlossen. Selbst ich war beeindruckt, wie schnell wir den wahren Dieb ausfindig gemacht haben. Nur wegen der Kosten haben wir bisher kein offizielles Unternehmen gestartet, aber nun besitze ich bald das nötige Geld. Die Erbschaft wird es uns ermöglichen, eine richtige Detektei zu eröffnen, mit Visitenkarten, der entsprechenden Garderobe sowie nötigen Transportmitteln.“

„Ich glaube kaum, dass du die Kanzlei des Testamentsvollstreckers nach dem ersten Besuch mit zehntausend Pfund verlassen wirst“, gab Beth zu bedenken. „Es könnte noch eine ganze Weile dauern, bis es so weit ist.“

„Bis dahin lassen wir in sämtlichen Geschäften auf Vertrauensbasis anschreiben. Das machen doch alle.“

„So wie ich das sehe, wird es ein Kinderspiel“, erwiderte Jeremy und grinste breit.

Seine Mutter warf ihm einen missbilligenden Blick zu. „Das ist ganz und gar kein Spiel.“

„Ist es wohl, wenn man ein Händchen dafür hat.“

Das hatte er. Sie alle bewiesen Talent in diesem Metier. Dieses hatte sich in einer Situation gezeigt, in der es um Leben oder Tod ging. Unter Druck lernte jeder schnell.

„Ich habe an alles gedacht“, fuhr Minerva fort. „Ich lasse anhand dieser Skizze ein geschmackvolles Türschild für uns anfertigen. Ein kleines aus Messing. Außerdem werde ich für jeden von uns Visitenkarten drucken lassen und Mrs Drable bitten, uns allen weiterzuempfehlen, die unsere Dienste benötigen könnten. Allerdings haben wir bereits unsere erste Klientin.“

„Und wer soll das sein?“, fragte Beth.

„Ich.“

 

„Wie du bereits sagtest, hat sich die Tür zur Vergangenheit wieder geöffnet, Beth. Ich bin mir eines gewissen Risikos bewusst. Nach Radnors Einbruch bin ich in Panik geraten, weil ich mich daran erinnerte, wie es war, mit einem Schwert im Nacken zu leben.“ Selbst jetzt, als sie davon sprach, stieg die Angst erneut in ihr hoch. „Aber ich habe beschlossen, mich nicht länger zu verstecken. Ich will dem Risiko mit Taten entgegentreten, nicht mit Angst. Ich werde nicht länger weglaufen.“

Inzwischen hatten sie sich in die Bibliothek begeben. Beth und Jeremy saßen auf dem Diwan, während sie vor dem Kamin stand.

„Mutige Worte, was auch immer sie bedeuten mögen“, erwiderte Beth.

„Sie bedeuten, dass es am klügsten wäre, meine Unschuld im Todesfall des Herzogs zu beweisen, um jegliche Gefahr zu bannen. Und das bewerkstelligen wir, indem wir den wahren Täter überführen. Das würde ich allerdings auch dann tun, wenn die Erbschaft mit keinem Risiko für mich verbunden wäre. Dieser Mann hat mir ein unglaubliches Geschenk gemacht. Wenn ihn tatsächlich jemand vom Dach gestoßen hat, will ich wissen, wer es war. Außerdem will ich wissen, warum der Herzog gerade mir sein Vermögen vermacht hat.“ Während sie ihre Entscheidung begründete, schritt sie vor dem Kamin auf und ab. „Seid ihr deswegen nicht ebenfalls neugierig?“

„Selbstverständlich“, erwiderte Beth.

