Erstes Kapitel
Jetzt, wo der Moment gekommen war, sank Isoldes Mut. Ein Schauer durchlief sie, der nicht allein auf die klirrende Kälte zurückzuführen war, die in der gemieteten Kutsche herrschte.
„Er wird mich hassen.“
Mrs Quick schnalzte mit der Zunge. „Jetzt aber nicht das Pferd von hinten aufzäumen, meine Liebe. Es steht außer Frage, dass dieser de Baudresey den Captain, deinen armen Papa, sehr mochte, wie er es dir gesagt hat.“
„Ja, aber das wird ihn nicht dazu bringen, mich zu mögen“, argumentierte Isolde.
„Das tut nichts zur Sache. Ich habe ihn oft sagen hören, dass man bei dem Herrn so gut wie zu Hause aufgehoben ist.“
„Das werde ich nicht sein, wenn er mich hasst.“
„Warum sollte er das tun?“
„Du weißt sehr gut, warum, Madge. Weil ich keine anständige junge Dame bin und es auch nicht sein will.“
Mrs Quick seufzte. „Dann wirst du es lernen müssen. Außerdem kannst du nirgendwo anders hin. Das ist eine Tatsache.“
Dass ihr ihr kläglicher Zustand derart unverblümt vor Augen geführt wurde, trug nicht dazu bei, Miss Cavanagh Zuversicht einzuhauchen. Zunächst durch die Aussicht auf das Abenteuer, den Ärmelkanal nach England zu überqueren, gestärkt und in dem Wissen, dass ihre Zukunft durch Papas Weitsicht gesichert war, dauerte es nicht lange, bis sich Zweifel einstellten.
Die Reise schien endlos zu sein, und das Schiff hatte so stark gewankt, dass Isoldes Magen drohte, seinen Inhalt wieder hervorzuwürgen. Trotz des rauen Dezemberwindes war sie an Deck geblieben und hatte beobachtet, wie sich die Küste allmählich abzeichnete. Dabei hatte sie leider viel zu viel Zeit gehabt, um über ihren möglichen Empfang nachzudenken.
Was, wenn dieser Thomas de Baudresey sie verstoßen würde? Trotz Papas Zusicherung war es denkbar, dass ihm das Eindringen eines jungen Mädchens in seinen Haushalt, das nur wenig über die Gepflogenheiten des englischen Adels wusste, zuwider sein würde. Nicht, dass sie darauf erpicht war, jene Gepflogenheiten zu kennen. Sie würde die ganze Zeit über Röcke tragen und knicksen müssen. Und da keine Gefahr bestand, auf einen feindlichen Soldaten zu stoßen, brauchte sie weder ihre Pistolen noch Papas Schwert, das sie sorgfältig in den Boden ihres Koffers gepackt hatte. Ihr Fähigkeiten wären vergeudet. Denn, wer würde wollen, dass sie ein Kaninchen oder ein Huhn tötete, geschweige denn häutete und ausweidete, um es in den Topf zu bringen?
Je mehr sie darüber nachgedacht hatte, desto düsterer waren ihr die Aussichten erschienen. Sie vermisste bereits die Kameradschaft im Lager, die fröhlichen Begrüßungen von Papas Männern und die verlässliche Hilfe der anderen Frauen, die sich ihnen angeschlossen hatten. Sie konnte den Gedanken an Weihnachten kaum ertragen ohne die fröhlichen, wenn auch unbeholfenen Tänze zu Sergeant Randalls Fiedel, die Wettkämpfe und die lautstarke Anfeuerung der Menge, wenn die Champions um einen Preis rangen, den Geruch von gerösteten Kastanien und saftigem Schwein, das fließende Bier und den Wein und vor allem Papas ansteckendes Lachen.
Aber es gab kein Zurück mehr. Sie musste das Beste daraus machen und lernen, in ihrem neuen Leben zurechtzukommen. Zweifellos wären die Feierlichkeiten anders, nüchterner und weit weniger erfreulich.
Ein wenig von ihrem Optimismus war zurückgekehrt, als das Schiff sich Langer Point genähert hatte und in die Flussmündung eingebogen war. Sie war vorher schon einmal hier gewesen, als ihre Mutter gestorben war und Papa sie abgeholt hatte. Damals hatte er sich Zeit genommen, seinen Freund zu besuchen, bevor sie lossegelten. Isolde war zu jenem Zeitpunkt erst neun Jahre alt gewesen, und ihre Erinnerung an Colonel Sir Thomas de Baudresey war vage. Doch kaum dass sie die dunklen Mauern von Langer Fort erblickt hatte, hatte sie ein Déjà-vu-Gefühl überkommen.
Vielleicht würde das hier doch gar nicht so schlecht werden. Sie war der Familie nicht vollkommen fremd. Sie hatte damals die Ehefrau getroffen, konnte sich aber nicht an sie erinnern. Ihr Vater hatte voller Zuneigung von seinem Freund und Mentor gesprochen, der sein Colonel gewesen war, als Desmond Cavanagh noch ein einfacher Leutnant war. Er hatte seiner Tochter gesagt, dass sie nichts als Freundlichkeit erfahren würde.
Als das Schiff in den Hafen von Harwich einlief, war es Isolde gelungen, sich an diesen Glauben zu klammern. Dieses Gefühl hatte genau bis zum Essen im Duke’s Head und der Anmietung der Kutsche angedauert. Doch die letzte Etappe ihrer Reise wurde ihr zum Verhängnis. Je näher sie Bawdsey Grange kamen, desto verzagter wurde sie.
Als die Kutsche durch ein Paar offene schmiedeeiserne Tore bog und wieder Fahrt aufnahm, als die Pferde das Gefährt eine lange Einfahrt hinaufzogen, klopfte Isoldes Herz unregelmäßig und ihr Mund fühlte sich trocken an. Sie umklammerte das Retikül, das in ihrem Schoß lag, und fühlte das darin gefaltete steife Papier, das der einzige Pass war, den sie besaß, um diese Reise zu unternehmen.
