Leseprobe Liebe auf den ersten Schlag

Zwei

Es war schon faszinierend. Luke stieg in einer Welt ein und landete in einer völlig anderen.

Am Kölner Flughafen wurde er von niemandem nach einem Autogramm gefragt. Niemand kannte seinen Namen, niemand hatte diesen dämlichen Artikel gelesen und niemand ging ihm auf die Nerven. Es war wie Urlaub von seinem Leben.

Seine Mutter hatte sich kaum verändert. Ein paar mehr Falten zierten ihr Gesicht, aber sie umsorgte ihn noch genauso wie zu der Zeit, als er dreizehn Jahre alt gewesen war. Er hatte ihr seinen Koffer gewaltsam aus der Hand reißen müssen, um ihr deutlich zu machen, dass er ihn alleine tragen konnte.

Nachdem er geschlafen und den Jetlag so gut wie möglich zu ignorieren versucht hatte, hatte seine Mutter ihm das beste deutsche Mittagessen gemacht, das dieses Land zu bieten hatte: Braten, Knödel, Rotkohl und dazu typisches dunkles Brot.

Jetzt stand er mit seinen Freunden in der verdammten Kälte und wusste nicht wohin. Sie waren zu viert, zwei von ihnen verheiratet – die armen Schweine waren keine dreißig und verheiratet – was die Suche nach einem passenden Ort ein wenig einschränkte.

Aus ihm unverständlichen Gründen wollten sie daher nicht in einen Stripclub.

Es war merkwürdig. Luke hatte seine Freunde seit einem Jahr nicht mehr gesehen, aber sie behandelten ihn, als sähen sie ihn jeden Tag, als wäre er immer noch einer von ihnen. Und das nach sechzehn Jahren. In Philadelphia hatte er keine Freunde aus der Highschool mehr. Nachdem er Profi-Baseballspieler geworden war, hatte sich die Gruppe in Neider und solche, die sich im Ruhm sonnten geteilt. Oder vielleicht war Luke auch einfach zum Arsch geworden. So genau war er da noch nicht hintergekommen.

„Wie wär’s mit Club Casanova?“, schlug Daniel – verheiratet – vor.

„Bist du des Wahnsinns? Um acht Uhr abends ist es dort noch vollkommen leer. Und wir sind zu alt dafür.“ Meik sah seinen Freund an, als hätte er zu lange an den Windeln seiner Tochter gerochen. „Worauf hast du Lust, Luke? Du bist doch sozusagen unser Ehrengast heute, was heißt: Du hast die freie Wahl.“

„Ich habe Hunger. Wie steht’s mit Italienisch? Das, was die in den USA Pizza nennen, möchte ich nicht weiter erörtern.“ Der Boden der glutenfreien Pizza bestand aus Hackfleisch. Das war einfach nur falsch.

Der Kreis nickte und Finn, der Vierte im Bunde, der bereits mit drei Kindern gesegnet war – wie lebensmüde musste man sein –

schlug die kalten Hände aufeinander.

„Italienisch ist eine gute Idee. Giovanni’s?“

„Ist bestimmt überfüllt“, meinte Daniel. „Aber wir können es ja versuchen.“

„Ist das weit weg?“ Luke war nicht gerade scharf darauf, noch Stunden in der Kälte umherzuwandern.

„Gleich um die Ecke“, beruhigte ihn Meik.

Die Gruppe trottete los und stand wenige Minuten später vor dem genannten Lokal. Das Restaurant hatte eine breite Glasfront, durch die man die edlen, komplett überfüllten Esstische und die relativ rustikal eingerichtete Bar erkennen konnte.

„Das sieht verdammt schlecht aus.“ Meik reckte den Hals und Luke musste ihm zustimmen. Es sah aus, als säßen schon zwanzig Leute zu viel in dem Raum.

„Egal. Wir fragen mal nach“, sagte Finn.

Die kalte Luft drängte die Männer in den Eingangsbereich, an deren Garderobe dutzende von Jacken der Schwerkraft trotzten. Mehrere Pärchen und eine Kleinfamilie standen ebenfalls im Wartebereich und rückten langsam in das Restaurant, zu einem dunkelbraunen Holzpult vor, bei dem offenbar die Tische verteilt wurden. Luke konnte nicht erkennen, wer hinter dem Pult stand, weil ihm immer wieder die Sicht von irgendwelchen Menschen versperrt wurde und die Person dort nicht außerordentlich groß zu sein schien.

„Oh, es ist eine Frau. Glück für uns.“ Finn lachte und sah Luke auffordernd an.

„Glück für uns?“, wiederholte dieser die Worte seines Freundes. „Warum Glück?“

Die Menge hatte sich inzwischen gelichtet und jetzt konnte auch Luke einen Blick auf „ihr Glück“ werfen.

Eine blonde Frau, etwa Mitte zwanzig, die Luke in ihrem roten Blazer an eine der Fahrstuhldamen erinnerte, die in amerikanischen Hotels die Knöpfe für die Gäste drückten, schaute auf eine Liste und hakte irgendetwas ab. Ununterbrochen fielen ihr die Haare ins Gesicht, die sie im Sekundentakt wieder hinter ihre Ohren strich.

Sie war wirklich klein. Ihr Kopf würde wahrscheinlich nicht einmal sein Kinn berühren und ihre Faust sah aus, als könne Luke sie mit einer Hand umschließen.

„Die ist doch ganz süß, Luke.“ Meik boxte ihm gegen den Oberarm. „Findest du nicht?“

Süß war eigentlich ganz gut getroffen. Sie war keine umwerfende Schönheit, keine der Frauen, mit denen Luke gestern in der Zeitung abgelichtet worden war, aber ihr Gesicht konnte man durchaus als hübsch beschreiben. Und der Körper … na ja, nicht jeder konnte sein Leben in einem Fitnessstudio verbringen und Größe sechsunddreißig tragen.