„Dann ist Hepplewhites Detektei für diskrete Nachforschungen ab heute offiziell im Geschäft und diese Angelegenheit unser erster Fall. Um uns als seriöses Unternehmen zu etablieren, brauchen wir jedoch Unterstützung. Erst einmal natürlich nur aushilfsweise, aber später hoffentlich durch weitere Festanstellungen. Beispielsweise brauchen wir eine junge Frau, um einiges jünger als ich. Junge Mädchen können bei Ermittlungen äußerst nützlich sein.“

„Ein Kerl, der einen Gentleman abgeben kann, wäre auch nicht schlecht“, fügte Jeremy hinzu. „Unser Plan, Mr Finley zu überführen, hätte wesentlich schneller geklappt, wenn uns so jemand zur Verfügung gestanden wäre.“

Minerva nickte zustimmend. „Auf deine Kutsche und die neuen Schuhe wirst du noch warten müssen, bis ich das Geld tatsächlich besitze, Jeremy. Bis dahin mieten wir Droschken. Außerdem müssen wir schnellstmöglich neue Kleidung bestellen.“ Sie warf einen Blick auf Jeremys langes Haar. „Ein Besuch beim Friseur wäre ebenfalls angebracht. Aber das hat Zeit bis nach deiner ersten Aufgabe.“

„Hast du vor, hier zu bleiben? Oder willst du eine bessere Unterkunft anmieten?“, fragte Beth. „Ich will mich ja nicht beschweren, aber mein Zimmer ist ziemlich zugig.“

„Zunächst bleiben wir hier.“ Minerva betrachtete die heruntergekommene Einrichtung der Bibliothek. „Zumindest das Arbeitszimmer ist einigermaßen vorzeigbar für den Augenblick. Aber irgendwann …“ In Gedanken stellte sie sich ein hübsches Stadthaus in einer wohlhabenden Gegend vor, in dem es noch genug Platz für ein oder zwei Bedienstete gäbe.

„Bevor du jeden Schilling deiner Erbschaft ausgibst, sollten wir vielleicht erst einmal überlegen, wie wir den Tod des Herzogs am besten aufklären können“, sagte Beth.

„Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Üblicherweise sind Familienmitglieder in solche Fälle verwickelt. Deshalb haben die Behörden ja auch sofort mich verdächtigt, nachdem Algernon erschossen wurde.“

„Es wird nicht einfach sein, an die Familie eines Herzogs heranzukommen. Du kannst ja schlecht mit deiner Visitenkarte hinmarschieren und verkünden, dass du eine Ermittlung leiten möchtest.“

„Das nicht, aber selbst aus kurzer Entfernung kann man wichtige Details aufschnappen.“ Erneut schritt sie auf und ab, während sie sich gedanklich ihren Plan zurechtlegte. „Jeremy, du hast bereits eine erste Aufgabe. Finde heraus, wo der Herzog gelebt hat, und mische dich unter die Stallburschen. Versuche, so viele Informationen wie möglich zu sammeln.“

„Ich werde mich einfach als Aushilfe anbieten, falls Arbeit verfügbar ist. Die meisten Stallungen benötigen hin und wieder zusätzliche Unterstützung. Bestimmt stellen mir die hier in unserer Gegend Empfehlungen aus.“

Somit nahm Hepplewhites Detektei für diskrete Nachforschungen offiziell den Dienst auf.

 

Drei Tage nach seinem Gespräch mit Peel stieg Chase vor Whiteford House vom Pferd und übergab die Zügel einem Stallburschen.

„Du bist neu hier“, bemerkte er, während er dabei zusah, wie der junge Mann das Tier absattelte.

„Hab vor zwei Tagen angefangen, Sir.“ Der große, blonde Bursche errötete unter seiner Aufmerksamkeit. „Ich striegel ihn gern für Sie, wenn Sie wollen.“

„Leider werde ich nicht lange genug bleiben“, erwiderte er, beeindruckt von dem Angebot. Offensichtlich hatte sein Cousin Nicholas seine Angestellten gut gewählt. Jetzt, da die alten Bediensteten ihren Anteil der Erbschaft als Ruhegelder verwendet hatten, musste der junge Herzog eine Schar neuer Kräfte eingestellt haben.