Sie spürte, wie Madges Hand ihren Arm drückte.
„Nur Mut, meine Liebe. Es wird gut werden, du wirst sehen.“
Isoldes Lippen zitterten und in ihren Augen sammelten sich Tränen. „Ich wünschte, du würdest bei mir bleiben, Madge.“
„Du weißt doch, dass ich das nicht tun kann, Izzy, mein Liebling. Ich gehöre hier nicht zu deinen Leuten, und außerdem wartet meine Familie auf mich.“
„Das sind nicht meine Leute.“ Isolde betrachtete das Profil der älteren Dame, das sie in dem schummrigen Licht, das durch die Kutschenfenster fiel, nur undeutlich ausmachen konnte. „Ich könnte mit dir nach Irland kommen. Oder zumindest bis nach Cheshire. Wir könnten Mamas Familie ausfindig machen. Sie könnten mich aufnehmen. Sie sollten mich aufnehmen.“
„Du weißt, dass das nicht möglich ist, Izzy. Dein Papa hat mir gesagt, dass sie dich nicht kennenlernen wollen, nicht nachdem deine Mama mit ihm durchgebrannt ist.“
Der Wagen wurde langsamer. Isolde unternahm einen letzten Versuch, ihr Schicksal abzuwenden, und sprach schnell und leise. „Ich könnte mit dir leben, Madge, nicht wahr? Ich würde arbeiten. Ich würde dir nicht zur Last fallen. Du weißt, was ich kann; du kennst mich lange genug.“
„Das tue ich, und ich weiß, dass es nicht richtig wäre. Wie würde es dir nach einem solchen gesellschaftlichen Abstieg gehen? Ich gehöre nicht deiner Klasse an. Nein, das geht nicht, selbst wenn ich es dir anbieten könnte. So wie es aussieht, werde ich selbst eine Bettlerin sein.“
Isolde sagte nichts mehr. Es war ungerecht, Madge zu quälen. Sie war viel länger geblieben als vorgesehen, nur um sich um Isolde zu kümmern und sie sicher hierher zu bringen. Sie wäre schon lange fortgegangen, wenn Captain Cavanagh sie nicht gebeten hätte, zu bleiben, und sie bezahlt hätte, damit sie seine Tochter beaufsichtigte, die zu schnell wuchs, als dass man sie allein in einer Kompanie von Soldaten hätte herumlaufen lassen können. Zumindest hatte es so angefangen, bevor Madge und Papa …
Die Tür öffnete sich, und dahinter kam der Wachmann zum Vorschein, der zum Schutz der Kutsche mit ihnen reiste.
„Hier ist es, Miss. Soll ich Ihnen heraushelfen?“
Er ließ die Stufen herunter und reichte Isolde die Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Am liebsten wäre sie ohne Hilfe hinuntergesprungen, aber sie nahm an, dass sie sich von nun an am besten wie eine junge Dame verhalten sollte. Sie ergriff die dargebotene Hand und trat hinaus, wobei ihr Blick auf die Fassade von Bawdsey Grange fiel.
Es erhob sich über einer breiten Steintreppe mit einem Säulenportikus, der zu einer schweren Eingangstür führte. Das Haus wirkte eher ausladend als einengend, es hatte nur ein paar Stockwerke und erstreckte sich dafür zu beiden Seiten. Isolde atmete ein wenig leichter. Sie hatte nur eine vage Erinnerung an ein großes, dunkles Gebäude im Kopf gehabt, aber obwohl es grau war, war Bawdsey Grange nicht das imposante Herrenhaus, das sie sich vorgestellt hatte.
Als sie die Treppe hinaufstieg, erwartete sie fast, dass die Haustür auffliegen und eine Flut von Bediensteten ausspucken würde. Sie blieb jedoch geschlossen und wenig einladend, und Isolde war erleichtert, Madge an ihrer Seite zu haben. Die Kutsche wartete auf sie, aber sie hatte versprochen, ihren Schützling in die Obhut der Familie de Baudresey zu geben, bevor sie sich verabschiedete.
Isolde betrachtete die nach wie vor geschlossene Tür, mit einem Wiederaufleben der Besorgnis, die sich mit dem Aussteigen aus der Kutsche und der Anweisung an den Wachmann, ihr Gepäck aus dem Gepäckfach zu holen, gelegt hatte.
„Ich sollte wohl besser anklopfen.“
Madge nahm die Sache selbst in die Hand, trat zu einem Klingelzug an der Seite und zog daran, woraufhin drinnen eine Glocke ertönte.
Während Isolde wartete, klopfte ihr Herz immer schneller. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich die Tür öffnete und ein livrierter Lakai erschien. Er schaute sie fragend an und warf einen Blick auf die Kutsche.
Isoldes Puls tänzelte nicht länger, da sich so langsam Verärgerung in ihr breitmachte.
„Bitte starren Sie mich nicht so entsetzlich an, als wäre ich eine Schnecke auf einem Kohlkopf. Ich bin hier, um Sir Thomas de Baudresey zu sehen.“
Die Augen des Lakaien weiteten sich, und sein Blick wurde noch strenger. „Wenn Sie Lord Alderton meinen, Miss …“
„Lord Alderton? Nein, ich meine Colonel Sir Thomas de Baudresey. Das ist doch sein Haus, oder?“
Der Lakai zog die Brauen zusammen. „Vielleicht ist Ihnen nicht bekannt, dass Sir Thomas vor drei oder vier Jahren eine Baronie erhalten hat. Er nahm den Titel Lord Alderton an.“
Jetzt war es an Isolde, ihn anzustarren. Sie warf Madge Quick einen Blick zu, die ihr in die Augen sah, eine Grimasse zog und mit den Schultern zuckte.