„Hundewelpen sind auch süß. Darauf machst du mich aber nicht aufmerksam. Also warum …?“ Luke verengte die Augen und sah sich drei grinsenden Männern gegenüber. „Oh, nein!“

„Komm schon. Nur ein bisschen flirten. Dann kriegen wir schon einen Platz“, bemerkte Daniel.

Luke hob die Augenbrauen hoch. „Warum machst du das nicht?“

„Ich bin verheiratet“, meinte er abwehrend. „Es wäre ungehörig von einem verheirateten Mann zu flirten, nicht wahr?“

Aufmunternd klopfte Finn ihm auf die Schulter. „Außerdem siehst du von uns allen am besten aus und bist Profisportler, also top in Form. Da bleibt doch keine Frage offen, oder?“

Luke stöhnte laut. „Macht ihr das immer so? Schleimen, bis jemand nachgibt?“

„Das ist die deutsche Art, Alter.“

„Ich bin hier aufgewachsen, Finn. Und das ist sicherlich nicht die deutsche Art. Das wirkt eher sehr amerikanisch.“

„Du willst hier doch essen, nicht?“, fragte Meik langsam und sein Grinsen wurde immer breiter.

Ja, diese Kerle behandelten ihn wirklich so, als sähen sie sich jeden Tag.

Schön. Was sollte es? Es war ja nicht so, als hätte Luke ein Problem damit, zu flirten. Er musste ja nicht gleich mit dem Mauerblümchen ins Bett springen.

„Okay, ich opfere mich. Für die Runde. Und nachher gebt ihr mir einen aus.“

 ***

Was zum Teufel lungerten diese Kerle da im Eingangsbereich herum? Sie sahen aus wie Hundewelpen, die darauf warteten, abgeholt zu werden. Und jetzt klopften sie sich auch noch auf die Schultern. Emma musste sich korrigieren: Sie sahen aus wie Neandertaler, die darauf warteten, abgeholt zu werden.

Einer der Neandertaler trat auf sie zu. Er schien Ende zwanzig zu sein und eigentlich hätte seine Größe sie einschüchtern sollen. Als sie jedoch dieses schmierige Lächeln auf seinem Gesicht sah, war sie sicher, dass sie es locker mit ihm aufnehmen könnte, wenn es darauf ankam.

Seine braunen Haare waren kurz geschoren und das kantige Gesicht wäre wahrscheinlich als attraktiv eingestuft worden, wenn er nicht dieses Lächeln auf den Lippen gehabt hätte, das ihn als viel zu selbstsicher entlarvte. Dem Körper nach zu urteilen, war er auch noch einer dieser Typen, die ihre Freizeit in einem stickigen Fitnessstudio verbrachten, um dann am Strand mit ihren Muskeln anzugeben.

Überhaupt nicht ihr Typ.

Sie log nur ein kleines bisschen.

„Hallo, schöne Frau.“ Der Mann stützte sich mit den Händen auf dem Pult ab und Emma zwang sich zu einem Lächeln.

„Hallo, fremder Mann. Kann ich Ihnen helfen?“

„Können Sie.“ Er fixierte Emma und sie musste zugeben, dass zumindest die blauen Augen etwas Sympathisches hatten. Vielleicht war er ja ganz nett. Sie wollte ja nicht zu schnell über diesen aufgeblasenen Egomanen urteilen.

„Meine Freunde und ich hätten gerne einen Tisch.“ Er nickte zu den anderen Neandertalern hin, die irgendetwas sehr lustig zu finden schienen.

Vielleicht hatten auch sie das schmierige Lächeln auf dem Gesicht ihres Freundes gesehen.

„Haben Sie reserviert?“

„Das haben wir leider versäumt.“

Emma hob die Augenbrauen und presste die Lippen kurz aufeinander. Er erwartete also, dass er für den heutigen Abend, mitten in der Rushhour, einen Tisch für vier Personen bekam?

Das schien ihr doch ein wenig zu optimistisch.

„Okay.“ Sie ging ihre Unterlagen durch und kam wie erwartet zu der Einsicht, dass das Restaurant vollkommen ausgebucht war. Sie klopfte mit ihrem Stift auf das Papier und schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, aber wir haben leider nichts frei.“ Entschuldigend zuckte sie die Schultern. „Wir sind heute Abend vollkommen ausgebucht.“

„Vollkommen?“ Der Mann lächelte noch immer, als würde das etwas an dem Sitzplan ändern.

„Vollkommen.“

Langsam schüttelte ihr Gegenüber den Kopf und rückte sich den weißen Hemdkragen zurecht. „Na ja“, er beugte sich nach vorne und seine Fingerspitzen strichen über ihren Unterarm, „man könnte ja etwas enger zusammenrücken …“

Ihr Arm bekam sofort eine verräterische Gänsehaut.

Na gut, vielleicht war er doch ein wenig ihr Typ! Was konnte sie dafür, dass Muskeln und ein attraktives Gesicht anziehend auf sie wirkten?

Gott sei Dank hatte er immer noch dieses falsche, unglaublich schmierige Lächeln aufgesetzt – das bewahrte sie davor, ihren Kopf zu verlieren.