Chase näherte sich der Eingangstür von Whiteford House. Als eines der ältesten Anwesen auf der Park Lane lag es von Bäumen umringt am nördlichen Ende der Straße. Ursprünglich war es als Landhausvilla erbaut worden, als diese Gegend noch weitgehend ländlich war und der westliche Bereich der Oxford Street Tyburn hieß. Die Gärten des Anwesens waren beeindruckend weitläufig. Der frühere Herzog hatte es spontan gekauft, um einen Rivalen davon abzuhalten, die schöne Anlage abzureißen und zu bebauen.

Chase betrachtete die alte Fassade, die angeblich von Inigo Jones entworfen worden war. Sie spiegelte die typischen Merkmale des Klassizismus wieder, den der Architekt nach England mitgebracht hatte, und ähnelte von seiner äußeren Aufmachung her dem Banqueting House. Im Inneren ließ der Stil jedoch zu wünschen übrig. Der frühere Herzog hatte einen äußerst exzentrischen Geschmack gehabt, der sich bemerkbar machte, sobald Chase die Eingangshalle betrat.

Das Mobiliar hatte nichts mehr von der schlichten, klassischen Eleganz des Äußeren. Die Wände und Zimmerecken waren voll von lebenslang angehäuften Schätzen. Exotische Tierhäute und Waffen reihten sich an vergoldetes Metall. Polstermöbel in strahlenden Juwelenfarben hoben sich grell gegen die pastellfarbene Tapete ab. Was Nicholas wohl mit dem geerbten Anwesen samt Inhalt vorhatte?

Da sein Cousin nun den Titel des Herzogs innehatte, musste Chase die Formalitäten eines offiziellen Besuchs erdulden. Man nahm erst seine Visitenkarte entgegen, bevor man ihn hinauf zum Wohnbereich des Hausherrn geleitete. Vor einem Monat noch hatte es in Nicholas‘ damaligem Wohnsitz weder Bedienstete noch derart viele Zimmer, die man passieren musste, gegeben. Bis vor Kurzem hatte dieser als Erster in der Erbfolge von einem solchen Vermögen nur träumen können. Doch nun stellte sich die Realität weitaus weniger glanzvoll heraus.

Chase traf seinen Cousin im Ankleideraum an, wo dieser es sich auf einem Sessel bequem gemacht hatte, der vor einem Fenster mit Ausblick auf den Park stand. Auf seinem Schoß lag ein geöffnetes Kontobuch, dessen Inhalt er stirnrunzelnd studierte. Seine Lektüre schien ihn so zu beschäftigen, dass er Chases Eintreten gar nicht bemerkte.

Männliche Nachfolger dominierten die Linie der Radnors, sowohl in ihrer Generation als auch in der vorherigen. Aus diesem Grund hatte der frühere Herzog auch fünf Brüder, die ihrerseits insgesamt sechs Söhne hervorgebracht hatten. Unter den Cousins verband Chase und Nicholas die engste Freundschaft, ohne das Gezeter und Gezanke, das zwischen den anderen herrschte.

Nur der Herzog selbst hatte keinen männlichen Erben gezeugt. Onkel Frederick hatte sich noch nie den gesellschaftlichen Erwartungen gefügt.

„Schlechte Neuigkeiten?“, fragte Chase.

Nicholas blickte auf, lächelte reumütig und legte das Kontobuch neben sich auf dem Boden ab. „Schreckliche Neuigkeiten.“ Er sah sich in dem weitläufigen Ankleideraum um, sein Blick schweifte über die teuren Mahagonischränke, die Vorhänge aus reiner Seide und den chinesischen Teppich. „Dieses Ding schluckt ein Vermögen. Noch vor Ende des Jahres werde ich das Mobiliar verkaufen müssen, um die Rechnungen zu bezahlen. Die Pachtgelder reichen kaum aus, um die Landhäuser instand zu halten.“

„Vielleicht könnte ein fähiger Landverwalter die Lage ändern.“

„Nicht schnell genug.“ Nicholas deutete auf das Kontobuch. „Natürlich hat Onkel Frederick die Ländereien nie eingefriedet, wie sein Vater zuvor ebenfalls nicht. Eine gutherzige Entscheidung, aber äußerst unwirtschaftlich. Jetzt muss ich mir überlegen, ob ich derartige Maßnahmen ergreifen will. Aber dadurch würden viele Familien ihr Zuhause verlieren …“ Hilflos zuckte er mit den Achseln.