„Mein Vater konnte es nicht wissen.“ Isolde holte tief Luft. „Nun, es macht keinen Unterschied, ob er jetzt ein Lord ist. Er ist der Mann, den ich sehen will.“
Der Blick des Dieners wurde mitleidig. „Dann fürchte ich, dass Ihre Reise umsonst war, Miss. Lord Alderton ist seit zwei Jahren tot.“
Ein Gefühl von Unwirklichkeit überkam Isolde. Das konnte doch nicht wahr sein. Wenn Sir Thomas – oder Lord Alderton – gestorben war, hatte sie überhaupt keinen Vormund mehr. Keinen Vormund, keine Unterkunft und keine Zukunft. Ohne nachzudenken, sprach sie ihre Gedanken laut aus.
„Himmel, was soll ich jetzt nur tun?“
Etwas von ihrer Bestürzung musste auf den Lakaien übergesprungen sein, denn er entspannte sich ein wenig.
„Vielleicht könnten Sie dem derzeitigen Lord Alderton Ihr Anliegen vortragen, Miss?“
„Dem derzeitigen Lord Alderton?“
„Richard de Baudresey, Miss. Er ist der Sohn von Sir Thomas.“
„Ich wusste nicht, dass er einen Sohn hat.“
„Das ist nicht alles, was du nicht wusstest“, murmelte Madge.
Offensichtlich bemerkte sie, dass Isolde zu verunsichert war, um zu wissen, was sie tun sollte, weswegen sie es in die Hand nahm, den Diener auf recht herrische Weise anzusprechen.
„Gehen Sie und sagen Sie Seiner Lordschaft, dass Miss Cavanagh mit ihm sprechen möchte. Und lassen Sie uns hinein, Mann! Sie werden doch keine Dame auf der Türschwelle warten lassen? In einem Haus dieser Größe muss es Platz genug geben, damit sie bequem warten kann.“
Der Lakai sah verblüfft aus, aber er trat zur Seite und gab ihnen ein Zeichen, einzutreten.
Madge zögerte auf der Türschwelle.
„Bevor ich gehe, muss ich dafür sorgen, dass mein Schützling sicher ankommt, und ich sehe schon, dass das eine Weile dauern kann. Wenn Sie den Koffer und die Reisetasche holen, teilen Sie dem Kutscher doch bitte mit, wo er die Pferde ausruhen und versorgen kann?“
„Gewiss, Madam.“
Sein Tonfall klang zurückhaltend, aber der Lakai schlüpfte die Treppe hinunter, um mit dem Kutscher und der Wache zu sprechen, während Isolde auf den karierten Boden trat und sich in der Zeit, die sie auf die Rückkehr des Mannes wartete, einen Moment umsah.
Die Halle wurde von einer breiten Holztreppe beherrscht, die zu einem Treppenabsatz hinaufführte und links und rechts zu einer darüber liegenden Galerie abzweigte. Zu beiden Seiten gingen Türen ab, und Isolde erkannte ganz am Ende eine Tür aus grünem Fries und die Dunkelheit eines Korridors hinter der Treppe. Zwei riesige Gemälde mit Jagdszenen schmückten die getäfelten Wände, und das viele dunkle Holz ließ den Raum an diesem trüben Winternachmittag düster erscheinen. In den Wandleuchtern brannten bereits Kerzen, und in einer Nische an der Seite stand ein brennender Tafelleuchter auf einem schweren Eichentisch.
Die Stille war bedrückend, die Schatten waren beunruhigend. Isoldes Mut sank rasend schnell.
Zweites Kapitel
Das leise Ticken der Bibliotheksuhr begann Richard zu irritieren und seine Konzentration zu stören. Er hielt mit seinem Stift inne, sodass dieser über dem Papier auf dem Schreibtisch schwebte. Seine Schrift, sauber und präzise wie immer, bedeckte bereits mehr als die Hälfte der Seite, aber die Worte drückten nur einen Zehntel dessen aus, was er zu sagen hatte.
Mit einem Seufzen legte er den Stift in die dafür vorgesehene Halterung auf einem Ständer, wobei er darauf achtete, keine Flecken zu hinterlassen. Er sank zurück, entspannte seine verkrampften Muskeln auf dem lederbezogenen Stuhl und warf einen Blick auf die Uhr über dem Kaminsims.
Schon nach drei? Eigentlich wollte er diese Angelegenheit heute erledigt haben, aber die Zeit drängte, und er musste Mama noch vor dem Abendessen besuchen.
Er hatte gewusst, dass es schwer werden würde, diesen Brief zu schreiben. Bei früheren Versuchen hatte er bereits drei Blatt Papier ruiniert, die nun im Feuer zu Asche verschrumpelt waren. Er war sich immer noch nicht sicher, ob der jetzige ausreichen würde. Sein Anwalt hatte ihn gewarnt, er solle aufpassen, was er sage, und vorsichtig sein mit dem, was er preisgebe. Wenn er unbeschadet aus dieser Sache herauskommen wollte, konnte Richard es sich nicht leisten, es zu vermasseln.
Das Klopfen an der Tür empfand er als willkommene Unterbrechung.
„Herein.“
Die Tür öffnete sich und Richard erkannte die stattliche Gestalt seines Butlers.
„Ach, Sie sind es, Topham. Was gibt es?“
Der Mann näherte sich dem Schreibtisch mit gewohnt bedächtigem Schritt, ein Hauch von Ärger in seinem sonst so höflichen Gesicht unter dem gewölbten Haupt, das dieser Tage sehr wenig Haare trug.
Richards Herz stolperte. Was denn nun noch? Hatte er nicht schon genug um die Ohren?