„Nun, wenn Sie und Ihre Freunde sich nicht übereinanderstapeln wollen, haben wir immer noch nichts frei.“

Der Mann seufzte schwer. „Dieses Restaurant ist riesig, ich bin mir sicher, Ihrem hübschen Köpfchen wird etwas einfallen.“

Nun etwas ungeduldiger knackte Emma mit ihrem Kiefer. „Mein hübsches Köpfchen sagt mir, dass morgen Heiligabend ist und fragt sich gleichzeitig, wie Ihr schleimiges Köpfchen denken konnte, an dem Tag mit dem regsten Betrieb ohne Reservierung einen Platz zu bekommen.“

„Mhm. Wirklich sehr interessant, nur … Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie einen sehr schönen Mund haben?“

Verwirrt blinzelte sie ihn an. „Äh, was?“

„Ja. Sehr hübsch – noch besser würde er mir aber gefallen, wenn er in den nächsten Minuten die Worte ‚Wir werden Sie gleich zu Ihrem Tisch führen’ bilden würde.“

Ungläubig klappte ihr die Kinnlade hinunter. „Nennen Sie das, was sie da tun, flirten?“

Er grinste. „Ja. Nett, dass Sie es bemerken.“

Kopfschüttelnd sah sie zu ihm hoch. Es war bewiesen: Je gutaussehender ein Kerl, desto dummer war er. „Sie nennen es flirten, ich nenne es peinlich. Meine Güte, haben Sie denn keinerlei Selbstachtung? Und zum letzten Mal: Wir haben keinen Tisch frei! Seien Sie das nächste Mal einfach ein bisschen weniger spontan!“

Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Mannes und jetzt verengte er seine Augen. „Hören Sie.“

Er lehnte sich gegen das Pult. „Es ist nicht meine Schuld, dass Sie gerade Ihre Tage haben, würden Sie also …“

„Oh mein Gott!“ Sie hätte beinahe angefangen, laut zu lachen. „Warum stehen Sie immer noch hier? Es ist nichts mehr frei – und wenn ich meine Tage hätte, würde meine Faust schon in Ihrem Gesicht stecken. Glück für Sie also, dass Sie falschliegen.“

Der Mann bewegte sich immer noch nicht. Was sollte sie denn noch tun? Mit ihren Schuhen nach ihm werfen?

Wieder beugte er sich nach vorne und sein Anzug knisterte, als habe er Geld darunter versteckt.

„Sie haben also immer noch keinen Tisch frei?“

Emma wollte gerade entnervt den Mund aufmachen, da zog er etwas aus seiner Tasche und legte es vor sie auf den Tresen.

Mit hochgehobenen Brauen sah Emma auf das Holz. Er hatte also tatsächlich Geld in seinem Hemd versteckt. „Was ist das?“

„Ein Fünfzig-Euro-Schein.“

„Das sehe ich, aber warum liegt der da?“

„Ich dachte, Sie könnten mit diesem Schein vor Augen noch eine neue Perspektive auf die gegebenen Reservierungen bekommen.“

Langsam verschränkte Emma die Arme. Wenn Flirten nicht funktionierte, bestach er also? Sie würde gerne mal ein ernstes Wort mit dem Pfarrer seines Vertrauens wechseln.

„Sehe ich bestechlich aus?“, wollte sie langsam wissen.

„Nein, natürlich nicht. Sie sehen hinreißend aus – dennoch könnte ich mir vorstellen, dass Sie sich gerne mal wieder ein neues Paar Schuhe kaufen würden.“

Emma überlegte. Sie war wirklich schon lange keine neuen Schuhe mehr kaufen gegangen. Sie streckte den Arm aus und steckte das Geld ein. „Vielen Dank. So viel Trinkgeld hat mir noch nie jemand gegeben, der noch nicht einmal einen Platz bei uns bekommen hat.“

Ungläubig sah der Dunkelhaarige sie an. „Sie geben mir immer noch keinen Platz?“

Sie seufzte. „Ach, entschuldigen Sie, sind Sie Angela Merkel?“

„Wie bitte?“

„Barack Obama vielleicht? Oder Madonna? Oh, sind Sie ein Mafiaboss? Nein? Nicht einmal ein Teletubbie?“ Theatralisch hob sie die Schultern. „Dann tut es mir leid, Ihnen ein letztes Mal mitteilen zu müssen: Sie werden in diesem Restaurant innerhalb der nächsten drei Stunden keinen Platz bekommen.“

Der Blick des Mannes wurde düster. Düster stand ihm, fand sie. Wirkte ehrlicher.

„Schön“, knurrte er, „bekomme ich dann bitte mein Geld zurück?“

Verwirrt sah Emma ihn an. „Ihr Geld? Welches Geld?“

„Das, was ich Ihnen zugeschoben habe, Lady“, sagte er nun gar nicht mehr charmant.

„Zugeschoben?“ Emma legte eine Hand auf die Brust. „Aber Sie haben mir doch kein Geld zugeschoben. Denn das wäre doch versuchte Bestechung und somit eine Straftat. Nein, davon weiß ich nichts.“

Ruckartig drückte ihr Gegenüber seinen Rücken durch. „Schön. Behalten Sie es. Gehen Sie von dem Geld mal zum Frisör oder kaufen Sie sich einen sympathischeren Charakter.“

Gespielt ernst nickte Emma. „Vielen Dank, diesen Rat werde ich mir zu Herzen nehmen. Und Sie sollten sich ein Telefon kaufen, mit dem Sie dann Reservierungen machen können!“

Entweder hörte er ihren letzten Kommentar nicht mehr oder er reagierte einfach nicht.

Wahrscheinlich war es ihm nur peinlich, weil er nicht wusste, wie man ein Telefon kaufte.

***

Finn, Daniel und Meik versuchten nicht einmal, ihr Grinsen zurückzuhalten.

„Ich habe noch nie eine Frau gesehen, die jemanden so abwertend betrachtet hat.“

„Doch. Meine Frau sieht manchmal so aus, wenn ich vergessen habe einzukaufen.“

„Witzig, Leute“, bemerkte Luke trocken. „Ich flirte mir einen ab, verliere fünfzig Euro und ihr macht euch lustig.“

Meiks Lachen wurde lauter. „Du hast dir von ihr fünfzig Euro abknöpfen lassen? Und mir wurde erzählt, du seist ein Frauenversteher!“

„Ich bin ein Frauenversteher! Aber sie war keine Frau – sie war eine Furie! Die Sprache spreche ich nicht. Wer lässt sich heutzutage nicht mehr bestechen?“

So langsam verlor er den Glauben an die zwielichtige Menschheit. Erst wurde er dafür kritisiert, dass er einem Neunzehnjährigen Alkohol gab und dann hatte die Frau ihn behandelt, als sei er ein Kaugummi, das unter ihrem Schuh klebte.