„Die Ländereien haben ihn nie groß interessiert.“ Chase sprach das Offensichtliche aus, aber genau darin lag nun einmal der Kern des Problems.

„Seine anderen Investitionen laufen bestens. Großartig sogar. Jede von ihnen bringt haufenweises Geld ein. Davon hat er mir natürlich nichts vermacht.“ Er lachte humorlos auf. „Oder dir. Oder irgendeinem von uns. Er war schon immer ein komischer Kauz, aber sein Testament erreicht neue Höhen der Exzentrizität. Was für einen Spaß er sich mit uns erlaubt hat.“

Niemand hatte über den Spaß gelacht, als das Testament verlesen wurde. Ganz im Gegenteil. Eine Welle der Entrüstung war losgebrochen. Nicholas hatte wie erwartet die zum Titel gehörigen Ländereien und sogar ein oder zwei zusätzliche Anwesen geerbt. Aber das eigentliche Vermögen des Herzogs lag in seinen unzähligen Investitionen: Landesausbau, Kanalbau, Schifffahrt, Fabriken … Alles, was er berührte, wurde zu Gold. Vor seinem Tod war sein persönlicher Reichtum um ein Zwanzigfaches gewachsen.

Doch nichts davon, nicht einen einzigen Schilling, hatte er seiner Verwandtschaft vermacht.

Da Chase ohnehin nichts erwartet hatte, hielt sich seine Enttäuschung in Grenzen. Aber der Rest seiner Cousins hatte auf eine üppige Erbschaft gehofft, vor allem auch deren Frauen.

„Hast du irgendetwas Neues erfahren?“, erkundigte Nicholas sich. „Ich weiß, die Beerdigung ist erst eine Woche her, aber sobald der Nachlass aufgeteilt wird, bleibt nicht mehr viel für uns übrig, und ich würde schon gern wissen, wie es mit meinem Anteil aussieht. Damit bin ich sicher nicht der Einzige.“

„Nicht viel.“ Chase zog es vor, ihm nicht von Peels Auftrag zu erzählen, inoffiziell im Todesfall ihres Onkels zu ermitteln. Die Situation war so schon heikel genug. Erführe die Familie davon, wäre sie nahezu unmöglich.

„Ich habe eine der Unbekannten aufgespürt. Minerva Hepplewhite.“ Die Information musste wenig befriedigend für Nicholas sein, immerhin gab es zwei weitere rätselhafte Erbinnen, die er noch nicht ausfindig gemacht hatte. Eigentlich hatte er auf eine schnelle Aufklärung der Angelegenheit gehofft, da er darauf spekulierte, Minerva würde die anderen beiden Frauen kennen und ihn zu ihnen führen können. Aber daran glaubte er nicht länger.

„War sie seine Geliebte?“

„Ich weiß es nicht. Sie hat es abgestritten.“

„Bestimmt hat sie gelogen“, vermutete Nicholas. „Um Gerede zu vermeiden. Ist sie hübsch?“

Er glaubte nicht, dass Minerva Hepplewhite sich groß um Gerede scherte. „Sie ist attraktiv.“

„Was für eine bemerkenswert nichtssagende Beschreibung.“

Chase rief sich ins Bewusstsein, wie sie auf dem Diwan gesessen hatte, ihre Kurven kaum sichtbar unter dem bauschigen Morgenrock, ihr fesselnder Blick fest auf ihn gerichtet. „Dann eben: äußerst attraktiv. Besser? Gut aussehend wäre treffender als hübsch. Sie hatte etwas Auffallendes an sich. Spielt es überhaupt eine Rolle, ob sie seine Geliebte war oder nicht? Die Erbschaft gehört ihr so oder so. Damit wäre die Sache erledigt und ich kann mich der Suche nach der nächsten Erbin widmen.“