„Eine junge Dame fragt nach Euch, Mylord.“
„Welche junge Dame?“
„Eine Miss Cavanagh, Mylord.“
Richard runzelte die Stirn und versuchte, sich zu erinnern. „Ich kenne niemanden mit diesem Namen.“
„Nein, Mylord, aber ich wage zu glauben, dass der Name Eurem verehrten Vater gut bekannt war.“
„Oh?“
„Ja, Mylord. Zum Glück war James so klug, mich über die Ankunft der jungen Dame zu informieren.“
In Richards Kopf regte sich eine vage Erinnerung. „Ich dachte, ich hätte eine Kutsche gehört. Wer ist diese Miss Cavanagh und was will sie von mir?“
Der Butler hüstelte, ein Zeichen dafür, dass er die Referenzen der Dame bereits geprüft und für akzeptabel befunden hatte. „Das kann ich nicht sagen, Mylord, denn die junge Dame fragte nach Eurem verstorbenen Vater, Eure Lordschaft. James zufolge wusste sie nicht, dass er einen Titel erworben hatte, und auch nicht, dass er verstorben ist. Ich hielt es für meine Pflicht, die junge Dame selbst zu befragen.“
„Und haben dabei wohl offensichtlich beschlossen, dass ich sie sehen sollte. Will sie etwas von mir?“
„Das kann ich nicht sagen, Mylord. Aber als ich die Identität der jungen Dame erfuhr, wurde mir klar, dass Seine verstorbene Lordschaft wünschen würde, dass Ihr sie empfangt.“
Richard betrachtete ihn, und in seinem Kopf regte sich Misstrauen. Das konnte doch nicht das Ergebnis einer Indiskretion seines Vaters sein, oder? Sollte er etwa mit einer weiteren Peinlichkeit konfrontiert werden? „Nun?“
Tophams Gesichtszüge nahmen den strengen Ausdruck an, den er aufzusetzen pflegte, wenn er der Meinung war, dass Richard über das Ziel hinausgeschossen war. Das war das Schlimmste an diesen Menschen, die einen von Geburt an kannten. Sie nahmen sich zu viele Freiheiten heraus, und man konnte sie weder brüskieren noch wegschicken. Und Topham war besonders geneigt, im Sinne seines verstorbenen Vaters zu argumentieren.
„Captain Cavanagh, Mylord, war ein besonderer Freund und Schützling Seiner verstorbenen Lordschaft. Ich habe ihn oft mit Zuneigung von dem Mann sprechen hören.“
Richard ignorierte den vorwurfsvollen Tonfall. „Was? Ist der Kerl also tot?“
„So verstehe ich es, Mylord. Miss Cavanagh ist hier, wie sie mir erklärt hat, auf Anweisung von Captain Cavanagh.“
Verdammt, er sollte mit einem Weibsstück aus der Vergangenheit seines Vaters verkuppelt werden! Warum sonst sollte der Elende das Mädchen hierher schicken? Er erstickte die aufkommende Verärgerung. „Dann muss ich sie wohl sehen. Wo ist sie?“
***
Derart wartend auf die Folter gespannt, wusste Isolde nicht, ob sie sich fürchten oder dem starken Wunsch nachgeben sollte, in Hysterie zu verfallen. Ihre Bestürzung war einem aufkeimenden Gefühl von schlechter Behandlung gewichen. Nicht nur, dass sie in diesem kahlen, wenn auch sauberen Raum abgestellt worden war, der kaum mehr als ein paar Stühle und ein kleines Sofa aufwies, sie war auch noch von einem älteren Mann, dessen Strenge sie fast erdrückt hätte, einer Befragung unterzogen worden. Sie hasste diesen Ort bereits. Und sie war sehr geneigt, sich gegen die Notwendigkeit zu wehren, diesen unbekannten Sohn von Sir Thomas um Gnade zu bitten.
Madge, die sich damit beschäftigt hatte, das zu begutachten, was sie von dem einzigen Fenster aus, das wenigstens Licht in den Raum ließ, sehen konnte, hatte sie ermahnt, ruhig zu bleiben.
„Es hat keinen Sinn, sich in einen Groll hineinzusteigern, Izzy. Warte, bis du siehst, wie die Lage sich präsentiert.“
Aber Isolde konnte sehr gut sehen, wie die Lage sich präsentierte, und sie wollte nichts damit zu tun haben. Wie unglücklich, dass sie als Frau geboren wurde, den Launen von Fremden unterworfen und gezwungen war, sich auf eine ebenso langweilige wie deprimierende Art und Weise zu verhalten.
Sie schritt auf einem großen Teppich von einem Ende zum anderen und wieder zurück und wurde überrascht, als sich die Tür öffnete. Sie blieb sofort wie angewurzelt stehen und wandte ihren Blick zur Tür, sodass sie dem Mann, der eintrat, unbewusst eine perfekte Gelegenheit bot, ihren Gemütszustand zu erfassen.
Er schien nichts von alledem zu bemerken, obwohl ein Paar wacher Augen Isolde ebenso bereitwillig taxierte wie ihr eigener Blick den fremden Mann. Sie konnte keinen Zweifel an seiner Identität haben. Alles an ihm verriet, dass er ein Gentleman war, zudem ging von ihm ein gewisser Besitzanspruch aus.
Dunkles Haar, üppig und lang, sodass es ihm bis zum Kragen reichte, umrahmte seine eher markanten als schönen Gesichtszüge. Isolde erhielt einen Eindruck von Stärke gepaart mit Ordentlichkeit, sowohl in der Kleidung als auch in der Bewegung. Er bewegte sich elegant auf sie zu und machte eine kleine Verbeugung.