Irgendetwas war mit dieser Welt offensichtlich nicht in Ordnung.

„Ach, ist das schön, mal wieder richtig zu lachen“, sagte Finn und schüttelte den Kopf. „Und mein Lieber: Du hast offensichtlich keine Ahnung von Frauen. Frauen wollen Geld nur in Form von Schokolade, Blumen oder Alimenten.“

Luke schnaubte. Er hatte wirklich keinen Grund, an seinen Fähigkeiten zu zweifeln … oder fielen in Amerika nur alle Frauen auf seine Masche herein, weil sie wussten, dass er Geld hatte?

Ein zu tiefgründiges Thema für heute, entschied er und schüttelte den Gedanken wieder ab. Die blonde Kellnerin musste einfach einen schlechten Tag gehabt haben. Anders konnte er sich das nicht erklären.

„Dann in die Blackbox?“, schlug Daniel vor. „Vielleicht kann Luke da sein Selbstbewusstsein wieder aufbauen.“

„Was? Hast du gerade gesagt, dort kann ich dir eine reinhauen?“, grinste Luke gespielt verwirrt.

Daniel lachte und klopfte ihm auf die Schulter. „Sei nicht eingeschnappt, Prinzessin. Wir halten dich alle noch für einen Mann. Einen traurigen Mann – aber immer noch für einen Mann!“

Drei

„Ich hasse Menschen, die glauben, mit ihrem Geld könnten sie alles kaufen.“ Emma hängte den Blazer an die Garderobe und zog sich ihren Mantel über. „Sie erwarten für ihr Lächeln und einem Fünfzig-Euro-Schein, dass man ihnen die Füße küsst.“

Und die Füße waren wirklich der letzte Körperteil, den sie von dem Vollidioten hätte küssen wollen.

Moment, nein. Sie wollte überhaupt nichts von diesem Mann küssen! Außer vielleicht seinen Fünfzig-Euro-Schein. Der war wirklich hübsch.

Enrico lehnte im Türrahmen und grinste breit, während der Rest der Kellner die letzten Krümel von den Tischen fegte. „Du hättest in die Politik gehen sollen. Die Arbeiterklasse würde dich lieben.“

„Gott sei Dank“, seufzte Emma und schlang ihren Schal um die Schultern. „Ich weiß nicht, was ich ohne die Akzeptanz der Arbeiterklasse tun würde!“

„Klugscheißerin. Wirst du dich jetzt um den Job bewerben?“

Sie würde sich bewerben und die nächsten Wochen beten und betteln, dass sie ihn bekam! „Vielleicht. Mal sehen.“

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach zwölf und sie war hellwach. Das passte ganz gut, denn sie war noch verabredet.

„Na Enrico, willst du noch mit in die Blackbox auf meinen Mädels-Abend kommen? Jenny und Mira würden dir bestimmt auch einen Weihnachts-Tequila ausgeben.“

Enrico schüttelte den Kopf. „Ich habe eine Frau und Verpflichtungen.“

„Du hättest auch einfach sagen können, dass du zu alt bist“, grinste sie. „Aber wenn du es dir anders überlegst, weißt du ja, wo ich zu finden bin.“

„Du verbringst zu viel Zeit in Bars, Bella.“

„Nein, nur in der Blackbox!“, widersprach sie sofort. „Und das ist eigentlich fast keine Bar … eher eine Toilette. Und jede Frau sollte so viel Zeit wie nötig auf der Toilette zugesprochen bekommen!“

Sie drückte Enrico kurz an sich und trat dann in die Kälte. Schnee bedeckte den Boden und hielt fest, in welche Richtung die Menschen gegangen waren.

Das mochte Emma am Winter. Dass alles so sanft wirkte.

Und den Weihnachts-Tequila, den mochte sie auch.

Die Blackbox war keine zwei Straßen entfernt und um diese Zeit brechend voll. Es war also gut, dass Mira und Jenny bereits einen Tisch belegt hatten und jetzt ihre Jacken von einem Stuhl nahmen, damit Emma sich setzen konnte.

Die Freundinnen umarmten sich und deren verdächtig rote Nasen ließen Emma vermuten, dass sie ihr schon einige Shots voraushatten.

„Na?“, lächelte sie und bekam prompt ein Pinnchen in die Hand gedrückt.

„Tequila?“

„Immer her damit.“ Emma musste sich heute schöntrinken. Sie hatte immer noch ihre schwarze Arbeitskluft an und roch nach geschmolzenem Käse.

„Schon irgendwen ins Auge gefasst?“, fragte sie und biss in die Zitrone. Der ganze Sinn dieses Abends war es, Tequila zu trinken, Männer zu bewerten und Informationen auszutauschen, für die man das letzte Jahr über noch keine Zeit gehabt hatte.

„Hallo.“ Jenny winkte mit ihrer linken Hand und zeigte auf ihren Verlobungsring. „Nichts mit ins Auge fassen.“

Emma prustete und sah Mira an. „Sie spielt wieder die Scheinheilige.“

Ihre Freundin verdrehte die Augen und warf ihr seidig braunes Haar über den Rücken. „Schön. Wir haben hier eine Gruppe von Männern gesichtet, die eigentlich ganz niedlich war. Zwei davon leider verheiratet.“

Emma verzog das Gesicht, als sie die Säure der Zitrone hinunterschluckte. „Wusste ich es doch. Und wo sind sie?“

„An der Bar. Jenny und ich haben unsere Punkte schon vergeben und es gibt einen eindeutigen Sieger, aber vielleicht kannst du an dem Rennen ja noch was ändern.“

Emma zuckte die Schultern und grinste. „Na ja, unser Geschmack war ja eigentlich schon immer sehr ähnlich, aber mal sehen.“

„Noch ’ne Runde?“ Mira hob ein weiteres Pinnchen hoch und sah die beiden anderen fragend an. Die nickten und schnappten sich auch jeweils ein Glas. „Auf uns.“

„Auf uns.“

„Oh, da sind sie ja.“ Mira streckte ihren Arm in eine Richtung und Emma, das Glas an den Lippen, wandte sich um – verschluckte sich prompt und hustete in ihren Arm. Das konnte doch nicht wahr sein! Das war doch …

„Kennst du sie?“, fragte Jenny verwundert.