Aber das stimmte so leider nicht ganz. Da er zugestimmt hatte, den Todesfall des Herzogs zu untersuchen, blieb ihm kaum noch Zeit, die beiden anderen Bedachten aufzuspüren. Er würde zum Melton-Park-Anwesen in Sussex reisen müssen, um sich die Stelle anzusehen, von der sein Onkel gestürzt war. Außerdem musste er die Angestellten dort befragen. Sollte sich herausstellen, dass es kein Unfall war, würde er auch die Geschäftspartner des Herzogs überprüfen müssen, um zu sehen, ob ihm etwas Verdächtiges auffiel.

Eine gründliche Ermittlung würde Wochen, wenn nicht sogar Monate dauern.

Nicholas erhob sich und trat ans Fenster, betrachtete den Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Da man die Parkmauer vor Kurzem durch einen Eisenzaun ersetzt hatte, war die Aussicht um Einiges besser. „Ich hatte gehofft, mittlerweile längst etwas über die Todesursache erfahren zu haben, entweder vom Großkanzler oder Innenministerium. Glaubst du, sie sind absichtlich diskret oder einfach nur blind? Ich kann doch nicht der Einzige sein, dem die Angelegenheit verdächtig vorkommt.“

„Wenn es eine Ermittlung gibt, wird sie vermutlich äußerst diskret ablaufen. Wahrscheinlich würde man dir gar nichts darüber mitteilen.“

„Es gefällt mir nicht, im Unwissen gelassen zu werden. Sollte jemand Nachforschungen anstellen, will ich davon erfahren. Wenn nicht, will ich wissen, warum. Sobald der Trubel mit dem Testament geregelt ist, könntest du dich in Melton Park umsehen und herausfinden, was Sache ist. Wenn keiner die Angelegenheit ernst nimmt, kümmere ich mich eben selbst darum. Mit deiner Hilfe, versteht sich.“

Chase widersprach seinem Cousin nicht. Dessen Entscheidung wäre seiner eigenen Mission nur dienlich, denn dann müsste er seine Ermittlung wenigstens ihm gegenüber nicht länger geheim halten. „Ich kann mich gern für dich umhören, wenn du willst.“

Nicholas, der scheinbar seinen Gedanken nachgehangen hatte, richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. „Welch glücklicher Zufall, dass mein Cousin ein Talent für diese Dinge besitzt. Eine derart heikle Angelegenheit würde ich niemals einem fremden Ermittler anvertrauen.“ Er streckte die Arme in die Luft und räkelte sich wie eine Katze. „Jetzt gehe ich erst einmal reiten und flüchte mich in die Illusion, ein sorgenfreies Leben zu führen. Willst du mich begleiten?“

„Ich muss mich leider um den Auftrag eines ungeduldigen Klienten kümmern und meiner Arbeit nachgehen.“

„Hoffentlich lenkt dieser Klient dich nicht zu sehr von meinem Problem ab.“

„Du bist der Klient.“

Gemeinsam gingen sie hinunter ins Erdgeschoss. „Tante Agnes besteht auf einem Familientreffen“, sagte Nicholas. „Sie will es hier abhalten. Angeblich, weil ich nun das neue Familienoberhaupt bin, aber ich glaube, sie will einfach nur, dass ich für die Verpflegung aufkomme.“

„Hoffentlich erwartet sie kein Achtzehn-Gänge-Menü.“

„Sei bitte ebenfalls hier, wenn der Rest der Verwandtschaft einfällt. Du kannst mir den Rücken stärken, während ich ihnen zu erklären versuche, dass es wahrscheinlich noch Monate dauert, bevor irgendwer seinen Anteil erhält. Ich glaube, keiner von ihnen versteht so richtig, wie winzig die Ausbeute ausfällt, falls der übrige Besitz unter uns aufgeteilt wird.“

„So kompliziert ist das nun auch wieder nicht. Ziehe besser den Anwalt hinzu, damit er ihnen die Lage erklärt.“

Nicholas ließ den Stallburschen ausrichten, sein eigenes Pferd zu satteln und Chases vorzuführen, bevor sie das Haus verließen. „Also, wirst du dabei sein?“

„Das Spektakel lasse ich mir auf keinen Fall entgehen.“ Er wollte seinen Cousin nicht im Stich lassen, auch wenn er sich bereits lebhaft vorstellen konnte, wie dieser ihn in den Ansturm aus Vorwürfen und Wutgeschrei hineinziehen würde.