„Miss Cavanagh?“
Einen Moment lang schwieg sie, eingeschüchtert von der Förmlichkeit seines Auftretens. Aber er war nicht abweisend. Ein sanftes Gefühl der Erleichterung durchströmte sie und sie gab dieser Empfindung Ausdruck, ohne weiter darüber nachzudenken. „Ihr seid also nicht gekommen, um mich hinauszuwerfen?“
Er hob die Brauen. „Sollte ich das tun?“
„Nun, es stimmt, dass ich keinen Anspruch habe, hier zu sein. Ich bin mir auch nicht sicher, ob Euer Vater mich willkommen geheißen hätte, also warum solltet Ihr es tun?“
Einer seiner Mundwinkel verzog sich. „Sie sind sehr offen.“
Isolde war sich eines Hauchs von Wärme in der Kälte ihrer Isolation bewusst. „Ich habe nie gelernt, diskret zu sein. Nicht im Gespräch, meine ich. Wir hatten im Lager keine Verwendung dafür.“
„Sie haben mit der Kompanie gelebt?“
Isoldes Blickfeld wurde trüb und ihre Stimme leiser. „Das ist alles, was ich kenne. Ihr werdet mich in einem Salon nicht im Geringsten gebrauchen können, ich warne Euch.“
„Isolde, meine Liebe, wirst du Seiner Lordschaft alles erzählen, was ihn gegen dich aufbringen muss?“ Madge stand an ihrem Ellenbogen, den Blick auf den Mann gerichtet. „Ihr werdet ihr die Kühnheit verzeihen, Mylord, und ich erlaube mir zu sagen, dass sie viel fähiger ist, als sie sich selbst zugutehält.“
Lord Alderton zog die Brauen zusammen. „Ich bitte um Verzeihung, Ma’am. Sie sind?“
„Mrs Quick, Mylord, und ich war die letzten drei Jahre für das Mädchen verantwortlich. Ich werde nicht so tun, als hätte ich es vollbracht, eine Dame aus ihr zu machen, aber sie wird schnell lernen, Ihr werdet sehen.“
„Madge!“
Ihre Lehrmeisterin wandte sich ihr zu. „Es ist die Wahrheit, meine Liebe, und ich will nicht, dass Seine Lordschaft schlecht von dir denkt, wenn es nicht nötig ist.“ Sie wandte sich wieder an den Herrn. „Sie ist noch jung, Sir. Ich bin mir sicher mit dem, was ich sagte, wenn Ihr nur ein wenig Nachsicht habt.“
Isolde konnte es nicht länger ertragen. „Oh, hör auf, Madge, du lässt mich wie einen Dummkopf klingen!“
Lord Alderton ergriff das Wort. „Ich danke Ihnen, Mrs Quick, aber ich muss darauf hinweisen, dass ich noch keine Ahnung habe, was Miss Cavanagh von mir erwartet.“
„Nichts! Zumindest erwarte ich nichts. Papa hat mir aufgetragen, das hier zu tun. Und Ihr seid nicht Euer Vater und nicht der Freund meines Papas, und ich sehe nicht ein, warum Ihr verpflichtet sein solltet, mich zu beherbergen, geschweige denn mein Vormund zu sein.“
„Ihr Vormund! Großer Gott!“
Isoldes Nerven gaben nun doch endlich nach und unwillkürlich entwich ihr ein Schluchzen.
Drittes Kapitel
Ebenso verblüfft wie erstaunt sah Richard dabei zu, wie die Matrone ihren Schützling von ihm wegzog und Gott weiß was für beruhigende Worte murmelte, um sie zu besänftigen. Die Rolle der Frau war ihm unklar, denn obwohl ihr Akzent und ihr Sprachstil auf ihren Stand schließen ließen, schlossen sowohl ihr Auftreten als auch ihre Kleidung den Gedanken an eine Dienstbarkeit aus. Der Mantel war in der Tat ausgezeichnet geschnitten, und die Haube war mit mehr Federn und Bändern geschmückt als Miss Cavanaghs eigene Kopfbedeckung.
Der erste Anblick des Mädchens hatte ihn verblüfft. Das Gesicht, das sich ihm zugewandt hatte, war sowohl von Kummer als auch von Zorn gezeichnet gewesen, doch die Züge waren dennoch markant, mit cremeweißer Haut, die mit Sommersprossen übersät war, und ausdrucksstarken Augen, die jeden Gedanken widerspiegelten. Richard glaubte, einen Blick auf rötliches Haar unter der Haube zu erhaschen. Sie war von großer Statur und schlank unter einem eng anliegenden Mantel. Aber Herr im Himmel, so jung!
Als er sich an die letzten Worte des Mädchens erinnerte, fühlte er einen erneuten Schock. Was in aller Welt hatte ihm sein launisches Elternteil diesmal aufgebürdet?
„Miss Cavanagh!“
Das Mädchen drehte sich vom Fenster weg, wo sie mit dem Rücken zu ihm gestanden hatte, flankiert von der immer noch flüsternden Gouvernante – falls sie das denn war.
„Mein Butler sprach von einem Brief.“
Bestürzung trat in die glasigen Augen des Mädchens, auch wenn sie zum Glück nicht mehr tränenüberströmt waren.
„Oh. Ja, das habe ich vergessen.“
„Darf ich ihn bitte sehen?“
Sie griff nach einem Retikül, das auf einem der Stühle gelegen hatte, kam auf ihn zu und öffnete die Schnüre. Sie blieb vor ihm stehen, während sie sich in die Tiefe ihrer Tasche grub.
Richard fiel auf, dass sie trotz ihrer offensichtlichen Bestürzung über ihre missliche Lage keine Anzeichen von Schüchternheit zeigte. Er nahm den Brief, den sie ihm hinhielt, und begegnete dem besorgten Blick in ihren Augen. „Danke.“
„Er ist für Euren Vater.“
„Das hörte ich bereits.“
Er faltete das Blatt auf und las den Brief zügig, wobei er sich des besorgten Blicks des Mädchens bewusst war, der ihn seltsam verwirrte und seine Konzentration behinderte.