„Ja.“ Mit hochrotem Kopf stellte Emma ihr Glas zurück. „Einem von ihnen habe ich vor ein paar Stunden fünfzig Euro abgenommen.“

„Du hast ihn bestohlen?“ Mira machte große Augen.

Nein, nicht bestohlen – eine Lektion erteilt! Emma bezweifelte nur, dass der Unbekannte das genauso sah. „Er hat genervt“, sagte sie und hob unschuldig beide Hände in die Luft. „Du weißt, dass ich keine Geduld mit Menschen habe, die mich nerven.“

Ihre Freundinnen legten den Kopf schief. „Und das rechtfertigt jetzt wie genau, dass du ihm fünfzig Euro gestohlen hast?“

Er war ein Mann! In ihren Augen mussten Männer einfach eine gewisse Pauschale an die Welt zurückzahlen. Und warum nicht an sie? Sie war Teil der Welt, oder?

„War er sehr wütend?“, wollte Mira jetzt wissen und sah besorgt aus.

„Schon relativ“, gab Emma zu und biss sich auf die Unterlippe.

„Oh. Das ist nicht gut.“

„Warum?“

„Weil er gerade rüberkommt. Oh Mann, ist der heiß.“

„Was?“

Oh Gott, warum kam er bloß rüber? Er verprügelte doch sicherlich keine Frauen!

„Dreh’ dich nicht um, Emma.“

Emma fuhr herum und ihr Kopf stieß gegen eine Wand aus Bauchmuskeln. Sie mochte zwar vorher nicht eingeschüchtert gewesen sein, aber jetzt, im Sitzen, hatte sie ihre Meinung geändert.

„Ladies.“ Der charmante Tonfall von vorhin im Restaurant war bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.

„Hi“, murmelten Mira und Jenny, die sich ein Kichern nicht verkneifen konnten. Emma schwieg und rückte mit dem Stuhl vom Körper dieses Riesen ab. War es falsch von ihr zu bemerken, dass er gut roch?

„Spielt ihr Darts?“

Die drei Frauen sahen sich verwirrt an. „Darts?“

„Ja. Pfeile, eine runde Scheibe, auf die man die Pfeile wirft.“

Emma verdrehte die Augen. Was bezweckte er damit? Wollte er sie zum Dartspielen animieren, damit er sein Geld dann aus ihrer Handtasche zurückklauen konnte?

„Was wäre denn, wenn wir Darts spielen würden?“, wollte Jenny neugierig wissen.

„Dann würden meine Jungs und ich euch zu einer Partie herausfordern.“ Er nickte nach hinten, wo drei neugierige Männer sie angrinsten.

„Ach so.“ Emma fing an zu lachen. „Du willst dein Geld legitim zurückgewinnen. Aber bitte, mit Darts?“

Der Kiefer des Mannes spannte sich kaum merklich an. „Schlägst du etwas anderes vor?“

Emma überlegte kurz und warf einen Blick durch den Raum. „Billard“, sagte sie schließlich entschlossen. „Dann musst du meine Freundinnen nicht auch noch ausnehmen. Und du kannst nicht versuchen, die Kugeln zu bestechen.“

„Aber die Pfeile, ja?“, knurrte er.

Sie grinste. „Nein. Aber ich kann einfach besser Billard spielen. Oder verspürt ihr den ungeheuren Drang, Darts zu spielen?“, wandte sie sich an ihre Freundinnen.

„Nein, Gott nein“, sagte Jenny sofort. „Wir sind zufrieden, hier mit unserem Tequila.“

„Was ist mit dir?“ Jetzt fixierte Emma ihren Herausforderer. „Brauchst du deine Jungs als Unterstützung oder können wir das auch zu zweit regeln?“

***

Wie konnte eine Frau so gekonnt und gezielt provozieren? Es war Luke ein Rätsel, warum sie nicht längst von jemandem erschlagen und unter einer Brücke verscharrt worden war.

Er konnte partout nicht sagen, was bei diesem Mädchen im Kopf vorging und das machte es ihm unmöglich, nicht wissen zu wollen, was zum Teufel sie gerade dachte.

„Schön“, lächelte er schließlich langsam. „Dann nur wir beide.“

„Gut.“ Sie stand auf und reichte ihm die Hand. „Ich bin Emma und bitte hör auf, so zu lächeln. Es ist schmierig und ich kauf’ es dir nicht ab. Du grinst und redest wie jemand, der du unmöglich sein kannst.“

Sie hatte ihn gerade beleidigt. Eine Frau hatte ihn beleidigt. Das war noch nie vorgekommen! Und dann auch noch so schamlos!

„Luke“, stellte er sich vor. „Und du brauchst wirklich einen neuen Haarschnitt.“

„Beleidigungen werden dir nicht helfen zu gewinnen.“

„Vorwürfe dir auch nicht.“

„War das Lächeln gerade echt?“

„Nein.“

„Dann war es kein Vorwurf, sondern eine erkannte Tatsache. Spielen wir jetzt, oder was?“

Sie waren bei den Billardtischen angekommen und Emma hatte schon einen Queue in die Hand genommen, mit dem sie ungeduldig auf den Boden klopfte.

„Bist du scharf drauf zu verlieren oder warum zappelst du so rum?“, fragte Luke und begann, die Kugeln in dem Plastikdreieck anzuordnen, das bereits auf dem Tisch lag.

Emma antwortete nur mit einem Grinsen und fixierte die weiße Kugel auf der dafür vorgesehenen Stelle. „Du fängst an.“

Mit was für einer Selbstsicherheit sie das sagte.