Niemand würde die einfachste Erklärung für diesen Schlamassel akzeptieren: Der Herzog hatte sein Testament eben einfach so verfasst, weil er es wollte.

Sein Onkel war schon immer etwas seltsam gewesen. Launenhaft, mit radikaler politischer Gesinnung, auch wenn er damit wenig am Hut hatte. Manchmal großzügig, dann wieder geizig. Außerdem war er blitzgescheit. Einmal hatte er spontan beschlossen, mehrere Fremdsprachen zu lernen, aber nicht Deutsch oder Russisch, sondern Chinesisch und die Sprache der brasilianischen Ureinwohner.

Er war jedoch nicht verrückt, sondern einfach ein wenig verschroben. Es passte definitiv zu ihm, sein Geld an völlig Fremde zu verschenken, weswegen es wahrscheinlich unmöglich wäre, die beiden anderen Frauen zu finden.

Der blonde Stallbursche von vorhin führte Chases Pferd vor. Bevor er aufstieg, gab er dem fleißigen Kerl einen Schilling. Über den Rücken des Tiers hinweg erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Mit einem Stiefel im Steigbügel hielt er inne und beobachtete die gegenüberliegende Straßenseite.

Eine Frau schlenderte entlang des Zauns, der den Park umgab. Die Krempe ihrer Haube verdeckte ihr Gesicht, ihre Kleidung wirkte respektabel, aber unscheinbar. Nichts, was auffällig wäre. Aber in seiner Erinnerung regte sich etwas. Er war sich fast sicher, dass sie diesen Weg bereits entlanggegangen war, als er hier eintraf.

„Sir?“, wandte der Stallbursche sich an ihn.

„Halte ihn bitte noch kurz. Ich bin gleich wieder da.“ Während der Bursche und Nicholas verwirrte Blicke wechselten, marschierte Chase auf die Straße.

 

Betont desinteressiert spazierte Minerva an Whiteford House vorbei. Obwohl die auffällige Fassade bestimmt viele Blicke auf sich zog, wollte sie es vermeiden, unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen. Man konnte nicht endlos an einem Haus vorbeilaufen, ohne verdächtig zu wirken, und sie hatte bereits einige Runden hinter sich.

Diesmal sah sie zwei Männer aus der Tür kommen. Einer von ihnen war Chase Radnor. Umso mehr Grund, sich unauffällig zu verhalten, obwohl sie zu gern einen Blick riskiert hätte. Vielleicht war der andere Mann ja der neue Herzog. Jeremy, der eine Aushilfsstelle in den Stallungen ergattert hatte, berichtete ihr, dass der Herzog tagsüber meist zu Hause verweilte, aber oft gegen drei Uhr nachmittags ausging. Jetzt war es Viertel nach drei.

Gerade, als sie vorbeiging, führte Jeremy ein Pferd vor. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass die anderen beiden Männer sich auf ihn konzentrierten. Sie nutzte die Gelegenheit, den Kopf zu drehen und den Unbekannten eingehend zu mustern.

Er war genauso groß wie Chase und hatte dasselbe dunkle Haar. Seine Stiefel und Kleidung waren von bester Qualität. Insgesamt schienen sie viel gemeinsam zu haben.

Entschlossen setzte sie ihren Weg fort. Nach einer weiteren Runde fand ihre Inspektion jedoch ein jähes Ende.

Ein warmer Körper erschien neben ihr, Schritte, die sich ihrem Gang anpassten. Sie wich zurück und hob den Kopf. Chase Radnor blickte auf sie hinab.