Aus dieser flüchtigen Lektüre schloss er, dass sich Captain Cavanagh auf einen uralten, typisch vagen Vorschlag seines eigensinnigen Elternteils verlassen hatte, wonach seine Tochter im Falle seines Ablebens in seinem Haus Hilfe suchen könne. Für Richard bestand kein Zweifel daran, dass dieser leicht dahingesagte Gedanke wörtlicher genommen wurde als beabsichtigt und den Captain dazu bewegt hatte, seinen Freund als Vormund für sein einziges Kind zu benennen.
Sein Vater hätte es mit einem Lachen abgetan; auch daran bestand für Richard keinerlei Zweifel. Seine Großzügigkeit hätte ihn zu einer finanziellen Unterstützung veranlasst, und vielleicht hätte er sich dazu aufgerafft, dem Mädchen bei der Arbeitssuche zu helfen. Aber sie bei sich aufnehmen und sich zu ihrem Vormund machen? Richard hätte lachen können, wäre es nicht so tragisch.
Sein Blick hob sich, und er betrachtete das ängstliche Gesicht vor ihm mit Mitleid, das sich mit Frust mischte, und er verlieh beidem sofort Ausdruck.
„Ich nehme an, Sie sind ganz allein auf der Welt? Haben Sie keine Verwandten?“
Miss Cavanaghs Lippen zitterten ein wenig, und Unsicherheit trat in ihre Augen. Grün? Oder neigten sie doch eher zu einem Nussbraun? Richard bemerkte zudem goldene Flecken in der Farbe.
„Die Familie meiner Mutter wird mich nicht anerkennen. Papa wollte nicht, dass ich zu ihnen gehe.“
Ihre Worte drangen bis in seine Geistesabwesenheit vor. „Dann haben Sie also Familie. Warum sollten Sie keinen Kontakt zu ihnen aufnehmen?“
Miss Cavanaghs Finger verkrampften sich in ihrem Retikül, und Richards Mitgefühl wuchs.
„Meine Mutter ist mit Papa weggelaufen. Er sagte, sie wollten nichts mehr mit ihr zu tun haben. Er sagte, sie würden mich auch nicht wollen.“
„Auch?“
„Ihr wollt mich nicht. Euer Vater hätte mich nicht gewollt. Madge kann mich nicht mit zu sich nehmen. Niemand will mich.“
Richard konnte es nicht abstreiten, dennoch erhob er, entgegen seiner eigenen Überzeugung, Einspruch gegen ihre Worte. „Sie können nicht wissen, dass mein Vater Sie nicht gewollt hätte. Und ich möchte hinzufügen, dass Sie eine solche Vermutung auch nicht über mich anstellen können.“
Empörung blitzte in ihrem Blick auf. „Doch, das kann ich. Ich kann sehr gut sehen, dass Ihr nicht wollt, dass ich hier bin. Nun, ich möchte auch nicht hier sein, aber ich hatte keine Wahl. Ihr könnt mich vor die Tür setzen, wenn Ihr wollt. Das ist mir egal. Ich werde meinen eigenen Weg gehen. Ich weiß, wie ich zurechtkomme.“
Unwillkürlich zuckten Richards Lippen, und er hatte alle Mühe, nicht laut loszulachen. „Nach dem Wenigen, was ich von Ihnen gesehen habe, Miss Cavanagh, hege ich keinerlei Zweifel daran, dass Sie sehr gut auf sich selbst aufpassen können. Sie könnten es jedoch als etwas unangenehm empfinden, wenn Sie weder ein Zuhause haben, noch über eine nennenswerte Geldsumme verfügen. Oder liege ich da falsch? Vielleicht hat Ihnen Ihr Vater etwas hinterlassen?“
Miss Cavanagh betrachtete ihn mit deutlich trotzigem Blick. „Ich verfüge über alle Guineen, die er besaß, als er starb, und der Colonel gab mir zudem seinen letzten Lohn. Was ein Zuhause angeht, so habe ich jahrelang nur in Quartieren und Zelten gelebt und mir ein Zuhause geschaffen, wo immer wir uns gerade aufhielten. Außerdem kann ich Arbeit finden und sie werden mich bestimmt auch dort wohnen lassen.“
Er behielt die unvermeidlichen Überlegungen für sich, die sich in seinen Kopf stahlen, darüber, was für ein Leben Miss Cavanagh wohl bevorstand, wenn sie ohne Schutz blieb.
„Ich sehe, Sie haben sich alles gut überlegt, aber vielleicht wäre es besser, wenn Sie hier bleiben, während wir entscheiden, was am besten zu tun ist.“
Ihr misstrauischer Blick verriet, dass sie nicht so leicht nachgeben würde. Aber erkannte er darin eine gewisse Erleichterung?
Er sah an ihr vorbei zu der Frau, die sie begleitete. „Und Sie, Mrs Quick?“
Sie trat eilig vor. „Ihr werdet nicht denken, dass Ihr mir auch noch entgegenkommen müsst, Mylord. Ich fahre gleich wieder los, denn die Kutsche wartet auf mich.“
Das war unerwartet und ihm ausgesprochen unlieb. War sie nur hier, um das Mädchen loszuwerden und dann zu verschwinden?