Als wüsste sie schon, wie das Spiel ausgehen würde. Langsam schüttelte er den Kopf. „Du hörst dich an, als würdest du mich zum Schlachthaus begleiten wollen.“

Emma fing an zu lachen. Es war ihm vorher nicht aufgefallen, aber wenn sie lachte, lachte sie mit ihrem ganzen Gesicht und ihrem Körper.

Wie konnte jemand so lachen und trotzdem nicht unnatürlich dabei wirken? Er glaubte ihr wirklich, dass sie ihn gerade witzig gefunden hatte. Das kam nicht oft vor. Meistens warfen die Frauen, mit denen er zusammen war, ihre platinblonden Haare in den Nacken und kicherten hoch, als hätten sie zu viel Helium konsumiert.

Aber aus welchem Grunde sollte Emma auch versuchen, ihn dazu zu bringen, sie zu mögen?

„Vielleicht mache ich das ja“, erwiderte sie mit süffisantem Blick und bedeutete ihm erneut mit den Händen, dass sie ihm den Vorrang gewährte. Er stieß die weiße Kugel in das Balldreieck.

 

„Zehn … zwanzig … dreißig … fünfzig. Das kann doch nicht wahr sein.“

Luke reichte ihr das Geld und konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal in seinem Leben so jämmerlich verloren hatte. Eigentlich konnte er sich nicht daran erinnern, überhaupt schon einmal so verloren zu haben. Das Schlimme war, dass er noch nicht einmal verdient verloren hatte. Nein, Emma hatte ihn bis zum Gehtnichtmehr manipuliert. Angefangen damit, dass sie ihm während eines Stoßes ins Ohr gepustet hatte, bis hin zu Momenten, in denen sie verschiedene Tiergeräusche nachahmte. Fatalerweise waren seine Versuche, sie auf irgendeine Art und Weise abzulenken, nicht erfolgreich gewesen. Nicht einmal, als er mit einem Queue während ihres Stoßes vor ihrem Gesicht herumgewedelt hatte. Außerdem hatte sie während ihres Spiels noch ungefähr vier Shots Tequila getrunken. Mit ihrem Alkoholpegel hätte sie sich eigentlich bei jedem Stoß fragen müssen, welche der zwei identischen Kugeln ins Loch zu versenken war.

„Du bist kein guter Verlierer, oder?“, fragte Emma vorsichtig und biss sich auf die Lippen. Sie hatte wirklich schöne Lippen. In der Farbe von Erdbeeren.

„Ich bin gar kein Verlierer“, wehrte sich Luke. „Das passiert einfach nicht. Ich und verlieren.“

Sein Gegenüber räusperte sich. „Na ja. Gerade eben …“

Düster sah er sie an. „Du hast nicht fair gespielt.“

„Aber du, ja?“ Ihre braunen Augen blitzten auf. Sie schien sich mehr als nur zu amüsieren.

„Schön.“ Seine Arme verschränkend sah er sie an. „Doppelt oder nichts. Diesmal im Kickern.“

„Damit willst du deine männliche Ehre retten? Mit Kickern?“

„Ich …“ Doch Luke kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, jemand tippte ihm auf die Schulter.

„Alter, wir gehen.“ Finn und die anderen standen direkt hinter ihm und warfen neugierige Blicke auf Emma. „Kommst du mit?“

Sie gingen schon? Luke sah sich um und bemerkte, dass sich die Bar allmählich leerte. Die Uhr zeigte halb zwei.

Emma reckte ihren Hals und runzelte die Stirn. „Wo sind Jenny und Mira?“

„Du meinst deine Freundinnen?“ Daniel hob die Augenbrauen. „Die sind schon vor einer halben Stunde gegangen.“

„Ohne mir Bescheid zu sagen?“

Daniel zuckte die Schultern. „Sie sagten irgendwas von: Du solltest beim Billard nicht gestört werden, sonst versenkst du deinen Stock in ihren Augen oder so.“

„Oh.“

„Also Luke, kommst du?“ Finn verengte die Augen, als ob er die Antwort bereits kannte.

Luke schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber ich fürchte, ich muss hier noch meine Ehre verteidigen.“

Er wollte noch nicht gehen. Er hatte schon seit Langem keinen solchen Spaß mehr gehabt. Seine Freunde nickten ohne nachzufragen. So etwas verstand sich unter Männern einfach. Wenn die Ehre verteidigt werden musste, dann war das so. Ende.

„Ich schaue die Tage aber noch bei euch vorbei. Auf jeden Fall bevor ich fliege, okay?“ Er schlug bei seinen Freunden ein und sie verschwanden in Richtung Tür.

„Bevor du fliegst?“, fragte Emma neugierig und legte ihren Queue wieder auf den Tisch. „Fährst du in den Urlaub?“

Er lächelte und schüttelte den Kopf. „Nein. Das hier ist quasi mein Urlaub. Ich besuche meine Mutter hier.“

„Oh, woher kommst du denn?“

„Ich arbeite in Philadelphia.“

„Ernsthaft?“ Überrascht sah sie ihn an. „Witzig! Da wohnt meine Schwester. Also nicht direkt da, aber in einem kleinen Vorort in der Nähe. Was arbeitest du denn?“

„Ich …“ Luke sah in ihr erwartungsvolles Gesicht und blinzelte. Er wollte es ihr nicht erzählen. Er konnte nicht genau sagen warum, aber er wollte ihr nicht verraten, was er machte. Er wollte ihr seinen Beruf nicht als Vorurteil in den Mund legen. Außerdem hatte er das Gefühl, ihr könnte es nicht gefallen, wenn er ihr erzählte, er spiele professionell Baseball.

Mein Gott, seit wann wollte er ihr gefallen?

Er wollte Frauen nicht gefallen, er wollte mit ihnen schlafen!

Aber bei ihr … da wollte er beides.

„Ähm, ich arbeite in einem Stadion. Einem Baseballstadion.“

Sie sah ihn an, als könne sie sich darunter überhaupt nichts vorstellen.