Sie hatte ihn nicht kommen hören. Normalerweise merkte sie sofort, wenn jemand sich ihr näherte.

„Genießen Sie das Wetter?“, fragte er. „So weit entfernt von zu Hause?“

Sie wandte sich ihm ganz zu, was ihr zugleich einen hervorragenden Blick auf das Haus hinter ihm bot. „Ich gehe oft im Hyde Park spazieren, und heute wollte ich einfach die herrlichen Bauten in dieser Nachbarschaft bewundern.“

„So oft, wie Sie bereits vorbeigelaufen sind, scheint mir das eher eine genaue Inspektion zu sein. Manch einem käme das gewiss verdächtig vor. Diebe kundschaften oft ihr Ziel auf diese Weise aus, bevor sie sich unerlaubt Zugang verschaffen.“

„Darüber wissen Sie ja wohl weitaus mehr als ich.“

„Was genau interessiert Sie denn an Whiteford House, Mrs Hepplewhite?“

Betont genervt verdrehte sie die Augen und sah über seine Schulter, um anzudeuten, wie sehr sie es hasste, aufgehalten zu werden. Dabei konnte sie beobachten, wie der andere Mann auf sein Pferd stieg.

„Es sieht einfach nur beeindruckend aus“, erwiderte sie und richtete den Blick wieder auf ihn. „Außerdem heißt es Miss Hepplewhite.“

Seine blauen Augen funkelten amüsiert, was seinem ernsten Gesicht einen ganz neuen Reiz verlieh. Schmetterlinge flatterten aufgeregt in ihrer Magengegend und lenkten sie fast gänzlich von Whiteford House ab.

„Sie geben sich also als ledig aus? Was, wenn Sie erneut heiraten möchten und dann die Wahrheit erklären müssen?“

Sie gluckste undamenhaft. „Gute Güte.“ Mit Mühe rang sie nach ihrem Heiterkeitsausbruch um Fassung. „Ich werde ganz gewiss nicht heiraten. Wissen Sie, eine enge Freundin verriet mir einst, dass die Ehe schlimmer sei als im Gefängnis zu stecken.“ Die Erinnerung an diese ganz spezielle Art von Gefangenschaft ernüchterte sie. Just in dem Moment bemerkte sie, wie der Herzog die Ländereien verließ und auf die Straße ritt.

Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie, ihm zu folgen.

Radnor warf einen Blick über die Schulter. „Aha, nicht das Haus interessiert Sie, sondern die Familie.“

Sie gab sich unschuldig. „Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.“

„Das ist mein Cousin“, erklärte er und trat zur Seite. „Nur zu, sehen Sie genau hin.“

Obwohl sein Tonfall sie irritierte, folgte sie seiner Aufforderung. Das Pferd bog ab und trabte auf sie zu. Es gelang ihr, den Herzog relativ unauffällig zu mustern. Er war gut aussehend, ähnelte Chase, obwohl seine Züge weniger markant waren. Sein prägnanter Knochenbau ließ ihn verwegen wirken, nicht schroff.

Er ritt an ihnen vorbei, und ihr Blick folgte ihm, bis sie nur noch seinen Rücken sehen konnte. Dann gab sie auf und wandte sich wieder Radnor zu, der sie eindringlich beobachtete.

„Er scheint sehr ernüchtert zu sein“, sagte sie.

„Der Tod unseres Onkels macht ihm zu schaffen“, erwiderte er. „Seiner Meinung nach könnte es sich um einen Mord handeln.“ Plötzlich verbeugte er sich. „Nun muss ich aber los. Der Stallbursche, der mein Pferd bereithält, hat bestimmt noch andere Pflichten.“

„Glauben Sie das ebenfalls?“, fragte sie, als er sich bereits ein paar Schritte entfernt hatte. „Dass es Mord war, meine ich.“

Er warf ihr einen Blick über die Schulter zu. „Ich bin mir ziemlich sicher.“