„Ich dachte, Sie sagten, Sie seien für Miss Cavanagh verantwortlich?“
„Das sagte ich, Mylord, aber ich habe mich nur verpflichtet, sie sicher in Sir Thomas’ Schutz zu geben. Ich bin bereits drei Jahre länger weg, als gedacht, und ich werde erwartet.“
„Madge ist nach dem Tod von Sergeant Quick nur geblieben, um sich um mich zu kümmern“, fügte Miss Cavanagh hinzu und hob ihr Kinn. „Ich würde mit ihr gehen, wenn ich könnte, aber sie kann sich mich nicht leisten, und ich möchte niemandem zur Last fallen.“
Sie sprach schnell und mit einem gewissen rebellischen Ton in der Stimme. Unmut machte sich in Richards Brust breit. Miss Cavanagh würde sich als schwierig erweisen, vor allem ohne die Frau – Madge –, die sie im Zaum hielt.
„Darf ich Sie bitten, wenigstens ein oder zwei Tage zu bleiben, Mrs Quick? Eine kurze Verzögerung macht wohl kaum einen Unterschied.“
Die ältere Frau schaute zweifelnd, Miss Cavanagh störrisch. Richard ignorierte Letzteres und richtete seine Aufmerksamkeit auf Mrs Quick. Er schlug einen überzeugenden Ton an.
„Es wird für Miss Cavanagh schwer sein, in einer unbekannten Umgebung zu leben, ohne jemanden bei sich zu haben, den sie gut kennt.“
Aus dem Augenwinkel bemerkte er den plötzlich aufmerksamen Blick des Mädchens. Hatte sie noch nie erlebt, dass sich jemand um ihr Wohlbefinden sorgte?
„Nun, ich könnte wohl ein, zwei Nächte entbehren“, sagte Mrs Quick zähneknirschend, „aber ich warne Sie, Mylord. Ich werde nicht länger bleiben, um dort weiterzumachen, wo ich aufgehört habe.“
„Nein, in der Tat, ich …“
„Es ist nicht so, dass ich Izzy nicht mag, wie sie hoffentlich weiß, aber ich habe mein eigenes Leben zu führen und es ist höchste Zeit, dass ich das auch tue.“
Miss Cavanagh schien ihr dieses unverblümte Eingeständnis nicht übel zu nehmen. Sie sah eher resigniert aus, wenn auch ein wenig mürrisch.
Richard nutzte die Atempause. „Ich danke Ihnen, Mrs Quick. Ihre Unterstützung, und sei es auch nur für wenige Nächte, wird uns willkommen sein.“ Er ging zum Klingelzug und zog daran. „Meine Haushälterin wird sich um Ihre Bedürfnisse kümmern. Zweifellos möchten Sie beide Ihre Oberbekleidung ablegen und Anzeichen der Reise abwaschen.“
Er drehte sich um und sah, dass beide Frauen ihn anstarrten, Mrs Quick mit einer Mischung aus Zustimmung und Misstrauen, und das Mädchen mit Erstaunen. Er verkniff sich ein Lächeln und ging auf die Tür zu, doch ein verirrter Gedanke führte dazu, dass er sich noch einmal umdrehte.
„Izzy?“
Seine Verwirrung war Miss Cavanagh offensichtlich nicht entgangen. Ihr Kinn hob sich.
„Isolde.“
Eine vage Erinnerung überkam ihn, und er hob den Brief, den er noch immer in der Hand hielt, und durchforstete die Worte. „Oh ja, richtig. Isolde Mary Cavanagh.“ Er warf einen Blick auf das jugendliche Gesicht und dann zurück auf den Brief. Laut Datierung war er bereits einige Jahre alt. Hatte sie ihn die ganze Zeit über sorgfältig aufbewahrt? Das Datum ließ keine Rückschlüsse darauf zu. „Wie alt sind Sie, Isolde?“
Die Erwähnung ihres Namens löste ein plötzliches, strahlendes Lächeln aus, das ihr Gesicht erhellte und einen Schwall unerwarteter Wärme durch Richards Brust schickte.
„Ich bin siebzehn.“
Ein Gefühl der Verwirrung beschlich Richard. Siebzehn und sehr hübsch. Und das unglückliche Kind war zu seiner Verantwortung geworden.
Die Tür öffnete sich und der Lakai trat ein. Noch nie war Richard so froh über eine Unterbrechung gewesen.
„Ah, James. Bitten Sie Mrs Pennyfather, in dieses Zimmer zu kommen. Sofort, bitte.“
Viertes Kapitel
„Was in aller Welt soll ich mit dem Mädchen machen, Mama?“
Lady Alderton seufzte und ließ sich auf die Kissen zurücksinken, die sie auf der Chaiselongue, auf der sie lag, stützten. Richard war erleichtert, dass es ihr gut genug ging, um heute das Bett zu verlassen, denn sonst hätte er sie nur ungern mit dem Problem Isolde Cavanagh belastet. Sie wurde schnell schwächer und sollte nicht beunruhigt werden, aber die Gewohnheit, sie zu konsultieren, war tief in ihm verwurzelt. Außerdem war es unwahrscheinlich, dass sie von einer solchen Invasion nichts mitbekam, da sie tief in Pennyfathers Vertrauen stand.
„Du wirst natürlich tun, was dir dein Gewissen vorschreibt, mein lieber Richard.“
Er reagierte sofort gereizt. „Ich danke Ihnen, Ma’am, das ist äußerst hilfreich.“
Ein leises Lachen entwich ihr, und ihre müden Gesichtszüge entspannten sich. „In diesem Fall, liebster Junge, fürchte ich, kann ich dir nicht helfen. Wäre ich gesund …“ Sie brach ab und biss sich auf die Lippe.
Richard beließ es dabei. Über die Folgen ihrer langwierigen Krankheit sprach seine Mutter ausnehmend ungern. „Was ist mit diesem Captain Cavanagh? Kannten Sie ihn?“
„Ich habe ihn ein oder zwei Mal getroffen. Ich hielt ihn für einen charmanten Schurken. Einer von diesen Lebemännern, die das Leben mit großem Eifer angehen und sich weigern, die Kosten zu tragen.“
„Sie meinen also, wie mein Vater.“
Richard konnte den bitteren Unterton nicht unterdrücken und fing den vorwurfsvollen Blick aus den grauen Augen seiner Mutter auf.