„Also, ich sorge sozusagen dafür, dass das Spiel gut läuft“, fügte er deshalb hinzu. „Ich trage sozusagen die Verantwortung dafür, dass alles funktioniert.“ Er gratulierte sich innerlich zu dieser Formulierung.

„Ah. Du bist sozusagen der allerwichtigste Mann im ganzen Stadion. Ohne dich läuft gar nichts.“

„Genau“, grinste er, „ich bin sozusagen berühmt.“

Sie schnalzte lachend mit der Zunge. „Alles klar, Mr. Wichtig. Dann wollen wir doch mal sehen, ob ohne dich auch beim Kickern nichts läuft. Ein Spiel gegen ein Mädchen zu verlieren, ist die eine Sache, aber zwei …? Ich bezweifele, dass du dich davon wieder erholen würdest.“

Das bezweifelte er auch.

 

„Du hast mich gewinnen lassen.“

Emma warf die Arme in die Luft und schüttelte heftig den Kopf. „Dir kann man auch nichts recht machen. Erst verlierst du und bist sauer, dann gewinnst du und bist auch sauer. Was passiert beim Unentschieden? Bist du dann auch sauer?“

Luke stürzte den Rest seines Biers herunter und legte sich die Hand in den Nacken, der vom Flug immer noch steif war. „Du hast den letzten Ball absichtlich nicht gehalten. Das hat man doch gesehen.“

„Nein. Das hast du gesehen, Mr. Wichtig, niemand anders!“, widersprach Emma. Ihre Augen strahlten eine Ernsthaftigkeit aus, die Luke sonst nur von Grundschulkindern kannte, die beteuerten, dass der Hamster auf ihre Hausaufgaben gepinkelt hatte. „Ich verliere nicht absichtlich. Du bist doch nicht mein Opa, der einen Herzinfarkt bekommen könnte, wenn er nicht das bekommt, was er will.“

Luke presste die Lippen aufeinander.

Emma runzelte die Stirn. „Lachst du mich etwa aus?“

Stumm schüttelte er den Kopf. Na ja, vielleicht ein bisschen. Aber es war auch amüsant zu beobachten, wie sie versuchte, sich zu verteidigen und dabei mit jeder Faser ihres Körpers verriet, dass sie log. Sie hatte sogar die Finger hinter ihrem Rücken gekreuzt. Außerdem waren ihre Augen so weit aufgerissen, dass sie bestimmt schon alles verschwommen sah.

Jetzt fing Luke doch an, laut zu lachen. „Es tut mir leid. Schön, ich habe gewonnen, du kannst mir mein Geld zurückgeben.“

„Gut. Das war nämlich ein ehrliches Spiel und du hast es dir verdient.“

Ihr Blick flackerte zur Uhr, die hinter dem Tresen hing und Lukes folgte ihm. Es war bereits nach drei, der Barkeeper sah sie genervt an und klopfte auf sein Handgelenk.

„Ich glaube, wir werden höflich zum Gehen aufgefordert“, murmelte Emma leise und lächelte breit. „Lass uns seine Anweisungen lieber befolgen. Ich komme öfters hierher und kann Spucke nicht von Tequila unterscheiden.“

 ***

Draußen hatte es immer noch nicht aufgehört zu schneien und die Fußwege lagen so unberührt da, dass es Emma wie ein Verbrechen vorkam darüber zu laufen. Luke schien sich daran nicht zu stören. Er stapfte über den Schnee, als würde er ein tödliches Tier niedertrampeln müssen.

Emma folgte ihm und betrachtete seinen Rücken.

Ihre Freundinnen hatten recht gehabt. Er war heiß. Jetzt, wo er sich nicht mehr verhalten hatte wie ein Vollidiot, konnte auch sie das erkennen. Als er vorhin seinen Arm gehoben und an seinen Nacken gefasst hatte … ach du meine Güte. Wie viel Zeit verbrachte dieser Mann auf einer Stemmbank? Emma war nie dahintergekommen warum, aber die Oberarme waren für sie merkwürdigerweise eine der attraktivsten Stellen an einem Mann. Sie konnten einen halten. Das war aus ihrer Sicht auch schon alles, was man mit Armen können musste. Jemanden halten.

Und ja: Sie hatte ihn gewinnen lassen.

Na und? Was war schon dabei? Es war ja nicht ihr Hobby, Männer in ihrem Stolz zu kränken, also hatte sie den letzten Ball einfach durchgehen lassen. Aber sie war sich sicher, dass er es nicht wusste. Nicht mit Sicherheit zumindest. Sie war eigentlich eine gute Lügnerin. Ihre Mutter hatte ihr immer geglaubt, dass sie die Schokoladenkekse nicht gegessen hatte. Und wie oft sie ihrer Schwester schon vorgeschwindelt hatte, dass sie sich keine Kleidung aus ihrem Schrank genommen hatte – ihre Finger reichten zum Zählen nicht aus.

„Was machst du da hinten? Den Schnee beobachten?“

Nein, nicht den Schnee …

Sie holte ihn ein und legte den Kopf in den Nacken, um mit dem Mund ein paar Schneeflocken aufzufangen.

„Hast du mal überlegt, dir die Haare länger wachsen zu lassen?“, fragte sie schließlich, als ihr Gesicht anfing kalt zu werden. „Das könnte dir gut stehen.“

Luke schielte skeptisch auf sie herunter. „Du, mit deinem Haarschnitt, willst mir Tipps für meinen Stil geben?“

„Was hast du nur mit meinen Haaren? Die sind okay wie sie sind.“

„Sie haben keinen Schnitt.“

„Jeder Frisör, bei dem ich war, hat irgendwas falsch gemacht. Seitdem lasse ich Jenny sie schneiden.“ Emma zuckte mit den Schultern. „Ich finde, das klappt ganz gut.“

„Selbst ich würde deine Haare besser schneiden.“

Jetzt war es an Emma, ihn skeptisch anzusehen.