„Thomas war ein guter Mann, Richard. Gelegentlich hat er sich getäuscht, das gebe ich zu, aber er hat es immer gut gemeint.“
„Ich habe nie an der Aufrichtigkeit seiner Absichten gezweifelt.“
Das stimmte soweit auch, wenn sein Vater nur nicht große Teile seines Erbes zur Unterstützung bizarrer Projekte versprochen hätte. Genug, um den Wohlstand der Ländereien zu gefährden. Und nun musste dieses verwaiste Mädchen vor seiner Tür stehen und die Vormundschaft seines Vaters beanspruchen, was es ihm unmöglich machte, sie zurückzuweisen.
„Was ist mit dem Mädchen? Glauben Sie, mein Vater hat wirklich gemeint, was der Captain in dem Brief behauptet?“
Lady Alderton nahm den Brief von ihrem Schoß und las ihn erneut. „Oh, ich nehme an, dass er so etwas gesagt hat, und ich bin sicher, dass er es damals auch so gemeint hat.“
„Vermutlich. Aber er hätte nie gedacht, dass es so weit kommen würde, nicht wahr?“
Ein kleines Lächeln voller Erinnerung umspielte den Mund seiner Mutter. „Ich bezweifle sehr, dass er sich überhaupt daran erinnert hätte.“
Verärgerung stieg in Richards Brust auf. Das war genau der Punkt. Die allzu leichte Großzügigkeit seines Vaters hatte ihn zu Versprechungen verleitet, die sein Sohn unmöglich halten konnte. Es schien ihm nie in den Sinn gekommen zu sein, dass die Personen, die den nun verstorbenen Lord Alderton um eine Beteiligung an einem noch so verrückten Projekt baten, tatsächlich auftauchen würden, wenn die Finanzierung benötigt wurde.
„Er hatte nicht vor, dich derart zu belasten, mein Schatz“, versicherte seine Mutter ihm mit flehender Stimme.
Richard atmete tief durch. „Das brauchen Sie mir nicht zu sagen.“
Niemand konnte ahnen, dass sein Vater, der Inbegriff von Gesundheit, dem Fieber erliegen würde, welches das Dorf heimgesucht hatte. Er hatte sich bei einem seiner Pächter angesteckt, war fast sofort erkrankt und innerhalb weniger Tage gestorben. Richard wusste, dass seine Mutter sich nie von dem Schlag erholt hatte, und er war geneigt, die elende Krankheit, an der sie nun ihrerseits langsam starb, auf den Schock über ihren Verlust zurückzuführen.
„Cavanagh hat das Mädchen einmal hierher gebracht.“
Richard konzentrierte sich wieder auf seine aktuellen Schwierigkeiten. „Sie meinen, Sie haben sie getroffen?“
„Ganz kurz, vor Jahren. Sie war ein mageres Kind. Ich erinnere mich vage an ein blasses, verängstigtes Gesichtchen und wirres rotes Haar.“
„Ja, das ist sie“, bestätigte Richard sofort, und das Bild von Isolde Cavanagh sprang ihm vor Augen. „Nicht wirr, aber sicher blass im Gesicht. Und ja, unter dem Wagemut steckt ein wenig Angst, glaube ich.“
„Wagemut?“
Ein Lachen entwich ihm. „Sie ist eine Rebellin, wenn ich mich nicht täusche. Sie teilte mir mit, dass sie sehr wohl in der Lage sei, für sich selbst zu sorgen, und forderte mich auf, sie hinauszuwerfen.“
Die Belustigung seiner Mutter hellte seine Stimmung auf.
„Das wirst du natürlich nicht tun.“
„Natürlich nicht. Aber die Rolle ihres Vormunds zu übernehmen, das ist eine ganz andere Sache.“
„Was wirst du also tun?“
„Mich bemühen, ihre Verwandten mütterlicherseits zu finden. Cavanagh warnte sie davor, bei ihnen vorstellig zu werden, da seine Frau sich, nachdem sie mit ihm durchgebrannt war, von ihrer Familie entfremdet habe.“
Lady Alderton runzelte die Stirn. „Wer ist ihre Familie?“
„Das habe ich noch nicht herausfinden können.“
„Und wenn sie sich weigern, sie aufzunehmen?“
Richard straffte die Schultern. „Diesen Kampf werde ich kämpfen, wenn er sich mir bietet.“
Seine Mutter lächelte und hielt ihm den Brief hin. „Wenn es zum Schlimmsten kommt, gibt es wenigstens Alicia.“
Plötzlich keimte Hoffnung in Richards Brust auf. Er hatte seine Schwester vergessen, die zurzeit abwesend war und sich um einige Angelegenheiten im Londoner Haus kümmerte. Er schaute seine Mutter an, nahm den Brief, faltete ihn wie immer ordentlich und verstaute ihn in der Innentasche seines Mantels.
„Glaubst du, dass Alicia einwilligen würde, sich um das Mädchen zu kümmern?“
„Warum nicht? Sie wird mich schließlich nicht mehr lange am Hals haben.“
Das war nicht zu leugnen, auch wenn es Richard schwerfiel, an ein Ende zu denken, das er fürchtete. Doktor Loader hatte ihn gewarnt, dass seine Mutter Weihnachten wohl nicht mehr erleben würde. Darüber hinaus war er keineswegs davon überzeugt, dass Alicia den Eintritt einer zweifellos vorlauten jungen Dame in ihr Leben mit irgendeinem Funken Wohlwollen betrachten würde. Er sah eine zermürbende Auseinandersetzung auf sich zukommen.