Luke fing bei ihrem Blick an zu lachen. „Was denkst du gerade?“, fragte er.

„Ich überlege, ob es so intelligent wäre, dir einen spitzen Gegenstand in die Hand zu drücken. Ich meine: So wie ich dich Billard spielen gesehen habe, halte ich das für keine gute Idee.“

Luke streckte ruckartig den Arm aus und schubste Emma in einen Schneehaufen vor ihnen.

Ihr wurde die Luft aus den Lungen getrieben und beinahe hätte sie Schnee eingeatmet. Leicht keuchend wandte sie sich um und sah zu ihm hoch. Er blickte sie an, als erwarte er, dass sie wieder aufspringen und ihn ausknocken oder zumindest beschimpfen würde, aber Emma fing nur laut an zu lachen.

Vielleicht weil sie wusste, dass sie es irgendwie verdient hatte.

Sie blieb im kalten Schnee liegen, streckte die Arme über dem Kopf aus und lehnte sich zurück. „Mann, mit deinem Stolz hast du es wirklich, oder?“

„Entschuldige. Es kam einfach so über mich.“

Sie lachte noch mehr. „Als ob es dir leidtäte!“

Sie war noch nie von einem Mann umgeschubst worden, aber wenn sie so darüber nachdachte, dann könnte ihr das vielleicht gefallen.

Dabei kam es aber wohl doch auf den Mann an.

„Als ob du den Ball nicht absichtlich durchgelassen hast.“

Sie verengte kurz ihre Augen und überlegte, ob es sich lohnte, die Lüge weiter aufrechtzuerhalten. Sie fand ja. „Ich sage nichts ohne meinen Anwalt. Hilf mir mal hoch.“

Er streckte den Arm aus und sie ergriff seine Hand. Gerade als er ihr aufhelfen wollte, zog sie ihn mit einer Kraft, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte, zu sich herunter. Er verlor das Gleichgewicht und fiel mit dem Gesicht voran halb auf und halb neben sie.

Er rollte sich zur Seite und musste selbst lachen. Er hatte ein schönes Lachen – wenn es ehrlich war.

Sie sah zu ihm hinauf und konnte sehen, wie der Schnee nun vom Wind in sein Gesicht geblasen wurde und auf seinen Lippen schmolz.

„Hey“, sagte sie außer Atem und lachte leise. Die Kälte kroch ihr den Nacken hinauf, den sie in den Schnee drücken musste, um ihn anzusehen. War sein Gesicht gerade schon so nah gewesen? „Jetzt sind wir quitt.“

Luke starrte sie an und er sah nicht aus, als würde er ihr zustimmen. Sein Blick huschte zu ihren Lippen, auf denen ein leichtes Kribbeln eingesetzt hatte.

Oje, sie steckte in Schwierigkeiten.

Und was tat man in so einer Situation?

Man dachte nicht darüber nach und ritt sich tiefer hinein.

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, legte sie ihm eine Hand in den Nacken, zog ihn zu sich herunter und küsste ihn.

Seine Lippen waren warm und es war kaum eine Berührung, doch es war genug, um Emma wissen zu lassen, dass ihr mehr von diesem Mann gefallen könnte als nur in den Schnee geschubst zu werden.

Sie ließ ihren Kopf wieder sinken und war ein bisschen schockiert darüber, dass sie den ersten Schritt gemacht hatte. Das hatte sie noch nie getan! Sie zog eine Grimasse. „Tut mir leid. Es … kam so über mich, ich …“

Sie kam nicht dazu weiterzusprechen, denn den zweiten Schritt musste sie nicht machen.

Luke legte ihr die Hände ums Gesicht und jegliche Kälte wurde ihr aus dem Körper getrieben.

Oh Gott, was tat sie hier? Sie lag im Schnee und küsste einen Mann, den sie nicht kannte, dem sie quasi fünfzig Euro gestohlen hatte und der eine Niete beim Kickern war!

Sowas machte sie gewöhnlich nicht: Angefangen mit dem freiwilligen Verlieren, über das Herumwälzen im Schnee, bis zum Küssen eines Fremden.

Und der vor allem viel zu groß für sie war! Geschätzt war sie vielleicht einsfünfundsechzig und im Liegen kam sie sich noch kleiner vor und er wirkte dadurch wie ein Riese! Ein unglaublich gut küssender Riese, der sie den Schnee vergessen ließ.

Wo hatte er so küssen gelernt? Wahrscheinlich hatte er mit vielen Frauen geübt. Wahrscheinlich war sie nur eine von vielen. Wahrscheinlich… Schluss jetzt, Emma, ermahnte sie sich selbst.

Sie konnte nicht aufhören, nachzudenken, doch sie musste …

Luke rollte sich auf sie, sodass sie die vielen Stoffschichten zwischen ihnen kaum wahrnahm, und strich mit seinem Daumen über ihre Unterlippe.

Schon hatte sie ihren Faden verloren.

„Du redest, während du küsst“, lachte Luke leise.

„Tatsächlich?“ Gott sei Dank war ihr Gesicht vor Kälte schon so gerötet, dass es ihm bestimmt gar nicht auffiel, wie ihr das Blut nun noch zusätzlich in den Kopf stieg. „Und? Was sage ich?“

„Du murmelst ‚Was mache ich hier? Was mache ich hier‘!“

„Und? Was mache ich hier?“

„Wenn du das nicht weißt, dann mache ich es offenbar nicht richtig. Warte, lass es mich dir noch einmal erklären …“

Er fing wieder an, sie zu küssen, strich mit dem Daumen über ihre Wange und Emma fing leise an zu lachen.

„Gut, dass du es mir erklärt hast“, murmelte sie. „Jetzt ist mir alles viel klarer.“

Er küsste ihren Kiefer, ließ seine Hände ihren Hals, in den Schal hinabwandern. „Beruhige dich. Es ist ja nicht so, als würden wir gleich miteinander ins Bett hüpfen.“

Sie lachte. „Richtig.“